Das Geheimnis der Inselrose - Jutta Oltmanns - E-Book

Das Geheimnis der Inselrose E-Book

Jutta Oltmanns

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Beschreibung

Ein großes Frauenschicksal auf der Insel Wangerooge

»Suche junge Frau mit gutem Leumund für eine Stellung auf der Insel Wangerooge, die absolute Bindung erfordert. Angehörige willkommen.« Für Wemke aus Jever ist die Annonce ein Glücksfall. Die Waise zieht 1854 mit ihrer kleinen Schwester auf die Nordseeinsel. Als sie sich in den jungen Jeels verliebt, bekommen beide die Abneigung der Insulaner zu spüren. Wemke muss mit dem ungewöhnlich begabten Mann das Geheimnis seiner Herkunft lüften, das seine Mutter mit ins Grab nahm.

Kann eine neue Liebe den windverwehten Spuren der Vergangenheit standhalten?

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Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DIE AUTORIN
Prolog
Kapitel 1 – Frühjahr 1854
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 21
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Schlusswort
Inspiration
Die geschichtlichen Hintergründe des Romans
Literatur, die mir hilfreich war
Copyright
DAS BUCH
Als das Dampfschiff sich der Insel nähert, schlägt Wemke das Herz bis zum Hals. Der weiße Sand, die kreischenden Möwen, die kargen Dünen – all das soll ihr zur neuen Heimat werden. Noch ahnt sie nicht, wie sehr ihr die herrschsüchtige Hofrätin Bartling, die mit ihrem Seebad vermögende Gäste nach Wangerooge lockt, in Zukunft das Leben zur Hölle machen wird. Auch Jeels ist gerade erst auf der Insel eingetroffen. Vor fünfundzwanzig Jahren kam er hier zur Welt, doch bei der Geburt starb seine Mutter und nahm das Geheimnis seiner Herkunft mit ins Grab. Die Ablehnung der Insulaner trifft den hilfsbereiten jungen Arzt völlig unvorbereitet. Was geschah damals, dass ihm einige Menschen hier offenbar Böses wollen?
DIE AUTORIN
Jutta Oltmanns, geboren 1964, schreibt neben ihrer Tätigkeit bei der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nordwest historische Romane. Ostfriesland ist zugleich Inspiration und Schauplatz ihrer Bücher. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen in Warsingsfehn, wo sie an ihrem nächsten großen Roman arbeitet.
Up’t Eiland
Tied hebben, um löss to laten. Tied hebben, um Stillte to söken un to finnen. Tied hebben för de Bulgenslag. Sük weerfinnen daarin.
Prolog
Wangerooge, März 1829
Bei Anbruch der Nacht kam ein Sturm auf. Er beutelte und rüttelte das Haus mit der Hand eines Riesen, peitschte über das Meer und bog die wenigen Bäume der Insel wie Grashalme. Aus der Ferne klang das Tosen der See wie das Gebrüll wilder Ungeheuer.
In der kleinen Kate wütete ein anderer Sturm. Heftige Wehen kamen und gingen in schmerzhaften, schier unerträglichen Wellen. Sie zerrütteten den Geist der Gebärenden, marterten ihren Körper und ließen die Hebamme verzweifeln. Immer wieder vereinten sich die verzweifelten Schreie der Frau mit dem Stöhnen und Kreischen der Naturgewalten.
In der Schlafbutze wäre es zu eng gewesen, und so lag die Schwangere mitten im Raum auf einem Lager aus Leinen. Die Hebamme, eine gebeugte Gestalt im trüben Licht, trat einige Schritte zurück.
»Da kann doch was nicht stimmen«, murmelte sie vor sich hin, nahm einen großen Schluck aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Wenn sie doch nur die schmerzstillenden Arzneien aus dem Hebammenkorb verwenden könnte. Auch der starke Schnaps hätte sein Gutes haben können. Aber nein! Dieser verdammte Prediger verschlimmerte die ganze Sache noch, indem er einfach auftauchte, um sicherzustellen, dass dieses arme Weib ihr Kind nur ja unter Schmerzen zur Welt brachte. Ein Hundesohn war er! Sie korkte mit einer entschlossenen Bewegung die Flasche zu und machte sich wieder an die Arbeit. Mit einem feuchten Schwamm wusch sie den Schweiß vom Gesicht der Gequälten und massierte mit geübten Fingern den angeschwollenen Leib.
»Kindchen, das Kleine will in die Welt. Wehr dich nicht dagegen«, bettelte sie. »Noch einmal kräftig drücken, Liebes, so fest wie möglich drücken. Komm, lass es los!«
Ihre Worte gingen im Geschrei der Schwangeren unter, das diesmal sogar den Sturm übertönte. Verzweifelt zog die Hebamme ihren Korb zu sich heran. Eine Möglichkeit gab es noch! Sie griff triumphierend nach einem verschlossenen Gefäß.
»Pfeffer! Das hat schon so manchen Pfropfen aus dem Leib gezogen. Ich streu es dir direkt unter die Nase, mein Herzchen, und bei der nächsten Wehe schön hochziehen, hörst du?«
Die Hebamme eilte zwischen die gespreizten Beine und wartete. Die Schwangere stöhnte laut, holte tief Atem und nieste so gewaltsam, dass ihr ganzer Körper erbebte. Wie hypnotisiert starrte die Hebamme auf den Geburtskanal. Als nichts geschah, richtete sie sich langsam auf.
»Ich kann dir nicht helfen«, presste sie schaudernd hervor. »Das Kind liegt so falsch wie nur was! Will unbedingt mit dem Hintern zuerst auf die Welt.« Sie fuhr sich verzweifelt mit der Hand über die Stirn. »Wir brauchen Hilfe!«
Sie betrat die Wohnkammer, wo der Pastor schon seit Stunden in der gleichen starren Haltung auf einem der Holzstühle am Feuer saß. Die Hände lagen gefaltet im Schoß.
»Sie macht der Bibel Ehre«, sagte er mit zufriedener Miene. »Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.« Er wies mit dem Finger zur Decke.
Die Hebamme schnaubte nur. Sie mochte den Prediger nicht. So ging es vielen auf der Insel. Seine strenge Frömmigkeit schreckte die Menschen ab.
»Ich schaffe es diesmal nicht alleine, Pastor. Gehen Sie diesen Fremden holen. Er soll Arzt sein. Vielleicht kann er mehr als ich.«
Der Prediger riss die Augen auf und schüttelte dann entrüstet den Kopf. »Das werde ich nicht tun! In meiner Gemeinde wird kein Mann eine Frau in ihrer Schande sehen.« Seine Stimme klang wie sonntags auf der Kanzel. »Der Geburtsschmerz ist vom Herrn auferlegt. Gott will, dass die Frauen für ihre Erbsünde büßen. Eine gerechte Strafe, wie ich finde, für das Verlocken Adams mit dem Apfel. Wir haben dadurch das Paradies verloren. Und dieses elende Geschöpf hat hier auf Erden ja wohl noch zusätzliche Schuld auf sich geladen.« Er nickte mit verkniffener Miene zur Schlafkammer hin.
Die Hebamme starrte ihn fassungslos an. Dann baute sie sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm auf. »Glauben Sie, ich weiß nicht, wer ihr das angetan hat?« Sie spuckte vor ihm auf den Boden. »Gott gäbe, dass sein Leib ein Fraß der Fische wird und seine Seele in der Hölle schmort. Wollen Sie etwa dieses arme Menschenkind elendig verrecken lassen? Ist das Gottes Wille?« Ihre gellende Stimme erfüllte die Kammer. »Das Ungeborene hat Steißlage. Verdammt, Pastor, gehen Sie Hilfe holen, und zwar schnell.«
Der Geistliche sprang auf, trat auf sie zu und erhob eine Hand wie zum Schlag. »Du wagst es zu unterstellen …«
Doch dann ließ er den Arm sinken und maß sie mit einem vernichtenden Blick. »Lauter Lügen sind das, aber ich mache mir die Hände nicht an einer Sünderin schmutzig. Kein Mann wird dieses Weib in ihrem demütigenden Zustand sehen. Ich lasse es nicht zu, und sicherlich wäre es auch nicht in ihrem Sinne!«
»Nicht in ihrem Sinne?! Glauben Sie?« Die Augen der Hebamme sprühten vor Zorn. »Na, dann fragen Sie die Arme doch selbst, was sie wünscht.« Mit Schwung riss sie die Tür auf.
Der Pastor wich entsetzt zurück und wandte schnell die Augen von der Gebärenden ab, die sich in einer erneuten Wehe unter Schmerzensschreien krümmte. Die Hebamme griff mit einem bitteren Lachen nach ihrem Umhang.
»Ich gehe ihn holen. Es geht um Leben und Tod, und jedes Wort mit Ihnen, Herr Pfaffe, ist verschwendete Zeit!«
Ohne einen weiteren Protest des Geistlichen abzuwarten, stapfte sie wütend in die Sturmnacht hinaus.
Eine knappe Stunde später erreichte die Hebamme aufatmend wieder die Kate. Der Sturm riss ihr die Tür fast aus der Hand. Es war nicht leicht gewesen, den Weg in diesem Unwetter und noch dazu bei Nacht zu bewältigen, aber sie hatte es geschafft.
Der Geistliche saß immer noch mit gefalteten Händen am Feuer.
