Im Schatten des Kronturms - Michael J. Sullivan - E-Book
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Im Schatten des Kronturms E-Book

Michael J. Sullivan

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Beschreibung

Start der neuen Serie des Bestsellerautors Michael J. Sullivan »Hadrian Blackwater hatte sich erst fünf Schritte vom Schiff entfernt, da wurde er ausgeraubt.« Zwei undurchschaubare Männer, die einander hassen. Eine aussichtslose Mission. Und eine Legende, die gerade erst ihren Anfang nimmt. In dieser neuen Reihe erzählt Michael J.Sullivan die atemberaubende Geschichte, wie die Diebesbande Riyria gegründet wurde: Die Riyria-Chroniken. Hadrian Blackwater, ein Krieger, der im Moment nichts hat, wofür er kämpfen könnte, begegnet Royce Melborn, einem Dieb und Mörder, der nichts hat, was er verlieren könnte. Beide werden von einem alten Zauberer angeheuert, um ein geheimnisvolles Buch zu stehlen. Es liegt in dem uneinnehmbaren Kronturm, der am besten geschützten Festung, die je errichtet wurde. Und nein, es geht nicht um Gold oder Juwelen … Es geht um viel mehr. Michael J. Sullivan kehrt zurück zu Riyria und erzählt die Vorgeschichte, das heißt die Abenteuer, bei denen Hadrian und Royce erst zusammenfanden.

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Seitenzahl: 598

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Michael J. Sullivan

Im Schatten des Kronturms

Die Riyria-Chroniken 1

Aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Crown Tower. Book One of the Riyria Chronicles« im Verlag Orbit, Hachette Book Group, New York

© 2013 by Michael J. Sullivan

Karte © Michael J. Sullivan

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung eine Illustration von © Larry Rostant

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98569-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11595-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Pickles

Gwen

Mit dem Schiff unterwegs

Die Schenke

ZUM FRATZENKOPF

Mord auf dem Bernum

Die Ruine in der Schiefen Straße

Colnora

Das

MEDFORDHAUS

Der Professor

10 

Der Kapuzenmann

11 

Vorbereitungen

12 

Raynor Grue

13 

Iberton

14 

Wieder in Sheridan

15 

Die Zukunft im Blick

16 

Der Kronturm

17 

Royce

18 

Rose

19 

Flucht

20 

Tom die Feder

21 

Er

22 

Ein falscher Name

Fortsetzung der Vorbemerkung des Autors

Glossar der Namen, Orte und Begriffe

Danksagung

Lerne den Autor kennen

Interview

Für die Leser, die an mich geglaubt haben,als niemand sonst an mich glauben wollte.

Vorbemerkung des Autors

Willkommen bei den Riyria-Chroniken.

Sofern du neu in der Welt von Elan bist, solltest du vielleicht diese Einleitung lesen, um herauszufinden, wo du anfangen willst. Denn das muss nicht notwendigerweise hier sein. Aber auch Leser, die bereits die Riyria-Serie kennen, lesen vielleicht gern diese Einleitung, um mehr über die Entstehung der Serie zu erfahren und darüber, was sie hier erwartet.

Die Riyria-Chroniken gehen meiner Debut-Serie The Riyria Revelations (dt.: Riyria) zeitlich voraus, deren erster Teil Theft of Swords (dt. die beiden Bände Der Thron von Melengar und Der Turm von Avempartha) im November 2011 bei Orbit erschien, im Dezember gefolgt von Rise of Empire (dt. Der Aufstieg Nyphrons und An Bord der Smaragdsturm) und im Januar 2012 abgeschlossen mit Heir of Novron (dt. Das Fest von Aquesta und Die verborgene Stadt Percepliquis). Wer die Geschichten lieber in chronologischer Reihenfolge liest, fängt aber hier mit diesem Buch an. Ich habe mir große Mühe gegeben, nichts zu verraten, was erst in den späteren Büchern eine Rolle spielt. Umgekehrt muss man die späteren Bücher auch nicht kennen. Die Chroniken sollten für Leser aus beiden Lagern (chronologisch oder Reihenfolge der Veröffentlichung) geeignet sein. Ursprünglich waren sie übrigens dazu gedacht, nach der Riyria-Serie gelesen zu werden. Leser der späteren Bücher, die bereits den ganzen Bogen der Geschichte kennen, werden hier gerade deshalb mancher Überraschung begegnen. Doch ist das nicht entscheidend, um die Geschichte zu verstehen, es handelt sich nur um einen kleinen Extrabonus für die »Eingeweihten«. Der Leser kann seine Abenteuerreise durch Elan entweder mit der Schatten des Kronturms oder dem Thron von Melengar beginnen.

Die Fortsetzung der Vorbemerkung des Autors finden Sie hier.

1

Pickles

Hadrian Blackwater hatte sich erst fünf Schritte vom Schiff entfernt, da wurde er ausgeraubt.

Die Tasche – seine einzige – wurde ihm aus der Hand gerissen. Den Dieb bekam er nicht einmal zu Gesicht. In dem von Laternen erhellten Durcheinander auf dem Anlegesteg sah er sowieso nur ein Meer von Gesichtern und Menschen, die von der Gangway des Schiffs wegdrängelten oder sich auf das Schiff zuschoben. An das regelmäßige Auf und Ab des Schiffsdecks gewöhnt, hatte er auf festem Boden inmitten des Gewühls Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die anderen Neuankömmlinge blieben immer wieder stehen, so dass jede Vorwärtsbewegung zum Stillstand kam. Die am Ufer Wartenden suchten Freunde und Angehörige durch Rufe, Hüpfen und Winken auf sich aufmerksam zu machen. Wieder andere, von Berufs wegen hier und mit Fackeln in den Händen, boten lauthals Unterkünfte und Arbeit an. Ein glatzköpfiger Mann mit einer Stimme wie eine Kriegstrompete stand auf einer Kiste und schwor, im Wirtshaus ZUR SCHWARZEN KATZE sei das stärkste Bier zum günstigsten Preis zu haben. Zwanzig Schritte weiter balancierte sein Rivale auf einem wackligen Fass, hieß den Glatzkopf einen Lügner und behauptete, der GLÜCKSPILZ sei das einzige Wirtshaus, in dem Hammelfleisch nicht durch Hundefleisch ersetzt würde. Hadrian kümmerte das alles nicht. Er suchte nach einem Weg aus dem Gedränge, um den Dieb, der ihm die Tasche gestohlen hatte, verfolgen zu können. Doch musste er schließlich einsehen, dass das wohl aussichtslos war. Er beschloss, dafür ab sofort besonders gut auf seine Geldbörse aufzupassen, die ihm nicht gestohlen worden war. Insofern wenigstens hatte er Glück gehabt: Er hatte nichts Wertvolles verloren – nur Kleider, was angesichts der herbstlichen Kälte in Avryn allerdings sehr unangenehm werden konnte.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich im Strom der Menge treiben zu lassen und aufzupassen, dass er nicht in ihr unterging, sondern wenigstens den Kopf oben behielt. Der Steg knarrte und ächzte unter dem Gewicht der Passagiere, die sich fluchtartig von dem Schiff entfernten, das über einen Monat lang ihr beengtes Zuhause gewesen war. An die Stelle der frischen salzigen Luft, die sie wochenlang eingeatmet hatten, war jetzt allerdings ein beißender Gestank von Fisch, Rauch und Teer getreten. Hoch über dem dunklen Hafen stiegen die Lichter der Stadt auf wie helle Punkte an einem gestirnten Himmel.

Hadrian folgte vier dunkelhäutigen Männern aus Calis, beladen mit Käfigen voller bunter Vögel, die kreischten und flatterten. Hinter ihm gingen ein Mann und eine Frau, beide ärmlich gekleidet. Der Mann trug gleich zwei Taschen, eine über der Schulter und die andere unter dem Arm. Für sein Gepäck schien sich freilich niemand zu interessieren. Hadrian wurde klar, dass er die falschen Kleider trug. In einem Land des Leders und der Wolle war sein östliches, weißleinenes Gewand nicht nur lächerlich dünn, sondern zusammen mit dem goldgesäumten Mantel eine plakative Zurschaustellung von Reichtum.

»Heda! Hierher!« Die Stimme war in dem ohrenbetäubenden Lärm von Stimmen, Wagenrädern und Glocken kaum zu hören. »Hier lang. Ja Ihr, kommt. Hierher!«

Am Ende der Rampe angelangt, wo das Gedränge ein wenig nachließ, fiel Hadrians Blick auf einen halbwüchsigen, sehnigen Jungen. In Lumpen gekleidet, wartete er unter dem feurigen Schein einer schwankenden Laterne. Er hielt Hadrians Tasche und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Ja genau, Ihr, bitte kommt«, rief er und winkte mit der freien Hand. »Hierher.«

»Das ist doch meine Tasche!«, rief Hadrian empört und beschleunigte seinen Schritt, soweit es die Passanten auf dem schmalen Steg zuließen.

»Vollkommen richtig!« Der Bursche lächelte noch breiter und seine Augen leuchteten. »Ihr hattet ja ein solches Glück, dass ich sie Euch weggenommen habe. Sonst hätte man sie Euch bestimmt geklaut.«

»Du hast sie mir geklaut!«

»Aber nein, überhaupt nicht. Ich habe nur gut auf Eure wertvollen Sachen aufgepasst.« Der magere Bursche straffte sich, als wollte er vor Hadrian salutieren. »Jemand wie Ihr sollte seine Tasche nicht selbst tragen.«

Hadrian schob sich an drei Frauen vorbei, die stehen geblieben waren, um ein weinendes Kind zu trösten, und stieß auf das nächste Hindernis, einen alten Mann, der einen riesigen Koffer hinter sich herzog. Der Alte, klapperdürr und mit leuchtend weißen Haaren, blockierte den engen Durchgang, der sowieso schon durch den Berg von Taschen, die achtlos vom Schiff auf den Steg geworfen wurden, versperrt war.

