Die Lerche des Himmels - Jutta Oltmanns - E-Book

Die Lerche des Himmels E-Book

Jutta Oltmanns

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Beschreibung

Ein Roman, eingetaucht in das Licht und die Farben der Provence

Leer um 1660: Silvana träumt davon, nach Frankreich zu reisen, um das Geheimnis der Gravur auf ihrer Laute zu lüften. Sie ist ein wildes Mädchen, das singen und tanzen liebt – sehr zum Leidwesen der mennonitischen Familie bei der sie nach dem Tod ihres Großvaters aufwächst. Als sich Jakob, der Sohn der Leinenreeder, in Silvana verliebt, kommt es zum Eklat. Nach einer Intrige flieht sie und reist mit einer Gauklertruppe in die Provence. Als "Lerche des Himmels" verzaubert sie die Menschen. Es ist der Beginn eines neuen Lebens und eine Reise in die Vergangenheit. Was hält die alte Felsenburg der Herren von Baux für sie bereit, und hat Jakob seine Liebe wirklich aufgegeben?

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Seitenzahl: 576

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ZUM BUCH

Leer um 1660: Die junge Silvana reist mit ihrem Großvater, dem Spielmann Rolaf Caronel, durch die Lande. Von ihrer verstorbenen Mutter hat Silvana nicht nur ihre musische Begabung geerbt, sondern auch eine wertvolle Laute, in der die Worte »Der Herrin von Baux auf ewig verbunden« und »Bertran Caronel« eingebrannt sind. Silvana träumt davon, weiter nach Frankreich zu reisen, um das Geheimnis der Gravur zu lüften. Als sich Jakob, der Sohn mennonitischer Leinenreeder, in Silvana verliebt, kommt es zum Eklat. Nach einer Intrige flieht sie und reist mit einer Gauklertruppe in die Provence, weg von Jakob, weg von allem Unheil. Als »Lerche des Himmels« verzaubert sie die Menschen. Es ist der Beginn eines neuen Lebens und eine Reise in die Vergangenheit. Was hält die alte Felsenburg der Herren von Baux für sie bereit, und hat Jakob seine Liebe wirklich aufgegeben?

ZUR AUTORIN

Jutta Oltmanns, geboren 1964, schreibt neben ihrer Tätigkeit bei der Bundesanstalt für Verwaltungsdienstleistungen historische Romane. Ostfriesland ist zugleich Inspiration und Schauplatz ihrer Bücher. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Warsingsfehn, wo sie an ihrem nächsten großen Roman arbeitet.

LIEFERBARE TITEL

Das Geheimnis der Inselrose

Tochter der Insel

Windstochter

Die Dufthändlerin

Jutta Oltmanns

Die Lerche des Himmels

Historischer Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 01/2019

Copyright © 2019 by Jutta Oltmanns

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Klemt & Mues GbR

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bridgeman (Woman with a Lute, Bronckhorst, Jan Gerritsz van (c.1603–c.1661)/Private Collection/Photo © Rafael Valls Gallery, London, UK/Bridgeman Images), Bridgeman (Portrait of a lady thought to be Madame Hortensia, Voet, Jacob Ferdinand (1639–1700)/Private Collection/Photo © Philip Mould Ltd, London/Bridgeman Images) und Shutterstock (Erissona)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-20453-2V001

www.heyne.de

Für Käthi und Gerhard Oltmanns, in liebevollem Gedenken

Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter.

William Shakespeare

Prolog

Wie ein mittelalterliches Juwel thronte die Stadt im von Weinreben und Olivenbäumen bewachsenen Hinterland des Département Gard. Mit ihren von Arkaden umgebenen Plätzen, den malerischen Gässchen und dem Mosaik aus Farben hatte sie ihn sofort in ihren Bann gezogen. Mathies schloss die Augen und überließ sich dem Duft von Lavendel, Thymian und Rosmarin.

Uzès im Süden von Frankreich!

Er hatte sich um den Auftrag gerissen, sich dafür völlig unter Wert angeboten, doch was um alles in der Welt hoffte er in diesem beschaulichen Städtchen zu finden? Wie schon so oft an anderen Orten einen Hinweis darauf, dass vor mehr als dreihundert Jahren seine eigene Geschichte hier ihren Anfang genommen hatte?

In seinem Inneren vermischten sich Niedergeschlagenheit und Erwartung. So war es schon in der Nacht gewesen. Er hatte Löcher in die Dunkelheit gestarrt und kaum Schlaf gefunden. Erst mit den Stimmen der Händler, die in aller Frühe ihre Stände aufbauten, waren die bösen Schatten zerronnen.

Mathies seufzte. Sein Blick schweifte zum uralten Glockenturm der Kathedrale Saint-Théodorit. Sonnenlicht fiel gleißend auf die gelb und grün glasierten Dachziegel, und am Himmel zogen Falken ihre Bahnen.

Unwirklich. Die ganze Stadt hatte etwas Unwirkliches an sich, so als ob die Vergangenheit hier immer noch lebendig wäre. Vielleicht lag es wirklich an der Renaissance-Architektur, den mittelalterlich anmutenden Märkten und der ehemaligen Kathedrale, in der die schönste Orgel Frankreichs zu Hause war.

Seine Orgel! Es waren immer seine Orgeln, so lange, bis ihre Seelen geheilt waren und sie sich wieder selbst gehörten. Vor dreihundert Jahren hatte man Männer wie ihn für Zauberer gehalten. Damals galten Orgeln als Wunderwerke, weil sie fast jeden Klang nachzubilden vermochten – vom lautesten Donner bis hin zu dem feinsten Tirilieren der Vögel. Vor dreihundert Jahren …

»Herr Rickmersen, können Sie bitte mal kommen?«

Dirk, der jüngste Mitarbeiter, streckte seinen wuscheligen Schopf aus der Kirchentür. Seine Stimme klang aufgeregt.

Mathies folgte ihm in das Innere der dreischiffigen Basilika, dessen Strenge durch das Rippengewölbe gemildert wurde. Eine Staubschicht lag wie leichter Rauch über dem Steinboden. Breite Strahlen aus Sonnenlicht ergossen sich durch die Fenster und ließen die unter seinen Füßen aufwirbelnden grauen Wolken tanzen.

Mathies eilte die Stufen zur Empore hinauf. Sein Blick streifte das mit Grau und Gold bemalte Orgelgehäuse, blieb für einen Moment an den mächtigen Prinzipalpfeifen hängen, um dann zu seinen Männern zu wandern, die sich aufgeregt gestikulierend vorbeugten. Sie hatten etwas entdeckt! Mathies’ Herz begann schneller zu schlagen. Er kannte diese Art von Aufregung. So war es immer, wenn ein Fund ans Licht kam. Orgeln bargen manchmal uralte Kostbarkeiten. Auf einen Augenblick wie diesen hatte er gewartet.

»Sehen Sie sich das bitte mal an.«

Einer seiner Mitarbeiter hielt ihm eine altertümliche Mappe hin, die mit Bändern verschlossen war.

»Wo habt ihr sie gefunden?«

»Unter einem der Holzbretter, die zum Orgelbalg gehören.«

Vorsichtig wischte Mathies den Staub fort. Das zum Vorschein kommende schwarze Leder war fleckig und an manchen Stellen von Mäusen angefressen. Mit der Behutsamkeit, die er im Umgang mit wertvollen Instrumenten gelernt hatte, begann er die Bänder zu lösen. Die Männer scharten sich um ihn. Mathies nahm die atemlose Stille wahr. Sie legte sich wie Watte auf seine Ohren. Keiner regte sich, nur das Knacken der Deckenbalken und die Schreie der Falken waren zu hören.

Er starrte auf die Mappe in seinen Händen. Noch nie hatte er so lange gezögert, einen Einband aufzuschlagen. Konnte es das sein, worauf er hoffte? Was, wenn nur ein Haufen alter Noten zum Vorschein kam? Wäre er imstande, die Enttäuschung auszuhalten? Seine Finger glitten unentschlossen über das Leder. Schließlich nahm er einen tiefen Atemzug und öffnete vorsichtig den Deckel.

Vor ihm lag eine Sammlung loser Seiten. Das Papier sah aus wie altes gelbliches Leinen. Die Ecken waren zerfranst, und eine leichte Verfärbung zeigte, dass an einer Stelle Feuchtigkeit eingedrungen war. Ein schmales Buch in grün gefärbtem Pergament lag zuoberst. Mathies schlug den Einband auf, und prickelnde Erregung erfasste ihn. Die erste Seite war mit dunklen Buchstaben beschrieben. Vorsichtig blätterte er um. Das Datum rechts oben in der Ecke ließ ihn schwindeln: Uzès,den25. Juli1683. Mathies spürte, wie sein Herz schneller schlug. Sollte dies wirklich der Schatz sein, nach dem er gesucht hatte? Seine Augen blieben an den Worten DerHerrinvonBauxhängen, und er keuchte auf. Fast wäre ihm der Fund aus den Händen geglitten.

Dirk drängte sich nach vorn. »Was ist es? Die geheime Schrift eines Mönchs?«

Seine kindliche Frage durchbrach Mathies’ Spannung. Er fasste sich und schüttelte den Kopf. »Nein. So alt ist der Fund nicht.« Dirk rückte noch näher an ihn heran und starrte auf das Blatt vor seiner Nase.

