Das Fest von Aquesta - Michael J. Sullivan - E-Book

Das Fest von Aquesta E-Book

Michael J. Sullivan

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Beschreibung

Der Erbe – in den Händen des Feindes. Die Hochzeit – eine tödliche Falle. Der Gegner – ein alter Bekannter. Beim Winterfest will das Neue Imperium seine ganze Macht und Grausamkeit zeigen, doch Hadrian und Royce haben vor, diese Pläne zu durchkreuzen. Mit den Feierlichkeiten will Saldur, der Regent des Neuen Imperiums, das Schicksal seiner Widersacher endgültig besiegeln: Arista, die Hexe von Melengar, und Degan Gaunt, der Erbe Novrons, sollen öffentlich hingerichtet werden. Um Arista und Gaunt zu retten, muss Hadrian am großen Turnier von Aquesta teilnehmen und einen Ritter töten. Royce hingegen jagt Merrick Marius, seinen größten Feind – und ältesten Freund. Gleichzeitig steht die Hochzeit der Imperatorin Modina an, der Höhepunkt der Feierlichkeiten, auf den schon bald ein tödlicher Unfall folgen wird …

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Seitenzahl: 460

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Michael J. Sullivan

DAS FEST VON AQUESTA

RIYRIA 5

Aus dem Englischen von Wolfram Ströle

Impressum

Dieses Buch ist zu hundert Prozent meiner Frau gewidmet, Robin Sullivan. Man hat mich gefragt, wie ich so starke Frauen schaffen kann, ohne dass ich ihnen Schwerter in die Hände gebe. Das ist Robins Verdienst.

Sie ist Arista.

Sie ist Thrace.

Sie ist Modina.

Sie ist Amilia.

Und sie ist meine Gwen.

Diese Serie ist eine Hommage an sie.

Das ist dein Buch, Robin.

I hope you don’t mind that I put down in words

How wonderful life is while you’re in the world.

– ELTON JOHN, BERNIE TAUPIN

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »HEIR OF NOVRON/WINTERTIDE«

© 2012 by Michael J. Sullivan

© Karte by Michael J. Sullivan

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg; Illustration: Federico Musetti

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-608-96016-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10939-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

1 Aquesta

2 In tiefer Finsternis

3 Baron Breckton

4 Hochzeitsvorbereitungen

5 Spuren im Schnee

6 Im Palast

7 In noch tieferer Finsternis

8 Ritter Hadrian

9 Die Winde-Abtei

10 Das Adelsbankett

11 Ritterliche Tugenden

12 Die Nachfolgeregelung

13 Das Haus in der Heidestraße

14 Das Turnier beginnt

15 Die Jagd

16 Das Gottesurteil

17 Finsternis

18 Wintertid

19 Neuanfang

20 Das angenommene Damengambit

21 Auf der Langdon-Brücke

Länder und Götter Elans

Die Welt Elan

1

Aquesta

Manche Menschen sind besonders geschickt, andere haben Glück, aber für Minte galt in diesem Augenblick weder das eine noch das andere. Es war ihm nicht gelungen, die Geldbörse des Kaufmanns loszuschneiden, und er erstarrte, während er die Hand noch um den Beutel geschlossen hielt. Er wusste, dass unter Taschendieben nur eine einzige Berührung erlaubt war, und war entsprechend nach zwei früheren Versuchen jeweils in der Menge untergetaucht. Ein dritter vergeblicher Versuch bedeutete, dass er wieder nichts zu essen bekam. Deshalb konnte er nicht loslassen: Sein Hunger war zu groß.

Mit den Händen unter dem Mantel des Kaufmanns wartete er. Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt.

Soll ich es noch einmal versuchen?

So abwegig der Gedanke war, sein leerer Magen siegte über die Vernunft und in einem Moment der Verzweiflung warf er jede Vorsicht über Bord. Das Leder war merkwürdig dick. Er säbelte mit seinem Messer daran herum und schließlich löste sich die Börse, aber trotzdem stimmte etwas nicht. Da bemerkte er seinen Irrtum auch schon: Statt der Riemen der Börse hatte er den Gürtel des Kaufmanns durchgeschnitten. Zischend wie eine Schlange glitt der mit dem Gewicht einer Pistole und eines Messers beschwerte Ledergurt vom Bauch des dicken Mannes und fiel auf das Pflaster.

