Das Fräulein von Hergenroth - Juergen von Rehberg - E-Book

Das Fräulein von Hergenroth E-Book

Juergen von Rehberg

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Beschreibung

Eine junge Adlige aus dem Norden flieht gegen Kriegsende vor den Russen in den Süden Deutschlands und trifft dort auf amerikanische Besatzer und bayrische Mentalität. Der Umgang mit Beidem birgt ungeahnte Gefahren. Eine tragisch-komische Geschichte mit kleinen Nadelstichen auf Politik, Kirche und bayrische Gemütlichkeit.

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Pour Angélique,

une femme extraordinaire

et une amie très sympathique.

Das Schlagwerk der Kaminuhr begann die Mittagsstunde zu künden, als aus dem massiven Buffet im Salon ein leises Stimmlein erklang:

"Frère Jacques, Frère Jacques, dormez vous, dormez vous? Sonnez les matines..."

Die Stimme verstummte augenblicklich, als Babette, das Hausmädchen derer von Hergenroths die Tür zum Salon aufstieß und laut rief:

"Wo bist du, kleine Maus? Komm sofort aus deinem Versteck oder möchtest du, dass mich die Herrin ausschimpft, wenn du nicht pünktlich zum Essen erscheinst?"

"Nein, nein, Baba", rief Valerie und kroch eiligst aus ihrem Versteck hervor. "Die Mama darf dich nicht beschimpfen!"

"Das ist sehr lieb von dir, kleine Maus", sagte Babette, die von Valerie <Baba> genannt wurde, seit sie sprechen konnte.

Valerie hatte diese Bezeichnung auch später noch beibehalten, sehr zum Unmut ihrer Frau Mama. Allein der Unterstützung durch ihren Papa, Herrn Kommerzienrat Justus von Hergenroth, hatte sie zu verdanken, dass sie diese liebe Gewohnheit auch weiterhin beibehalten durfte.

Ähnlich verhielt es sich auch bei Babette. Die Bezeichnung <kleine Maus> kam nur in Anwendung, wenn sonst niemand in der Nähe war.

Die höchst offizielle Bezeichnung war <gnädiges Fräulein>.

Valerie hatte eine enge Bindung zu Babette, was auch ihrer Mutter, Apollonia von Hergenroth nicht verborgen geblieben war.

Und so war es auch nicht wirklich verwunderlich, dass die <gnädige Frau> ihre Eifersucht in der äußerst herablassenden Art demonstrierte, mit der sie Babette begegnete.

Der Herr Kommerzienrat goutierte dies zwar nicht, ließ es aber dennoch zu. Er wusste, dass es zwecklos gewesen wäre seine Gattin darauf anzusprechen.

Überhaupt beschränkte sich die Konversation zwischen den Ehegatten auf das zwingend Notwendige, und sie gestaltete sich nur bei gesellschaftlichen Anlässen etwas aufwendiger.

Die meiste Zeit verbrachte Justus von Hergenroth im Ministerium, wo er ein kleines, bescheidenes Amt bekleidete. Und dies auch nur, weil er einem alteingesessenen Adelsgeschlecht entstammte.

So war es auch keine Frage, dass er des Kaisers Rock anlegte, als ihn das Vaterland zu den Waffen rief.

Den Krieg überstand er unbeschadet, und er beendete ihn als Held und Major der Reserve.

"Jetzt aber geschwind Hände waschen und dann ab ins Speisezimmer!" sagte Babette und gab dem gnädigen Fräulein einen Klaps auf den Popo.

"Mache ich gleich, Baba", antwortete Valerie und fragte dann noch: "Hättest du mich gefunden?"

"Nie und nimmer", antwortete Babette mit einem Lachen, "aber jetzt beeile dich bitte!"

Valerie stürmte aus dem Zimmer hinaus und Babette sah ihr nach. Sie liebte den kleinen Wirbelwind sehr, und natürlich kannte sie das Versteck der kleinen Valerie, zumal es immer dasselbe war.

Ein unteres Abteil des massiven Buffets war leer und bot gerade so viel Platz, dass sich ein kleines Mädchen hinein zwängen konnte. Warum dieses Abteil nicht mit Geschirr eingeräumt war, entzog sich Babettes Kenntnis, war aber auch nicht so wichtig.