Bedächtig las Mathies vor: »Außführliche Kunde, wie die Lerche in höchster Gefährlichkeit hiero angelanget ist, wie undt wo sie ihre Kenntnüße erworben und alsdann dieselben außgeübet hat.«

»Das Buch ist ja in deutscher Sprache geschrieben! Wahnsinn.«

»Ja.« Mathies starrte wie entrückt auf die Worte, die für ihn einen Sinn ergaben. Er schloss die Mappe und hielt das Bündel so fest umklammert, dass der lederne Umschlag ihm ins Fleisch stach.

All die Jahre hatte die Orgel diese Aufzeichnungen gehütet, hatte das Sonnenlicht ferngehalten, sie vor hungrigen Bücherwürmern und gierigen Menschenfingern beschützt. Ein dankbarer Seufzer kam ihm über die Lippen. Die Orgel hatte diese Kostbarkeit für ihn aufbewahrt!

Als ihm das Erstaunen des Jungen bewusst wurde und das Gemurmel der Männer, zwang Mathies sich, den Griff zu lockern. Die Mappe in seinen Händen zitterte leicht, ein Blatt rutschte heraus und fiel zu Boden. Dirk bückte sich rasch und hob es auf.

»Hier ist eine Frau abgebildet!«

Mathies legte die Mappe vorsichtig beiseite, griff nach dem Papier, und ein überraschter Laut entfuhr ihm. Seine Augen sogen sich an der Zeichnung fest, an den großen dunklen Augen der jungen Frau, an dem warmen Ton ihrer Haut und dem energischen Zug des Mundes. Die Jahrhunderte hatten der Klarheit und Farbenpracht nichts anhaben können. Mathies strich vorsichtig mit einem Finger über das Bild, spürte die raue Oberfläche und blickte auf die sorgfältig gesetzten Buchstaben darunter. Ihr Name stand dort. Silvana Caronel.

Mathies’ Herz schlug schneller. Er kannte das Gesicht, er kannte es ganz genau. Seine Suche war zu Ende.

1

August bis Dezember 1658

Silvana tanzte. Ihre braunen Locken flogen, die Zähne blitzten, und die Röcke des Kleides wirbelten um ihre Beine. Die Leute klatschten, feuerten sie an, und als der Tanz zu Ende war, warfen sie Münzen in den kleinen Korb. Silvana verneigte sich anmutig.

Dann seufzte sie innerlich. Großvater musste sich unbedingt am Leierkasten zu schaffen machen. Er klang fürchterlich verstimmt, auch wenn die Zuschauer das großzügig überhört zu haben schienen. Ihr jedoch taten die schiefen Töne in den Ohren weh. Schon vor Tagen hatte sie mit ihm darüber gesprochen.

»Was will man von einer Drehorgel erwarten, die bei Wind und Wetter auf staubigen Straßen und Plätzen gespielt wird? Die Walzen sind derangiert, und die Pfeifenreihen tönen nicht mehr sauber. Kind, wir können uns keine neue Bestiftung leisten. Du musst es schon noch eine Weile aushalten.«

Silvana seufzte. Es war eine Strafe!

»Dieser Tanz war eine Huldigung an die Sonne!«, rief Großvater den Umstehenden zu und griff erneut zur Kurbel der Drehorgel, die er um den Hals gehängt trug. Schlohweißes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Auch sein Bart war weiß und das von der Sonne gebräunte Gesicht von Falten durchzogen. Er war nur wenig größer als Silvana und sein Nacken gebeugt vom Tragen des Leierkastens. Der Hut auf seinem Kopf schien bei jedem Lied einen ganz eigenen Tanz zu vollführen, und Großvaters Ohrschmuck, die Triangel, glitzerte in der Sonne.

Silvana kam langsam wieder zu Atem. Sie nahm den Holzstab und schritt auf die Staffelei mit der Bildertafel zu.

»Leute, kommt herbei und hört die traurige Geschichte von dem Seemann, der seine Liebste verlor!«

Fremde Gesichter drängten sich lachend und rufend um sie. Es war ein heißer Sommertag, und der laue Wind schien auch die Herzen leicht werden zu lassen. Als sie ihre Stimme erhob, verstummten die Leute. Zu den Klängen, die Großvater dem Leierkasten entlockte, sang Silvana die Ballade von dem jungen Kapitän, der nach langen Wochen auf stürmischer See auf seine Heimatinsel zurückkehrt und anstelle der Geliebten und des gemeinsamen Kindes nur noch Tod und Leid vorfindet. Der Holzstab glitt entsprechend der Strophen des langen Stückes von Bild zu Bild.

Silvana hatte es schon oft vorgetragen, bemühte sich jedoch um eine Intensität, als sei es das erste Mal, und wie erhofft waren die Zuhörer am Ende zu Tränen gerührt. Sie ließ den Korb kreisen, und ihre Augen begannen zu leuchten. Die Mühe hatte sich gelohnt.

Eines der oberen Sprossenfenster des Hauses, vor dem sie standen, öffnete sich, und ein älterer Mann warf Münzen herunter. Bewundernde Rufe ertönten, als Silvana diese geschickt mit ihrem Rock auffing. Sie knickste, warf dem Graubart einen Handkuss zu und bewunderte das zweigeschossige Haus, dessen Giebel mit Blumenornamenten verziert war. Das warme Rot des Ziegelmauerwerks bildete einen wunderbaren Kontrast zum Grün der Eingangstür, die sich in der Mitte des Hauses befand.

Wie es wohl sein mochte, immer innerhalb von Mauern zu leben? Ein Schauer lief Silvana über den Rücken. Unvorstellbar! Sie brauchte den freien Himmel über und die endlose Weite vor sich. Wie herrlich war es, abends am Lagerfeuer zu sitzen, zu beobachten, wie die Flammen gen Himmel loderten und tanzende Farben in die Dunkelheit malten. Vor ihren Augen vermischten sich dann die stiebenden Funken mit den Sternen am Firmament. Sie liebte die Freiheit unter nächtlichem Himmel, so wie sie es liebte, zu singen und zu tanzen, wie und wo es ihr gefiel. In großen Städten und kleinen Dörfern, auf Straßen und Marktplätzen, vor Arm und Reich.

Großvater dankte den Zuhörern, nahm seinen Hut und schwenkte ihn zum Abschied. »Ich bin Rolaf Caronel, Orpheus der Landstraße, und diese holde Maid, meine Enkelin, hört auf den Namen Silvana.«

Sie verbeugten sich ein letztes Mal, und die Menschenmenge begann sich zu zerstreuen. Silvana nahm die Bildertafel ab und legte die Staffelei zusammen. Dann ließ sie die Münzen in eine Geldbörse gleiten und verstaute diese unter einem ihrer Röcke.

Großvater trug den Leierkasten vor sich her. Er liebte die Drehorgel, doch sie war auch eine Last, besonders an heißen Sommertagen wie dem heutigen. Ihren Wagen durften sie nicht mit auf den Markt nehmen, er stand auf einem dafür vorgesehenen Platz vor dem Flecken.

Am frühen Morgen schon waren sie mit den Händlern, die ihre Waren auf Handkarren oder auf von Pferden gezogenen Wagen herbeischafften, zum Handelsplatz in der Nähe des Hafens von Leer gezogen, der an der Schleife eines Flusses lag. Am Hohen Ufer, wie die Bewohner das Ortszentrum nannten, befand sich auch die Waage. Hier spielte sich das Marktleben ab. Hühner gackerten, Schweine quiekten, und Händler boten lauthals ihre Waren an. Es roch nach Fisch, Backwaren, altem Käse und Vieh. Frauen mit Kindern an der Hand feilschten um Brot und Fleisch, Dienstboten wiesen auf Tiegel und tönerne Henkelkrüge und kauften Öle, Seifen und Salben für ihre Herrschaften.

Auch Silvana und ihr Großvater waren Händler, doch ihr Angebot bestand aus Tänzen, Liedern und Träumen. Es war kein leichtes Brot. Die Marktmeister sahen lieber Budenbesitzer, die ihnen Standgeld zahlten, statt singender Vagabunden. Am Morgen, als Silvana den Schandpfahl neben der alten Kirche entdeckt hatte, war Angst wie Galle in ihr aufgestiegen. Vor einer Woche hätte sich Großvater in einem anderen Ort um ein Haar das Halseisen eingehandelt. Dabei hatten sie sich nur mit Worten gegen einen Händler gewehrt, der sie verscheuchen wollte. Doch man hielt Großvater vor, gegen den Marktfrieden verstoßen zu haben, und ihnen war nur die Flucht geblieben. Wie so oft!

Manchmal warfen Kinder Steine nach ihnen oder Erwachsene böse Worte, von denen faules Pack und liederliches Gesindel noch die harmlosesten waren.

Hier in Leer war man ihnen bislang freundlich begegnet. Silvana folgte ihrem Großvater durch die engen Gassen des Fleckens und genoss die frische Brise, die vom Fluss her wehte. Es war kaum vorstellbar, dass schon bald wieder der Herbst Einzug halten würde. Wenn es zu kalt wurde und die Straßen unpassierbar, suchten sie stets ihr Winterquartier in der Nähe des Klosters Lüne auf und blieben dort bis zum nächsten Frühling. In der großen alten Scheune, die ihnen ein Bauer für kleines Geld überließ, lernte Silvana von ihrem Großvater die Lieder der Ahnen, die allesamt fahrende Sänger gewesen waren. Er unterrichtete sie auch im Lesen und Schreiben, Künsten, die in ihrer Familie seit Generationen weitergegeben wurden, und brachte ihr ein wenig Französisch bei – er kannte die Sprache, da seine Großmutter in dem fernen Land gelebt hatte.