Minte hielt die Luft an und rührte sich nicht, während die vergangenen zehn enttäuschenden Jahre blitzartig an ihm vorbeizogen.

Lauf!, rief eine Stimme in seinem Kopf, denn ihm blieb nur ein kurzer Moment, bevor sein Opfer …

Der Kaufmann drehte sich um.

Er war groß und massig und hatte von der Kälte gerötete Hamsterbacken. Als er die Börse in Mintes Händen bemerkte, riss er die Augen auf. »He, du!« Er griff nach seinem Dolch und musste überrascht feststellen, dass der verschwunden war. Er tastete nach seiner Pistole und sah beide Waffen auf der Straße liegen.

Minte folgte endlich der Stimme seines klügeren Ichs und floh. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, dass man, wenn man einem tobenden Koloss entkommen wollte, am besten durch einen schmalen Spalt schlüpfte. Also duckte er sich und robbte unter einem Bierkarren hindurch, der vor dem Wirtshaus ZUM BLAUEN SCHWAN parkte. Auf der anderen Seite sprang er hastig auf und rannte in eine Gasse. Messer und Börse hielt er an die Brust gedrückt. Der Neuschnee behinderte ihn, und als er um eine Ecke bog, kam er mit seinen kleinen Füßen ins Rutschen.

»Haltet den Dieb!« Die Rufe waren nicht so nah, wie er befürchtet hatte.

Er rannte weiter. Am Stall angekommen, duckte er sich unter dem Zaun hindurch und schlich den Misthaufen entlang. Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken an die hintere Wand, steckte das Messer in den Gürtel und schob die Börse unter sein Hemd, wo sie eine Beule hinterließ. Um ihn dampfte der Mist. Er keuchte und sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren.

Elbrecht kam durch den Schnee geschlittert und fing sich am Zaun ab. »Da bist du ja!«, rief er. »Wie dämlich von dir, einfach dazustehen und darauf zu warten, dass der Dicke sich umdreht. Du bist wirklich zu dumm, Minte, ich kann es nicht anders sagen. Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe.«

Minte und die anderen Jungs nannten den dreizehnjährigen Elbrecht den »Alten«. Er trug als einziger ihrer kleinen Bande einen richtigen Mantel, ein schmutziggraues Teil, das von einer angelaufenen Messingbrosche gehalten wurde. Elbrecht war der Klügste und Geschickteste von ihnen und Minte enttäuschte ihn nur ungern.

Brand traf kurz nach Elbrecht lachend am Zaun ein.

»Das ist nicht lustig«, sagte Elbrecht.

»Aber … er …« Brand bekam einen erneuten Lachanfall und konnte nicht weitersprechen.

Er war wie die anderen beiden mager, schmutzig und mit einem Sammelsurium von Kleidungsstücken der verschiedensten Größen bekleidet. Seine Hose war zu lang und in den Falten der aufgekrempelten Beine sammelte sich der Schnee. Nur die Jacke passte. Sie war aus grünem Brokat gefertigt und mit weichem Leder besetzt und wurde vorn mit aufwendig aus Holz geschnitzten Knebelknöpfen geschlossen. Brand war ein Jahr jünger als der Alte, aber größer und breiter. In der stillschweigenden Rangfolge innerhalb der vierköpfigen Bande stand er an zweiter Stelle – was Elbrecht an Ideen hatte, setzte er mit Muskelkraft um. An dritter Stelle rangierte Kine, denn er war der beste Taschendieb. Damit belegte Minte den letzten Platz, was ja auch zu seiner Größe passte, denn er war nur etwa vier Fuß groß und wog kaum mehr als eine nasse Katze.