»Der Doktor folgt mir auf dem Fuß«, verkündete sie und schüttelte erleichtert die Nässe von ihrem Umhang.
»Ich werde nicht zulassen …«, hob der Prediger wieder an, als sich die Tür auch schon zum zweiten Mal öffnete.
Der Mann, den die Inselbewohner nur »den Fremden« nannten, war klein und drahtig. Ein eisiger Blick aus scharfen Augen traf den Pastor und ließ ihn innehalten.
»Wo ist sie?« Der Fremde nahm den Hut vom Kopf und warf ihn auf einen Stuhl.
Für einen Atemzug schien es dem Geistlichen die Sprache verschlagen zu haben, doch dann betrachtete er sein Gegenüber abschätzig, sah den verschlissenen Mantel und die tiefen Furchen im Gesicht. Sein verächtlicher Blick kam auf den zitternden Händen zum Ruhen. Er schnupperte betont auffällig und rümpfte die Nase.
»Es braucht keinen Mann für diese Sache, und einen Säufer schon gar nicht.«
»Ich habe anderes gehört und nicht die Zeit, mit Ihnen zu streiten.« Der Arzt warf den Mantel ab, schob den Prediger zur Seite und betrat mit dem schwarzen Koffer in der Hand die Schlafstube. Ein markerschütternder Schrei begrüßte ihn.
»Die Schreie der Gebärenden erfreuen das Ohr des Herrn«, rief der Geistliche hinter ihm her. Die Hebamme schloss mit einem Knall die Tür.
Der Arzt erfasste sofort die Lage. Er sah die erschöpfte Frau, den zuckenden Leib und die blutverschmierten Beine. Geburt und Tod, der ewige Kreislauf des Lebens, waren ihm nicht neu. Hastig krempelte er die Ärmel seines Hemdes auf und hockte sich zwischen die Beine der Leidenden. Behutsam tasteten seine Finger nach dem Ungeborenen.
»Sie haben Recht, das Kind hat Steißlage.«
Er nahm das Nicken der Hebamme nicht wahr, spürte nur die Todesangst und die Todesnähe der Gebärenden. Rasch öffnete er seinen Koffer und entnahm ihm einige Instrumente. Vom Keuchen der Schwangeren begleitet begann er zu arbeiten. Seine Besorgnis wuchs mit jeder Bewegung. Das Kind würde sich nicht leicht drehen lassen, doch er musste es versuchen. Schweiß trat ihm auf die blasse Stirn. Mit zitternden Händen griff er nach der Flasche, die auf dem Boden stand, und nahm einen langen Zug. Seine Glieder beruhigten sich, und er wandte sich wieder dem verzweifelten Kampf zu. Der Frau schien fast die Kraft zum Atmen zu fehlen. Der Schrei, den sie bei der nächsten Wehe ausstieß, klang kaum mehr wie der eines Menschen. Dann verlor sie das Bewusstsein. Ihr Körper entspannte sich und mit einer schnellen Bewegung glitt der Arm des Arztes in den Geburtskanal. Es gelang ihm, das Ungeborene zu drehen und vorsichtig ans Licht der Welt zu bringen. Blutverschmiert lag es zwischen den Beinen seiner Mutter. Dem Arzt entfuhr ein erleichterter Seufzer, als er es hochnahm. Seine Aufmerksamkeit war nun ganz bei dem kleinen Wesen. Das Kind schrie nicht und bewegte sich kaum. Fasziniert starrte der Arzt auf das dichte rotbraune Haar.
»Es ist ein Junge«, verkündete er.
Vorsichtig durchtrennte die Hebamme die Nabelschnur. Sie wickelte das Kind in Leinentücher und legte es dem Arzt wieder in die Arme.
Ein gurgelnder Laut ließ beide herumfahren. Der Arzt stand auf, umrundete das provisorische Lager und kniete sich neben dem Kopf der Mutter auf den Boden. Erst jetzt nahm er die Frau, deren Kind er zur Welt gebracht hatte, wirklich wahr. Seine Augen weiteten sich. Er glaubte, ihr Gesicht in einem Märchenbuch gesehen zu haben, das von Meerjungfrauen erzählte. Das Haar der Frau hatte sich gelöst und umrahmte ihren Kopf wie dunkelroter Seetang. Ihre Augen waren von einem Grün, das an die Farbe des Meeres erinnerte, wenn die Sonne die Wellen koste. Wie Edelsteine funkelten sie in dem bleichen Gesicht. Diese Augen schienen ihn zu durchbohren, sein ganzes Wesen ergründen zu können. Ein sanftes Lächeln trat auf die Züge des nixenartigen Geschöpfs.
»Lass mich ihn sehen«, wisperte sie.
Behutsam legte er das kleine Bündel neben sie auf das Bett. In diesem Augenblick ließ ein Donnerschlag die Kate erbeben, und der kurz darauf folgende Blitz tauchte die Schlafkammer in gleißendes Licht. Der Säugling erschrak und riss zur Verwunderung des Arztes die Augen auf.
»Er hat meine Augen«, seufzte die Mutter. Zärtlich strich sie über das kleine Gesicht. »Und mein Haar. So wird er auch mein Schicksal haben.« Mitleidig betrachtete sie das stumme Bündel. »Wie habe ich gefleht, dass es anders kommen möge.«
Der Arzt konnte seinen Blick nicht von Mutter und Kind lösen. Doch dann zerriss der Schrei der Hebamme den Moment der Vertrautheit. »Oh Gott, nein!«
Sofort sah er es. Das Blut, das aus dem Schoß der Frau strömte, hatte in wenigen Augenblicken alle Laken durchtränkt. Einen Moment schien er unfähig, sich zu rühren. Als ob er diesen raschen Wechsel von neu geschenktem Leben zu drohendem Tod nicht fassen könnte. Doch dann griff er nach seinem Koffer. Die Hebamme versuchte verzweifelt, mit einigen Leinentüchern den Blutfluss zu stoppen.
»Scheinbar stimmt etwas mit dem Mutterkuchen nicht.« Panik schwang in der Stimme des Arztes mit, denn die Blutung ließ sich kaum stillen. Als es ihm endlich gelang, war es zu spät. Fassungslos horchte er nach Atemzügen, die nicht kamen. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Es war ihm, als habe er einen kostbaren Schatz gefunden, nur um ihn gleich darauf wieder zu verlieren.
»Das Kind hätte besser mit ihr sterben sollen!« Die Hebamme schloss die Augen der Toten. »Ein echter van Voss! Niemand wird ihn haben wollen. Hier auf der Insel wird er die Hölle erleben. Wenn ich gläubig wäre, würde ich jetzt zehn Vaterunser für ihn beten!«
Der Arzt schien ihre Worte nicht zu hören. Sanft nahm er das Bündel Leben in die Arme und verlor sich in der Betrachtung des kleinen Gesichts.
1
Frühjahr 1854
Das jüngste Küchenmädchen lenkte die Aufmerksamkeit der anderen auf die Anzeige im Jeverschen Wochenblatt. Mit dem Finger die einzelnen Buchstaben entlangfahrend, entzifferte sie Silbe für Silbe den Text.
»Junge Frau mit gutem Leumund und einer Ausbildung in den Schönen Künsten für eine Stellung auf der Insel Wangerooge gesucht, die absolute Bindung erfordert. Dafür wird Sicherheit und Freiheit von finanziellen Sorgen garantiert. Verschwiegenes, folgsames Wesen und gutes Aussehen notwendig. Auch Angehörige sind willkommen.«
»Wie im Märchen«, schwärmte sie mit verträumtem Blick. »Was das wohl für eine Stellung ist? Es steckt ein Geheimnis dahinter. Ich hätte nicht übel Lust …«
»Deine schönen Künste bestehen doch allerhöchstens im Schälen von Kartoffeln«, schnaubte Luise, die Köchin.
Das Mädchen sprang entrüstet auf, und ein Krug mit Milch ergoss sich über den Tisch.
Luise griff nach einem Tuch und schüttelte verärgert den Kopf. »Dir werde ich die Flausen schon noch austreiben, du ungeschicktes Ding! Hier hast du was zu tun.« Sie schob dem Mädchen eine Schüssel mit Zwiebeln zu. »Die hackst du mir jetzt ganz fein für den Kartoffelsalat. Damit du wieder auf den Boden kommst.«
Die anderen lachten, während sich das Küchenmädchen murrend fügte.
An einem langen Tisch, gedeckt mit Teegeschirr, frischem Brot, Käse, Butter und Wurst, saß das Dienstpersonal des Justizrates Remmer zum Frühstück beisammen. Zu anderer Zeit wurde auf diesem Tisch Gemüse geputzt, Fisch ausgenommen, Salat angerichtet und Süßspeise angerührt. Der hintere Bereich der Küche wurde fast völlig von einem Backofen und einem großen offenen Herd eingenommen, über dem an einem Spieß bis zu zehn Hühner auf einmal gebraten werden konnten.
Einer der Knechte kam zur Tür herein. Er zog sich einen Stuhl heran und griff begierig nach dem frisch gebackenen Brot. »Was ist denn das hier für ein Geschrei?«, fragte er. »Hat vielleicht der junge Herr höchstpersönlich sein Erscheinen in der Küche angekündigt?« Sein wissender Blick flog zwischen den beiden Küchenmädchen hin und her, die verlegen kicherten.