»Was meinst du mit jemand wie ich?«, rief Hadrian über den Koffer hinweg, mit dem der Alte kämpfte.

»Ihr seid doch ein berühmter Ritter.«

»Nein, bin ich nicht.«

Der Junge zeigte mit der Hand auf ihn. »Doch, ganz bestimmt. Seht doch, wie groß Ihr seid. Und Ihr tragt Schwerter, sogar drei. Und das Schwert auf Eurem Rücken ist riesig. Nur Ritter haben so was.«

Der Koffer des Alten verkantete sich in einem Spalt am Ende der Rampe. Hadrian bückte sich mit einem Seufzer und hievte ihn darüber, was ihm einen Schwall von Dankesworten in einer ihm unbekannten Sprache einbrachte.

»Seht Ihr«, sagte der Junge. »Nur ein Ritter hilft einem Fremden in Not einfach so.«

Weitere Taschen fielen polternd auf den Stapel neben Hadrian. Eine rutschte über den Rand des Stegs und fiel mit einem Plumps ins schwarze Hafenwasser. Hadrian ging rasch weiter, um nicht von oben getroffen zu werden und um sein gestohlenes Eigentum wieder an sich zu nehmen. »Ich bin kein Ritter. Und jetzt gib mir meine Tasche.«

»Ich werde sie für Euch tragen. Ich bin übrigens Pickles, aber wir müssen uns beeilen. Schnell!« Der Junge, dessen Füße nackt und schmutzig waren, umklammerte Hadrians Tasche mit beiden Armen und lief los.

»He!«

»Schnell! Wir dürfen hier nicht bleiben.«

»Warum die Eile? Von was redest du? Komm sofort mit meiner Tasche zurück!«

»Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass Ihr mich habt. Ich kenne mich hier aus. Wenn Ihr etwas braucht, ich weiß, wo man es findet. Mit mir bekommt Ihr von allem das Beste für das wenigste Geld.«

Hadrian hatte ihn eingeholt, packte seine Tasche und zog daran. Doch der Junge ließ sich nicht abschütteln und kam im Schlepptau der Tasche mit.

»Da, seht Ihr?« Der Junge grinste. »Niemand nimmt mir Eure Tasche weg!«

»Hör zu« – Hadrian musste kurz verschnaufen – »ich brauche keinen Führer. Ich bleibe nicht hier.«

»Wohin wollt Ihr?«

»Nach Norden, weit hinauf. Zu einem Ort namens Sheridan.«

»Aha, zur Universität.«

Hadrian sah den Jungen überrascht an. Pickles machte keinen besonders gebildeten Eindruck. Er erinnerte eher an einen herrenlosen Hund, der vielleicht einmal ein Halsband getragen hatte, jetzt aber nur noch aus Flöhen, deutlich vorstehenden Rippen und einem stark ausgeprägten Überlebensinstinkt bestand.

»Ihr wollt studieren und Gelehrter werden? Ich hätte es wissen müssen. Entschuldigt, wenn ich Euch gekränkt habe. Ihr seid sehr klug – also werdet Ihr bestimmt ein großer Gelehrter. Ihr solltet mir kein Trinkgeld geben, weil ich einen solchen Fehler gemacht habe. Aber das ist ja noch viel besser. Ich weiß nämlich genau, wohin wir jetzt müssen. Es gibt ein Schiff, das den Barnum aufwärts fährt. Jawohl, dieses Schiff ist ideal für Euch und es fährt heute Abend. Danach fährt tagelang keins mehr und Ihr wollt doch nicht in einem solchen Kaff wie dem hier festsitzen. Wir werden in Windeseile in Sheridan sein.«

»Wir?« Hadrian lächelte säuerlich.

»Aber Ihr braucht mich doch als Begleiter. Ich kenne mich nicht nur in Vernes aus, sondern in ganz Avryn – ich bin viel gereist. Ich kann Euch helfen, als Euer Bursche, der Euch beschafft, was Ihr braucht, und auf Eure Habe aufpasst und sie vor Dieben schützt, während Ihr studiert. Dafür bin ich bestens geeignet.«

»Ich bin kein Student und will auch keiner werden. Ich will nur jemanden besuchen und ich brauche keinen Burschen.«

»Natürlich braucht Ihr das nicht – wenn Ihr kein Gelehrter werden wollt –, aber als Sohn eines adligen Herrn, der soeben aus dem Osten zurückgekehrt ist, braucht Ihr auf jeden Fall einen Hausdiener, und auch darauf verstehe ich mich hervorragend. Ich werde dafür sorgen, dass Euer Nachttopf immer geleert ist und im Winter ein warmes Feuer im Kamin brennt. Und im Sommer werde ich mit einem Fächer die Fliegen verscheuchen.«

»Pickles«, sagte Hadrian energisch, »ich bin kein Fürstensohn und brauche keinen Diener. Ich …« Er brach ab, weil er merkte, dass der Junge ihm nicht mehr zuhörte. Sein eben noch fröhliches Gesicht war ängstlich geworden. »Was ist?«

»Ich sagte doch, wir müssen uns beeilen. Wir müssen den Hafen sofort verlassen!«

Hadrian folgte dem Blick des Jungen. Einige Männer mit Knüppeln marschierten den Steg entlang und die Bretter zitterten unter ihren schweren Schritten.

»Ein Presskommando«, sagte Pickles. »Die tauchen immer auf, wenn ein Schiff ankommt. Sie haben es auf Neuankömmlinge wie Euch abgesehen, und als Nächstes wacht Ihr im Bauch eines Schiffes auf, das bereits in See gestochen ist. Oh nein!« Pickles unterdrückte einen Schrei, denn einer der Männer hatte sie bemerkt.

Er verständigte seine Kameraden mit einem kurzen Pfiff und einem Schulterklopfen. Die vier Männer kamen auf sie zu. Pickles zuckte zusammen und verlagerte das Gewicht, als wollte er fliehen, doch dann sah er Hadrian an, biss sich auf die Lippen und rührte sich nicht von der Stelle.

Die Schläger näherten sich im Laufschritt. Als sie Hadrians Schwerter sahen, wurden sie langsamer und blieben stehen. Sie hätten Brüder sein können mit ihren Bartstoppeln und geölten Haaren, der sonnenverbrannten Haut und den finsteren Gesichtern. Offenbar blickten sie gerne so finster drein, denn die Falten hatten sich dauerhaft in ihre Stirn gegraben.

Ein wenig verwirrt betrachteten sie Hadrian, dann fragte der vorderste, der einen schmutzigen Kittel mit einem zerrissenen Ärmel trug: »Ihr seid ein Ritter?«

»Nein, eben nicht.« Hadrian verdrehte die Augen.

Der Mann hinter ihm lachte und gab dem mit dem zerrissenen Ärmel einen groben Schubs. »Idiot – der ist doch kaum älter als der Junge neben ihm.«

»Schubs mich nicht auf den glitschigen Brettern, verdammt.« Der Mann sah wieder Hadrian an. »So jung ist er auch nicht.«

»Und möglich wäre es«, sagte ein dritter. »Könige machen manchmal einen solchen Quatsch. Ich habe gehört, dass einer mal seinen Hund zum Ritter geschlagen hat. Ritter von Hund hieß er dann.«

Die vier lachten. Hadrian wollte schon einfallen, aber der entsetzte Blick auf Pickles’ Gesicht hielt ihn davon ab.

Der Mann mit dem zerrissenen Ärmel kam einen Schritt näher. »Aber wenn er kein Ritter ist, dann mindestens ein Schildknappe. Seht doch das viele Eisen, bei Maribor! Wo ist dein Herr, Bursche? Irgendwo in der Nähe?«

»Ich bin auch kein Knappe«, erwiderte Hadrian.

»Nein? Wozu dann das viele Eisen?«

»Das geht euch nichts an.«

Die Männer lachten. »Warum so unfreundlich?«

Sie verteilten sich und hoben ihre Knüppel. Einer hatte durch ein Loch im Griff einen Lederriemen gefädelt und sich den Riemen um das Handgelenk gewickelt. Er scheint das für einen guten Einfall zu halten, dachte Hadrian.

»Lasst uns gefälligst in Ruhe«, sagte Pickles. Seine Stimme zitterte. »Wisst ihr denn nicht, wer das ist?« Er zeigte auf Hadrian. »Ein berühmter Schwertkämpfer, der schon viele Menschen auf dem Gewissen hat.«

Gelächter. »Ach ja?«, sagte wieder der Vorderste und spuckte aus. Er hatte gelbe Zähne.