Die Scheune verwandelte sich im Winter jedoch nicht nur in eine Lehrstube, sondern zeitweilig auch in eine Werkstatt. Rolaf Caronel nahm den alten Leierkasten auseinander und pflegte ihn gesund, wie er es nannte. Er verstand sich auch darauf, neue Stücke auf die Walze zu bringen. Manchmal verwendete der alte Mann Kirchenlieder und milderte sie für die Straße etwas ab. Silvana lernte dann die Texte und entwarf passende Tänze dazu.

In der Zeit vor Weihnachten spann Großvater Geschichten für Silvana, in denen winteraustreibende Gestalten und Waldkobolde eine Rolle spielten. Und am Heiligen Tag feierten die beiden stets mit einem guten Essen und Liedern bei Kerzenschein ihr ganz eigenes Weihnachtsfest. Großvater las die Weissagungen des Alten Testaments und die Geburtsgeschichte Jesu. Und dann wurde es Zeit, der Laute des Troubadours Raum zu geben, dem Erbstück der Familie.

Sie öffneten gemeinsam das geheime Versteck im Boden des Wagens und hoben die Kiste mit dem Instrument heraus. Rolaf Caronel wickelte das Kleinod dann vorsichtig aus seinem Daunenbett und strich liebevoll über den birnenförmigen Korpus. Die ebene Decke des Instruments besaß in der Mitte eine Schallöffnung, die mit einem geschnitzten Falken verziert war. Er trug ein mit Zeichen versehenes Blatt im Schnabel. Den Wirbelkasten, der am oberen Ende des Halses nach hinten abknickte, verschönte eine Rose.

In jedem Jahr erzählte der alte Mann die Geschichte der Laute. Sie stammte noch aus der Zeit der Troubadoure, der Dichter und Sänger höfischer Lieder. Dereinst hatte sie Bertran Caronel gehört, von dem die Mär ging, er sei einer der besten Lautenisten Frankreichs gewesen. Oben am Griffbrett der Laute stand sein Name, und zwischen dem Schnitzwerk und dem Saitensteg befand sich eine geheimnisvolle Gravur »DerHerrinvonBauxaufewigverbunden«.Großvater wusste aus alten Erzählungen nur, dass es in der Provence, in Les Baux, eine Burg gegeben hatte und die Laute dereinst einer Prinzessin verehrt worden war.

Seine Großmutter hatte während des Hugenottenkrieges aus ihrer Heimat in der Nähe von Avignon fliehen müssen und außer der Laute nichts retten können. Deshalb hatte die alte Nana Lucinda alle Verwandten an ihrem Sterbebett schwören lassen, niemals einen Fuß in das Land zu setzen, das ihr alles genommen hatte.

Silvana bedrängte ihren Großvater dennoch jedes Jahr, mit ihr nach Frankreich zu reisen, doch er fühlte sich an seinen Schwur gebunden. Silvana aber wusste, dass sie eines Tages in die Provence fahren und Avignon aufsuchen würde. Und Les Baux … Sie würde die Burg finden und nach dem verlorenen Teil der Geschichte der Laute suchen. Und es mochte sein, dass sie auch ihre eigene Geschichte dort fand. Großvater sagte allerdings stets, dass die Heimat eines Menschen dort sei, wo das Herz zu Hause war. Sein Herz schlug für Silvana, für die Musik und seinen Leierkasten.

Die wenigsten wussten, dass der Alte weitaus mehr konnte, als die Kurbel zu drehen. Rolaf Caronel war ein begnadeter Lautenist, und wenn an den Weihnachtsabenden Töne wie aus einer anderen Zeit unter den alten knochigen Händen hervorperlten, konnte Silvana die Tränen nicht zurückhalten. Sie dachte dann an ihre verstorbene Mutter, deren Stimme sich so wunderbar mit dem Lautenspiel verwoben hatte, damals, als sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie erinnerte sich an das Rascheln des roten Kleides, das ihre Mutter beim Singen oft getragen hatte, an die Wärme ihrer Haut und das seidige Haar.

Die Weihnachtstage gehörten der Erinnerung und der Musik. Danach entfernte Silvana stets die Saiten der Laute und balsamierte das Instrument mit Wachs ein, ebenfalls ein altes Ritual. Sie reinigte die Wirbel und zog die Saiten neu auf.

Dann nahmen Rolaf und Silvana das Instrument jeden Tag zur Hand, und der Alte unterrichtete seine Enkelin im Lautenspiel. Auch das hatte Tradition. Vor fünf Jahren, damals war sie elf gewesen, hatte ihr Großvater mit dem Unterricht begonnen.

Im Laufe der Jahre hatte Silvana den Tanz der Finger verinnerlicht. Wie von selbst erklangen Läufe, und während der kleine Finger der rechten Hand als Stütze der Instrumentendecke ruhte, schlugen die anderen Akkorde.

Silvana wünschte sich oft, die Stimme ihrer Mutter geerbt zu haben, die so tief und warm gewesen war, dass man sich darin hatte einhüllen können wie in einen Mantel. Wenn sie darüber klagte, dass sie nicht annähernd so schön singen konnte wie ihre Mutter seinerzeit, lachte Großvater nur. Er liebte Silvanas Stimme, die für ihn so hell und klar wie ein neuer Morgen war – zumindest behauptete er das –, und glaubte, es fehle ihr nur am Unterricht in der Singekunst. Doch um einen guten Meister damit zu beauftragen, fehlte ihnen in jedem Jahr das Geld. Sie bekamen ja kaum genug zusammen, um im Winter die Unterkunft bezahlen zu können.

Im Februar pflegte Rolaf Caronel den Familienschatz wieder in die weiche Daunendecke zu wickeln, legte ihn zurück in den mit Stroh ausgepolsterten Holzkasten und verbarg das Kleinod in der Vertiefung.

Silvanas Großvater reparierte nicht nur seine eigene, sondern auch fremde Drehorgeln, und vor dem Frühling gaben sich bei der alten Scheune in Lüneburg Gaukler, Mimen, Possenreißer und Zirkusleute ein Stelldichein. Silvana fand es immer wieder faszinierend, welch unterschiedlicher Art die Künste der Fahrenden waren. Einige traten mit festlich gekleideten Affen auf, die zur Melodie ihrer Leierkästen Purzelbäume schlugen oder ihren Hut zogen, andere hatten Hunde dabei, die Kunststückchen zeigten.

Ihr Großvater reparierte Walzen, nagelte neue Melodien auf und baute Orgelwerke in das Holz von Nuss- und Kirschbaum. Silvana beobachtete jeden seiner Handgriffe, verfolgte alle Bemühungen bis ins kleinste Detail und verzeichnete sie auf Blättern, die sie bei einem Papierhändler gekauft hatte. Sie notierte die Melodien, zeichnete den Faltenbalg, der die Orgel mit Luft versorgte, die Walze, auf der die Musikstücke festgehalten waren, und die Pfeifen selbst. Ihre Aufzeichnungen barg Silvana in einer schwarzen Ledermappe, die mit Schnüren verschlossen wurde.

Seit einigen Wintern war es jedoch Silvana, die unter Großvaters Anweisungen die Orgeln erneuerte. Seine Augen wurden zusehends schlechter. Es war eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen, dass darüber niemals ein Wort verloren wurde. Mit den Aufträgen, die gutes Geld einbrachten, wäre es dann nämlich vorbei gewesen. Kein Leierkastenmann hätte sein Instrument in die Hände eines Mädchens gegeben.

Sobald es Frühling wurde, hielt sie nichts mehr im Winterquartier. Großvater spannte das Pferd an, und sie reisten nach Norden oder Süden, so wie es ihnen in den Sinn kam. Oft wusste Silvana nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen waren, wohin sie gingen, aber letztlich spielte das keine Rolle. Sie waren unterwegs, das Pferdefuhrwerk und die Straße waren ihr Zuhause. Es gab nichts Schöneres, als hinten auf dem Gefährt zu sitzen und auf den Weg zu schauen, der sie immer weiter von einem Ort wegführte. Die Bäume grünten, die Blumen am Rand der Felder leuchteten, und es roch nach Gras. Mücken tanzten in der Sonne, dazu unendliche Weite, große Stille.

An den ersten Tagen, wenn der Wagen hielt, konnte sie nicht anders als dieses Grün zu umarmen und sich in einen verrückten Tanz zu stürzen, zu singen und zu lachen. Einfach aus Freude über den Frühling und die neu gewonnene Freiheit.

Es wäre Großvater und ihr nie in den Sinn gekommen, lange Zeit am selben Ort zu bleiben. Überall gab es Menschen, denen ihre Darbietungen gefielen, und es gab immer wieder neue Erlebnisse.