»Nein.« Luise schob ihm die Zeitung unter die Nase. »Die kleine Frieda wollte uns verlassen und sich bewerben. Aber es fehlt ihr an gutem Aussehen und schönen Künsten.«
Der Knecht las und pfiff dann durch die Zähne. »Das klingt ja nach einer tollen Sache. Aber keins von euch Mädchen würde doch auf einen solchen Schwindel hereinfallen, oder? Der Inserent muss verrückt sein!«
»Entweder das, oder er ist reich und bildet sich ein, auch Wesen von Fleisch und Blut kaufen zu können«, kommentierte Luise trocken. Sie goss sich eine zweite Tasse Tee ein.
»Wer weiß?« Der Knecht strich reichlich Butter auf sein Brot. »Auf den Inseln treiben die Reichen neuerdings die unglaublichsten Sachen. Wer sich mit Karren zum Baden ins Meer fahren lässt, dem trau ich es auch zu, sich auf diesem Weg eine Gespielin zu suchen.«
»Ich hab gehört, die Badeweiber dort müssen sich so schinden, dass im letzten Herbst zwei von ihnen gestorben sind«, sagte Frieda und rieb sich die brennenden Augen.
Das zweite Küchenmädchen schüttelte nur den Kopf. »Ob da was dran ist, weiß ich nicht. Aber die Insulaner sind anders als wir. Ein komisches Volk. Sie haben ihre eigenen Gesetze und akzeptieren nur den, der auf der Insel geboren ist. Und«, sie senkte die Stimme zu einem Flüstern, »sie sind furchtbar abergläubisch. Meine Cousine Jeske hat im letzten Sommer als Serviermädchen gearbeitet. Sie brachte wirre Geschichten von Wangerooge mit nach Hause. Trotz guter Bezahlung verweigert sie in diesem Jahr die Anstellung dort. Es soll einen Hexenmeister auf der Insel geben, der des Nachts mit den Fledermäusen um die Wette fliegt, und einen Mann namens Freerkohm, der mit den Ertrunkenen, den Drinkeldoden, Verbindung aufnehmen kann. Jeske erzählte die schauderlichsten Sachen. Sie war im Haus des Seemanns Hinderk Tjarks untergebracht. Und stellt euch vor, als dessen irrsinnige Schwester noch lebte, soll er sie an einer Kette gehalten haben. Man erzählt, sie sei in ihrer Jugend von einem der Soldaten Napoleons verführt und deshalb von den Insulanern ausgestoßen worden. Vor Verzweiflung habe sie dann den Verstand verloren. In lichten Momenten soll sie mit wunderschöner Stimme gesungen haben. Ich für meinen Teil«, sie tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Brust, »würde für kein Geld der Welt einen Fuß auf die Insel setzen.«
Luise räusperte sich missbilligend. »Nun hör aber auf mit diesen Spukgeschichten. Genug Mädchen arbeiten Sommer für Sommer auf den Inseln und kommen im Herbst heil wieder nach Hause. Aber das hier«, sagte sie und zog die Zeitung wieder zu sich heran, »das hier ist was anderes. Dafür wird sich kein vernünftiger Mensch hergeben. Wer wäre schon so dumm, sich seine Freiheit stehlen zu lassen?«
»Es gibt genug Frauen, die sich für Geld noch ganz andere Sachen stehlen lassen«, antwortete die Wäscherin leichthin. »Für die klingt das doch nach dem Schlaraffenland.«
»Aber solche Mädchen haben selten einen guten Leumund«, kam es trocken vom Knecht.
Er wies mit dem Finger auf Wemke, die schweigend am Ende des Tisches saß. »Unser zartes Goldlöckchen da hinten, die hätte keine üblen Aussichten, diese Stellung zu bekommen.«
Wemke jedoch war ganz in ihren eigenen Gedanken versunken und hatte der aufgeregten Unterhaltung um sich herum keine Beachtung geschenkt. Heute Morgen war die alte Frau Hinrichs mit entschuldigendem Blick auf sie zugekommen. »Es geht nicht anders«, hatte sie gemurmelt. »Wir schaffen es kaum, uns selbst zu tragen. Wenn wir die Unterbringung der Kinder nicht etwas verteuern, müssen wir Ende des Jahres schließen.«
Die letzten Stunden war in Wemkes Kopf nur Raum für die Frage gewesen, wie sie die erhöhten Kosten in Zukunft aufbringen sollte. Bislang war ihr gerade genug zum Leben geblieben. Das meiste ging für die Tagesunterbringung ihrer Schwester Freya und die Miete für die winzige Dachkammer drauf. Manchmal spotteten die anderen Dienstboten über den Gegensatz zwischen Wemkes gesegnetem Appetit und ihrem zerbrechlichen Aussehen. Dass sie außerhalb des Hauses kaum etwas aß, brauchten sie nicht zu wissen. Wemke seufzte. Vielleicht würde Freya die kleine Süßigkeit, die sie ihr stets mitbrachte, nicht vermissen. Dabei war es das Einzige, womit sie ihre Schwester verwöhnte. Nur widerstrebend strich sie im Geiste das Wort »Schokolade« durch. Außerdem könnte sie noch an der Seife sparen. Es musste nicht die mit dem Rosenduft sein. Und ihre alten Strümpfe waren sicherlich noch zu flicken. Aber selbst nach Abzug all dessen fehlte ihr immer noch mehr als die Hälfte des erforderlichen Betrags.
Die plötzliche Stille um sie herum riss Wemke aus ihren Überlegungen. Jetzt erst bemerkte sie die gespannten Mienen der anderen.
»Habe ich was verpasst? Es tut mir leid, ich muss wohl geträumt haben.« Verlegen blickte sie um sich.
Der Knecht biss in sein Brot. »Wie ich schon sagte«, bemerkte er mit vollem Mund und einem Kopfnicken in Richtung der Zeitungsseite, »Wemke wäre genau die Richtige.«
»Sie traut sich das sowieso nicht«, schniefte das jüngste Küchenmädchen, dem die Zwiebeln immer noch die Tränen in die Augen trieben. »Außerdem würden die da«, sie wies mit dem Messer auf die Anzeige, »wohl dankend ablehnen. Ich mein, wegen dem Kind.«
Wemke wurde hellhörig. »Was ist mit Freya?«
»Gar nichts.« Hanne, die Wäscherin, fühlte sich beflissen, eine Erklärung abzugeben. »Es geht um diese Anzeige hier, mein Mädchen.« Sie schob ihr das Wochenblatt zu und wandte sich an die anderen. »Das ist nichts für unsere Wemke. Es wäre so, als ob sich ein Schäfchen in eine Löwengrube wagt.«
Der Knecht sah Wemke spöttisch an. »Wie war eigentlich am letzten Sonntag dein Spaziergang mit dem jungen Herrn?«
»Sehr schön!« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Es war sehr nett von ihm, dass er mich näher kennenlernen wollte. Nicht viele Arbeitgeber kümmern sich so um ihre Beschäftigten. Und er hat so viel gefragt. Wir haben sogar einen Kaffee zusammen getrunken.« Sie lächelte bei der Erinnerung daran. »Der junge Herr ist wirklich ein sehr freundlicher Mensch.«
Die anderen prusteten vor Lachen, während die Wäscherin Wemke mit offenem Mund anstarrte. »Da brat mir doch einer einen Storch! Weißt du denn nicht, dass die Freundlichkeit dazu diente, dich zu ganz anderem zu bewegen? Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, seinen gierigen Fingern zu entkommen. Aber offensichtlich ist es so.«
Der Knecht nickte grinsend. »Man erzählt, selbst er sei nicht Schuft genug gewesen, um dieses holde Kind aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.«
»Was soll das heißen?« Wemke blickte verwirrt um sich. »Wollt ihr damit etwa andeuten …« Schamesröte stieg ihr ins Gesicht.
»Lass nur, mein Kind.« Luise tätschelte ihr die Schulter. »Es ist nur der Neid. Kaum eine kann wohl von sich behaupten, dem Schürzenjäger ablehnend begegnet zu sein und trotzdem seine Stellung behalten zu haben? Dir dagegen ist es gelungen. Vielleicht solltest du doch einen Blick auf diese Anzeige hier werfen.« Mit diesen Worten riss sie die Seite heraus und schob sie Wemke zu. Dann wandte sie sich an den Knecht. »Georg, wir brauchen noch Holz für den Herd. Aber achte darauf, dass es nicht wieder feucht ist. Beim letzten Mal hatte ich alles voller Ruß.«
»Zu Befehl!« Georg tippte sich an die Schläfe und eilte nach draußen.
Durch die geöffnete Tür fiel helles Frühlingslicht ins Zimmer. Wemke atmete den süßen Duft der Narzissen und Krokusse ein, der wie ein sanftes Parfüm in der Luft hing.
Das Dienstpersonal stob auseinander, als die Frau Justizrätin hereinschwebte. Sie ignorierte die Küchenmädchen und wandte sich sofort Luise zu, um das Essen für den nächsten Tag mit ihr zu besprechen.