»Ja wirklich!«, beharrte Pickles. »Er ist brutal, eine Bestie – und sehr reizbar, sehr gefährlich.«

»Ein junger Spund wie der?« Der Mann starrte Hadrian an und schob überlegend die Lippen vor. »Groß ist er ja, zugegeben – aber ich habe den Eindruck, dass ihm noch die Muttermilch übers Kinn läuft.« Er wandte sich wieder Pickles zu. »Und du hast ganz bestimmt noch keinen Menschen auf dem Gewissen, Junge. Du bist eine Ratte wie die, die ich gestern gesehen habe, als sie unter den Dielen der Schenke nach Essensresten gesucht hat. Aber jetzt erwartet dich ein neues Leben auf See. Ist im Grunde das Beste für dich. Du bekommst zu essen und lernst zu arbeiten – richtig hart zu arbeiten. Das wird einen Mann aus dir machen.«

Pickles wollte sich wegducken, aber der Mann packte ihn an den Haaren.

»Lass ihn los«, sagte Hadrian.

»Was hast du eben gesagt?« Der Mann, der Pickles festhielt, kicherte. »Geht euch nichts an?«

»Er ist mein Knappe«, erklärte Hadrian.

Die Männer lachten wieder. »Du sagtest doch, du wärst kein Ritter, schon vergessen?«

»Er arbeitet für mich – das muss reichen.«

»Aber nein, er arbeitet jetzt für die Marine.« Der Mann legte Pickles seinen muskulösen Arm um den Hals und drückte ihn nach unten, während sein Kumpan hinter den Jungen trat und einen Strick vom Gürtel zog.

»Loslassen, habe ich gesagt.« Hadrian hatte die Stimme erhoben.

»Moment!«, rief der Mann mit dem zerrissenen Ärmel empört. »Du hast hier gar nichts zu sagen, Jungspund. Dich nehmen wir auch nicht mit, weil du jemand anders gehörst, jemand, der dich drei Schwerter tragen lässt und dich womöglich vermisst. Dann würden wir nur Probleme bekommen. Aber provoziere uns nicht. Wenn du das tust, brechen wir dir die Knochen. Provoziere uns noch einmal und wir stecken dich auch auf ein Schiff. Und wenn du uns noch mehr ärgerst, kriegst du nicht mal das Schiff.«

»Ich kann Leute wie euch wirklich nicht ausstehen«, sagte Hadrian. »Ich bin eben erst angekommen, war einen Monat auf See – einen ganzen Monat! So lange bin ich gefahren, damit mir genau so etwas nicht mehr passiert.« Unwillig schüttelte er den Kopf. »Und dann kommt ihr daher – und du auch.« Hadrian zeigte auf Pickles, dem die Männer gerade die Hände auf den Rücken fesselten. »Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten. Ich wollte auch keinen Führer, keinen Knappen und keinen Diener, weil ich hervorragend alleine zurechtkomme. Aber nein, du musstest mir die Tasche wegnehmen und mich mit deiner guten Laune nerven. Und was am schlimmsten ist, du bist nicht weggelaufen. Vielleicht aus Blödheit – keine Ahnung. Aber ich werde den Verdacht nicht los, dass du mir helfen wolltest.«

»Tut mir leid, dass ich das nicht konnte.« Pickles blickte mit traurigen Augen zu ihm auf.

Hadrian seufzte. »Verdammt, jetzt machst du das schon wieder.« Er wandte sich an die Schläger. Zwar wusste er schon, wie ihre Begegnung ausgehen würde – nämlich wie solche Begegnungen immer ausgingen –, aber er wollte trotzdem noch einen Versuch machen. »Hört mal, ich bin kein Ritter. Ich bin auch kein Knappe, aber die Schwerter gehören mir. Und Pickles wollte euch nur einschüchtern, aber ich habe wirklich …«

»Du bist jetzt schön still.« Der Mann mit dem zerrissenen Ärmel kam noch einen Schritt näher und hob den Knüppel, um Hadrian einen Schlag zu versetzen. Hadrian hatte auf dem rutschigen Steg keine Mühe, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er packte ihn am Arm und verdrehte Handgelenk und Ellbogen. Ein Knochen brach mit einem Knacken wie von einer splitternden Walnuss. Der Mann schrie auf und Hadrian versetzte ihm einen Stoß. Mit einem lauten Platschen stürzte er ins Wasser.

Hadrian hätte jetzt seine Schwerter ziehen können – und hätte es aus Gewohnheit auch fast getan –, aber er hatte sich gelobt, dass alles anders werden sollte. Außerdem hatte er dem Mann den Knüppel weggenommen, bevor er ihn vom Steg gestoßen hatte, ein festes Stück Hickoryholz, etwa einen Zoll dick und einen guten Fuß lang. Der Griff war von jahrelangem Gebrauch glatt poliert, das Ende braun gefleckt vom Blut, das in die Holzfasern eingedrungen war.

Die anderen Männer gaben den Versuch auf, Pickles zu fesseln. Einer hielt ihn weiter im Schwitzkasten fest, die anderen beiden stürzten sich auf Hadrian. Hadrian schätzte rasch ihr Gewicht ein und die Geschwindigkeit, mit der sie näherkamen, wich dem Knüppel des ersten aus, stellte dem zweiten ein Bein und versetzte ihm, während er stürzte, einen Schlag auf den Hinterkopf. Der Knüppel machte ein hohles Geräusch wie auf einem Kürbis. Der Mann fiel auf die Planken und blieb bewegungslos liegen. Sein Kumpan holte erneut mit seinem Knüppel aus, doch Hadrian parierte den Schlag mit seinem eigenen Knüppel und schlug ihm auf die Finger. Der Mann schrie und ließ den Knüppel los, so dass er an dem Riemen um sein Handgelenk baumelte. Hadrian packte ihn, drehte ihn fest, bog dem Mann den Arm auf den Rücken und zog mit einem heftigen Ruck daran. Nicht der Knochen brach, aber dafür sprang die Schulter aus dem Gelenk. Die zitternden Beine des Mannes zeigten an, dass jeglicher Kampfeswille aus ihm gewichen war, und Hadrian stieß ihn über den Rand des Stegs, seinem Kumpan hinterher.

Als er sich dem letzten der vier zuwenden wollte, stand da nur noch Pickles und rieb sich den Hals. Der letzte der Angreifer entfernte sich bereits im Laufschritt.

»Glaubst du, er kommt mit Verstärkung zurück?«, fragte Hadrian.

Pickles sagte nichts, sondern starrte ihn nur mit offenem Mund an.

»Hat wohl keinen Sinn, darauf zu warten«, beantwortete Hadrian seine Frage selbst. »Wo liegt dieses Schiff, von dem du gesprochen hast?«

Sie entfernten sich vom Anlegesteg und tauchten in die Stadt ein. Es war immer noch heiß und stickig. Vernes bestand aus einem Labyrinth enger, mit Ziegeln gepflasterter Straßen im Schatten von Balkonen, die sich fast berührten. Laternen und Mond gaben nur spärlich Licht, einige einsame Gassen verloren sich ganz im Dunkeln. Hadrian war dankbar dafür, Pickles dabeizuhaben. Die »Ratte« hatte sich von ihrem Schreck erholt und erinnerte jetzt mehr an einen Spürhund. Unbeirrt schnürte der Junge durch die Gassen, sprang über Pfützen, die nach Müll stanken, und wich mit geübten Bewegungen Wäscheleinen und Gerüsten aus.

»Hier ist das Quartier der Schiffszimmerleute und da wohnen die Hafenarbeiter.« Er zeigte auf ein düsteres Gebäude unweit des Hafens. Es hatte drei Stockwerke, eine Tür und nur wenige Fenster. »Die meisten Männer, die hier arbeiten, wohnen dort oder in einem ähnlichen Gebäude am südlichen Ende. Hier dreht sich alles um die Schifffahrt. Und da droben, auf dem Berg – seht Ihr? Da ist die Burg.«

Hadrian hob den Kopf und konnte die dunklen Umrisse einer von Fackeln beleuchteten Festung erkennen.

»Eigentlich ist es gar keine richtige Burg, eher ein Kontor für Händler und Kaufleute. Die brauchen hohe und dicke Mauern für das viele Gold, das sie dort horten. Denn dorthin kommt das ganze Geld, das die Schiffe bringen. Alles andere sinkt nach unten – nur Gold steigt auf.«

Pickles wich einem umgekippten Eimer aus und verscheuchte zwei katzengroße Ratten, die hastig im Dunkeln verschwanden. Sie passierten eine Tür und Hadrian merkte erst im letzten Moment, dass es sich bei dem Lumpenhaufen auf der Treppe davor in Wirklichkeit um einen steinalten Mann handelte. Der Alte hatte einen struppigen Bart und ein runzliges Gesicht und saß vollkommen bewegungslos da, zwinkerte nicht einmal mit den Augen. Hadrian hatte ihn überhaupt nur deshalb bemerkt, weil der Kopf seiner Pfeife glutfarben aufleuchtete.

»Vernes ist eine schmutzige Stadt«, rief Pickles. »Ich bin froh, dass wir wegkommen. Hier sind zu viele Fremde, zu viele aus dem Osten – und mit Euch sind noch mehr gekommen. Seltsame Leute, die Menschen aus Calis. Die Frauen können hexen und die Zukunft voraussagen, wobei ich finde, dass man lieber nicht zu viel über die eigene Zukunft wissen sollte. Im Norden brauchen wir uns um solche Dinge nicht zu sorgen. In Warric verbrennen sie im Winter Hexen, um sich warm zu halten. Zumindest habe ich das gehört.« Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu Hadrian um. »Wie heißt Ihr eigentlich?«

»Jetzt willst du es auf einmal wissen, ja?« Hadrian lachte.

