Die Dufthändlerin - Jutta Oltmanns - E-Book
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Die Dufthändlerin E-Book

Jutta Oltmanns

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Beschreibung

Leer um 1700: Die junge Josefine wächst in der Apotheke ihres Vaters zwischen Schmelztiegeln, Mörsern und wunderlichen Rezepturen auf und ist eine Meisterin in der Kunst des Duftmischens. Eines Tages erhält sie von Zar Peter dem Großen eine Einladung nach St. Petersburg. Josefine soll der schwermütigen Zarin mit einem magischen Duft zu neuem Lebensmut verhelfen. Doch am Zarenhof gerät sie in eine Intrige, die sie in höchste Gefahr bringt.

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Seitenzahl: 663

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Zum Buch

Leer um 1700: Der Apotheker Meinhardus Meinen besucht mit seiner Tochter Josefine seit Jahren die großen Kaufmannsschiffe im Hafen. Er versorgt die Matrosen mit Arzneien gegen Skorbut und andere Mangelerscheinungen, im Gegenzug erhält er teure Gewürze und seltene Muscheln. Eines Tages kommt Henk, ein hochgewachsener Fremder, nach Leer. Er stellt sich als Abgesandter des russischen Zaren heraus und soll Josefine und Meinhardus nach St. Petersburg bringen. Der Zar ist an der Kuriositätensammlung des Apothekers interessiert. Josefine hingegen soll wegen Zarin Katharina die Reise unternehmen. Denn sie hat die besonderen Begabung, Düfte zu kreieren, die Katharinas Schwermut vertreiben könnten. Eine abenteurliche Reise beginnt, bei der erst Josefines Herz und dann sie selbst in Gefahr gerät …

Zur Autorin

Jutta Oltmanns, geboren 1964, schreibt neben ihrer Tätigkeit in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung historische Romane. Ostfriesland ist zugleich Inspiration und Schauplatz ihrer Bücher. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen in Warsingsfehn, wo sie an ihrem nächsten großen Roman arbeitet.

Lieferbare Titel

Das Geheimnis der Inselrose

Tochter der Insel

Windstochter

Jutta Oltmanns

Die Dufthändlerin

Historischer Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Zitat: »Shakespeare’s Gedichte – Deutsch von Wilhelm Jordan, Berlin Verlag von G. Reimer, 1861.«

zitiert nach:

Eugène Rimmel, »Magie der Düfte«.»Die klassische Geschichte des Parfüms« Parkland Verlag, Stuttgart, 1993 S. 261.

Vollständige Taschenbuchausgabe 09/2016

Copyright © 2016 by Jutta Oltmanns

Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Frauke Brodd/write and read

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von bridgeman images/Elisabeth Louise Vigée-Lebrun »The Grand Duchess Elizabeth«

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-16642-7V002

www.heyne.de

Für Roland, den adoptierten Ostfriesen,der alle meine Verrücktheiten teilt.

Dann wäre spurlos mit der Blüthen FallDes Sommers Angedenken eingegruftet, Umschlösse nicht ein Kerker aus Krystall Als Elixier, was in der Blüte duftet.So schwindet zwar, indem die Welt vereis’t,Der Blume Form, doch lebt der Blumengeist.

William Shakespeare

Prolog

Leer, Herbst 1706

Der Ort lag in dichtem Nebel. Vom Hafen zogen Schwaden auf und dämpften die letzten Farben des Sommers. Eine leichte Brise trug den Geruch von Fisch und Tang durch die verwinkelten engen Gassen des Fleckens Leer. Laternen an Ketten schwangen quietschend über den Eingängen der Gaststuben. Windböen fegten Blätter und Unrat um die Beine der Pferde und gegen eisenbeschlagene Wagenräder.

Frauen mit Körben am Arm drängten zum Markt und umlagerten die Stände der Händler. Sie kauften nicht nur Fisch und Fleisch, Eier und Brotwaren, sondern tauschten auch lauthals die neuesten Gerüchte aus.