Wemke faltete hastig die Zeitungsseite zusammen, schob sie in ihre Schürzentasche und ging hinaus. Sie war nur während der Mahlzeiten mit dem anderen Personal zusammen. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass außerhalb der Küche alles wie am Schnürchen lief. Wemkes Tage waren mit Flick- und Stopfarbeiten, Tisch decken, Betten machen, Fußböden schrubben, Fenster putzen, Staub wischen und vielen anderen Alltagsdingen ausgefüllt. Niemals nahm die Arbeit ein Ende, obwohl sie wie ein Wirbelwind durch das Haus stob.
Läutete es an der Tür, dann war sie es, die öffnen musste. Und egal, ob ihre Arme gerade in Seifenlauge steckten oder sie Silber putzte – an der Tür musste es so wirken, als habe Wemke nur auf diesen einen Gast gewartet. Sie hatte stets adrett und frisch auszusehen. Durfte sich nicht erhitzen beim Scheuern des Fußbodens. Auch Schmutzflecken auf der Kleidung nahm die Frau Justizrätin übel. Wemke hatte Glück, dass sie von Haus aus nicht ungeübt in Benimmregeln war. Ihre Herrschaft duldete weder hochgeschobene Ärmel noch nachlässig sitzende Hauben. Die Schürze hatte schneeweiß zu sein, und niemals durfte der Knicks dem Gast gegenüber vergessen werden. Natürlich musste sie stets höflich zur Seite treten, um den Besucher einzulassen, und wenn ihr jemand eine Karte reichte, so hatte sie diese unverzüglich ihrer Herrschaft zu bringen.
»Gute Dienstmädchen verstehen es, unsichtbar zu sein und trotzdem alles im Griff zu haben«, hatte die Frau Justizrätin am ersten Tag gemahnt.
Manchmal, wenn Gäste kamen, musste Wemke bis spät in die Nacht bleiben, um Jacken zu reichen und jeden einzelnen mit einem Knicks zu verabschieden. An diesen Abenden brachte sie Freya zu einer Nachbarin.
Sieben Tage die Woche dauerte diese Tretmühle. Nur der Donnerstagnachmittag gehörte vier Stunden lang ihr und natürlich der Sonntag. Allerdings durfte sie erst nach dem Abtragen des Mittagsgeschirrs gehen. Die freie Zeit verbrachte sie ausschließlich mit Freya, und nur dann war Wemke für eine kleine Weile wirklich glücklich.
An diesem Abend schloss sie schon früh die Tür zu ihrer Dachkammer auf. Sie legte ihre schlafende Schwester in das kleine Kinderbett, hüllte sich in eine Decke und holte neugierig die Zeitungsseite hervor. Erst jetzt wurden ihr die Zusammenhänge der Unterhaltung bewusst. Beschämt ließ sie das Blatt zu Boden fallen. Dann fing Freya zu weinen an, und alles andere war vergessen. Wemke eilte zu dem leise wimmernden Kind und riss es mit bebenden Händen aus dem Bettchen. Sie kannte die Anzeichen nur zu gut.
»Still, mein Mäuschen, still. Ich weiß, dass es wehtut.«
Immer diese Blähungen! Was gaben sie ihr nur, dass der kleine Magen damit nicht zurechtkam? Seit Wochen schon jeden Abend dieses Geschrei! Manchmal gelang es ihr durch bloßes Auf- und Abgehen, das Kind zu beruhigen. Doch meistens wurde aus dem Wimmern ein Gebrüll. Die anderen Mieter hatten sich schon beschwert.
Wemke strich mit dem Finger leicht über Freyas heiße Wangen. Ob ihre Sorgen wohl jemals ein Ende finden würden? Wie fühlte es sich an, unbeschwert zu sein? Sie wusste es nicht, konnte sich nicht mehr an einen derartigen Zustand erinnern. Erschöpft wanderte Wemke mit dem kleinen Bündel im Arm im Raum umher. Wie müde sie war! Wann hatte sie zum letzten Mal ausreichend Schlaf gefunden? Vor einem Jahr? Ja, da war das Leben ein anderes gewesen. Nicht einfach zwar, aber ihre Eltern hatten noch gelebt, und die Sorgen hatten sich auf drei Schultern verteilt. Sie schloss die Augen und dachte an ihren Vater. Diesen lieben Menschen, der seine Krankheit so tapfer getragen hatte. Das ewige Husten, die langen schlaflosen Nächte. Buchhalter von Beruf, hatte er für die Familie einige Jahre lang einen gewissen Wohlstand erwirtschaftet. Ein Haus mit guter Stube und einer kleinen abgetrennten Kammer für jeden. Sie hatten sparsam, aber gut gelebt. Sonntags gab es Braten und Kuchen. Und an Weihnachten sogar Geschenke. Daran erinnerte sich Wemke mit Wehmut. Doch dann hatte das Husten angefangen. Anfangs nur hin und wieder, doch zuletzt konnte der Vater seine Arbeit nicht mehr ausüben. Wenn ihre Mutter nicht gewesen wäre, dann hätte die Kindheit anders ausgesehen. Ihr kluge Mutter. »Ich bin ganz gut im Geldverdienen«, hörte sie noch deren stolze Worte. In den Jahren, da ihr Vater krank war, hatte die Mutter sich als Lehrerin verdingt. Auch Wemke war ihre Schülerin gewesen. Sie hatte von ihr nicht nur lesen und schreiben gelernt, sondern auch singen, tanzen, zeichnen und sticken. Bald konnte sie leichte Musikstücke auf dem Klavier spielen und erteilte den jüngeren Kindern Gesangsunterricht. Das Malen bereitete ihr besondere Freude, und dann die Bücher! In wie viele ferne Länder war sie in ihrer Fantasie gereist? Und die Gedichte! Die Worte berühmter Lyriker waren wie Wein, berauschend und schwer. Wie schön das Leben gewesen war, damals, bevor die Welt eine andere wurde. Etwas geschah, das die Eltern mit Freude, aber auch mit Furcht erfüllte. Nach neunzehn Jahren sollten sie noch einmal ein Kind bekommen.
Wemke musste noch heute über die Verlegenheit lächeln, mit der sie ihr die Neuigkeit mitteilten. Wie viel Furcht in ihren Augen gelegen hatte. Furcht davor, die erwachsene Tochter könnte ein schlechtes Urteil über ihre Eltern fällen. Doch sie hatte sich ehrlich mit ihnen gefreut. Natürlich war da auch Angst um ihre Mutter im Spiel gewesen. Doch diese hatte nur abgewinkt. »Andere schaffen das doch auch spielend. Es wird schon alles gutgehen.«
Aber während der letzten Wochen der Schwangerschaft fühlte die Mutter sich häufig geschwächt und litt unter Schmerzen. Auch wenn sie sich nie beklagte, so war es ihr doch anzusehen. Besorgnis überschattete das freudige Ereignis. Und dann kam die Nacht, in der der Arzt um das Leben der Mutter kämpfte, während Wemke mit ihrem Vater hoffend und bangend im Wartezimmer saß.
Niemals würde sie sein erschüttertes Gesicht vergessen, als der Arzt schließlich mit einem traurigen Kopfschütteln zu ihnen trat und ihnen mitteilte: »Wir konnten Ihre Frau nicht retten. Aber das Kind lebt.«
In der darauffolgenden Zeit sprach der Vater kaum mehr ein Wort. Den Kampf gegen seine Krankheit gab er auf, und so musste Wemke nur kurze Zeit später einen weiteren Menschen begraben. Sie konnte nicht allzu traurig darüber sein, denn ohne die geliebte Frau war das Leben für den Vater nicht erträglich gewesen. Zum Trauern fehlte ihr ohnehin die Gelegenheit, denn da war das Kind, ihre Schwester Freya, um die sie sich kümmern musste. Für nichts anderes blieb Zeit, nicht zum Grübeln und nicht zum Verzweifeln. Nur ganz kurz überkam sie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, als sie erkannte, dass durch die Krankheit des Vaters und den langen Ausfall der Mutter die finanziellen Reserven fast aufgebraucht waren. Sie musste das noch verschuldete Haus verkaufen, und danach blieb ihr nicht viel, um das Leben zu bestreiten.
Sie versuchte eine Arbeit zu finden, die es ihr erlaubte, die kleine Schwester bei sich zu behalten. Den Gedanken, Freya in ein Kinderheim zu geben, hatte sie sofort wieder verworfen. Sie hätte es nicht übers Herz gebracht. Außerdem war die Kleine die einzige Familie, die sie noch besaß.
Als Lehrerin fand sie keine Anstellung, und auch die Wohnungssuche gestaltete sich schwierig. Als sie zufällig hörte, dass im Hause der Justizrätin Remmer ein Dienstmädchen gesucht wurde, hatte Wemke spontan dort vorgesprochen. Das Anwesen lag ganz in der Nähe des Kinderhorts in Jever. Natürlich scherte es die Justizrätin nicht, dass Wemke eine bessere Ausbildung besaß. Sie brauchte ein Dienstmädchen. Wemke seufzte, als sie an ihre Arbeiten im Haus der Herrschaft dachte. Wie viel lieber würde sie anderes tun! Doch es war ein Glück, dass sie überhaupt Arbeit hatte.
Zu ihrer Erleichterung hörte Freya auf zu weinen. Wemke hielt das kleine Bündel noch eine ganze Weile im Arm und betrachtete zärtlich das geliebte Gesichtchen. Dieses Kind war alles Leid, das sie ertragen musste, wert. Sie liebte Freya von ganzem Herzen, und niemand würde sie je dazu bringen, sich von ihr zu trennen.