****

"Wo bleibst du denn so lang?" fragte Apollonia von Hergenroth, als Valerie mit frisch gewaschenen Händen bei Tisch erschien.

Valerie, die sich nieder gesetzt hatte, zuckte lediglich mit den Schultern.

"Was ist das denn für eine Art?" herrschte Apollonia von Hergenroth ihre Tochter an. "Kannst du den Mund nicht aufmachen, du ungezogenes Ding?"

Allein schon die Bezeichnung <Ding> für ihre Tochter bekundete deutlich, wie lieblos das Verhältnis der Mutter zu ihrer kleinen Tochter war.

"So lass doch das Kind in Ruhe", mischte sich jetzt der Herr des Hauses ein, "musst du ständig an Valerie herum nörgeln?"

"Das hab ich gern", giftete die Hausherrin, "immer schön die Hand über Papas Liebling halten."

Justus von Hergenroth beendete die Konversation mit einer abweisenden Handbewegung und widmete sich wieder dem Teller Suppe, der vor ihm stand.

"Ich frage mich ernsthaft, wie das Mädel später einmal unter die Haube kommen soll mit diesem ungehörigen Benehmen?"

"Du hast es ja auch geschafft..."

Mit dieser Bemerkung, welche der Herr Kommerzienrat gemacht hatte ohne den Blick von seinem Teller abzuwenden, war die Konversation endgültig beendet.

Apollonia von Hergenroth stand abrupt auf, warf ihre Serviette wie einen Fehdehandschuh auf den Tisch und rauschte mit hochrotem Gesicht hinaus.

"Ist die Mama jetzt böse?" fragte Valerie ihren Vater.

Die eigentliche Antwort, die der Kommerzienrat hätte geben wollen, verkniff er sich. Wie hätte der kleine Lockenkopf auch verstehen können, hätte ihr geliebter Papa gesagt:

"Deine Mama war schon immer böse, weil alle Drachen böse sind."

Stattdessen sagte er aber:

"Komm einmal her, kleine Prinzessin!"

Valerie kam der Bitte ihres Vaters mit Freuden nach und stürmte auf ihn zu.

"Langsam, langsam; nicht dass du noch hinfällst", sagte Justus von Hergenroth.

"Möchtest du auf Papas Schoß sitzen?"

"Oh, ja", sagte Valerie, und als sie auf dem Schoß des Vaters saß, umschlang sie seinen Hals mit ihren kleinen Ärmchen und sagte:

"Ich hab dich ganz arg lieb, Papa!"

"Ich dich auch, mein kleiner Sonnenschein", antwortete Justus von Hergenroth, "sehr sogar."

****

Als hätte der Erste Weltkrieg nicht schon genug Tote gefordert, versuchte es ein Größenwahnsinniger noch ein zweites Mal.

Justus von Hergenroth, inzwischen schon jenseits seiner Lebensmitte angekommen, musste wieder in seine Uniform schlüpfen.

Dieses Mal nicht für Kaiser, Gott und Vaterland, sondern für einen aus der Hölle entwichenen Malergesellen.

Der Krieg forderte wieder unzählige Opfer, und eines davon hieß Oberst Justus von Hergenroth, Träger des EK I. und EK II., sowie des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes.

Als die Nachricht des Todes kam, war Valerie eiundzwanzig Jahre alt und einziges Kind derer von Hergenroths.

Der kleine Landsitz, auf welchem sie mit ihrer Familie aufgewachsen war, lag unweit der polnischen Grenze und bot vor Kriegsbeginn ein beschauliches Leben.

Aber jetzt, da der Russe immer näher rückte, wuchs die Angst ins Unermessliche. Es blieb nur noch die Flucht zu Verwandten, welche weiter im Landesinnern wohnten.

Und so wurde das Notwendigste zusammen gepackt und ab ging die Reise zu Onkel Ferdinand nach Bayern.

Ferdinand Hirlinger war im Ersten Weltkrieg der Bursche des Majors. Er war der Sohn eines Wurstfabrikanten, und er versorgte seinen Offizier regelmäßig mit köstlichen Produkten im Schweinedarm.

Das führte im Verlauf des Krieges zu einer Freundschaft zwischen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Und als der Krieg dann endlich zu Ende war, besuchte der Major Justus seinen Burschen Ferdinand, der eigentlich "Ferdl" genannt wurde, in seiner schönen Heimat.