Ein kräftiger riesenhafter Mann im dunklen Mantel bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ergrautes, aber immer noch volles Haar umgab seinen Kopf wie eine Wolke. Die schaufelartige Rechte hatte er um den Henkel eines großen Weidekorbs geschlossen, dessen Inhalt mit einem Leinentuch bedeckt war. Das Mädchen an seiner Seite bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Sie mochte dreizehn Jahre alt sein, war klein und mager und trug das helle Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr Gesicht, auf dem ein erwartungsvoller Ausdruck lag, war sehr blass. Fröstelnd zog sie die Kapuze über den Kopf. Das Mädchen hatte weder einen Blick für den Leierkastenmann, um den sich Kinder scharrten, noch für die Marktbeschicker und ihre Käufer. Zielstrebig eilte sie mit ihrem hünenhaften Begleiter zum Hafen.

Es wimmelte von Schiffen und Booten, deren haushohe schwankende Masten im Nebel gespenstisch wirkten. Seeleute schrien einander Kommandos zu, Händler drängten sich am Ufer und ließen Waren auf Fuhrwerke verladen und in ihre Lagerhäuser schaffen. Hunde schnüffelten zwischen aufgestapelten Ballen und Fässern herum und brachen manchmal in wütendes Gebell aus.

Möwen zogen ihre Kreise und kreischten klagend gegen den Wind, der den Umhang des Mädchens blähte, als sie vor ihrem Begleiter die Pier eines Handelsschiffs betrat. Es war eines jener großen Kauffahrer, die nach Westindien, Afrika und Australien fuhren. Bis auf den Schiffsjungen, der das Deck schrubbte, war niemand zu sehen.

»Guten Morgen, Martin«, begrüßte ihn das Mädchen.

»Josefine! Och, ist das schön, dich zu sehen!« Er strahlte, riss sich die Mütze vom Kopf und machte dann eine kleine Verbeugung in Richtung des Hünen. »Herr Apotheker. Ich hoffe, Ihr seid wohlauf.«

»Das will ich meinen. Was ist mir dir, Junge, hat sich dein nässender Ausschlag verflüchtigt?«

»Wie Schnee in der Sonne.«

»Und wie ist es diesmal mit der Seekrankheit gegangen?«

»Seekrankheit – was ist das? Eure Pillen haben Wunder gewirkt. Ich lache jetzt selbst dem schlimmsten Sturm ins Gesicht!«

»Das freut mich. Wie war eure Reise?«

»Alles ist ganz prächtig gelaufen. Wir sollen sogar einen zusätzlichen Lohn haben. Der Schiffsbauch ist voll von rotem Sappanholz und wunderschönem Porzellan, dazu Pfeffer aus Palembang, Nelken und Muskatnuss von den Gewürzinseln. Ihr glaubt nicht, was für prächtige Stoffe wir geladen haben. Sie sind für Amsterdam. In den Niederlanden fertigt man Überdecken und Vorhänge daraus. Ach ja, und die bestellten Kräuter und Duftwerke haben wir auch erstanden.«

»Die Nelken und den Pfeffer kann ich selbst hier an Deck riechen. Wunderbar!« Das Mädchen schloss genießerisch die Augen, um sie gleich darauf wieder aufzureißen und begierig zu fragen: »Und? Habt ihr viel Kuriosum einhandeln können?«

»Das kannst du glauben! Die Männer haben miteinander gewetteifert auf der Suche nach absonderlichen Dingen. Doch der Kapitän ist nicht zu überbieten. Er hat mit einem der Molukker verhandelt und deinem Vater etwas ganz Besonderes mitgebracht.«

»Was ist es, Martin?«

»Das wird er euch schon selbst zeigen.« Der Junge wandte sich dem Hünen zu. »Ich habe Muscheln für Euch und Schneckenhäuser, so groß, dass sich Hasen darin verkriechen könnten. Soll ich sie holen?«

Der Riese nickte, und der Junge stob davon.