»Ich brauche Euren Namen, wenn ich das Schiff für Euch buche.«

»Das kann ich selber. Vorausgesetzt natürlich, du bringst mich wirklich zu einem Schiff und nicht nur in eine dunkle Ecke, in der du mich zusammenschlägst und gründlich ausraubst.«

Pickles sah ihn gekränkt an. »So etwas würde ich nie tun. Haltet Ihr mich für einen solchen Dummkopf? Erstens habe ich erlebt, wie Ihr mit Leuten verfahrt, die Euch zusammenschlagen wollen. Zweitens sind wir schon an einem Dutzend bestens dafür geeigneter dunkler Winkel vorbeigekommen.« Er lächelte wieder sein strahlendes Lächeln, für Hadrian eine Mischung aus einem Viertel Mutwillen, einem Viertel Stolz und zwei Vierteln schlichter Lebensfreude. Dem konnte er nichts entgegensetzen. Er hätte auch gar nicht sagen können, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte, wie Pickles aussah.

Der Anführer des Presskommandos hatte recht gehabt. Pickles konnte nur vier oder fünf Jahre jünger sein als er. Fünf, dachte er. Er ist fünf Jahre jünger als ich. Er ist wie ich, bevor ich weggegangen bin. Habe ich damals auch dieses Lächeln gehabt? Hadrian hätte zu gern gewusst, wie lange Pickles schon allein unterwegs war und ob er in fünf Jahren immer noch so lächeln würde.

»Hadrian.« Er streckte die Hand aus. »Hadrian Blackwater.«

Der Junge nickte. »Schöner Name. Sehr schön. Besser als Pickles – aber das sind ja alle Namen.«

»Hat deine Mutter dich so genannt?«

»Ja, ziemlich sicher. Gerüchten zufolge wurde ich auf derselben Kiste mit Mixed Pickles gezeugt und geboren. Und gegen ein solches Gerücht kommt man nicht an. Selbst wenn es nicht stimmt.«

Sie tauchten aus dem Gewirr der Gassen auf und gelangten auf eine breitere Straße und zu einem Platz. Sie waren bergauf gegangen und Hadrian sah weiter unten den Hafen und die Masten des Schiffes, mit dem er gekommen war. Auf dem Steg drängten sich immer noch Menschen, die nach ihrem Gepäck oder einer Unterkunft suchten. Hadrian fiel die Tasche ein, die ins Wasser gefallen war. Wie viele würden feststellen müssen, dass sie mit kaum etwas oder gar nichts in einer fremden Stadt gestrandet waren?

Ein Hundebellen schreckte ihn auf und er blickte in die Richtung, aus der es kam. Am Ende einer schmalen Gasse meinte er eine Bewegung zu erkennen, aber er war sich nicht sicher. Die Gasse war gekrümmt und hatte nur eine einzige Laterne. Dazu kam das Mondlicht, das die Mauern mit blaugrauen Flecken überzog – hier einem Quadrat, dort einem Rechteck – aber nicht annähernd hell genug war, um Genaueres zu erkennen oder Entfernungen einzuschätzen. War es nur wieder eine Ratte gewesen? Aber es hatte größer gewirkt. Hadrian starrte in die Dunkelheit der Gasse und wartete. Nichts rührte sich.

Als er sich nach Pickles umdrehte, war der schon fast auf der anderen Seite des Platzes angelangt. Dort war zu Hadrians Freude ebenfalls eine Anlegestelle zu sehen, diesmal an der Mündung des Bernum, eines mächtigen Stroms, der im Dunkeln aussah wie eine endlose schwarze Fläche. Er warf einen letzten Blick auf das Gassengewirr, aber dort rührte sich immer noch nichts. Er sah nur Gespenster – seine Vergangenheit, die ihn verfolgte.

Hadrian roch nach Tod. Andere nahmen diesen Geruch nicht wahr und man konnte ihn nicht mit Wasser abwaschen. Er haftete an ihm wie Schweiß nach einer durchzechten Nacht an der Haut. Nur dass dieser Geruch nicht vom Alkohol kam, sondern von Blut. Nicht dass Hadrian Blut getrunken hätte – obwohl er Leute kannte, die das getan hatten. Aber er hatte sich praktisch darin gesuhlt. Doch das war jetzt vorbei, zumindest redete er sich das mit der Überzeugung des gerade wieder Nüchternen ein. Es war ein anderer Hadrian, eine jüngere Version, den er auf der anderen Seite der Welt zurückgelassen hatte und vor dem er immer noch weglief.

Ihm fiel ein, dass Pickles ja noch seine Tasche hatte, und er eilte ihm nach. Noch bevor er ihn einholte, steckte der Junge schon in neuen Schwierigkeiten.

»Sie gehört ihm!«, rief er und zeigte auf Hadrian. »Ich helfe ihm bloß, das Schiff zu erreichen, bevor es ablegt.«

Sechs Soldaten hatten ihn umzingelt, die meisten mit Kettenpanzern und viereckigen Schilden. Der Soldat in der Mitte trug einen Helm mit einem modischen Helmbusch, einen Plattenpanzer auf Schultern und Brust und einen mit Nieten besetzten Rock aus ledernen Lamellen. Mit ihm sprach Pickles, während zwei andere ihn festhielten. Jetzt blickten sie dem näherkommenden Hadrian entgegen.

»Ist das Eure Tasche?«, fragte der Offizier.

»Ja, er sagt die Wahrheit.« Hadrian streckte den Arm aus. »Er begleitet mich zu dem Schiff da drüben.«

»Ihr habt es offenbar eilig, unsere schöne Stadt zu verlassen.« Der Offizier klang misstrauisch und musterte Hadrian argwöhnisch.

»Das stimmt, obwohl ich nichts gegen Vernes habe. Ich habe geschäftlich im Norden zu tun.«

Der Offizier kam einen Schritt näher. »Wie heißt Ihr?«

»Hadrian Blackwater.«

»Woher kommt Ihr?«

»Ursprünglich aus Hintindar.«

»Ursprünglich?« Das Misstrauen in seiner Stimme nahm zu und seine Augenbrauen hoben sich.

Hadrian nickte. »Ich war ein paar Jahr in Calis und bin gerade mit dem Schiff da drüben aus Dagastan zurückgekehrt.«

Der Offizier warf einen Blick zum Hafen und dann auf Hadrians knielanges Gewand, die lose Baumwollhose und auf das Tuch, das er sich um den Kopf gewickelt hatte. Er beugte sich vor, schnupperte und verzog das Gesicht. »Auf einem Schiff wart Ihr jedenfalls und Eure Kleider sind ganz gewiss aus Calis.« Er seufzte und wandte sich an Pickles. »Aber der hier war nicht auf einem Schiff. Er behauptet, er würde Euch begleiten. Stimmt das?«

Hadrian warf Pickles einen Blick zu und sah die Hoffnung in den Augen des Jungen. »Ja. Ich habe ihn als meinen … äh … meinen … Diener angestellt.«

»Und wer kam auf diese Idee? Er oder Ihr?«

»Er, aber er hat mir sehr geholfen. Ohne ihn hätte ich die Anlegestelle am Fluss nicht gefunden.«

»Ihr seid eben erst aus einem Schiff ausgestiegen«, sagte der Offizier. »Kommt mir seltsam vor, dass Ihr gleich wieder in eins einsteigen wollt.«

»Das hatte ich eigentlich auch gar nicht vor, aber Pickles meint, dass dieses Schiff demnächst fährt und dann ein paar Tage lang Pause ist. Stimmt das?«

»Ja«, sagte der Offizier. »Das ist ja wirklich ein glücklicher Zufall.«

»Darf ich fragen, wo das Problem liegt? Gibt es ein Gesetz, das verbietet, einen Führer als Reisebegleitung einzustellen und zu bezahlen?«

»Nein, aber wir hatten einige schlimme Vorfälle hier in der Stadt – also wirklich von der schlimmsten Sorte. Deshalb interessieren wir uns für alle, die es eilig haben, die Stadt zu verlassen, zumindest wenn sie sich in den letzten Tagen hier aufgehalten haben.« Er sah Pickles drohend an.

»Ich habe nichts getan«, sagte Pickles.

»Das behauptest du, aber selbst wenn es stimmt, weißt du vielleicht etwas und willst deshalb verschwinden. Und wenn du dich einer unverdächtigen Person anschließt, gehst du damit Schwierigkeiten aus dem Weg.«

»Aber ich weiß nichts über die Morde.«

Der Offizier wandte sich an Hadrian. »Ihr könnt Eurer Wege gehen, aber tut es am besten schnell. Die Passagiere wurden bereits zum Einsteigen aufgefordert.«

»Und Pickles?«

Er schüttelte den Kopf. »Den kann ich nicht gehen lassen. Ich glaube zwar nicht, dass er die Morde begangen hat, aber er kennt vielleicht den Täter. Straßenkinder wie er sehen eine Menge, über das sie nicht gerne reden, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Aber ich sage doch, ich weiß nichts. Ich war nicht einmal droben auf dem Berg.«

»Dann hast du auch nichts zu fürchten.«

»Aber …« Pickles sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. »Er wollte mich von hier wegbringen. Wir wollten nach Norden reisen, zu einer Universität.«

»Letzter Aufruf für die Passagiere!«, brüllte eine Stimme. »Schiff nach Colnora! Letzter Aufruf!«

»Hör zu« – Hadrian öffnete seine Geldbörse –, »du hast mir geholfen und einen Lohn verdient. Wenn du nach der Befragung immer noch für mich arbeiten willst, kannst du mit diesem Geld zu mir nach Sheridan kommen. Nimm einfach das nächste Schiff oder ein Fuhrwerk nach Norden. Ich bin dort etwa einen Monat, auf jeden Fall ein paar Wochen.« Er drückte dem Jungen eine Münze in die Hand. »Wenn du kommst, frag nach Professor Arcadius. Ich besuche ihn und er müsste dir sagen können, wo du mich findest. Einverstanden?«

Pickles nickte und seine Miene hellte sich ein wenig auf. Dann fiel sein Blick auf die Münze in seiner Hand und das alte strahlende Lächeln kehrte zurück. »Jawohl, Herr! Ich werde schnellstmöglich nachkommen. Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Aber jetzt müsst Ihr rennen, damit Ihr das Schiff nicht verpasst.«

Hadrian nickte ihm zum Abschied zu, nahm seine Tasche und begab sich im Laufschritt zum Anlegesteg. Dort wartete ein Mann auf einem Steg, der zu einem langen, flachen Kahn führte.