Sanft legte Wemke das schlafende Kind wieder in sein Bett zurück. Sie musste überlegen, wie noch Geld eingespart werden könnte. Wemke setzte sich an den kleinen Tisch, nahm einen Bogen Papier und tauchte die Feder ins Tintenfass. Sorgenvoll runzelte sie die Stirn und überhörte das erneute Wimmern des Kindes. Schon wenige Sekunden später drang lautes Schreien an ihr Ohr.
»Oh nein!« Wemke sprang auf, doch es war zu spät. Es gelang ihr nicht sofort, das Kind zu beruhigen, und erst nach langen Minuten gingen die Wehschreie in leises Klagen über.
Kurz darauf pochte es laut an der Tür. Wemke schob den Riegel zurück. Die wütende Vermieterin stand auf der Schwelle.
»Es ist genug! Ich hatte Sie gewarnt, und mein Mitleid hat jetzt ein Ende! Der alte Herr Meier hat schon gedroht auszuziehen. Ich muss auch an mein Auskommen denken.«
Röte schoss Wemke ins Gesicht. »Es tut mir so leid …«
»Mir auch«, schnitt ihr die Vermieterin das Wort ab. »Ich möchte, dass Sie in zwei Wochen ausziehen.«
»Oh, bitte nicht!« Verzweifelt rang Wemke die Hände. »Wo sollen wir denn hin?«
»Sie haben doch wohl noch irgendwelche Verwandten, die Sie mitleidig aufnehmen werden.«
Wemke wollte widersprechen, doch die Alte hob abwehrend die Hand. »Ich mag nichts mehr hören davon. Donnerstag in zwei Wochen will ich Sie hier nicht mehr sehen.«
Sie schloss mit einem Knall die Tür, und Wemke blieb sprachlos zurück. Langsam trat sie zum Bettchen, in dem die kleine Schwester jetzt friedlich schlief. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war, als ob dieser letzte Schlag sie all ihrer verbliebenen Kraft beraubt hätte. Endlich, nach fast einem Jahr, ergab sich Wemke der Hoffnungslosigkeit, gegen die sie sich so lange gewehrt hatte.
Als keine Tränen mehr kamen, hob sie langsam den Kopf und ließ ihre Augen durch das schäbige Zimmer wandern. Die beiden alten Holzstühle, der kleine Tisch mit der bunten Decke, das Bett und die Waschschüssel unter dem Fenster. Dieser Raum war ihre Festung gewesen, ihr Zuhause. Hier hatte sie sich sicher gefühlt und immer wieder Kraft schöpfen können. Doch nun war es damit vorbei. Nichts war ihr geblieben außer der Sorge um das winzige Wesen in dem Bettchen an der kahlen Wand. Wemke ballte die Hände zu Fäusten. Sie würde sich nicht von Freya trennen, nicht um alles in der Welt!
Doch was sollte sie nur tun? Da sie nicht die Mutter war, würde man ihr die Schwester wegnehmen, wenn sie es nicht schaffte, sich und das Kind durchzubringen. Ihre verweinten Augen streiften die achtlos zu Boden geworfene Zeitungsseite. Gleichgültig hob sie das Blatt auf, und ihre Augen überflogen den Text: Junge Frau mit gutem Leumund …für eine Stellung auf der Insel Wangerooge gesucht …absolute Bindung…Sicherheit und Freiheit von finanziellen Sorgen … Angehörige sind willkommen. Sie stutzte und las den letzten Satz noch einmal ganz langsam. Angehörige sind willkommen. Den Blick fest auf die drei Worte geheftet, überschlugen sich Wemkes Gedanken. Wie im Rausch las sie die ganze Anzeige noch einmal durch. Etwas kleiner gedruckt war die Aufforderung, sich bei Interesse im Gasthaus Zur Post in Jever zu melden, um für den kommenden Donnerstag einen Vorstellungstermin zu vereinbaren. Wemkes Kopf schmerzte, aber sie zwang sich, den Gedanken weiterzuspinnen, der mehr und mehr Raum in ihrem Kopf einnahm. Sie trat zum Kinderbett, und ihre Hände schlossen sich so fest um das hölzerne Gitter, dass die Knöchel weiß hervortraten. Es war die einzige Lösung. Sie musste es tun. Der kommende Donnerstag, ihr freier Nachmittag. Diesmal würde sie ihn nicht mit Freya verbringen.
2
Die Frage nach der richtigen Kleidung stellte sich nicht. Ihr einziges besseres Kleid war aus blauer Baumwolle. Ihr einziges besseres Kleid war aus blauer Baumwolle. Es hatte einen weiten Rock und schmale Ärmel. Der kleine Kragen und die Knöpfe waren in einem etwas dunkleren Blau gehalten. Dazu trug sie eine kurze helle Jacke und zierliche braune Schuhe – Erbstücke ihrer Mutter.
Sie möge sich um sechzehn Uhr im Gasthaus einfinden, hatte der Wirt ihr aufgetragen und sie mit neugierigen Augen gemustert. Wemkes Hände begannen zu zittern und ihr Herz schlug wie wild, als sie an ihr Vorhaben dachte. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Unzählige Male hatte sie sich jetzt schon gefragt, ob es eine unschickliche Tätigkeit war, auf die sie sich bewarb. Aber sie durfte jetzt nicht an mögliche Nachteile für sich selbst denken, sondern einzig und allein an den großen Vorteil: Angehörige willkommen! Wenn der Inserent zu seinem Wort stand, dann würde sie sich nicht von Freya trennen müssen, und das war das Wichtigste.
Wemke betrachtete sich in dem fast tauben Spiegel und kam sich langweilig und trist vor. Ein Paar blauer Augen blickte ihr aus einem runden Gesicht entgegen. Sie hatte eine kleine spitze Nase, dafür aber einen recht großen Mund, der sich jetzt kritisch verzog. Ob jemand, der »gutes Aussehen« verlangte, überhaupt einen zweiten Blick an sie verschwenden würde? Ihr Haar, ja, das konnte sich sehen lassen. In weizenfarbenen Locken fiel es bis weit über die Schultern. Darum trug sie es heute auch offen. Obwohl viele offenes Haar für liederlich hielten. Bei der täglichen Arbeit steckte sich Wemke das Haar stets hoch. Doch so sehr sie sich auch bemühte, immer wieder lösten sich kleine Locken aus der strengen Frisur. Wemke wandte sich entschlossen vom Spiegel ab. Es war zu spät, sich Gedanken über ihr Äußeres zu machen.
Entschlossen griff sie nach ihrer Haube und eilte die Treppe hinunter, wo ihr Blick auf die Wanduhr mit dem Porzellanzifferblatt fiel. Es blieb ihr noch eine halbe Stunde!
Es hatte vor kurzem geregnet und das noch nasse Kopfsteinpflaster glänzte in den ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages. Die Luft roch nach Regen und Rauch. Sie wählte den Weg am Wall entlang, vorbei an imposanten alten Bäumen und neu errichteten Häusern. Der hohe Turm des Schlosses ragte majestätisch über alle anderen Gebäude, doch Wemke hatte heute keinen Blick für ihre Umgebung. Beim Pferdehändler angekommen vermochte sie für einen Moment nicht weiterzugehen. Gerade war ihr ein Gedanke gekommen, den sie bisher völlig außer Acht gelassen hatte, und nun schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Niemandem hatte sie von ihrem Vorhaben erzählt. Was, wenn der unbekannte Inserent sie nun entführen würde? Einem Schwall von Übelkeit gleich stieg die Furcht in ihr auf und hinterließ auf ihrer Zunge einen säuerlichen Geschmack. Wemke schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte die bösen Gedanken abzuschütteln.
Schwerfällig ratternd holperte eine Kutsche vorbei und brachte sie in die Gegenwart zurück. Ein Windstoß ließ die alten Ledervorhänge zur Seite flattern und Wemke konnte einen Blick auf die Insassen der Kutsche erhaschen. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen winkte ihr lächelnd zu. Wemke erwiderte den Gruß und holte tief Luft. Sie musste an Freya denken und die Angst zur Seite schieben!
Kurz darauf kam sie atemlos und zitternd beim Gasthaus an und bat den Wirt, ihrem unbekannten Gesprächspartner ihr Erscheinen mitzuteilen. Mit Beschämung nahm Wemke die verstohlenen Blicke wahr, mit denen man sie musterte. Das Gasthauspersonal schien mit den Umständen vertraut und war wohl begierig darauf, jeden in Augenschein zu nehmen, der dumm genug war, sich hier einzufinden.
Der Wirt kehrte zurück, und auf sein Zeichen hin folgte ihm Wemke mit schwankenden Schritten. Sie gingen einen mit Teppichen ausgelegten Gang entlang, an dessen Ende der Wirt stehen blieb. »Hier ist es. Viel Glück.« Er nickte ihr noch einmal zu und wandte sich dann zum Gehen. Wemke brachte kein Wort heraus, und als sie dann doch wieder sprechen konnte, war der Wirt schon verschwunden.