»Hör auf, ja?«, schimpfte der Alte. »Ich versuche doch nur, dem Jungen etwas beizubringen. Der Kaufmann hätte ihn töten können. Was er getan hat, war dumm, anders kann man es nicht sagen.«

»Ich fand’s genial.« Brand wischte sich die Augen. »Ich meine, klar war es dumm, aber zugleich auch irgendwie der Wahnsinn. Wie Minte einfach nur dasteht, während der Fettwanst nach seinen Waffen greift. Nur sind die weg, weil der kleine Penner ihm den ganzen Gürtel abgeschnitten hat! Und dann …« Brand kämpfte mit einem erneuten Lachanfall. »Das Beste ist, wie Minte wegläuft und der Dicke sich an die Verfolgung macht. Und dann rutscht ihm die Hose runter und er fällt um wie ein Baum. Rumms! Mitten in die Gosse. Bei Maribor, war das lustig.«

Elbrecht versuchte ernst zu bleiben, aber Brands Lachen war so ansteckend, dass sie alle lachen mussten.

»Also gut, es reicht.« Elbrecht behauptete sich wieder und kam gleich auf das Geschäftliche zu sprechen. »Sehen wir uns die Beute an.«

Minte zog die Börse unter seinem Hemd hervor und gab sie ihm mit einem breiten Grinsen. »Fühlt sich ziemlich schwer an«, sagte er stolz.

Elbrecht zog den Beutel auf, untersuchte den Inhalt und hob enttäuscht den Kopf. »Nur Kupfermünzen.«

Er wechselte ein Stirnrunzeln mit Brand und Minte sank in sich zusammen. »Der Beutel hat sich so schwer angefühlt«, murmelte er.

»Was jetzt?«, fragte Brand. »Soll er es noch mal versuchen?«

Elbrecht schüttelte den Kopf. »Nein, und wir alle müssen uns eine Zeitlang vom Kirchplatz fernhalten. Zu viele Menschen haben Minte gesehen. Wir gehen in Richtung Stadttor. Unterwegs halten wir nach Neuankömmlingen Ausschau. Vielleicht haben wir ja bei denen Glück.«

»Soll ich …«, begann Minte.

»Nein. Gib mir mein Messer wieder. Jetzt ist Brand dran.«

Die Jungen liefen zur Mauer des Palasts und folgten der Spur, welche die morgendliche Wache im Schnee hinterlassen hatte. Sie schlugen einen Bogen in Richtung Osten und gelangten zum Platz des Imperiums. Besucher aus ganz Avryn trafen derzeit zur Winterfeier in Aquesta ein und auf dem belebten Hauptplatz bot sich Taschendieben und anderen Gaunern ein reiches Betätigungsfeld.

»Da.« Elbrecht zeigte zum Stadttor. »Die beiden. Siehst du die? Den Großen und den Kleinen.«

»Sehen ziemlich erledigt aus«, sagte Minte.

Brand nickte. »Vollkommen fertig.«

»Waren wahrscheinlich die ganze Nacht im Schneesturm unterwegs«, erklärte Elbrecht mit einem hungrigen Lächeln. »Na los, Brand, mach die Nummer mit dem Stallburschen, der seine Hilfe anbietet. Und du siehst ihm dabei zu, Minte. Vielleicht ist das ja was für dich. Zum Taschendieb taugst du jedenfalls nicht.«

Royce und Hadrian ritten auf eisverkrusteten Pferden auf den Platz des Imperiums. Die Decken, in die sie sich wegen der Kälte gemummt hatten, waren schneebedeckt und ließen sie aussehen wie Gespenster. Obwohl sie alle verfügbaren Kleider angezogen hatten, waren sie nur unzureichend für die winterlichen Straßen gerüstet, von den Bergpässen zwischen Rehagen und Aquesta ganz zu schweigen. Der Schneesturm, der die ganze vergangene Nacht getobt hatte, hatte ihre Not noch verschlimmert. Sie hielten die Pferde an und Hadrian blies in seine aneinandergelegten Hände, um sie zu wärmen. Sie besaßen beide keine Handschuhe. Hadrian hatte seine Hände in Lappen gewickelt, die er von seiner Decke abgerissen hatte, Royce hatte sie in die schützenden Ärmel gezogen. Doch der Anblick der Ärmel ohne Hände war ihm unangenehm. Er fühlte sich an Esrahaddon erinnert. Royce und Hadrian hatten bei der Durchreise durch Rehagen von Esrahaddons Ermordung erfahren. Der alte Zauberer war für immer zum Schweigen gebracht worden.