2

Gwen

Gwen wusste, dass sie zu spät kommen würde, kaum dass der Schrei im ersten Stock ertönte. Die Decke wackelte und in die Getränke der Gäste am Tresen bröselte Putz. Das Hämmern über ihrem Kopf klang, als würde Stane mit einem Prügel auf Avons Kopf einschlagen.

Nein, das war kein Prügel. Er schlägt ihren Kopf auf den Boden.

»Avon!«, schrie Gwen und rannte die Treppe hinauf.

Ungebremst bog sie am oberen Treppenende um die Kurve, prallte mit der Schulter gegen die Wand und riss einen kleinen Spiegel ab, der zu Boden fiel und zersplitterte. Sie rannte weiter den Flur entlang. Die Schreie klangen unmenschlich, wie aus einem Schlachthaus – die hoffnungslosen Schreie der zum Tode Verurteilten.

Stane bringt sie um.

Gwen ergriff die Klinke und drückte, aber die Tür war von innen verriegelt und wollte nicht aufgehen. Sie warf sich dagegen, aber sie war zu leicht und das Holz gab nicht nach. Das Hämmern drinnen klang seltsam matschig. Aus den gedämpften Schlägen war ein Schmatzen geworden, aus den Schreien ein leises Stöhnen.

Gwen riss die Tür des gegenüberliegenden Zimmers auf, in dem Mae einen rothaarigen Kunden aus Ostmark unterhielt. Mae schrie erschrocken auf. Was immer die beiden miteinander getrieben hatten, es war mit Avons Geschrei zum Ende gekommen. Gwen trat gegen den losen Fuß am unteren Ende des Betts. Der Schreiner hatte das Bett aus solidem Ahorn gezimmert, aber er hatte die einzelnen Teile äußerst schlampig zusammengefügt. Zwei weitere Tritte, und der Fuß ging ab und die Matratze kippte mitsamt Mae und dem Rotschopf aus Ostmark auf den Boden.

Gwen nahm wie ein Turnierritter Anlauf und rannte mit dem Pfosten auf Avons Tür zu. Die Wucht des Zusammenstoßes riss ihr den Rammbock aus der Hand, hinterließ aber eine deutliche Delle in der Tür. Auch der Rahmen war gesplittert. Gwen bückte sich nach dem Pfosten. Im selben Moment erschien Raynor Grue am oberen Ende der Treppe.

»Verdammt, du blöde Schlampe, hör auf!«

Gwen rammte die Tür unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft noch einmal. Sie hatte auf dieselbe Stelle gezielt und traf sie auch in etwa. Der Rahmen zersplitterte vollends und die Tür flog auf. Vom Schwung mitgerissen, taumelte sie nach drinnen und landete auf dem Boden in einer Blutlache.

»Beim Bart des großen Maribor!«, fluchte Grue, der in der Tür stehen geblieben war.

Stane saß auf Avon und hatte die Hände noch um ihren Hals gelegt. »Sie wollte nicht aufhören zu schreien.«

Avons Augen standen offen, sahen aber nichts mehr. Ihre blonden Haare leuchteten karmesinrot.

»Verschwinde!«, sagte Grue. Er packte Gwen und zog sie auf den Gang. »Geh nach unten! Du schuldest mir verdammt noch mal eine neue Tür und ein Bett.«

»Ist sie tot?«, fragte Stane, der weiter rittlings mit nackten Beinen auf Avon saß. Seine Haut glänzte schweißnass, seine Brust war blutbespritzt.

Grue versetzte Avons Kopf mit der Stiefelspitze einen leichten Stoß. »Ja, du hast sie umgebracht.«

»Du Mistkerl!« Gwen wollte sich auf Stane stürzen.

Grue hielt sie fest und zerrte sie zurück. Gwen verlor das Gleichgewicht und stürzte. »Halt die Klappe!«, brüllte er.

»Tut mir leid, Grue«, sagte Stane.

Grue machte eine Grimasse, schüttelte den Kopf und betrachtete das Blut, das sich über die Dielen ausbreitete. An der Art, wie er dastand und die Mundwinkel nach unten gezogen hatte, merkte Gwen, dass er in Avon keine schöne junge Frau sah, die zu früh gestorben war, sondern nur eine Schweinerei, die man beseitigen musste.

Grue seufzte. »Entschuldigungen nützen mir nichts, Stane. Du musst dafür bezahlen. Avon war beliebt.«

»Wie viel?«

Grue überlegte und kaute dabei auf einem Zahnstocher und saugte an seinen Zähnen, wie er es immer tat. »Fünfundachtzig Silbertaler.«

»Silbertaler? Fünfundachtzig? Sie hat nur sechs Kupfer-Din gekostet!«

»Du hast sie getötet, du Dummkopf! Dadurch entgehen mir ihre ganzen künftigen Einnahmen. Ich sollte dir Goldtaler berechnen!«

»So viel Geld habe ich nicht.«

»Dann besorg dir welches.«

Stane nickte. »Gut, mach ich.«

»Heute Abend.«

Stane zögerte, dann stimmte er zu. »Also gut, heute Abend.«

»Gwen, hol einen Eimer und mach das hier sauber. Du auch, Mae. Rotschopf, du bist für heute Abend fertig, also hau ab. Und schick auf dem Weg nach draußen Willard rauf. Er muss mir helfen, die Leiche die Treppe runterzuschaffen.«

»Du kannst Stane doch nicht ungestraft davonkommen lassen«, sagte Gwen mit zusammengebissenen Zähnen und stand auf. Die Tränen waren noch nicht gekommen, ohne dass sie hätte sagen können, warum nicht. Vielleicht war sie noch zu wütend. Das Zertrümmern der Tür hatte sie in Rage versetzt und sie hatte sich noch nicht wieder beruhigt.

»Er zahlt den Schaden, genauso wie du es tun wirst.«

»Dann richte ich gern noch mehr davon an.« Gwen hob den Bettpfosten auf und holte aus, um Stane damit auf den Kopf zu schlagen. Sie hätte ihn auch getroffen, wenn Grue ihr nicht in den Arm gefallen wäre. Er riss sie herum und schlug ihr mit der flachen Hand auf die Wange. Gwen stürzte und landete auf den Rücken. Der Pfosten knallte gegen das, was vom Türrahmen übrig war, und rollte in den Gang, ohne Schaden anzurichten.

»Geh nach drunten, los! Mae, komm mit dem Eimer rein. Wo bleibt Willard? Willard!«

Gwen setzte sich benommen auf. Wenn Grue sie mit der Faust geschlagen hätte, wäre sie wohl länger liegen geblieben und hätte vielleicht sogar einige Zähne ausgespuckt. Aber Grue wusste, wie er mit seinen Mädchen umzugehen hatte, und vermied nach Möglichkeit, ihnen bleibende Verletzungen zuzufügen. Gwens Wange brannte und das ganze Gesicht tat ihr weh. Wortlos stand sie auf und eilte die Treppe hinunter. Sie stürmte durch den Schankraum, wo die Gäste ihr hastig Platz machten, durch die Eingangstür der Schenke ZUM FRATZENKOPF und geradewegs zum Revier der Polizei.

Es war eine kalte Nacht mit herbstlichen Winden, aber sie nahm es kaum wahr, während sie über die aufgesprungene Erde der Straße eilte. Niemand war draußen unterwegs – die anständigen Einwohner von Medford schliefen alle.

Sie klopfte nicht an, sondern stieß die Tür gleich auf.

Ethan saß schlafend auf einem Stuhl und hatte den Kopf auf seine Arme auf dem Tisch gelegt. Gwen trat gegen das Tischbein und Ethans Kopf fuhr hoch wie eine aufgescheuchte Wachtel.

»Was zum …« Er klang verärgert.

Gut!

Er sollte wütend sein. Schäumen vor Wut.

»Stane hat im FRATZENKOPF gerade Avon ermordet«, schrie sie so laut, dass Ethan zusammenzuckte. »Der Dreckskerl hat sie mit dem Kopf auf den Boden geschlagen und ihr den Schädel zertrümmert. Ich habe Grue davor gewarnt. Ich habe ihm gesagt, dass er Stane nicht mehr reinlassen darf, aber er hat nicht auf mich gehört. Du musst sofort kommen!«

»Ist ja gut, ist ja gut.« Ethan nahm seinen Schwertgürtel vom Stuhl und schnallte ihn um, während er ihr nach draußen folgte.