Zögernd stand sie vor der verschlossenen Tür. Sie hob die Hand, um anzuklopfen, doch dann verließ sie der Mut. Geschichten schossen ihr durch den Kopf, von Mädchen, die verschwunden waren und von denen niemand jemals wieder etwas gehört hatte. Kalter Schweiß brach ihr aus. Es musste einen anderen Weg geben, um ihrer Notlage zu entkommen. Fast hätte sie in letzter Sekunde die Flucht ergriffen, doch dann sah sie im Geiste Freya vor sich, als eines von vielen ärmlich gekleideten, unglücklichen Geschöpfen in einem Kinderheim.
»Du bist nicht einmal ihre Mutter«, hämmerte es in Wemkes Kopf. »Du wirst sie hergeben müssen!« Dies war Antrieb genug. Wemke atmete noch einmal tief durch und klopfte an.
Es war, als habe man schon auf sie gewartet. Keine Sekunde nach ihrem Klopfen wurde die Tür von einem Dienstmädchen geöffnet, das mit unbeteiligter Miene zur Seite glitt, um sie hereinzulassen. Wemke betrat mit einem flauen Gefühl das Zimmer. Am Fenster stand eine schlanke Gestalt, die sich jetzt umwandte und sie voller Interesse betrachtete.
»Fräulein Jacobs, nehme ich an?« Wemke brachte nur ein Nicken zustande. »Bitte setzen Sie sich doch.«
Die Dame wies auf eine Sitzgruppe, bestehend aus einem runden Tisch und zwei Sesseln. Wemke erkannte sofort, wie kostbar die Möbel und Stoffe waren. Ihre Gesprächspartnerin konnte nicht unvermögend sein, wenn es ihr möglich war, in diesem teuren Hotel zu übernachten. Außerdem schien dieses Zimmer nur einen Teil der Räumlichkeiten auszumachen, die sie angemietet hatte.
Wemke setzte sich zaghaft auf den ihr zugewiesenen Platz und nahm die Dame in Augenschein. Sie mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, sah aber immer noch sehr gut aus. Die Züge des schmalen Gesichts waren fein und ebenmäßig, und das von grauen Strähnen durchzogene Haar trug sie zu einem vornehmen Knoten aufgesteckt. Dies war keine Frau, die ihre Tage mit harter körperlicher Arbeit verbrachte. Kraft und Entschlossenheit gingen von ihr aus, als sie sich mit einer eleganten Bewegung in den gegenüberliegenden Sessel gleiten ließ. Dunkle Augen blickten Wemke durchdringend an, doch dann verzog sich der schmale Mund zu einem freundlichen Lächeln. Wemkes Angst und Anspannung verflogen, als sie merkte, dass ihre Gesprächspartnerin selbst nach Worten rang. Sie lächelte ihr ermutigend zu.
»Zunächst einmal möchte ich mich Ihnen vorstellen«, begann die Fremde schließlich. »Ich bin Josefine Bartling, die Frau des Hofrates der Seebadeanstalt Wangerooge. Mein Mann bildet zusammen mit unserem sehr verehrten Herrn Badearzt Dr. Hoffmann das Direktorium.« Sie bedachte Wemke mit einem schnellen Blick. »Dies alles erzähle ich nur, falls Sie im Anschluss an unser Gespräch Erkundigungen über mich einziehen wollen.«
Wemke hob abwehrend die Hand. »Ich würde nicht im Traum daran denken …«
Die Hofrätin hob die Augenbrauen. »Es wäre aber nur natürlich. Sie kennen mich doch nicht und wissen nichts von mir außer der Tatsache, dass ich mit einer merkwürdigen Anzeige nach einem ganz bestimmten Mädchen suche. Einer Anzeige, die jeder vernünftige Mensch mit einem entgeisterten Lachen zur Seite gelegt hätte. Daher sollten Sie sich über mich erkundigen. Ich an Ihrer Stelle würde es tun. Oder wollen Sie Ihr Misstrauen bestreiten? Ich konnte es Ihnen an der Nase ablesen.«
Wemke stieg die Röte ins Gesicht. »Sie haben Recht«, gab sie zu. »Ich habe mich gefürchtet. Und auf die Anzeige nur aus einer Notlage heraus reagiert. Und natürlich wüsste ich gerne, worum es sich bei der Stellung handelt.«
»Ich werde gerne Rede und Antwort stehen, doch zunächst einmal brauchen wir etwas Gemütlichkeit. Gerlind«, rief sie nach ihrem Mädchen, »wir würden gerne eine Tasse Tee trinken und möchten auch etwas von dem Mürbegebäck.«
»Gerne, Frau Hofrätin.« Gerlind knickste und verschwand. Wemke spürte, dass das Dienstmädchen von der Bitte überrascht war. Hatte die Hofrätin mit den anderen Bewerberinnen keinen Tee getrunken? Doch es blieb keine Zeit für weitere Überlegungen. Nachdem sich die Tür hinter Gerlind geschlossen hatte, musterte die Hofrätin Wemke sehr aufmerksam. Was sie sah, schien ihre Billigung zu finden, denn ein zufriedener Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
»So, und nun möchte ich eine ehrliche Antwort von Ihnen. Warum sind Sie gekommen? Was gab den Ausschlag? War es das Versprechen von Sicherheit? Oder waren es Geldsorgen, die Sie dazu zwangen? Sie sprachen von einer Notlage.« Die Hofrätin verzog spöttisch den Mund. »Ich habe am heutigen Tage sehr viele junge hübsche Frauen kennengelernt, die sich für Geld nur zu gerne in einen goldenen Käfig schließen lassen wollten. Sie waren alle gleich.« Sie schwieg einen Moment und legte den Zeigefinger an die Nase. »Alle gleich unpassend!«, schloss sie dann. »Doch Sie scheinen mir anders zu sein.«
Die letzten Worte drangen nicht mehr bis an Wemkes Ohr, denn ein übermächtiges Gefühl der Empörung hatte von ihr Besitz ergriffen. Die Hofrätin hielt sie für geldgierig! Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen und gegangen, doch ihre strenge Erziehung hielt sie zurück. »Ich habe kein Verlangen nach einem goldenen Käfig.« Ihre Stimme zitterte leicht, doch sie streckte angriffslustig das Kinn vor. »Nicht um Reichtum für mich selbst geht es mir.«
»Aha«, bemerkte die Hofrätin. »Für wen denn, wenn ich fragen darf?«
»In Ihrer Annonce stand, dass Angehörige willkommen sind.« Wemke befeuchtete die trockenen Lippen. »Ich habe eine Schwester, für die ich sorgen muss. Es ist ein wenig schwierig mit ihr, zumindest im Moment.« Wemke stockte. »Sie ist tagsüber in einem Hort untergebracht, doch nun sind die Kosten dort gestiegen und meine Wohnung wurde mir gekündigt.« Sie holte tief Atem und sah auf ihre im Schoß liegenden Hände. »Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen. Um nichts in der Welt möchte ich mich von Freya trennen und suche daher verzweifelt einen Ort, wo ich mit ihr leben kann. Ich würde alles dafür tun, wirklich alles. Deshalb habe ich mich beworben.«
Für einen Augenblick herrschte ein unbehagliches Schweigen im Raum. Die Hofrätin schien überrascht von Wemkes Erklärung und betrachtete sie nachdenklich aus zusammengekniffenen Augen.
Die Stille wurde von Gerlind unterbrochen, die einen kleinen beladenen Teewagen ins Zimmer rollte. Während das Dienstmädchen Geschirr aufdeckte, wand sich Wemke unter dem Blick der Hofrätin. Sie fühlte sich unwohl, fast ein wenig bedroht, wie eine Maus sich fühlen musste, die von einer Eule erspäht wurde.
»So ist das also. Eine Schwester ist der Grund.« Die Stimme der Hofrätin klang zögerlich und ein wenig verwundert. »Hatte ich also doch Recht. Sie sind anders. Sie müssen verstehen, dass mich die anderen Bewerber misstrauisch gemacht haben. Jede gab zu, durch das Versprechen von finanzieller Unabhängigkeit angelockt worden zu sein. Dennoch merkte ich nur zu rasch, dass alle Tugenden, derer sie sich rühmten, so falsch waren wie die Farbe ihrer Lippen und Wangen. Ich mag älter sein, aber noch nicht weltfremd.« Sie beugte sich ganz nahe zu Wemke vor. »Und ich weiß sehr wohl, was ich will! Doch jetzt, mein Kind, wollen wir uns bei einer Tasse Tee noch einmal ganz in Ruhe unterhalten.«
Die Hofrätin goss das heiße Getränk in zarte, fast durchsichtige Tassen. Betont freundlich forschte sie nach Einzelheiten aus Wemkes Leben, durchblätterte ihre Referenzen und nickte immer wieder zufrieden. Wemke konnte sich nur schwer dem Zauber entziehen, den die Aufmerksamkeit und das Interesse der feinen Dame auf sie ausübten. Mit Begeisterung beschrieb sie ihre Kenntnisse in den Schönen Künsten. So geschickt stellte die Hofrätin es an, dass Wemke bereitwillig auch viel Persönliches aus ihrem Leben preisgab, nur über den Tod der Eltern ließ sie sich kein Wort entlocken. Wemke spürte das Wohlwollen der Hofrätin und entspannte sich zunehmend. Vielleicht hatte sie sich dieses merkwürdige Gefühl der Bedrohung nur eingebildet.
Erschrocken nahm Wemke wahr, dass die Uhr fünf schlug.