Einmal, sie mochte damals zwölf Jahre alt gewesen sein, lud ein vornehmer Herr, der Silvana und ihren Großvater von seiner Kutsche aus beobachtet hatte, sie zu sich in sein Haus ein. Mit roten Wangen und klopfendem Herzen sang und tanzte sie vor vornehm gekleideten Damen und Männern in prachtvollen Roben, die es kaum wagten, sich zu bewegen, aus Furcht, ihre Perücken könnten in Unordnung geraten. Unter den seidenen Tuniken der Frauen lugten bestickte Korsetts und Schleifenmieder hervor. Die Männer trugen Kniehosen und Rüschenhemden. Eine der Frauen applaudierte so heftig, dass das Lockenarrangement auf ihrem Kopf bedenklich zu wackeln begann und Silvana Angst bekam, die ganze Pracht könnte in sich zusammenfallen.

Nach ihrem Auftritt saßen sie im Küchentrakt des Herrenhauses am blank geschrubbten Holztisch, unterhielten die Bediensteten mit Neuigkeiten und ließen sich die Reste des Festmahls schmecken.

Zwei Köche wirbelten hin und her und bereiteten schon das Essen für den nächsten Tag vor. Eine hagere Magd mit verhärmtem Gesicht säuberte Töpfe, eine andere richtete süßes Backwerk an. Der Hausdiener in brauner Livree wollte gerade als Nachgang zum Essen kandierte Früchte, verzierte Küchlein und viele andere Leckereien zu den Gästen bringen, doch ein Lakai steckte seinen Kopf durch die Tür und bedeutete ihm, in der Küche zu bleiben.

»Was ist?« Die Magd hielt mit dem Schrubben inne.

»Der Weiberkerl kommt. Dieser Adolfino … Er sieht aus wie ein aufgeplusterter Pfau.«

Silvana runzelte die Stirn, doch ihr Großvater legte einen Finger an die Lippen. Gespannte Erwartung lag auf seinem Gesicht.

»Wollen doch mal hören, was der kann.«

Der Hausdiener stand auf und öffnete die Tür zum Festsaal, an den die Küche grenzte, einen Spaltbreit.

Das Stimmengewirr schwoll an, um schließlich abrupt zu verstummen. Einen Herzschlag lang war es totenstill, und dann erklang ein Gesang, wie ihn Silvana nie zuvor gehört hatte. Atemlos lauschte sie, und Schauer liefen ihr über den Rücken. Was für eine Stimme! Sie begann in der Tiefe und flog bis zu den höchsten Tönen. War es ein Junge, der da sang? Doch nein … Kein Knabe hätte die Kraft, seine Stimme so hoch in den Himmel zu heben, sie strahlen zu lassen wie die Sonne. Luftig, süß und klar war der Gesang, und er legte die Seele des Vortragenden den Zuhörern zu Füßen. Silvana verstand die Bedeutung des Liedes nicht, und doch wusste sie, dass es um Liebe ging, um Verzweiflung und Hoffnung. Die Stimme weinte und flehte. Tränen stiegen Silvana in die Augen und rannen die Wangen herunter. Großvater nahm ihre Hand und drückte sie sanft.

Nach der Darbietung herrschte Schweigen, doch dann brach sich im Saal ein donnernder Applaus Bahn, in den Silvana am liebsten eingestimmt hätte. Immer noch schlug ihr Herz schnell. Wie herrlich das gewesen war! Sie wollte Fragen stellen, doch Großvater bedeutete ihr zu schweigen.

Der Hausdiener verzog das Gesicht, griff nach einer Schale mit Nüssen und trug sie hinaus. Kurz darauf kehrte er kopfschüttelnd zurück.

»Verrückte Weiber! Drei sind vor Entzücken umgekippt. Und erzählt mir nicht, das läge an dem Stimmorgan des verdammten Kastraten. Die denken doch bei dem Gesang nur an das Eine … Stundenlang könnte der Kerl mit ihnen kopulieren, ohne dass sie zu einem Bastard kämen. Also bliebe es folgenlos, dem Herrn ihres Hauses Hörner aufzusetzen.«

»Wie sieht er aus – abgesehen von dem ganzen Tand? Man sagt, sie gleichen Ungeheuern.« Der Koch warf eine Handvoll Kräuter in den Topf und griff nach einem Holzlöffel.

Der Schwarzhaarige deutete eine riesenhafte Statur an. »Einen Brustkorb hat der, wie ein Ochse, und dazu nicht mehr Taille als unsere kleine Tänzerin.« Er wies auf Silvana. »Der Bursche braucht keine Perücke. Er hat langes lockiges Haar, wie es den Weibern gefällt, aber einen schwammigen Leib.«

Die Magd richtete sich auf, stellte das Kochgeschirr zur Seite und schmiegte sich an den Hausdiener. »Ich lob mir einen richtigen Mann mit allem Drum und Dran.«

Als ihre Hände sich auf Wanderschaft begaben, stand Silvanas Großvater auf, erbat sich seinen Lohn und verließ mit Gruß und Dank die Küche. Silvana folgte ihm rasch, und kaum waren sie auf der Straße, da sprudelten die Fragen nur so über ihre Lippen.

»Ein Mann … Es war ein Mann, sagte der Diener, doch er sang wie eine Frau. Kastraten – was sind das?«

»Arme Kreaturen, es sei denn ihr Gesang ist so engelhaft wie der, den wir gerade gehört haben. Kastraten werden als Knaben entmannt, und dadurch bleiben ihre Stimmen kindlich, während sich der Körper weiterentwickelt. Viele haben einen großen Brustkorb, der sich wie ein riesenhafter Blasebalg mit Luft füllen lässt und beim Singen für eine enorme Atemlänge und Ausdauer sorgt. Es gibt allerdings nur wenige, die das Pfuschwerk der Bader überleben.«

Silvanas Gesicht hatte sich voller Abscheu verzogen. »Als Kinder werden sie entmannt, sagst du? Wie schrecklich! Welche Eltern stimmen einer solchen Verstümmelung zu?«

»Ruhmessüchtige oder verzweifelte. Die Kinder stammen sehr oft aus armen Familien. Welcher Vater träumt nicht davon, seinem begabten Sohn Gesangsunterricht zu ermöglichen, ihm täglich einen gedeckten Tisch und ein weiches Bett präsentieren zu können, und welche Mutter wird nicht schwach bei der Vorstellung, ihr Sohn könnte ein gefeierter Sänger werden und es allezeit bleiben?«

»Aber das ist doch diesen Preis nicht wert!«

»Vielleicht würdest du anders denken, wenn zehn Kinder um deinen Tisch säßen und Hunger hätten.«

»Warum werden überhaupt Kastraten ausgebildet? Es gibt doch genug Frauen, die hohe Stimmen haben. Denk nur an Francesca.«

Silvana hatte die lebhafte Zigeunerin vor Augen, der sie im letzten Sommer begegnet waren und deren heller Gesang weit über den Hamburger Markt geklungen hatte.

Großvater lächelte bitter. »Die Kirchenmänner wollen keinen weiblichen Gesang in ihren Gotteshäusern. Auf hohe Stimmen mögen die Geistlichen dennoch nicht verzichten.«

»Aber Adolfino … Er hat nicht in einer Kirche gesungen.«

»Schlaues Mädchen!« Großvater strich ihr durchs Haar. Sie hatten ihren Wagen erreicht, und Großvater hielt Silvana die Tür auf. »Was die Kirche für gut und richtig hält, danach lechzt natürlich alle Welt. Heute sind Kastraten auf jeder Bühne, die etwas auf sich hält, und bei jedem Edelmann, der etwas gelten will, zu finden. Die Knabensänger sind mittlerweile so beliebt und ruhmreich, wie es in alter Zeit die Troubadoure waren. Sie verzaubern die Menschen, gaukeln ihnen mit ihren Kinderstimmen ewige Jugend vor und zeigen, wie man Grenzen überwinden kann. Vor dem Publikum sind sie mit ihren herrlichen Stimmen Götter, doch im Alltag behandelt man sie nicht selten wie Dreck. Das Pfauenhafte, diese Federn und die Farbe im Gesicht – die Kastraten brauchen all dies, um sich Respekt zu verschaffen.«

»Das klingt, als seien sie Zirkuspferde, die Kunststücke vorführen.«

»Kein schlechter Vergleich. Nicht alle Kastraten sind gute Künstler. Manche schaffen es nicht auf die Bühnen und in die Häuser der Edelleute. Ich habe alte, müde Sänger erlebt, die mit dem fahrenden Volk tingeln und auf den Märkten den Hanswurst spielen.«

Seit dem Tag, als sie Adolfino hatte singen hören, hielt Silvana Ausschau nach Kastraten, wenn sie mit anderen Fahrenden zusammentrafen. So, wie sie unbewusst auch nach den geliebten Gesichtern Ausschau hielt, nach ihren bunt geschmückten Wagen und Pferden, doch die sie suchte, waren nie darunter. Ihnen begegnete sie nur noch in ihren Träumen.

Großvater klagte nie. Er verschloss alles erfahrene Leid in sich, und so hielt auch Silvana sich still. Sie fragte sich jedoch, ob auch er mit den Geistern der Verstorbenen sprach, die sie in sich trugen. Sie jedenfalls tat es und fand Trost darin.

Die Monate nach dem schrecklichen Geschehen waren bitterkalt gewesen, so eisig, dass die Vögel tot vom Himmel fielen. Manchmal hatte Silvana sich eingeredet, dass die Welt erstarrt sei, sich die Erde vor Trauer um die ihr entrissenen Menschenkinder nicht mehr erneuern konnte und es nie mehr Frühling werden würde. Doch das Leben war schließlich weitergegangen.