»Erst vor drei Tage hat er Jollin ein blaues Auge geschlagen«, sagte Gwen, während sie die Schiefe Straße entlanggingen. Ethan ging für Gwens Geschmack zu langsam. Nicht dass Zeit noch eine Rolle gespielt hätte. Avon wurde davon nicht wieder lebendig und Stane nicht gescheiter. Doch Gwen wollte, dass dem Recht so schnell wie möglich Genüge getan wurde. Stane hatte es nicht verdient, länger zu leben als Avon, und jeder weitere Atemzug, den er tat, war in ihren Augen ein Verbrechen. »Und Abby hat er vor einem guten Monat den Arm gebrochen. Es war so dumm von Grue, ihn Avon als Kunden aufzuzwingen. Sie wusste über ihn Bescheid und hatte Angst, aber so mag Stane uns. Angst erregt ihn, und je erregter er ist, desto mehr richtet er an. Und Avon – Maribor sei ihrer Seele gnädig – hatte absolute Panik. Grue hätte es besser wissen müssen.«

Die Tür zur Schenke stand noch auf und ein langer Lichtstreifen fiel über die Veranda und auf die Straße mit ihren tiefen Spurrillen. Vielleicht hatte sie diese Tür ja auch kaputtgemacht, jedenfalls hoffte sie es. Die Betrunkenen waren gegangen, vermutlich hatte man sie hinausgeworfen. Grue und Willard trugen gerade Avon nach unten, eingewickelt in die Decke vom Bett. Vom einen Ende tropfte etwas und zeichnete eine dunkle Spur auf die Treppe.

»Was hast du hier zu suchen?« Die Sehnen an Grues Hals standen vor Anstrengung deutlich vor. Er brüllte nicht, sondern klang nur barsch, war also in seinen Normalzustand zurückgekehrt.

»Was soll das heißen? Dein Mädchen hat mich geholt.«

»Ich habe sie nicht geschickt.«

»Sie hat mich aus tiefstem Schlaf geweckt und jetzt bin ich hier. Was ist hier los?«

»Nichts«, sagte Grue.

»Sieht aber nicht so aus. Ist das in der Decke Avon?«

»Was geht dich das an?«

»Ich bin hier für Recht und Ordnung zuständig. Ist Stane droben?«

»Ja.«

»Dann hol ihn runter.«

Grue runzelte die Stirn, zögerte und setzte sein Ende der Last ab. »Hol ihn, Willard.«

So wütend Gwen auf Stane und Grue war, sie machte sich auch selbst Vorwürfe. Deutlicher als die anderen hatte sie doch vorausgesehen, was passieren würde. Sie hätte etwas tun müssen, zum Beispiel Avon von hier wegbringen – aber sie kam ja nicht mal selber weg. Vielleicht hätte sie etwas anderes tun können, irgendwas. Sie hatte nichts getan und jetzt war Avon tot.

Sie starrte auf die kleine Lache, die sich am Ende des Bündels in der Decke bildete, und wunderte sich, dass sie noch nicht umgekippt war. Schuldgefühle wühlten sie auf, zerrissen sie. Wie kann man noch aufrecht stehen, wenn es in einem so zugeht?

Stane kam die Treppe herunter und knöpfte sich dabei die Hose zu. Sein von der Sonne ausgebleichtes Hemd war von seinen Fingern blutverschmiert. Auch in seinem Gesicht war Blut vom Naseputzen.

»Hast du das Mädchen getötet?«, fragte Ethan.

Stane schwieg, nickte nur und zog die Nase hoch.

»Das ist ein schweres Verbrechen, das ist dir schon klar, ja?«

»Ja, Herr.«

Gwen spürte Grues wütenden Blick auf sich. Sie würde später dafür büßen müssen, was sie getan hatte, aber zu erleben, wie Stane dieselbe Strafe bekam wie Avon, war die Prügel wert. Obwohl es natürlich nicht dieselbe Strafe war. Ethan würde nicht seinen Kopf immer wieder auf den Boden schlagen. Man würde ihn nur hängen, allerdings in der Öffentlichkeit. Er würde vor seinem Tod noch gedemütigt werden. Das war immerhin auch etwas.

Ethan strich sich die Haare aus dem Gesicht und rieb sich mit der Hand den Nacken. Auf der Unterlippe kauend, starrte er die in eine Decke gewickelte Leiche an. Endlich holte er Luft und wandte sich an Stane. »Dafür musst du Kompensation leisten.«

»Was ist das?«, fragte Stane nervös.

»Du musst Grue für seinen Schaden entschädigen. Ihm dafür Geld geben.«

»Das haben wir schon besprochen«, sagte Grue. »Er wird mir fünfundachtzig zahlen.«

»Silbertaler, ja?«, fragte Ethan und nickte. »Klingt angemessen. Ist noch was kaputtgegangen?«

»Eine Tür, ein Spiegel und ein Bett, aber das war ihre Schuld.« Grue zeigte auf Gwen. »Das muss sie bezahlen.«

»Der Schaden entstand doch, weil sie die da rausholen wollte.« Ethan zeigte auf die Decke.

»Sieht so aus.«

»Dann hat sie es nur getan, weil Stane Avon zusammengeschlagen hat, also muss Stane auch dafür aufkommen. Ist das klar?«

»Jawohl.«

Ethan nickte. »Dann wäre das geregelt.« Er trat einen Schritt zurück und wandte sich zur Tür um.

»Halt!«, rief Gwen. »Ist das alles? Das ist ungerecht. Er muss zahlen.«

»Tut er doch. Fünfundachtzig und …«

»Aber eine Frau ist tot! Er hat sie umgebracht und muss deshalb sterben.«

»Eine Hure«, verbesserte Grue.

Gwen sah ihn wütend an.

»Eine Hure ist tot, das ist nicht dasselbe. Niemand wird einen arbeitsfähigen Mann hinrichten, nur weil er ein wenig über die Stränge geschlagen ist.«

»Sie ist tot!«

»Und ich bin die geschädigte Partei. Wenn ich die Wiedergutmachung annehme, ist das damit beschlossen. Das Ganze geht dich sowieso nichts an. Und jetzt halt die Klappe.«

»Das kannst du nicht tun«, sagte Gwen zu Ethan.

»Hat sie Familie?«, fragte Ethan.

Gwen schüttelte den Kopf. »Glaubst du, wir wären hier, wenn wir Familie hätten?«

»Dann ist Grue für sie verantwortlich. Und wenn er zufrieden ist, ist die Sache damit vom Tisch.« Ethan wandte sich an Grue. »Sorg dafür, dass die Leiche noch vor Mittag aus der Stadt kommt, sonst kriege ich Schwierigkeiten mit meinem Chef und du dann mit mir. Verstanden?«

Grue nickte und Ethan ging.

Die beiden Männer hoben das Bündel auf und gingen zur Eingangstür. Als sie an Gwen vorbeikamen, sagte Grue: »Rate mal, wer eine Tracht Prügel kriegt, wenn ich zurückkomme?«

Er ging mit Willard nach draußen. Gwen starrte Mae und Jollin an. Zwischen ihnen stand Stane.

Er lächelte sie hämisch an. »Dich hole ich mir.« Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Sobald ich noch mal fünfundachtzig Taler gespart habe.« Er ging einen Schritt auf sie zu.

»Grue lässt dich hier nicht mehr rein.«

»Grue?« Stane lachte. »Avon ist nicht die Erste. Es gab da noch ein anderes Mädchen in Roe. Solange ich zahlen kann, bekomme ich dich mit Handkuss.« Sein Blick wanderte zu Mae und Jollin. »Keine Sorge, euch zwei werde ich auch nicht vergessen.«

Er ließ noch einmal ein hämisches Lachen hören, bei dem sich Gwen der Magen umdrehte, und ging zur Tür. Doch statt hinauszugehen, steckte er nur den Kopf nach draußen, sah nach rechts und links und machte die Tür wieder zu. Als er sich umdrehte, grinste er lüstern. Sein Blick war auf Gwen gerichtet.

»Lauf!«, rief Jollin.

Gwen rannte zur Hintertür und hörte Stane hinter sich fluchen und mit Gepolter stürzen. Wahrscheinlich war er in der Pfütze von Avons Blut ausgerutscht. Es klang, als wäre auch noch ein Stuhl oder Tisch umgefallen, aber da rannte sie schon mit gerafftem Rock die dunkle Gasse entlang, am Laden des Gerbers vorbei und zur »Brücke«, zwei schmalen Planken über den hinter den Häusern verlaufenden Abwasserkanal. Vor Angst wie von Sinnen, rannte sie zu schnell, verlor auf den glitschigen, wackligen Brettern das Gleichgewicht und stürzte vornüber in die Jauche. Sie sank mit den Armen bis zu den Ellbogen ein, konnte aber wenigstens das Gesicht heraushalten.

Bestimmt würde gleich Stane auftauchen, die blutigen Hände um ihren Hals schließen und sie in die schmutzige, nach Urin und Mist stinkende Brühe hinunterdrücken. Aufgeregt drehte sie sich um, aber er war nirgends zu sehen. Niemand war da, sie war allein.