Sie hatten sich Handschuhe beschaffen wollen, aber bei ihrer Ankunft in Rehagen auf Flugblättern von der bevorstehenden Hinrichtung Degan Gaunts gelesen. Der Anführer der Nationalisten sollte im Rahmen der Feierlichkeiten zu Wintertid öffentlich in der imperialen Hauptstadt Aquesta verbrannt werden. Hadrian und Royce hatten auf der Suche nach Gaunt viele Monate auf See und im unwegsamen Dschungel verbracht. Seinen Aufenthaltsort jetzt an jeder Schenke der Stadt angeschlagen zu sehen, verursachte ihnen deshalb sehr gemischte Gefühle. Aus Angst, zu spät zu kommen, waren sie am folgenden Morgen deshalb in aller Frühe aufgebrochen, lange bevor die Läden öffneten.

Royce wickelte seinen Schal vom Hals, setzte die Kapuze ab und sah sich um. Der verschneite Palast nahm die gesamte Südseite des Platzes ein, die anderen Seiten waren von Läden gesäumt. Kürschner hatten pelzbesetzte Mäntel und Hüte in ihren Schaufenstern ausgestellt, Schuhmacher sprachen vor ihren Läden Passanten an und erboten sich, ihre Stiefel einzufetten. Bäcker lockten die Reisenden mit wie Schneeflocken geformten Plätzchen und Gebäck, das mit Puderzucker bestreut war. In Ankündigung der bevorstehenden Festlichkeiten wehten überall bunte Fahnen.

Royce war gerade abgestiegen, da kam ein Junge auf ihn zu. »Darf ich Euch die Pferde abnehmen, meine Herren? Pro Nacht im Stall wäre das nur ein Silbertaler pro Pferd. Ich bürste sie persönlich ab und sorge dafür, dass sie guten Hafer bekommen.«

Hadrian stieg ebenfalls ab, schob die Kapuze zurück und lächelte den Jungen an. »Singst du ihnen abends auch noch ein Schlaflied?«

»Selbstverständlich, mein Herr«, antwortete der Junge schlagfertig. »Das kostet zwar zwei Kupferpfennige mehr, aber ich habe wirklich eine sehr schöne Stimme.«

»Bei allen anderen Ställen der Stadt kann man Pferde für fünf Pfennige unterstellen«, brummte Royce.

»Nicht in diesem Monat, Herr. Seit drei Tagen gelten die Preise für Wintertid. Ställe und Zimmer gehen weg wie warme Semmeln, vor allem in diesem Jahr. Ihr habt noch Glück, weil Ihr so früh dran seid. In zwei Wochen wird man die Pferde wahrscheinlich in Decken wickeln und auf den Feldern abstellen. Und eine Unterkunft kriegt man dann nur noch auf dem Boden. Man stapelt die Leute für fünf Silbertaler pro Nase wie Klafterholz. Ich kenne die besten und billigsten Wirtshäuser der Stadt. Ein Silbertaler ist momentan der günstigste Preis. In ein paar Tagen werdet Ihr das Doppelte zahlen müssen.«

Royce betrachtete ihn aufmerksam. »Wie heißt du?«

»Man nennt mich Brand den Unerschrockenen.« Er straffte sich und rückte den Kragen seiner Jacke zurecht.

Hadrian lachte leise. »Warum das?«

»Weil ich vor keiner Prügelei zurückschrecke, Herr.«

»Bist du auf diese Weise zu deiner Jacke gekommen?«, fragte Royce.