»Ich sehe, Sie werden ungeduldig«, sagte die Hofrätin lächelnd. »Dabei haben wir noch so viel zu besprechen und Sie wissen noch nicht die winzigste Kleinigkeit über Ihre Stellung.«
Wemke schnappte nach Luft. »Sie meinen …«
Die Hofrätin nickte. »Ich habe mich entschieden. Eigentlich schon in der Minute, als Sie zur Tür hereinkamen, meine Liebe. Natürlich liegt die letzte Entscheidung noch bei Ihnen.«
Völlig überrumpelt sank Wemke in ihren Sessel zurück. Erwartungsvoll richtete sie die Augen auf die Hofrätin.
»Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Es ist, wie schon in der Anzeige stand, eine Stellung auf der Insel Wangerooge. Ich brauche eine gebildete Persönlichkeit, die mit den Badegästen den Schönen Künsten frönt. Das wäre genau das Richtige für Sie. Es wird Ihnen gefallen auf Wangerooge. Eine wunderschöne Insel, wie ich Ihnen versichern kann. Vor allen Dingen gibt es dort gute Luft, und dann das gesundheitsfördernde Meerwasser! Einmal für sich entdeckt, möchte man es nicht mehr missen. Die Insulaner stellen sich recht gefällig an, sofern man sie zu nehmen weiß und ihnen genau sagt, was zu tun ist.« Sie rümpfte ein wenig die Nase. »Natürlich verfügen sie über keinerlei gesellschaftliche Talente. Zumindest die meisten von ihnen nicht. Die Einwohner pflegen ihre eigenen Sitten und Gebräuche, die sich doch sehr von unserer feinen Lebensart unterscheiden. Aber ich habe es geschafft, Kultur und vor allen Dingen eine exzellente Kochkunst auf der Insel einzubürgern.« Ihr Mund verzog sich selbstgefällig. »Alles in allem habe ich meine Entscheidung, dort zu leben – und das tue ich seit zwanzig Jahren – niemals bereut. Natürlich ist es in den Wintermonaten ein wenig trist. Von gesellschaftlichem Leben nichts zu spüren. Die Insulaner sind ja, wie schon gesagt, eher schlicht und geben nicht viel auf Theater und Gesang. Deshalb entfliehen mein Mann und ich im Winter auch immer für einige Zeit. Aber im Sommer …« Sie stieß einen genussvollen Seufzer aus. »Für die Monate Juni und Juli konnte ich in diesem Jahr ein Geigenquartett verpflichten und für den August einen Harfenmeister mit Sängerin. Mein Aufenthalt hier in Jever diente ferner dazu, verschiedene Vortragskünstler für Auftritte im Konversationshaus zu gewinnen. Zu unseren Gästen zählen Mitglieder des Oldenburger Hofes sowie andere fürstliche Persönlichkeiten. Es ist schon ein erlauchter Kreis, der Erholung und Genesung auf der Insel sucht. Und dabei soll es auch bleiben!«, schloss sie nachdrücklich, und ihre Hand, die auf der Lehne des Sessels ruhte, ballte sich zur Faust. Dann sah sie auf. »Dafür zu sorgen ist indirekt Ihre Aufgabe, meine Liebe. Es gibt da nämlich eine kleine Disharmonie.« Sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie zögerlich fort: »Das Problem ist unser liebenswerter Badearzt Dr. Hoffmann. Er ist ledig, und nicht alle weiblichen Gäste wissen, was sich geziemt. Von ihren Ehegatten zur Erholung in meine Hände gegeben, fühle ich mich für jede Dame verantwortlich. Aber nicht wenige dieser verheirateten Frauen machen dem Badearzt Avancen. Sie scheinen weniger die Genesung von ihrer jeweiligen Unpässlichkeit im Auge zu haben, sondern vielmehr nach Abenteuern auf der Insel Ausschau zu halten. Ein unerhörtes Benehmen, aber es gibt auch in den gehobenen Kreisen liederliche Frauenzimmer. Ich habe unserem verehrten Badearzt zu verstehen gegeben, dass wir eine Lösung für dieses Problem finden müssen. Und sofern Dr. Hoffmann die Insel nicht verlassen möchte, gibt es nur einen Weg: Es müssen Tatsachen geschaffen werden, die eine Affäre mit ihm unmöglich machen. Daher habe ich mich entschlossen«, sie sah Wemke fest in die Augen, »ihm eine Frau zu suchen.«
Wemke schnappte nach Luft, doch Frau Bartling hob beschwichtigend die Hände. »Bitte bleiben Sie ganz ruhig! Bei dieser Ehe handelt es sich natürlich nur um eine rein vertragliche Angelegenheit. Sie beide helfen sich sozusagen gegenseitig. Unser Badearzt wird nicht mehr belästigt, und ich gewinne eine junge, schöne und zudem verheiratete Dame, um meine Angebote zur Zerstreuung der Gäste aufzuwerten. Als Ehefrau sind Sie keine Gefahr für die zur Genesung bei uns weilenden männlichen Gäste. Ich bin es nämlich leid, in jeder Saison eine neue Anwärterin für die Schönen Künste zu suchen. In jede der Damen, die bislang für mich gearbeitet haben, hat sich ein Gast verliebt. Es gab große Tragödien!« Die Erinnerung ließ sie verzweifelt die Hände ringen. »Und mir blieb jedes Mal der Ärger mit den verlassenen Ehefrauen oder empörten Eltern, die eine andere Partie für den Sohn vorgesehen hatten.«
In Wemkes Kopf begann es zu dröhnen. Das war also die »absolute Bindung«, von der in der Anzeige die Rede gewesen war. Was mochte das für ein Mann sein, der sich – wenn auch nur fürs Papier – eine Braut aussuchen ließ? Wahrscheinlich litt er unter Schüchternheit und konnte sich deshalb auch nicht gegen die Avancen der weiblichen Badegäste wehren. Sie stellte sich ihn als scheuen, in sich gekehrten Charakter vor. Er wäre ihr sicher sympathisch, aber das war ja noch lange kein Grund, jemanden einfach so zu heiraten. Wie stellte die Hofrätin sich das vor? Sich für solch ein Schauspiel herzugeben war doch undenkbar! Oder etwa nicht? Wemke schloss für einen Moment die Augen. Sie sah sich und Freya zusammen am Strand. Schaumgekrönte Wellen, weißer Sand – wie wundervoll wäre es, wenn ihre Schwester dort aufwachsen dürfte. Aber um welchen Preis!
»Ihr Vorschlag, ist der wirklich ernst gemeint?« Wemkes Stimme zitterte.
»Ich scherze nicht.« Frau Bartling erhob sich. »Und ich versichere Ihnen, dass Sie die einzig Richtige sind. Aber ich verstehe auch, dass Sie Ihre Entscheidung überschlafen müssen. Daher schließen wir folgende Vereinbarung: Wenn Sie die Stellung annehmen, dann erwarten Dr. Hoffmann und ich Sie in zwei Wochen auf der Insel. Hier.« Sie streckte ihr einen Umschlag entgegen. »Die Fahrkarte und etwas Geld für Ausgaben, die sicherlich anstehen werden.«
Verwirrt schüttelte Wemke den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen. Vielleicht komme ich nicht und dann …«
»Dann werden Sie das Geld beim Wirt für mich zurückgeben«, beschloss Frau Bartling bestimmt und streckte Wemke die Hand entgegen. »Doch Sie werden kommen, ich spüre es!«
Wemke erhob sich mit wackligen Beinen. »Aber was wird Dr. Hoffmann von mir halten?«
Für einen Atemzug schien die Hofrätin leicht verunsichert, doch dann fing sie sich wieder. »Er wird Sie hinreißend finden und, wie immer, meiner Entscheidung zustimmen. Wissen Sie, es ist doch so, dass die Männer letztendlich froh sind über jede Lenkung und jeden Rat«, sagte die Hofrätin leicht abfällig. »Wenn ich meinen Mann nicht auf Trab halten würde, wo wären wir dann? Ich allein habe in den letzten zwanzig Jahren dafür gesorgt, dass man sich als Gast auf Wangerooge wohlfühlen kann. Was ich damit sagen will, ist, dass Dr. Hoffmann sich selbstverständlich meinem Wunsche fügen wird.«
Wemke empfand plötzlich Mitleid mit dem unbekannten Dr. Hoffmann. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, einen ihr völlig Fremden einfach so zu heiraten.
Frau Bartling schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Vielleicht schreckt der Gedanke an eine Ehe mit unserem Badearzt Sie ab. Noch dazu, wo Dr. Hoffmann nicht mehr ganz jung ist. Aber Sie hätten doch irgendwann sowieso eine Ehe angestrebt, oder etwa nicht?«
Wemke nickte. »Irgendwann, vielleicht, aber noch nicht so bald. Und vor allem nicht mit jemandem, der mir völlig fremd ist.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Wie alt ist Dr. Hoffmann überhaupt? Ich weiß ja nicht einmal, was er für ein Mensch ist.«
»Dr. Hoffmann ist Mitte vierzig und der beste Mensch, den Sie in Ihrer Lage überhaupt finden können. Was glauben Sie, welcher Mann würde die Last einer Verwandten wie Ihrer Schwester auf sich nehmen? Männer sind eigennützige Wesen, mein Kind. Nicht einmal der Liebe wegen würden sie auf ihre Bequemlichkeit verzichten. Ich stelle Sie mir in einigen Jahren vor. Verbittert, einsam und durch all die Anstrengung vorzeitig gealtert. Da wird immer die große Verantwortung für die Schwester sein und die Sorge um das nötige Geld zum Leben.«
»Das ist gemein«, stammelte Wemke.