Sie zog die Arme heraus und wischte sie an dem letzten noch einigermaßen sauberen Teil ihres Kleids ab. Es war mühsam und vor lauter Ungeduld kamen ihr schließlich doch noch die Tränen. Am Rand des schmutzigen Kanals sitzend, schluchzte sie so heftig, dass ihr der Bauch davon wehtat, und jedes Mal, wenn sie keuchend Luft holte, roch sie den Jauchegestank.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, rief sie laut. »Sag mir, was ich tun soll!« Sie nahm eine Handvoll Mist und Schlick und schleuderte sie mit aller Kraft in die Brühe. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel auf. »Hörst du mich?«, schrie sie. »Ich bin nicht so stark. Ich bin wie meine Mutter und werde zugrund gehen.« Schaudernd holte sie Luft. »Und wenn nicht, bringt er mich um. Mich, Jollin, Mae und die anderen. Ich … ich kann nicht mehr warten. Hörst du? Ich kann nicht mehr. Es ist jetzt fünf Jahre her! Ich kann nicht mehr auf ihn warten.«

Sie zitterte und ihr Atem ging keuchend und sie lauschte auf eine Antwort, aber nur der Wind war zu hören.

3

Mit dem Schiff unterwegs

Hadrian saß zusammengekauert auf dem Deck des Kahns, der von zwei großen Arbeitspferden flussaufwärts gezogen wurde. Er hob den Kopf, spähte durch den Morgennebel und versuchte etwas Vertrautes zu erkennen. Hinter dem Ufer waren gewellte Felder und die schemenhaften Umrisse kleiner Dörfer zu sehen. Alles kam ihm fremd vor, ein fremdes Land mit fremden Menschen, Sitten und Sprachen. Er fühlte sich unbehaglich und fehl am Platz und unsicher, wie er sich verhalten und was er sagen sollte. Alle, so hatte er das Gefühl, sahen in ihm den Fremden, der er ja auch war, obwohl er in diesem Moment kaum einen halben Tagesmarsch von Zuhause entfernt war.

Der dicke Mann trat aus seiner Kabine, schlug sich an die Brust und holte ein paarmal tief Luft. »Frischer Morgen, was?«, sagte er und blickte zum Himmel auf.

Es klang, als würde er zu Maribor sprechen, aber Hadrian antwortete ihm trotzdem. »Kalt. Ich bin die Kälte nicht gewohnt.« Er saß an einer windgeschützten Stelle und trug sämtliche Kleidungsstücke, die er besaß, darunter zwei weite Hosen, seinen Reisekittel, einen Wickelgürtel, seinen Mantel und ein Tuch um den Kopf. Trotzdem fror er. Sobald sie nach Colnora kamen, wollte er sich etwas aus Wolle kaufen, etwas, das so schwer war wie eine Rüstung. Ohne so schwere Sachen kam er sich nackt vor.

»Ihr kommt gerade aus Dagastan, ja? Dort ist es vermutlich warm.«

Hadrian wickelte sich in seinen Kittel. »Bei meiner Abreise genügte leichte Kleidung.«

»Ich beneide Euch.« Der Mann zog sein Gewand fester um sich und blickte sich mit enttäuscht gerunzelter Stirn auf dem Schiff um, als hätte er über Nacht eine wundersame Verwandlung erwartet. Dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich ebenfalls an eine windgeschützte Stelle Hadrian gegenüber. »Ich bin Sebastian aus Iber.« Er streckte die Hand aus.

»Hadrian«, sagte Hadrian und ergriff die Hand. »Ihr seid zu dritt?« Er hatte die drei Fahrgäste am Abend zuvor das erste Mal gesehen, Sebastian und zwei Gefährten, alle in vornehmen, maßgeschneiderten Kleidern. Trotz der anfänglichen Eile hatte das Schiff verspätet abgelegt, weil Hafenarbeiter noch zahlreiche schwere Koffer an Bord geschleppt hatten. Die drei hatten die Arbeiter herumkommandiert und jedes Mal getadelt, wenn sie mit einem Gepäckstück angestoßen waren.

Der Mann nickte. »Samuel und Eugene. Wir sind im selben Geschäft tätig.«

»Als Kaufleute?«

Sebastian lächelte. »Etwas in der Art.« Sein Blick wanderte zu den Schwertern an Hadrians Hüfte. »Und Ihr? Soldat?«

Hadrian erwiderte sein Lächeln. »Etwas in der Art.«

Sebastian lachte. »Gute Antwort. Aber im Ernst, es gibt doch eigentlich keinen Grund, Waffen zu tragen. Wir tragen auch keine, ich verstehe also nicht, warum Ihr … ach so … jetzt verstehe ich!«

Hadrian musterte ihn. Seiner Erfahrung nach gab es zwei Sorten von Menschen: die, denen man vertrauen konnte, und die anderen. In den vergangenen fünf Jahren hatte er gelernt, Männern zu vertrauen, die Rüstungen trugen, Narben hatten und durch Zahnlücken pfiffen. Sebastian trug dicke Gewänder aus weichen, teuren Stoffen und an beiden Hände goldene Ringe. Hadrian hatte auch Menschen wie ihn kennengelernt. Was immer Sebastian eben hatte sagen wollen, würde ihm vermutlich nicht gefallen. »Ihr versteht … was?«

Sebastian senkte die Stimme. »Ihr habt bestimmt von den Morden gehört. Die Stadtwachen waren überall und haben noch bei unserem Aufbruch Fragen gestellt.«

»Ihr sprecht von den Morden in Vernes?«

»Ja, genau. Drei in genauso vielen Nächten.«

»Und Ihr habt mich im Verdacht?«, fragte Hadrian.

Sebastian lachte. »Überhaupt nicht! Ihr seid ja eben erst mit dem Stern des Ostens aus Calis eingetroffen. Eure Kleider verraten euch. Eher müsste ich mich selbst verdächtigen. Zumindest hätte ich die Gelegenheit gehabt. Ihr wart ja nicht einmal in der Stadt.«

»Heißt das, ich sollte Euch verdächtigen?«

»Keineswegs. Meine Partner können bezeugen, wo ich war, und der Schiffer kann bestätigen, dass wir unsere Fahrt schon vor Wochen gebucht haben. Außerdem, sehe ich aus wie ein Mörder?«

Hadrian hatte zwar noch nie einen Mörder gesehen, aber Sebastian schien dafür eher nicht in Frage zu kommen. Er war dick und rund, hatte feiste Finger und ein ansteckendes Lachen. Wenn überhaupt, dann gaben solche Menschen Morde mit anonymen Briefen in Auftrag.

»Ich kann Euch aber einen zeigen, der so aussieht.« Sebastians Blick wanderte zum vorderen Teil des Schiffs. Am Bug stand eine in einen Mantel gehüllte Gestalt. Sie kehrte ihnen den Rücken zu, und statt die Wärme der Sonne zu suchen, stand sie im Schatten eines Stapels von Kisten. »Der sieht aus wie ein Mörder.«

»Ihr verdächtigt ihn, weil er eine Kapuze aufhat?«

»Nein, wegen seiner Augen. Habt Ihr sie gesehen? Eiskalt, sage ich Euch, und tot. Augen, die es gewöhnt sind, andere sterben zu sehen.«

Hadrian grinste ein wenig spöttisch. »Ihr könnt das an den Augen eines Mannes erkennen?«

»Ganz bestimmt. Ein Mann, der gewohnt ist zu töten, hat den Blick eines Wolfes – seelenlos und nach Blut dürstend.« Sebastian beugte sich vor, ohne den Mann am Bug aus den Augen zu lassen. »So wie es uns die Unschuld raubt, gewisse Dinge zu erfahren, so raubt es einem Menschen die Seele, wenn er andere tötet. Jeder Mord nimmt ihm ein wenig mehr von seiner Menschlichkeit, bis er schließlich nur noch ein Tier ist, bar jeder Vernunft. Zwar sehnt er sich nach dem, was er verloren hat, aber seine Seele bekommt er nie wieder, genauso wenig wie die Unschuld. Er findet weder Freude noch Liebe noch inneren Frieden und wird stattdessen beherrscht von Blutdurst und Mordgier.«

Sebastian klang ernst wie jemand, der weiß, wovon er spricht. Seine Selbstsicherheit und innere Ruhe vermittelten Weltläufigkeit und Erfahrung in weltlichen Dingen. Doch wenn stimmte, was er sagte, dachte Hadrian, hätte er sich wohl nicht so dicht neben ihn gesetzt, nachdem er in seine Augen geblickt hatte.

»Und ich sage Euch noch etwas. Er kam erst im letzten Moment an Bord und ohne eine einzige Tasche oder einen Koffer.«

»Woher wisst Ihr das?«

»Ich war auf Deck, als er für die Fahrt bezahlte. Warum kam er so spät? Wer springt aus einer Laune heraus im letzten Moment auf ein Schiff, das so hoch in den Norden fährt? Und warum kein Gepäck? Auf eine so lange Reise bereitet man sich doch anders vor als auf eine nachmittägliche Lustfahrt. Vielleicht konnte er den Wachen entkommen und benutzt das Schiff zur Flucht.«

»Ich bin auch so spät gekommen.«

»Aber Ihr hattet wenigstens eine Tasche dabei.«

»Da bist du ja, Sebastian!« Seine beiden Partner waren aus der Kabine getreten.

Der ältere hieß Samuel. Er war groß und dünn wie aus Teig, den man in die Länge gezogen hat. Sein Gewand hing lose um seinen Körper, die Ärmel waren so lang, dass sie die Hände vollständig bedeckten und nur noch die Fingerspitzen sehen ließen. Der andere hieß Eugene. Er war deutlich jünger, mehr in Hadrians Alter, und sein Körper hatte sich noch nicht entschieden, ob er mehr Samuel nacheifern wollte oder dem korpulenten Sebastian. Auch er trug ein kostbares, tief burgunderrotes Gewand, das an der Schulter von einer schönen goldenen Spange gehalten wurde.