Als die ersten Krokusse ihre Blüten zeigten, wusste sie, dass kein Leid den Lauf der Welt aufhalten konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war Silvana acht Jahre alt gewesen, und es gab nur noch ihren Großvater und sie. Ihre Eltern waren fort, genauso wie Tomas, ihr Bruder, und Großmutter Elisa, dahingerafft vom Antoniusfeuer, einer Geißel, deren Ursache niemand kannte. Sie verzehrte die Menschen von innen, sodass ihre Glieder verfaulten und schwarz wurden wie Kohle. Erst fing die Haut an zu kribbeln und fühlte sich taub an, dann wurden Finger und Zehen weiß wie Schnee und starben schließlich ab.

Großmutter, die immer warm und weich gewesen war, wurde dürr wie ein Brett und zitterte Tag und Nacht vor Kälte.

»Ich erfriere!«, rief sie zähneklappernd. »Ich brenne von innen und erfriere von außen.«

Genau wie Silvanas Eltern und ihr Bruder, die ebenfalls erkrankt waren, träumte sie mit offenen Augen von Dingen, die es nicht gab, davon, dass die Sonne vom Himmel stieg, um sie in ihr warmes Nest zu holen, und von Flügeln, die man nur ausbreiten musste, um ins hohe Blau zu gelangen. Manchmal hatte Silvana sie in jener Zeit um ihre Träume beneidet, denn das reale Leben war schrecklich. Stundenlang, tagelang hatten Großvater und sie versucht, die Leiden zu lindern, waren mit kühlem Linnen den rasenden Kopfschmerzen begegnet, hatten warme Decken über zitternde Leiber gelegt und versucht, die Wahnvorstellungen in Zaum zu halten.

Anfangs hofften sie auf ein Wunder, doch nach Tomas’ Tod spannte Rolaf Caronel trotz der eisigen Kälte des Novembers das Pferd an, und sie verließen ihr Winterquartier. Mit unbändigem Willen brachte er seine Familie durch Eis und Schnee bis nach Würzburg zum Antoniushof, einer Gaststube im ehemaligen Ordenskloster der Antoniter. Der dickbäuchige Wirt war ein gutmütiger Kerl, ein Sprücheklopfer, der Musik liebte und Silvanas Familie schon mehr als einmal beherbergt hatte. An den Abenden war es laut und lustig zugegangen, aber immer um die Mitternachtsstunde hatte der Wirt auf den heiligen Antonius verwiesen, der seine Ruhe brauchte, und die Türen geschlossen.

Tatsächlich verwahrte der Wirt in einem großen Holzkasten in seiner Schlafkammer einen kostbaren Fund aus der Klosterzeit: das Ordenskleid des heiligen Antonius und eine dunkelhäutige Madonna. Diese Schätze waren das Ziel ihrer Winterreise gewesen, der Strohhalm, nach dem Rolaf Caronel griff, damals, vor mehr als acht Jahren. Gegen besseres Wissen klammerten sie sich an das Gerede der alten Weiber, die von der wundersamen Heilung der Brandseuche durch den heiligen Antonius sprachen, von seinen Reliquien, die man dafür nur zu berühren brauchte. Doch weder die braune Wolle des Ordenskleides noch all ihre Gebete an die dunkle Madonna hatten den Tod der geliebten Menschen aufhalten können.

Oft hatte Silvana sich gefragt, warum einzig ihr Großvater und sie verschont geblieben waren.

»Es steckt ein Wille dahinter«, war alles, was Großvater sagte.

Silvana glaubte eher, dass der Roggen Schuld war, den sie beide seit Langem nicht mehr aßen. Die anderen hatten Roggenbrei gegessen, bevor das Antoniusfeuer ausgebrochen war.

Am Tag vor Weihnachten trugen sie in jenem Jahr als letzten Silvanas Vater zu Grabe, diesen großen stolzen Mann, der die Violine so gekonnt gespielt hatte. Und am Heiligen Abend holte Rolaf Caronel weder die Laute aus ihrem Versteck noch las er die Weihnachtsgeschichte. Eng aneinandergeschmiegt verbrachten das kleine Mädchen und der alte Mann schweigend die Stunden.

In jener Nacht träumte Silvana von einem Roggenfeld. Auf einer Lichtung, mitten im Getreide, standen die Verstorbenen. Mutter sang mit ihrer dunklen Stimme, und die Klänge der Violine trugen das Lied hoch hinauf in den blauen Himmel. Tomas schlug die Trommel, die mit dem Gesicht der Schwarzen Madonna bespannt war, und Großmutter Elisa wies mit einem Stab auf eine Staffelei, die Bilder all der schrecklichen Leiden zeigte, die ihnen widerfahren waren. Während der Darbietung wuchs das Getreidefeld in die Höhe, es wogte näher und näher an die Gruppe der Musikanten heran, bis sie schließlich vor Silvanas Augen verschwanden, verzehrt vom Roggen.

Silvanas nächtliches Weinen hatte erst geendet, als ihr Großvater sie zu sich ins Bett nahm. Der Gastwirt bot ihnen an, bis zum Frühjahr in Würzburg zu bleiben, Rolaf Caronel dankte ihm, lehnte jedoch mit versteinerter Miene ab. Eine Woche nach dem Tod ihres Vaters brachen sie im ersten Licht des Morgens auf.

Anfangs hatte der Alte den Schwarzen geführt, bis es dunkel wurde. Weiter und immer weiter, Tag für Tag. Fort von dem Ort, der sie zu Verlassenen gemacht hatte, als ob er vor dem Leid davonlaufen wollte. Eisiger Wind stach ihnen ins Gesicht, und Schnee fiel auf ihre Häupter. Er vermischte sich mit den Tränen, die sie weinten, und sammelte sich wie glänzende Perlen in Großvaters Bart.

Sie tranken geschmolzenen Schnee und ernährten sich von dem, was sie auf dem Weg fanden, kochten Suppe aus Zutaten, die sie erbettelten, und später, als der Schnee getaut war, aus Kräutern und Blättern. Manchmal fing Großvater Hasen in ausgelegten Schlingen, oder sie erwischten einen Igel. Ihre Krüge füllten sie in den Bächen oder in den Brunnen auf den Marktplätzen, an denen sie tagsüber vorbeikamen. Großvater wählte Wege durch Wälder, wo sie unter Birken und Eichen nächtigten.

Als es wärmer wurde, mussten sie lange durch heftigen Regen weiterziehen. In dem aufgeweichten Boden blieben die Räder stecken. Silvana schob den Wagen, während ihr Großvater zog. Schwalben in tiefem Flug begleiteten sie. Manchmal sah Silvana stundenlang kein Haus, keine Kutsche, nichts. Nur die Straße, lang und gewunden.

In der Nähe der Küste schien Rolaf Caronel schließlich ruhiger zu werden. Zum ersten Mal blieben sie länger als einen Tag an einem Ort. Es war längst Frühling geworden, erste Blätter zierten die Bäume, und Vögel sangen in den Zweigen.

Silvana erwachte anfangs jeden Morgen mit der Erwartung, ihre Mutter würde kommen und sie mit einem Kuss aus dem Schlaf wecken, doch so war es nie mehr, und sie weinte bittere Tränen der Verzweiflung.

Um der Enttäuschung zu entgehen, zögerte Silvana das Einschlafen hinaus. Manchmal setzte sie sich mit einer Decke nach draußen und zählte die Sterne am Himmel, bis sie sich nicht mehr gegen das samtene Schwarz wehren konnte. Ihr Großvater trug sie zurück, denn am Morgen fand sie sich im Wagen auf der Schlafdecke wieder.

2

All das war jetzt acht Jahre her, und nur noch selten erwachte Silvana mit der Erwartung, ihre Mutter würde sie wecken. Die Bilder in ihrem Kopf wurden unscharf. Sie begann sich zu fragen, ob Tomas’ Augen blau oder grau gewesen waren, und die Stimme ihrer Mutter hörte sie nicht mehr klar. Es war wenig geblieben, dass sie an ihr altes Leben erinnerte.

Ihre Finger glitten über den Schal, den ihr Vater so gern getragen hatte. Am Morgen jenes Tages, der sein letzter gewesen war, hatte er ihr in einem klaren Moment den weichen Stoff um den Hals gelegt, damit sie nicht fror. Silvana schloss die Augen und hatte plötzlich den Tabakgeruch in der Nase, der den Vater immer umgab. Sie hörte seine Stimme, die von Liebe und Wein erzählte. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Wach aus deinem Tagtraum auf, mein Mädchen, sonst verpasst du das Beste!« Großvater zupfte Silvana am Ärmel und holte sie so in die Gegenwart zurück. Der Duft frisch gebackenen Kuchens wehte zu ihr herüber und erinnerte sie daran, wo sie waren. Silvana blinzelte die Tränen fort, klemmte die Staffelei unter den Arm und ließ sich von Großvater mitziehen.

Der Flecken hieß Leer und lag an einem Fluss namens Leda. Den vielen schönen Häusern aus rotem Ziegelstein, die Namen trugen wie Die goldene Kuh oder Das weiße Lamm, nach zu urteilen, schienen die Menschen hier nicht arm zu sein. Das erkannte Silvana auch an den wohlhabenden Bürgern, die sich auf dem Marktplatz tummelten. Schöne Damen in Roben aus feinem Leinen und dünner Seide, Herren in engen Kniehosen, mit reich verzierten Westen über ihren Hemden.