Der Junge sah an sich hinunter, als sehe er die Jacke zum ersten Mal. »Diesem Lumpen? Ich habe zu Hause noch fünf bessere. Aber heute trage ich die, damit die guten nicht vom Schnee nass werden.«

»Tja, Brand, kannst du die Pferde zum Gasthaus ALTE BURG in der Coswell Avenue bringen und sie dort im Stall unterstellen?«

»Selbstverständlich, Herr. Eine gute Wahl übrigens, mit Verlaub. Der Wirt ist ein anständiger Mann und berechnet günstige Preise. Ich wollte Euch soeben dasselbe Gasthaus vorschlagen.«

Royce sah ihn mit einem Grinsen an. Dann wandte er sich an die beiden Jungen, die in einiger Entfernung standen und so taten, als würden sie Brand nicht kennen, und winkte sie näher. Die Jungen zögerten, aber als er noch einmal winkte, gehorchten sie widerwillig.

»Wie heißt ihr?«, fragte er.

»Elbrecht, Herr«, antwortete der Größere der beiden. Er war älter als Brand und trug ein Messer unter dem Mantel. Offenbar war er der Anführer der Bande und hatte Brand für die Nummer mit den Pferden vorgeschickt.

»Minte, Herr«, sagte der andere, dem Aussehen nach der Jüngste. Seine Haare waren vor nicht allzu langer Zeit mit einem offenbar stumpfen Messer geschnitten worden. Er trug Lumpen aus schmutziger, zerschlissener Wolle. Aus Hemd und Hose ragten rosig leuchtend Handgelenke und Schienbeine hervor. Am besten zu passen schien ihm von all seinen Kleidern ein zerrissener Stoffbeutel, den er sich über die Schulter gehängt hatte. Denselben Stoff hatte er sich um die Füße gewickelt und mit Schnüren an den Knöcheln befestigt.

Hadrian ließ den Blick über die Ausrüstung wandern, die er am Sattel mit sich führte, entfernte das Langschwert und steckte es in die Scheide, die er unter seinem Mantel auf dem Rücken trug.

Royce gab dem ersten Jungen zwei Silbertaler, dann sagte er, an alle drei gewandt: »Brand bringt unsere Pferde in den Stall der ALTEN BURG und bucht uns ein Zimmer. Ihr beide bleibt so lange hier und beantwortet einige Fragen.«

»Moment, Herr, wir können doch nicht …«, begann Elbrecht, aber Royce sprach schon weiter.

»Wenn Brand mit einer Quittung von der Herberge zurückkehrt, bekommt jeder einen Silbertaler. Wenn er nicht zurückkehrt, sondern durchbrennt und die Pferde verkauft, schneide ich euch beiden die Kehle durch und hänge euch an den Füßen am Palasttor auf. Euer Blut sammle ich in einem Eimer und schreibe damit auf ein Schild, dass Brand der Unerschrockene ein Pferdedieb ist. Dann spüre ich ihn mit Hilfe der Palastwache und anderer Verbindungen, die ich in dieser Stadt habe, auf und sorge dafür, dass er dasselbe Schicksal erleidet.« Royce sah Brand grimmig an. »Haben wir uns verstanden?«

Die drei Jungen starrten ihn mit offenen Mündern an.

»Bei Mar!«, brachte Minte schließlich heraus. »Ihr seid ganz schön misstrauisch, Herr.«

Royce grinste unheilvoll. »Buche das Zimmer auf die Namen Grim und Baldwin. Und jetzt los, Brand, beeil dich. Nicht, dass sich deine Freunde noch Sorgen machen müssen.«

Brand ging mit den Pferden, die anderen beiden Jungen sahen ihm nach. Als Brand sich noch einmal umdrehte, schüttelte Elbrecht kaum merklich den Kopf.

»Und jetzt erzählt uns doch, was in diesem Jahr alles zu Wintertid veranstaltet wird.«

»Also …«, begann Elbrecht. »Es wird wahrscheinlich die denkwürdigste Winterfeier in hundert Jahren wegen der Hochzeit der Imperatorin und so.«

»Hochzeit?«, fragte Hadrian.

»Ja, Herr. Ich dachte, dass wüssten inzwischen alle. Die Einladungen wurden schon vor Monaten verschickt und von überall kommen reiche Leute und sogar Könige und Königinnen.«

»Wen heiratet sie denn?«, fragte Royce.

»Den dicken Ethelred«, platzte Minte heraus.

»Halt die Klappe, Minte«, zischte Elbrecht.