Beide wirkten müde, als hätten sie die ganze Nacht hart gearbeitet und wären nicht gerade erst aufgestanden. Samuels Blick fiel auf den Reisenden mit der Kapuze am Bug und er stieß Eugene an. »Schläft der nie?«

»Wenn einen das Gewissen quält, kann man nicht schlafen«, antwortete Eugene.

»So einer hat kein Gewissen«, erklärte Sebastian, sofern man eine Erklärung im Flüsterton abgeben kann.

Über ihnen flog ein unregelmäßiger Keil schreiender Gänse am blauen Himmel. Alle blickten auf, sahen ihnen nach und wickelten sich anschließend fester in Mäntel und Gewänder, als hätten erst die Gänse sie darauf aufmerksam gemacht, dass der Winter vor der Tür stand. Eugene und Samuel setzten sich dicht neben Sebastian, um sich gegenseitig zu wärmen.

Sebastian wies mit einem Nicken auf Hadrian. »Das ist Hadrian … äh, Hadrian …« Er schnippte mit den Fingern.

»Blackwater.« Hadrian gab den anderen beiden die Hand.

»Und wo kommt Ihr her, Hadrian?«, fragte Eugene.

»Im Grund von nirgends.«

»Ein Mann ohne Zuhause?« Samuels Stimme klang näselnd und ein wenig misstrauisch. Hadrian konnte sich vorstellen, dass jemand wie er sogar das Geld von einem Priester zählen würde.

»Warum?«, fragte Eugene. »Er kam doch mit dem Schiff aus Calis. Wir haben erst gestern Abend über das Schiff gesprochen.«

»Sei nicht dumm, Eugene«, sagte Samuel. »Glaubst du, die Menschen aus Calis sind blond und haben blaue Augen? Die sind dunkelhäutig und brutal und verschlagen. Denen darfst du niemals vertrauen.«

»Was habt Ihr dann in Calis getan?« Eugene klang scharf und vorwurfsvoll, als sei es Hadrian gewesen, der ihn dumm genannt hatte.

»Gearbeitet.«

»Und wahrscheinlich ein Vermögen verdient«, sagte Sebastian. »Er trägt eine schwere Geldbörse mit sich herum. Ich wünschte mir, du wärst nur halb so erfolgreich, Eugene.«

»Ich wette, seine Börse ist nur mit Kupfergeld aus Calis gefüllt.« Eugene klang immer noch vorwurfsvoll. »Sonst wäre er in feine Wolle gekleidet wie wir.«

»Dafür hat er ein Schwert aus feinstem Stahl, oder sogar zwei«, sagte Sebastian. »Du solltest dich also vielleicht etwas vorsichtiger ausdrücken.«

»Sogar drei«, fügte Samuel hinzu. »In seiner Kabine bewahrt er noch eins auf, ein besonders großes.«

»Da hast du es, Eugene. Er gibt sein ganzes Geld für Waffen aus. Aber bitte, beleidige ihn nur weiter. Samuel und ich kommen bestimmt auch ohne dich gut zurecht.«

Eugene verschränkte die Arme auf der Brust und starrte zu den vorbeiziehenden Hügeln.

»Was seid Ihr von Beruf?«, fragte Samuel, den Blick auf Hadrians Geldbörse gerichtet.

»Ich war Soldat.«

»Soldat? Ich habe noch nie von einem wohlhabenden Soldaten gehört. In wessen Armee?«

In allen, hätte Hadrian fast gesagt, widerstand aber dem Drang. Was ihm eben noch witzig vorgekommen war, deprimierte ihn schon einen Moment später, und er hatte keine Lust, sich über eine Vergangenheit auszulassen, die er so weit hinter sich lassen wollte, dass er deshalb ein ganzes Meer überquert hatte. »Ich bin viel herumgekommen.« Ein einfaches, müheloses Ausweichmanöver. Im Kampf konnte man mit dieser Taktik nichts entscheiden, höchstens bei verlängerter Anwendung einen Gegner ermüden oder zum Aufgeben bewegen. Samuel wirkte allerdings wie jemand, der sich nicht so leicht abspeisen ließ. Doch in diesem Augenblick ging die Kabinentür noch einmal auf und diesmal trat eine Frau heraus.

Sie hieß Vivian und die Kaufleute hatten sie am Vorabend mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedacht. Auch diesmal bewirkte ihr Auftritt denselben Zauber. Die drei sprangen auf, sobald Vivian das Deck betrat. Im Unterschied zu den anderen Passagieren war sie nicht in wollende Gewänder oder Mäntel vermummt, sondern trug nur ein schlichtes graues Kleid von der Art, wie die junge Frau eines erfolgreichen Handwerksgesellen es tragen mochte. Sie hätte allerdings auch etwas anderes tragen können. An ihr hätte auch ein Jutesack gut ausgesehen, dachte Hadrian. Vivian war eine Schönheit, was einiges hieß, schließlich kam er gerade aus Calis und die Frauen dort, insbesondere die Tenkin, waren die womöglich schönsten Frauen der Welt. Vivian sah ganz anders aus als sie, was vielleicht einen Teil ihrer Anziehungskraft auf ihn ausmachte. Mit ihren blonden Haaren, der hellen Haut und den zarten Gliedern wirkte sie zwischen den Männern wie eine Figur aus Porzellan. Seit zwei Jahren hatte Hadrian keine Frau aus dem Westen mehr zu Gesicht bekommen.

Samuel half Vivian unauffällig, sich zwischen ihn und Sebastian zu setzen, so dass Eugene neben Hadrian Platz nehmen musste. »Habt Ihr gut geschlafen?«, fragte Eugene und beugte sich ein wenig weiter vor, als nötig gewesen wäre.

»Überhaupt nicht. Ich hatte Albträume, schreckliche Albträume aufgrund der Ereignisse gestern Abend.«

»Albträume?«, ereiferte sich Sebastian. »Aber Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, meine Teuerste. Vernes und die Gräueltaten liegen weit hinter uns. Außerdem ist allgemein bekannt, dass der Mörder nur Männer tötet.«

»Ein schwacher Trost, mein Herr, denn dieser Mensch« – sie zeigte auf die einsame Gestalt am Bug – »macht mir große Angst.«

»Seid ganz beruhigt«, sagte Samuel. »Nur ein Narr würde auf einem so kleinen Schiff einen Mord begehen. Er wäre nicht ungestört und könnte danach nicht fliehen.«

Vivian sah ihn nur skeptisch an.

»Und seht hier.« Sebastian zeigte auf Hadrian. »Wir haben einen jungen Soldaten an Bord. Er kommt gerade erst aus dem wilden Dagastan. Ihr werdet die Dame doch vor allen Rohlingen beschützen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, sagte Hadrian und meinte es auch ernst, obwohl er hoffte, es nicht beweisen zu müssen. Er bereute allmählich, dass er seine Schwerter so offen trug. In Calis war er damit so wenig aufgefallen wie sein Leinengewand oder das Kopftuch, im Gegenteil. Man hätte sich über einen Mann gewundert, an dessen Hüfte nicht mindestens ein Schwert hing. Hadrian hatte vergessen, wie ungewöhnlich das in Avryn war. Die Schwerter allerdings jetzt in der Kabine zu lassen, wäre ihm auch schwergefallen. Nach fünf Jahren waren sie geradezu zu einem Körperteil von ihm geworden wie etwa seine Finger, und ihr Fehlen hätte ihn gestört wie eine Zahnlücke. Sebastians Ausführungen zum Wesen eines Mörders beruhten zwar mehr auf Geschichten als auf eigener Erfahrung, wie Hadrian überzeugt war. Doch in einem hatte der Kaufmann unbestreitbar recht – töten forderte einen Preis.

»Da habt Ihr es.« Sebastian klatschte in die Hände, als hätte er soeben einen Zaubertrick vorgeführt. »Euch kann nichts passieren.«

Vivian lächelte ein wenig gezwungen, aber ihr Blick wanderte wieder zu der Gestalt mit der Kapuze am Bug.

»Vielleicht sollte einer von uns mit ihm sprechen?«, schlug Eugene vor. »Dann wissen wir, wer er ist, und brauchen vielleicht gar keine Angst mehr zu haben.«

»Unser Lehrling hat gar nicht unrecht«, sagte Sebastian hörbar überrascht, was ihm einen empörten Blick von Eugene einbrachte. »Es ist beunruhigend, wenn ein Tiger frei herumläuft und man nicht weiß, ob er Hunger hat. Geh zu ihm und sprich mit ihm, Eugene.«

»Nein danke. Ich hatte schon die Idee.«

»Also, ich kann es nicht tun«, sagte Sebastian. »Ich bin viel zu redselig und das hat mich schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Wir wollen den Mann ja nicht unnötig provozieren. Wie wär’s mit dir, Samuel?«

»Spinnst du? Man schickt doch nicht ein Lamm, um einen Tiger zu befragen. Der Soldat soll gehen. Er hat nichts zu fürchten. Sogar ein Mörder würde es sich zweimal überlegen, einen Mann mit zwei Schwertern anzugreifen.«

Alle sahen Hadrian an.

»Was wollt ihr wissen?«

»Wie er heißt«, schlug Sebastian vor. »Woher er kommt. Was er macht …«

»Ob er der Mörder ist …«, fiel Vivian ein.

»Das solltet Ihr ihn vielleicht besser nicht fragen«, sagte Samuel.

»Aber wollen wir nicht vor allem das wissen?«