Dort lernte er nicht nur den elterlichen Betrieb von Ferdinand kennen sondern auch dessen Schwester Apollonia.

Der Name Apollonia stammt - laut griechischer und römischer Mythologie - von Apoll ab, dem Gott des Lichts, der Künste und der Weissagung.

Was nun die irdische Apollonia betraf, so war sie weder ein helles Licht, noch künstlerisch veranlagt und was das <Weissagen> betraf, so wusste sie oft nicht wirklich, was sie sagte.

Aber was kümmerte das schon einen jungen Mann in der Hochblüte seiner Jahre, der von Testosteron gesegnet war.

Diese Tatsache und ein wohlgefülltes Dirndl ließen Justus von Hergenroth direkt in sein Verderben laufen.

Nur wenige Monate später wurde aus Apollonia Hirlinger eine gnädige Frau, die fortan auf den Namen Apollonia von Hergenroth hörte.

Zur Entscheidungsfindung trug wesentlich die Tatsache bei, dass die <Blume vom Starnberger See> bei der zünftigen Hochzeit bereits guter Hoffnung war.

Brautvater Aloisius Hirlinger, der Wurstkönig vom Starnberger See und überregionale Persönlichkeit ließ es ordentlich krachen.

So mussten sich auch die Eltern von Justus, welche anfänglich gegen diese Verbindung waren, damit abfinden, dass sie fortan dieser Bayrischen Sippschaft angehören würden.

Wilhelmine von Hergenroth, die Mutter von Justus, musste sich der bayrischen Gemütlichkeit ebenso unterwerfen wie Otto von Hergenroth, dem der Wurstkönig gelegentlich kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.

****

"Grüß Gott, miteinander. Kommt nur herein!"

Mit diesen Worten begrüßte die bayerische Verwandtschaft die Flüchtlinge aus dem Norden.

"Du bist ja schon eine richtige junge Dame", bemerkte Onkel Ferdinand beim Hinblick von Valerie. "Wie lange mag das her sein, dass ich meine Nichte das letzte Mal gesehen habe?"

"Sehr lange, lieber Onkel Ferdinand", antwortete Valerie brav, "viel zu lange."

"Recht hast, Dirndl", sagte der Onkel, "aber nenn mich Onkel Ferdl, das gfallt mir viel besser so."

"Gern, lieber Onkel", antwortete Valerie, "wenn du das so haben willst."

"So ist es brav, mein Kind", sagte Onkel Ferdl und tätschelte Valerie als Ausdruck seiner Freude liebevoll die Wange.

Sophie Hirlinger, die Ehefrau vom Ferdl, begrüßte die Ankömmlinge ebenfalls mit großer Herzlichkeit.

"Es tut mir so leid, dass der Otto nicht dabei sein kann", sagte sie zur Mutter von Justus gewandt mit honigsüßer Stimme. "Wo es ihm doch immer so gut bei uns am See gefallen hat."

Wilhelmine von Hergenroth verbarg ihr Erstauntsein, denn ihr verblichener Gatte war nur ein einziges Mal am Starnberger See.

Und das gezwungener Maßen, als der dumme Bub, wie er damals Justus nannte, heiraten musste.

"Ich danke dir so sehr, dass ihr uns bei euch aufnehmt", sagte Wilhelmine von Hergenroth, die sich ganz im Geheimen wünschte, sie wäre vor zwei Jahren mit ihrem geliebten Gatten gemeinsam von dieser Welt gegangen.

"Das ist doch Christenpflicht", entgegnete Sophie Hirlinger mit gefalteten Händen und verklärtem Blick. "Das hättet ihr im umgekehrten Fall ganz genau so gemacht."

"Es tut mir so leid, dass der Justus gefallen ist", sagte Ferdinand, Ferdl Hirlinger. "Ich wär gern bei ihm gewesen, um mit ihm Seite an Seite zu kämpfen."

"Das ist sehr lieb von dir, dass du das sagst, lieber Ferdinand", sagte Wilhelmine von Hergenroth, und es kostete sie einige Mühe, dass sie nicht laut los schrie.

Ferdinand Hirlinger hatte schon früh die Zeichen der Zeit erkannt und war in die Partei eingetreten. Er heulte so laut mit den Wölfen, dass man auf ihn aufmerksam wurde.