»Eine falsche Schlange ist er.«

Elbrecht schnaubte und gab ihm eine Ohrfeige. »Solche Behauptungen können dich das Leben kosten.« Er wandte sich an Royce und Hadrian. »Minte ist nur selbst in die Imperatorin verknallt und will deshalb nicht, dass der alte König sie kriegt.«

»Sie sieht wie eine Göttin aus, wirklich«, erklärte Minte mit einem andächtigen Blick. »Ich habe sie einmal gesehen. Als sie im Sommer eine Ansprache hielt, bin ich auf ein Dach geklettert, um besser sehen zu können. Wie ein Stern hat sie geleuchtet. Sie ist so schön, bei Mar! Man sieht sofort, dass sie die Tochter Novrons ist. Ich habe noch nie eine so schöne Frau gesehen.«

»Seht Ihr, was ich meine? Minte tickt nicht ganz richtig, was die Imperatorin angeht.« Elbrecht klang entschuldigend. »Er muss sich erst daran gewöhnen, dass Regent Ethelred die Zügel wieder in die Hand nimmt. Nicht, dass er sie je abgegeben hätte, die Imperatorin war ja krank und so.«

»Sie wurde von dem Ungeheuer verletzt, das sie droben im Norden getötet hat«, erklärte Minte. »Fast wäre sie an dem Gift gestorben. Es kamen zwar von überall Heiler, aber keiner konnte ihr helfen. Dann fastete und betete Regent Saldur sieben Tage und Nächte lang und Maribor offenbarte ihm, dass nur eine Magd namens Amilia aus Tarin im Tal mit ihrem reinen Herzen die Imperatorin retten könne. Was sie auch getan hat. Baronesse Amilia hat das sehr gut hingekriegt und die Imperatorin wieder aufgepäppelt.« Minte holte Luft, sein Blick hellte sich auf und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Es reicht, Minte«, sagte Elbrecht.

»Und was ist das?«, fragte Royce und zeigte auf die überdachte Tribüne, die in der Mitte des Platzes errichtet wurde. »Die Hochzeit findet doch wohl nicht hier draußen statt?«

»Nein, in der Kathedrale. Die Tribüne ist für die Zuschauer der Hinrichtung gedacht. Der Anführer der Rebellen soll verbrannt werden.«

»Ja, davon haben wir gehört«, sagte Hadrian leise.

»Ach so, Ihr seid zur Hinrichtung gekommen?«

»Mehr oder weniger.«

»Ich habe uns schon gute Plätze ausgesucht«, sagte Elbrecht. »Minte belegt sie am Vorabend für uns.«

»Moment, warum ich?«, fragte Minte.

»Brand und ich müssen die ganzen Sachen tragen. Du bist zu klein, um zu helfen, und Kine ist noch krank, also …«

»Aber du hast den Mantel und es ist bestimmt schweinekalt, die ganze Nacht da zu sitzen.«

Die beiden stritten sich, aber Royce sah, dass Hadrian ihnen nicht mehr zuhörte. Der Blick seines Freundes war auf das Tor, die Fassade und den Haupteingang des Palasts gerichtet. Hadrian schien die Wachen zu zählen.

Die Zimmer der ALTEN BURG sahen genauso aus wie in jeder anderen Herberge. Sie waren klein, heruntergekommen und muffig und hatten abgenutzte Böden. Neben der Feuerstelle war ein wenig Brennholz gestapelt, das aber nicht lange reichen würde. Wer es die ganze Nacht warm haben wollte, musste zu völlig überteuerten Preisen zusätzliches Holz kaufen. Royce drehte seine übliche Runde um den Block und hielt nach Gesichtern Ausschau, die ihm mehr als einmal begegneten. Bei seiner Rückkehr war er überzeugt, dass niemand ihre Ankunft bemerkt hatte – zumindest niemand, der für sie wichtig war.