»Aber die Wahrheit«, sagte die Hofrätin ungerührt. »Sie würden gut daran tun, meinen Vorschlag anzunehmen. Überlegen Sie es sich. Mein Angebot würde Ihnen finanzielle Unabhängigkeit sichern.« Wemke erkannte die Berechnung im Blick der Hofrätin. »Ihr Verdienst geht natürlich direkt an Sie und nicht an Dr. Hoffmann. Da es auf der Insel kaum Möglichkeiten gibt, Geld auszugeben – die Mahlzeiten werden Ihnen selbstverständlich gestellt -, käme in wenigen Jahren ein hübsches Sümmchen zusammen. Und für Ihre Schwester, da lässt sich auch was machen. Es gibt Personal bei uns, das sich den ganzen Tag um die Kinder und Säuglinge von Patienten kümmert, und natürlich auch um zurückgebliebene Angehörige.« Sie sah Wemke mitfühlend an.
Diese zuckte zusammen. Zurückgebliebene Angehörige? Sie wollte das Missverständnis aufklären und setzte an mit: »Es ist nicht so, wie Sie denken …«, doch Frau Bartling schnitt ihr das Wort ab.
»Sie müssen sich doch dafür nicht schämen, meine Liebe. Und falls Sie sich um das Wohlergehen Ihrer Schwester sorgen, kann ich Ihnen versichern, dass unser Personal wirklich ausgezeichnet geschult ist. Es gibt für uns also keinen Grund, sich länger bei diesem wenig erfreulichen Thema aufzuhalten. So, und nun gehen Sie nach Hause und denken in Ruhe über alles nach. Aber behalten Sie im Kopf, dass es für Sie wirklich nur Vorteile hätte.«
Für die Hofrätin war das Gespräch damit ganz offensichtlich beendet. Sie trat zur Tür und verabschiedete Wemke. Diese wusste später nicht mehr zu sagen, wie sie den Weg zurück in ihre Wohnung gefunden hatte. Niemals in ihrem Leben war sie verwirrter gewesen. Ganz fest umklammerte sie den Umschlag mit der Fahrkarte und dem Geld, und ihre Füße bewegten sich wie von selbst voran, während in ihrem Kopf tausend Gedanken kreisten. Die Hofrätin hatte ihr Angst gemacht mit ihrem gnadenlosen Entwurf von der Zukunft. Und dann war da natürlich noch die gegenwärtige Situation. Würde es ihr gelingen, eine neue Wohnung für sich und Freya zu finden? Seit fast einem Jahr lebten sie schon von der Hand in den Mund. Wie lange könnte sie dieses Dasein noch ertragen? Wenn Freya älter wäre und Wünsche äußerte, würde sie keinen davon erfüllen können. Und irgendwann einmal würde die Schwester sie nicht mehr brauchen, und dann bliebe ihr nur die Einsamkeit. Wäre es nicht Dummheit, den Vorschlag der Hofrätin abzulehnen? Die Vorstellung, einen völlig Fremden zu heiraten, machte ihr Angst und beschämte sie, aber andererseits war Dr. Hoffmann Arzt und somit ein gebildeter und sicher hochanständiger Mann. Niemals wieder im Leben würde sich ihr eine solche Chance bieten. Was wäre es für eine Erleichterung, die finanziellen Sorgen ablegen zu können. Und was für ein Genuss, wieder mit anderen Menschen malen und singen zu dürfen. Sie hätten ein sicheres Dach über dem Kopf, und nie wieder müsste sie Angst haben, ihre geliebte Schwester zu verlieren. Wenn sie dafür den Badearzt in Kauf nehmen musste, dann würde sie das Opfer eben bringen. Ihr blieb gar nichts anderes übrig. Außerdem bestünde die Ehe ja nur auf dem Papier.
Es gab eigentlich nichts mehr zu überlegen. Erleichterung durchströmte Wemke. Ihre Entscheidung war gefallen.
3
Gemächlich floss die Weser durch den winzigen Ort mit den alten Häusern, der langsam zum Leben erwachte. Hähne schrien, Vorhänge wurden zur Seite geschoben und die erste Kutsche des Tages holperte über die Straße. Die Morgensonne überzog den Fluss mit silbrigem Glanz und ließ die rötlichen Mauersteine des alten Herrschaftshauses an seinem Ufer leuchten. Ein trotz des sich ankündigenden Frühlings dick vermummter Spaziergänger versuchte neugierig über die große Hecke zu spähen, die das Grundstück säumte. Doch Bäume und Büsche verbargen geschickt das Haus und den Garten.
Viele beneideten Thomas Hanken, den erfolgreichen Arzt, um sein Gut und Geld. Doch es gab nur wenige, die ihn wirklich kannten. Sein Fleiß und sein Können hatten es ihm ermöglicht, sich hier niederzulassen. Ihn selbst hatte der Reichtum nicht verändert. Tag für Tag ließ er sich vom Kutscher nach Bremen fahren, um für seine Patienten da zu sein.
Doch jetzt, an diesem Sonntagmorgen, saß er auf der einfachen, harten Gartenbank vor dem Haus. Die Schuhe an seinen Füßen waren alt und ausgetreten. Der Hut, den er gegen die helle Morgensonne tief ins Gesicht gezogen hatte, war speckig und abgegriffen. Den wollenen Mantel hätte wohl mancher längst abgelegt, doch Dr. Hanken hing an dem gemütlichen Kleidungsstück. Zu seinen Füßen lag Benno, der Schäferhundrüde. Thomas Hanken stützte den Kopf in die Hände. Von fern her drang das Läuten von Kirchenglocken zu ihm herüber, doch nicht die Glocken waren es, nach denen er unruhig lauschte.
Ein Schatten schob sich vor ihn. »Soll ich ihn wecken?«
Der Arzt schüttelte den Kopf, während er die Frau in dem graublauen Baumwollkleid mit dem steifen weißen Kragen liebevoll musterte. »Lass nur, Hilde. Er hat es sich verdient, noch ein wenig zu schlafen.«
Die rundliche Haushälterin mit dem grauen Dutt arbeitete schon sehr lange für den Arzt. Sie genoss alle Vorteile, die eine Frau in ihrer Stellung haben musste und war vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst für die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie hatte als Kindermädchen für den kleinen Jeels, den Ziehsohn von Dr. Hanken, angefangen. Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Mittlerweile war sie selbst nicht mehr die Jüngste, doch ein Leben außerhalb des Haushaltes dieser beiden Männer konnte sich Hilde beim besten Willen nicht mehr vorstellen.
»Ich bereite schon mal das Frühstück vor«, beschloss sie resolut und ging wieder hinein. Als der Arzt die Treppe im Haus knarren hörte, stand er auf, öffnete die Tür und sah dem jungen Mann, der auf ihn zukam, entgegen. Das dunkle Holz des Geländers glänzte. Wie hatte sich Hilde immer empört, wenn Jeels als Kind darauf die Treppe hinuntergerutscht war. Dr. Hanken lächelte bei der Erinnerung daran.
»Guten Morgen«, rief er dem Jüngeren freudig zu. »Es ist gut, dass du kommst. Mir steht der Sinn nach Tee und frisch gebackenem Brot.«
»Morgen, Vater.« Jeels nickte seinem Ziehvater zu und trat für einen Moment nach draußen. Er streckte sich der Sonne entgegen, zog dann aber fröstelnd die Schultern hoch und verschwand wieder im Haus. Dr. Hanken folgte ihm.
»Ich bin froh, dass wir heute nicht in die Praxis müssen«, sagte Jeels und unterdrückte ein Gähnen.
Der Ältere klopfte ihm auf die Schultern. »Du hast dich in den letzten Tagen tapfer geschlagen. Ich habe selten so viele Patienten in einer Woche erlebt. Es muss daher rühren, dass sich deine besondere Begabung rasch herumspricht.« Er wies auf die Hände des jungen Mannes. »Es gibt keinen, der sich auf das Einrenken von Wirbeln und Gelenken besser versteht als du!«
Stolz schaute er dem jungen Mann ins Gesicht, doch dieser senkte den Kopf. Besagte Fähigkeit hatte er nicht im Studium erlernt, wie viele wohl zu glauben schienen. Sie war ein Geschenk, und Jeels wusste nicht, ob er dankbar dafür sein sollte. Das erste Mal hatte er als Kind die besondere Feinfühligkeit seiner Hände bemerkt. Während eines Gottesdienstes waren seine Finger über das aufgeschlagene Liederbuch gefahren, und er hatte ein Haar erspürt, obwohl drei Seiten Papier dazwischenlagen. Damals hatte er geglaubt, jeder Mensch wäre so empfindsam. Als ihm bewusst wurde, dass dem nicht so war, machte er ein Geheimnis aus seiner Begabung. Mit dem roten Haar und den grünen Augen in seinem runden Gesicht war er bereits mehr als genug Spott ausgesetzt. Da brauchte es nicht noch diese Besonderheit.