Der Platz um sie her war so belebt, dass Silvana sich kaum zurechtfand. Das schöne Wetter hatte die Menschen aus den Häusern gelockt. An den Ständen ging es nicht anders zu als in den anderen Orten, die Silvana kannte: Es wurde gefeilscht, gelacht und manchmal auch gestritten. Es duftete aus Büchsen und Gläsern nach exotischen Kräutern und Gewürzen. Immer wieder übertönte das Klappern der Pferdehufe und der Fuhrwerke das Rufen, Lachen und Schreien an den Ständen.

Silvana summte leise vor sich hin. Welch ein Vergnügen war es doch, an diesem warmen, sonnigen Tag über den Markt zu schlendern! Gestern hatte es noch Sturzbäche geregnet, doch jetzt trübte kein Wölkchen den blauen Himmel.

»Sieh nur! Man findet sie überall.« Großvater wies zu einer herausgeputzten Händlerin mit gelben Bändern im Haar, die ganz in der Nähe Kämme, Zierlitzen und Rüschen anbot.

»Kommt nur und betrachtet die Herrlichkeiten genauer«, gurrte sie und bedeutete den Männern, die ihren Stand umlagerten, noch näher zu treten. Sie beugte sich kokett vor und gewährte tiefe Einblicke in den Ausschnitt ihres Kleides.

»Eine Dirne«, wisperte Silvana.

»Richtig. Ihr Verkaufsstand ist nur Mittel zum Zweck.«

»Wann trifft sie sich mit den Freiern? Sie kann doch ihre Waren nicht unbeaufsichtigt lassen.«

»Abends. Siehst du den Schwarzgelockten, der den Kamm gekauft hat? Im Futteral steckt ein Hinweis, mit Zeit und Ort des Schäferstündchens.«

Im Gegensatz zu der offenherzigen Händlerin gab es auch viele Menschen, die auffallend schlicht gekleidet waren. Silvana hatte einen der Händler gefragt und erfahren, dass man diese Leute Mennoniten nannte und dass sie einen besonderen Glauben pflegten. Wie Schatten huschten die Frauen in ihren schmucklosen Gewändern und mit den Hauben, die unter dem Kinn gebunden waren, über den Markt. Auch die erwachsenen Männer trugen schlichte Kleidung und allesamt Bärte und Hüte, sodass Silvana sie kaum voneinander unterscheiden konnte.

Ein junger Bursche fiel ihr auf, weil er sie anstarrte und nicht wie die anderen ignorierte. Er trug weder Bart noch Kopfbedeckung, jedoch die gleiche Kleidung wie die übrigen Mennoniten. Sein rundes Gesicht mit dem hellen Haar wurde von großen Augen beherrscht. Er schien nur wenig älter als sie zu sein, aber die dunkle Tracht und der Ernst in seinem Gesicht ließen ihn schon sehr erwachsen wirken. Die Frau neben ihm – vielleicht seine Mutter – hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Das Kind hüpfte wie ein aufgezogener Kreisel hin und her, riss sich schließlich los und rannte in Silvanas Richtung. In ebendiesem Moment sah Silvana ein Fuhrwerk herandonnern. Der Kutscher schien die Gewalt über das Pferd verloren zu haben. Leute stoben kreischend auseinander und brachten sich in Sicherheit. Das Gefährt kam immer näher und riss zwei Marktstände mit sich.

Das kleine Mädchen, den Kopf der Mutter zugewandt, erkannte die Gefahr nicht, und Silvana blieb fast das Herz stehen. Sie warf die Staffelei zu Boden und stürzte schreiend los. Im allerletzten Augenblick riss sie die Kleine zur Seite, und gemeinsam fielen sie zu Boden. Das Fuhrwerk donnerte an ihnen vorbei. Sand und Steine stoben auf und stachen Silvana ins Gesicht. Sie sah eine schreiende Menge hinter dem Fuhrwerk herrennen. Schließlich sprangen zwei unerschrockene Marktbesucher hinzu, griffen nach den Zügeln des Pferdes und brachten das verstört wiehernde Tier in einiger Entfernung zum Stehen.

Das Mädchen schien erst jetzt zu bemerken, welcher Gefahr es entronnen war, und begann zu weinen. Dicke Tränen fielen in den Staub. Silvana rappelte sich hoch, half dem Kind auf, und dann war auch schon der junge Mennonit zur Stelle.

»Sarah! Ist dir was passiert?«

Er umfasste das kleine Mädchen und zog es an sich.

»Ich glaube, der Schreck ist das Schlimmste«, beruhigte Silvana ihn.

Der Bursche nickte nur und gab die Kleine wieder frei. Silvana sah das Entsetzen auf seinem Gesicht – er wusste, was hätte geschehen können. Die Kleine weinte immer noch. Der Junge ließ sich auf die Knie sinken und runzelte leicht die Stirn. Dann schien ihm etwas einzufallen.

»Schwesterchen, schau nur!«

Er nahm den Hut vom Kopf, setzte ihn sich schräg wieder auf und zog eine Grimasse. Strähnen blonden Haars hingen ihm in die Augen. Das Mädchen hielt mit dem Schluchzen inne, und von einer Sekunde zur nächsten verwandelte sich das Weinen in Lachen.

»Jakob, du siehst aus wie der alte Herr Liermann, wenn Vater die Pacht kassieren will!«

»Pst!« Der Junge blickte sich erschrocken um.

Silvana sah die Mutter der beiden näher kommen. Ihr Gesicht trug einen erschrockenen Ausdruck, der erst wieder verschwand, als sie die Kleine lachen hörte. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinunter und zog es in ihre Arme. Für einen Herzschlag verharrten die beiden, dann richtete die Mennonitin sich wieder auf und gewann die Fassung zurück.

»Jakob, richte sofort deinen Hut.«

Das übermütige Funkeln in den blauen Augen des Jungen verschwand.

»Und du, mein Mädchen, kannst dem Herrn danken, dass alles gut gegangen ist. Wenn du dich nicht zu benehmen weißt, bleibst du beim nächsten Markttag zu Hause.« Ein strenger Blick traf Sarah.

Jetzt erst beachtete die Mennonitin Silvana und griff nach ihren Händen. »Ich danke dir von Herzen! Wie heißt du, mein Kind?«

»Silvana!«

»Du hast meine Tochter vor großer Gefahr gerettet, und wir stehen tief in deiner Schuld. Wenn du je Hilfe brauchst … Wir wohnen dort drüben, in dem Haus mit der Haspel.«

Sie neigte leicht den Kopf zum Gruß und zog Sarah mit sich fort. Silvana sah den beiden Gestalten in dem züchtigen Schwarz nach. Der junge Bursche seufzte und schickte sich an, den Frauen zu folgen, wandte sich dann jedoch noch einmal zu Silvana um und rief: »Vielen Dank für deine Hilfe. Ich bin Jakob!«

Er winkte ihr zu und verschwand in der Menge. Sie wusste nicht, warum, aber der junge Mann gefiel ihr. Er sah freundlich und gutmütig aus.

Wie es wohl wäre, länger an diesem Ort zu bleiben und sich mit ihm anzufreunden?, dachte Silvana. Sie hatte nie Freunde gehabt, nicht, seit die anderen tot waren. Es gab nur Großvater und sie. Silvana spürte Bitterkeit in sich aufsteigen. Der Wunsch, Jakob hinterherzulaufen, wurde plötzlich übermächtig, doch dann schalt sie sich eine Närrin.

Langsam schlenderte Silvana zu ihrem Großvater zurück, der die Szene beobachtet hatte und ihr jetzt auf die Schulter klopfte.

»Gut gemacht! Das war Hilfe im letzten Moment.«

»Warum gibt es hier eigentlich so viele Mennoniten?«

»Die Gemüsemaid dort drüben« – er nickte zu einem der Stände – »hat mir erzählt, dass sie aus den Niederlanden geflohen sind. Ihnen und der Leinenweberei verdankt Leer wohl hauptsächlich seinen Reichtum. Viele sind Leinenreeder, das heißt, sie kaufen Garn ein und verkaufen es an die Weber weiter. Anschließend erwerben sie dann das gefertigte Leinen. Es gelangt dann von Amsterdam aus in alle Welt. Die Häuser der Leinenreeder erkennst du an den ausgehängten Haspeln.«

»Und die verheirateten Männer an den Bärten«, ergänzte der kahlköpfige Korbmacher, der ihr Gespräch mit angehört hatte. »Die Frauen scheinen es zu mögen, wenn der Bart sie kitzelt.«

Die Männer lachten. Während Silvana noch über die Erklärungen ihres Großvaters nachdachte, begann dieser eine Melodie zu summen. Silvana lauschte, nahm die Tonfolge auf, und endlich gelang es ihr, die Gedanken von dem Geschehen und dem jungen Mennoniten zu lösen. Sie summte lauter und konnte nicht anders, als ihre Hände und Füße zu bewegen. Sie wiegte sich in den Hüften und drehte übermütig Pirouetten.