»Zimmer acht«, sagte er. »Er ist schon fast eine Woche hier.«

»Eine Woche?«, fragte Hadrian. »Warum so früh?«

»Wenn du zehn Monate im Jahr im Kloster verbringen müsstest, würdest du zu Wintertid auch möglichst früh kommen.«

Hadrian nahm seine Schwerter und sie gingen den Flur entlang. Royce entriegelte lautlos das Schloss einer klapprigen Tür und drückte sie auf. Ihnen gegenüber brannten auf einem kleinen Tisch, der mit Tellern, Gläsern und einer Flasche Wein gedeckt war, zwei Kerzen. Vor einem Wandspiegel stand ein in Samt und Seide gekleideter Mann. Er zupfte an dem Band, mit dem er sich die blonden Haare zurückgebunden hatte, und rückte den hohen Kragen seiner Jacke zurecht.

»Sieht aus, als würden wir erwartet«, sagte Hadrian.

»Oder jemand anders«, ergänzte Royce.

»Was zum …« Albert Winslow fuhr erschrocken herum. »Wie wäre es mit Anklopfen?«

»Was soll ich sagen?« Royce ließ sich auf das Bett fallen. »Wir sind eben Gauner und Diebe.«

»Gauner ja«, erwiderte Albert, »aber Diebe? Wann habt Ihr zum letzten Mal etwas geklaut?«

»Höre ich da eine gewisse Unzufriedenheit heraus?«

»Ich bin ein Vicomte und habe einen Ruf zu verlieren. Deshalb brauche ich ein gewisses Einkommen – das ich nicht habe, wenn Ihr auf der faulen Haut liegt.«

Hadrian setzte sich an den Tisch. »Er ist nicht nur unzufrieden, er schimpft richtig mit uns.«

»Seid Ihr deshalb so früh gekommen?«, fragte Royce. »Weil Ihr nach Arbeit sucht?«

»Zum Teil ja. Aber ich habe es auch im Kloster nicht mehr ausgehalten. Ich werde dort allmählich zur Lachnummer. Als ich mit Baron Daref Kontakt aufnahm, konnte er sich nicht mit Klosterwitzen auf meine Kosten zurückhalten. Baronin Mae dagegen war von der frommen Umgebung sehr angetan.«

»Ist sie diejenige, die …« Hadrian machte eine Handbewegung in Richtung des sorgfältig gedeckten Tischs.

»Ja, ich wollte sie gerade abholen. Das kann ich jetzt wohl vergessen.« Albert sah die beiden an und seufzte.

»Tut uns leid.«

»Ich hoffe, der Auftrag ist einträglich. Mein Wams ist neu und der Schneider noch nicht bezahlt.« Er blies die Kerzen aus und setzte sich Hadrian gegenüber.

»Wie ist die Lage im Norden?«, fragte Royce.

Albert schürzte nachdenklich die Lippen. »Ihr wisst vermutlich, dass Medford erobert wurde? Imperiale Truppen haben es besetzt. Dasselbe gilt für die meisten Burgen mit Ausnahme von Drondilsfeld.«

Royce fuhr hoch. »Nein, das wussten wir nicht. Wie geht es Gwen?«

»Keine Ahnung. Ich habe auch erst hier davon erfahren.«

»Sind Alric und Arista in Drondilsfeld?«, fragte Hadrian.

»König Alric ja, aber die Prinzessin war nicht in Medford, soviel ich weiß. Ich glaube, sie ist in Rehagen. Sie wurde dort zur Bürgermeisterin ernannt, habe ich gehört.«

Hadrian schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren eben erst dort. Sie war zwar nach den Kämpfen kurz Bürgermeisterin, ist aber schon vor Monaten über Nacht spurlos verschwunden. Niemand kennt den Grund. Ich habe einfach angenommen, sie sei nach Hause zurückgekehrt.«

Albert zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, aber ich weiß davon nichts. Es wäre auch gar nicht gut gewesen. Die Imperialisten haben Drondilsfeld eingeschlossen. Dort kommt niemand mehr rein und raus. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Alric kapitulieren muss.«

»Sind die Imperialisten auch in der Abtei aufgetaucht?«, fragte Royce.

Albert schüttelte den Kopf. »Soviel ich weiß nicht. Aber wie gesagt, ich war schon hier, als sie den Galewyr überquert haben.«

Royce stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sonst noch was?«, fragte Hadrian.