Eine alte Frau beobachtete sie und schüttelte missbilligend den Kopf. »Solch unzüchtiges Benehmen müsste bestraft werden! Wie gut, dass es das Beherbergungsverbot gibt und Zigeunerpack, wie ihr es seid, zumindest am Abend aus den Toren gejagt wird!«

Silvana sah die Frau schweigend an und tanzte ungerührt weiter. Sie war keine Zigeunerin, aber das wusste das alte Marktweib natürlich nicht. Und das Beherbergungsverbot … Ihr würde es im Traum nicht einfallen, in einem der Wirtshäuser zu schlafen. Unter freiem Himmel war es tausendmal schöner.

Silvana konzentrierte sich auf Großvaters Summen, bis nur noch Musik in ihren Ohren war.

»Lass uns ans Wasser gehen!«, rief Rolaf Caronel schließlich.

Das Keifen der Alten und den Markt hinter sich lassend, spazierten sie durch eine Straße, die von Männern bevölkert war, die Waren von den Schiffen und der Waage zu den Lagerhäusern in der Umgebung brachten. Derbe Worte und Scherze flogen hin und her.

Die vertäuten Schiffe knarrten, und Möwen zogen ihre Kreise. Ein Boot landete an, und Körbe voller Fische wurden ans Ufer gehievt. Ein anderes, schwer mit Ziegeln beladen, lag tief im Wasser. Holz wurde zur Waage gebracht und anschließend auf Fuhrwerke verfrachtet.

Sie gingen weiter und kamen an hohen schmalen Steinhäusern vorbei, deren Ladenschilder Waren anpriesen. Auch Gaststuben waren darunter.

»Was sagt deine Börse, mein Kind? Ich schätze, für heute haben wir genug eingenommen. Was meinst du, wollen wir uns eine gute Mahlzeit gönnen und dann den Wagen anspannen?«

Silvana nickte, doch ihre Fröhlichkeit war seit einer Weile verschwunden. Woran lag es nur, dass sie sich plötzlich so müde und niedergeschlagen fühlte? Am Gekeife der Marktfrau? An der Ablehnung, die ihnen oft entgegenschlug, oder an der verpassten Freundschaft? Silvana seufzte. Warum schien es auf einmal so wichtig zu sein, dass es außer Großvater noch einen Menschen gab, dem sie etwas bedeutete? Sie hatten sich doch bislang immer genügt.

Zu Silvanas Entsetzen stiegen Tränen in ihr auf. Sie biss sich auf die bebenden Lippen und hatte plötzlich nur noch den Wunsch, diesem Ort so schnell als möglich den Rücken zu kehren.

3

Jakob hatte das Mädchen beobachtet, hatte es tanzen sehen. Sie sah so hübsch aus in dem roten Kleid und mit der Blume im Haar! Er hatte das Blitzen ihrer Zähne bemerkt, die Bewegung, mit der sie sich die dunklen Strähnen aus dem Gesicht strich. Später dann den stolzen Blick, mit dem sie die Witwe Kolthoff bedachte, die mit in den Hüften gestemmten Armen vor ihr stand und schimpfte. Nichts von alledem, was die alte Dorrie gesagt hatte, schien der jungen Frau etwas auszumachen, dachte Jakob.

Er wünschte, ihm würden die harten Worte seines Lehrers genauso wenig ausmachen. Jakob dachte an die Mutter und an Sarah, die sicher längst zu Hause waren. Zu dritt hatten sie die Ärmsten der Gemeinde aufgesucht und ihnen Lebensmittel gebracht, jetzt musste er sich sputen, um zum Kontor zu gelangen. Vater wartete nicht gern. Er wollte ihn mitnehmen zu Friedrich Ellen, nicht nur um Leinen abzuholen, sondern auch, damit er den alten Mann, der etliche Meilen außerhalb von Leer wohnte, kennenlernte. Ab dem Herbst würde Jakob für zwei Jahre zu ihm ziehen, um bei ihm in die Lehre zu gehen.

»Wir sind zwar Leinenreeder, doch als solcher sollte man auch ein fähiger Leinenweber sein. Nur so lernst du gute Webware von schlechter zu unterscheiden«, hatte der Vater die Entscheidung begründet.

Von der Pike auf, so wie sein Vater, sollte Jakob sich das Handwerk aneignen, um dann irgendwann die Geschäfte zu übernehmen. Er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken an das, was auf ihn zukam. Er war zwar schon sechzehn Jahre alt, jedoch noch nie von zu Hause fort gewesen.

Während er den schmalen Pfad entlangschritt, versuchte er, sich die Ausbildungszeit auszumalen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Das fremde Mädchen ging ihm nicht aus dem Sinn. Silvana hieß sie – was für ein merkwürdiger Name. Wie mutig und überlegt sie Sarah geholfen hatte! Es hatte bewirkt, dass er selbst ruhiger geworden war, als ob eine Welle von Kraft in seinen Körper drang.

Er beneidete die Fremde um ihre Freiheit, um ihr reiches buntes Leben. Sie schien ständig etwas Unerwartetes zu tun. Ihm wäre das nie in den Sinn gekommen. Er hatte eine feste Rolle im Leben, strenge Regeln, an die er sich halten musste. Doch dann meldete sich sein schlechtes Gewissen. Wie kam er dazu, sein Leben infrage zu stellen? Musste er nicht froh und dankbar darüber sein zu wissen, wer er war und wohin er gehörte? Zumindest behauptete der Prediger das und hatte noch vor Kurzem eindringlich gesagt: »Bei Petrus steht geschrieben: ›Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das heilige Volk‹. So wir daran glauben, legt es uns eine schwere Bürde auf. Denn Jakobus sagt, dass, wer der Welt Freund sein will, Gottes Feind sein wird. Darum versagt euch der irdischen Freuden, denn sie sind nur Sinnestrug. Wir leben auf dieser Erde, und doch sind wir Fremde hier, Pilger auf dem Weg zum Himmel oder zur Hölle. Das liegt ganz bei euch.«

Wieder glitten Jakobs Gedanken zu Silvana, und er wünschte sich, sie öfter sehen zu können. Vielleicht würde er dann auch nicht immer alles so schwernehmen. Doch wie sollte das gehen? Vor Menschen wie ihr hatte der Prediger letzten Sonntag gewarnt. Sie gehörte zum fahrenden Volk, war eine Tänzerin, eine Heidin.

»Die stinken nach Schwein und haben Läuse in den Haaren«, hatte auch sein Freund Warner gesagt.

»Woher willst du das wissen?«

»Das sagen alle. Die waschen sich doch nie.«

Nun, Jakob hatte nichts gerochen, als Silvana ihm nahe gekommen war.

Tief in Gedanken versunken lief er weiter und hielt auf die Straße Tüsken de Pütten zu, in dessen Nähe sich das Kontor seines Vaters befand.

Kaum kam das Gebäude in Reichweite, sah er die große stattliche Gestalt auch schon aus der Tür treten. Mit seiner dunklen Kleidung und dem Hut wirkte Harm Jakobsen nicht wie ein Mann, der sich die Hände schmutzig machte, doch Jakob kannte ihn und wusste, dass er es liebte, seinen Zweispänner selbst zu lenken.

»Da bist du ja, Junge! Komm und steig auf!«

Die Pferde warfen ihre Köpfe zurück und wieherten ihm entgegen. Jakob schwang sich neben seinen Vater auf den Kutschbock, und rasch war das Kontor ihren Augen entschwunden. Die Gassen waren belebt, denn immer noch hatten sich die Marktbesucher nicht gänzlich zerstreut. Mühsam bahnten sie sich einen Weg durch das Gewühl.

Die Pferde trabten schneller, als sie endlich die Enge hinter sich ließen und über verschlammte Wege an blühenden Wiesen vorbeizogen. Jakob war froh, dass er oben auf dem Kutschbock saß und nicht zu Fuß gehen musste.

»Wo wir gerade die Zeit und Gelegenheit haben zu reden: Was hast du aus der Predigt vom letzten Sonntag gelernt?«, fragte sein Vater.

Jakob zuckte zusammen. Ein unangenehmes Prickeln überkam ihn, denn er hatte die Worte des Vermahners wohl gehört, nicht aber verinnerlicht, sondern eher an ihnen gezweifelt.

»Es war die Rede davon, dass wir auserwählt sind. Der Prediger sprach auch von Himmel und Hölle und davon, dass es an uns selbst liegt, ob wir die ewige Seligkeit erlangen.«

»Richtig.« Sein Vater nickte zufrieden. »Unser Glaube ist das Schiff, das uns durch diese Welt trägt. Solange wir uns eng an Gottes unfehlbares Wort halten, werden wir nicht über Bord gehen, sondern den Hafen und die ewige Seligkeit erreichen. Vergiss das nie, Jakob.«

»Was ist die ewige Seligkeit, Vater?«

»Das Gegenteil von Hölle und Verdammnis. Am jüngsten Tag wird sich entscheiden, ob wir zu den Guten ins ewige Licht gehen dürfen oder den Weg in Finsternis und Schmerz wählen müssen. Und, Jakob, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit dir irgendwann im Licht vereint zu sein.«

Jakob schwieg. Er dachte an die Tänzerin. Silvana! Sie war keine Mennonitin. Es bedeutete, dass es für sie den Weg ins ewige Licht nicht gab. Ein Schauer überlief ihn. In seiner Vorstellung sah er die Fremde um ein wild loderndes Feuer tanzen. Die Flammen kamen näher und züngelten schließlich an ihrem bunten Rock hoch. Jakob keuchte auf und verscheuchte die schreckliche Vorstellung. Was hatte diese Silvana nur an sich, dass er immerzu an sie denken musste?