»Gerüchten zufolge wurde Tur Del Fur von Goblins überfallen. Aber das ist meines Wissens nach nur ein Gerücht.«

»Es ist kein Gerücht«, sagte Hadrian.

»Nein?«

»Wir waren dabei. Wir waren sogar daran schuld.«

»Das klingt … interessant«, sagte Albert.

Royce blieb stehen. »Bitte nicht weiter nachfragen.«

»Na gut. Weshalb seid Ihr nach Aquesta gekommen? Vermutlich nicht, um hier Wintertid zu feiern.«

»Wir wollen Degan Gaunt aus dem Kerker des Palasts befreien und brauchen Euch für die nötigen Recherchen im Palast«, sagte Royce.

»Ach ja? Aber Ihr wisst schon, dass er an Wintertid hingerichtet werden soll?«

»Ja, deshalb müssen wir uns beeilen«, erklärte Hadrian. »Wäre schlecht, wenn wir zu spät kämen.«

»Seid Ihr verrückt? Im Palast? Um Wintertid? Habt Ihr auch von der kleinen Hochzeit gehört, die da stattfinden soll? Die Sicherheit dürfte aus diesem Anlass geringfügig erhöht werden. Ich sehe im Hof täglich eine Schlange von Männern anstehen, alles Bewerber für die Palastwache.«

»Und?«, fragte Hadrian.

»Wir müssten die Hochzeit eigentlich zu unserem Vorteil nutzen können«, sagte Royce. »Ist schon jemand in der Stadt, den wir kennen?«

»Soviel ich weiß, sind Genevieve und Leo vor kurzem eingetroffen.«

»Wirklich? Ausgezeichnet. Nehmt Kontakt zu ihnen auf. Sie wohnen bestimmt im Palast. Fragt sie, ob sie Euch dort einschleusen können. Und dann findet heraus, was Ihr könnt, vor allem, wo Gaunt gefangen gehalten wird.«

»Aber dazu brauche ich Geld. Ich wollte eigentlich nur einige lokale Bälle besuchen und vielleicht ein Bankett. Aber wenn ich im Palast ermitteln soll, brauche ich bessere Kleider. Bei Mar, seht Euch meine Schuhe an. Seht sie Euch an! Damit kann ich der Imperatorin nicht unter die Augen treten.«

»Leiht Euch einstweilen was von Genevieve und Leo«, sagte Royce. »Ich breche heute Abend nach Medford auf und komme mit genügend Geld wieder, um unsere Unkosten zu decken.«

»Ihr wollt schon wieder weg?«, fragte Albert. »Noch heute Abend? Ihr seid doch eben erst angekommen.«

Der Dieb nickte.

»Gwen konnte Medford bestimmt rechtzeitig verlassen«, versuchte Hadrian ihn zu trösten.

»Wir haben noch fast einen Monat bis Wintertid«, sagte Royce. »In einer Woche bin ich wieder da. Bis dahin sammelt so viele Informationen, wie Ihr könnt, dann machen wir bei meiner Rückkehr einen Plan.«

»Na gut«, murmelte Albert. »Wenigstens wird Wintertid nicht langweilig.«

2

In tiefer Finsternis

Jemand wimmerte.

Diesmal war es die Stimme eines Mannes, eine Stimme, die Arista schon gehört hatte. Alle brachen irgendwann in Tränen aus. Manche bekamen sogar hysterische Anfälle. Eine Frau hatte Schreikrämpfe bekommen, aber man hatte sie vor einiger Zeit weggebracht. Nicht freigelassen, da machte Arista sich keine Illusionen. Sie hatte gehört, wie man ihre Leiche über den Boden nach draußen geschleift hatte. Der wimmernde Mann hatte früher laut gerufen, war in den vergangenen Tagen jedoch nach und nach verstummt. Das Wimmern war kaum noch zu hören. Vor einiger Zeit hatte er noch gebetet. Zu Aristas Überraschung nicht um seine Rettung oder einen schnellen Tod, sondern ausschließlich für seine Geliebte. Er hatte Maribor wortreich angefleht, sie zu beschützen, doch hatte die Prinzessin den Namen der Frau nicht verstanden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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