Es wurde schon Abend, als sie sich wieder auf den Heimweg machten. Im Wagen lagerten die fertigen Leinenstoffe.

Der alte Weber war freundlich gewesen und sichtlich dankbar, sich ein Zubrot verdienen zu können, indem er Jakob als Lehrjungen bei sich aufnahm. Er hatte ihnen Tee angeboten und mit Jakobs Vater die Lehrzeit besprochen. Die Güte in Friedrich Ellens Augen hatten Jakobs Unbehagen verschwinden lassen.

Nun saß Jakob wieder neben seinem Vater und spürte, wie Müdigkeit ihn übermannte. Hunger hatte er auch. Sein Vater fuhr vorsichtig, denn die Regentage hatten den Weg in einen Schlammpfad verwandelt. Besonders schlimm war es in der Nähe des Flusses, und Jakob hörte seinen Vater leise schimpfen. Die aufkommende Dunkelheit machte die schlechten Wegverhältnisse noch tückischer. Er wäre fast eingenickt, als plötzlich ein Ruf die Stille durchbrach.

»Hilfe! Bitte helft mir doch!«

Schieres Entsetzen klang aus der Stimme. Jakob zuckte zusammen und setzte sich ruckartig auf. Und dann ging alles ganz schnell. In der einsetzenden Dämmerung schien die Gestalt wie aus dem Nichts direkt vor die Pferdehufe zu fallen. Ein Schrei, ein Wirbeln. Jakob sah hochgerissene Arme und dann nichts mehr.

»Um Gottes willen!« Sein Vater riss die Pferde brutal zurück.

Jakob sprang vom Wagen und griff ins Zaumzeug. Dann wandte er sich zögerlich dem auf dem Weg liegenden Bündel zu und kniete nieder.

»Bist du verletzt?«

Die Gestalt regte sich stöhnend und hob den Kopf. Jakob sah langes wirres Haar und eine stark blutende Wunde am Kopf, und im nächsten Moment erkannte er das Mädchen wieder. Es war die Tänzerin vom Markt. Ihre Kleidung war zerrissen, und Entsetzen lag auf ihrem Gesicht. Sie stand taumelnd auf.

»Mein Großvater!« Fahrig wies sie zum Fluss hinunter.

»Was ist mit ihm?« Jakobs Vater war vom Kutschbock geklettert. Er trat neben das Mädchen und stützte sie.

»Er ist verschwunden! Wir sind auf diesem Weg gefahren … Alles war so nass und sumpfig. Unser Wagen … Er ist aus der Spur geraten und hat sich überschlagen. Ich bin durch die Luft geflogen und …« Sie griff sich an die Stirn. »Ich muss bewusstlos gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich weit vom Wagen entfernt im Gestrüpp.« Sie holte bebend Atem, und Jakob musste sich anstrengen, um ihre Worte zu verstehen. »Ich dachte, Großvater wäre vielleicht vom Kutschbock gesprungen. Ich habe alles abgesucht, doch ich kann ihn nirgends finden.«

»Wo genau ist der Wagen?«

»Dort unten an der Böschung.«

Als ob alle Kraft verbraucht sei, sackte das Mädchen in sich zusammen. Im letzten Augenblick fing Jakobs Vater sie auf. Einen Moment verharrte er unschlüssig, betrachtete die junge Frau von oben bis unten, schien dann aber eine Entscheidung getroffen zu haben. »Wir werden sie in den Wagen legen. Es ist schließlich unsere Pflicht, auch Menschen wie ihr zu helfen.«

Vorsichtig wickelten sie das Mädchen in eine Decke und hoben es auf den Wagen.

»Und jetzt hol die Laterne.«

Sie kletterten den Abhang hinunter. Das Gefährt entdeckten sie schnell, es lag halb im Wasser und hatte das Pferd unter sich begraben. Jakob legte eine Hand auf den Hals des Tieres. Es war tot.

Dann sah er auf den Fluss hinunter und erschauerte. Er führte nach den heftigen Regenfällen viel Wasser. Wie stark die Strömung war! Jakob warf seinem Vater einen Blick zu. An seinem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie beide das Gleiche dachten.

»Der Fluss ist gefährlich. Wenn der Großvater des Mädchens ins Wasser gefallen ist, dann …« Harm Jakobsen breitete in einer beredten Geste die Hände aus. »Komm, wir wollen noch einmal alles absuchen.«

Sie ließen sich Zeit und schritten den Unfallort in weitem Umkreis ab, fanden jedoch keine Spur von dem alten Mann. Schließlich stellten sie sich der traurigen Gewissheit, dass der Strom den Drehorgelspieler wohl mit sich fortgerissen hatte.

Silvana erwartete sie stöhnend, aber mit offenen Augen. In der zunehmenden Dunkelheit konnte Jakob ihr Gesicht nur schemenhaft erkennen. Er war voller Mitleid.

Sein Vater beugte sich zu Silvana vor. »Wir haben deinen Großvater nicht gefunden, mein Kind.«

Sie weinte nicht, sondern starrte vor sich hin. Einer Eingebung folgend, kletterte Jakob ein weiteres Mal die Böschung hinunter. Er durchsuchte den Wagen, zog den Leierkasten heraus, mit dem der alte Mann musiziert hatte, und einen großen Deckelkorb. Jakob wollte sich schon abwenden, als ihm eine Kiste ins Auge fiel. Sie lugte aus einer Bodenöffnung hervor, die aufgesprungen war. Er brachte zunächst den Korb und den Leierkasten zum Zweispänner, dann holte er die Holzkiste.

Die Apathie des Mädchens wich, als er ihr seine Funde zeigte. Silvana richtete sich mühsam auf, streckte die Hände aus und bestand darauf, den Holzkasten festzuhalten.

»Es ist schon dunkel, Jakob. Wir müssen zurück.« Harm Jakobsen wandte sich dem Mädchen zu. »Morgen werde ich noch einmal hierhergehen und jeden Grashalm umdrehen, das verspreche ich dir. Auch um den Wagen kümmere ich mich dann.«

Während sein Vater Laternen am Wagen anbrachte und sich dann auf den Kutschbock schwang, setzte sich Jakob neben Silvana. Drehorgel und Korb legte er in den hinteren Teil des Wagens, genauso wie die Holzkiste. Das Mädchen hatte sich aufgerichtet, hielt die Augen gesenkt und atmete stoßweise, als ob es krampfhaft das Weinen zurückhielt. Wenn er sie nur trösten könnte! Diese Ungewissheit – es musste schrecklich sein. Wenn es nun Sarah wäre, die der Strom mit sich gerissen hätte, oder Mutter! Jakob biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzustöhnen. Einer Regung folgend, griff er nach der Hand des Mädchens.

»Wenn dein Großvater noch lebt, dann werden wir ihn finden!«

Ihre Hand drückte ganz leicht die seine. Aus dem Augenwinkel sah Jakob, dass aus der Verletzung am Kopf immer noch Blut austrat. Und dann, mit einem leisen Stöhnen, sackte Silvana in sich zusammen.

»Vater, ich glaube, sie ist ohnmächtig geworden.«

»Wir müssen sie zu einem Arzt bringen und später dann ins Findelhaus. Kannst du sie stützen, Jakob?«

Er nickte und nahm das Mädchen in seine Arme. Mühsam bahnten sich die Pferde einen Weg durch den Schlamm. Der Wagen ruckelte, und die Verletzte wurde hin und her geschleudert. Ihr Kopf sank gegen Jakobs Brust. Haarsträhnen klebten an Mund und Wangen, die Jakob behutsam beiseite strich. Er spürte den Herzschlag der Fremden, nahm ihre Hände in seine und wärmte sie. Seine Gedanken rasten. Wenn bekannt wurde, dass diese junge Frau aus dem fahrenden Volk war, würde man sie im Findelhaus nicht aufnehmen. Vagabundenkinder wurden nicht der Fürsorge übergeben, sondern – gleichgültig, welchen Alters sie waren – ins Arbeitshaus gesteckt. Und wie es dort zuging, war allgemein bekannt.

Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Dieses Mädchen, das wie eine zerbrochene Puppe in seinen Armen lag, im Arbeitshaus abzuliefern, bedeutete, ihm nach dem Tod des Großvaters ein weiteres Unglück zuzumuten. Er mochte sich nicht vorstellen, dass sie nach dem heutigen Schlag auch noch Tritte und böse Worte aushalten konnte.

»Vater, können wir sie nicht mit nach Hause nehmen? Es war unser Pferd, das sie am Kopf getroffen hat.«

»Sie ist ihm vor die Hufe gelaufen.«

»Ich kenne das Mädchen. Wir sind ihm zu Dank verpflichtet.« Rasch berichtete Jakob von den Ereignissen auf dem Markt.

Sein Vater schwieg, dann sagte er leicht unwillig: »Wenn das wahr ist, sind wir ihr tatsächlich etwas schuldig. Da es sowieso zu spät ist, um nach einem Arzt zu schicken, werde ich Daniel holen und später entscheiden, was zu tun ist. Gott mag geben, dass die Wunde am Kopf nicht so tief ist, wie es den Anschein hat, und nur die Umstände sie haben zusammenbrechen lassen.«

Jakob seufzte erleichtert auf. Der alte Daniel kannte sich mit Heilkräutern aus und hatte schon so mancher Krankheit den Garaus gemacht.