Die Kunde von der Ankunft des Apothekers schien sich schnell herumzusprechen, denn das Deck bevölkerte sich mit Seeleuten. Sie begrüßten den Besucher mit Händedruck oder Schulterschlag und schwangen das Mädchen lachend herum, dass ihr Zopf nur so flog. Schließlich kehrte wieder Ruhe ein, und der Bär griff nach dem Korb. Mit einer energischen Geste verschaffte er sich Gehör.

»Also, wir haben hier Abhilfe gegen die Krätze und Salben, falls ihr Ekzeme oder wundgescheuerte Haut habt. Auch Johanniskraut für die Nerven und den Magen und einen Absud aus Eisenkraut …«

»Hat Eure Tochter auch Düfte dabei, die wir unserer Liebsten mitbringen können?«, unterbrach ihn einer der Männer.

Das Mädchen nickte ernsthaft. »Maiglöckchen, Mimose und Jasmin. Ganz neu habe ich einen Kirschblütenduft zusammengestellt, der eine fruchtige Note hat und nach Sommer riecht.«

»Mein Bruder Bertram hat außerdem noch etwas ganz Besonderes gezaubert«, dröhnte der Hüne und hielt Tonkrüge hoch. »Er nennt es Madagaskar-Elixier. Ein süßer Gebrannter aus Rosen, Jasmin und Orangenblüten, der mit Muskat gewürzt wird. Damit eure Liebste heute Nacht nicht nur gut riecht …«

»Meinhardus!« Empört stieß das Mädchen ihn in die Seite.

Die Seeleute lachten.

»Mein liebes Kind, nach solch einer langen Reise haben die Männer nicht nur Hunger auf Bohnensuppe! Aber was rede ich da, wo du doch noch nicht trocken hinter den Ohren bist und von so was nichts verstehst. Und der Moses auch nicht.«

Martin protestierte. »Auf der vorletzten Reise, in Afrika, da habe ich einen Wilden gesehen, der trug beim Tanzen keine Faser am Leib, nur eine Maske auf dem Kopf und …«

»War das die Stierkopfmaske, die du Vater mitgebracht hast?«

»Jeb! Der Tänzer hat sie vor dem Zelt mit den nackten Mädchen einfach so in den Sand geworfen. Dem stand wohl auch der Sinn nach anderem als Bohnensuppe …«

Die Männer lachten, doch die Kleine runzelte die Stirn. »Was für Mädchen? Warum …«

»Ich hätte gerne was von dem süßen Gesöff«, unterbrach ein bärtiger Seemann rasch ihre Überlegung. »Dies habe ich als Bezahlung zu bieten. Ist es genug?«

Er trat vor und streckte dem Apotheker eine Holzschale mit wunderschöner Maserung entgegen, in der sich einige Muscheln befanden. Eifrig nickte der Hüne, und die Kleine reichte ihm einen Krug.

Auch die anderen Männer griffen jetzt nach Arzneimitteln, Düften oder Likören, im Tausch gegen mitgebrachte Schätze. Die Augen des Riesen leuchteten, als sich die Kuriositäten im Korb häuften: Holzschnitzarbeiten, Korallen, Kästchen aus Perlmutt, Gefäße aus rotem Ton, Muscheln, geschnitzte Kämme und sogar eine Tröte aus dem Haus einer Seeschnecke.

Schließlich bahnte sich der Kapitän mit einem Holzkästchen in den Händen einen Weg durch die Menge und stellte das Behältnis auf einem Heringsfass vor dem Kind ab.

»Mein lieber Meinhardus, ich glaube, für dieses Schätzchen wirst du mich bis an mein Lebensende mit Mitteln gegen Krätze versorgen müssen!«

Dem Apotheker entfuhr ein bewundernder Laut, als er in die Schatulle blickte. Seine Tochter trat langsam näher.

»Oh, eine cassis cornuta!«, wisperte sie ehrfurchtsvoll. »Und was für eine große!«

Der Kapitän nickte ihr aufmunternd zu, und die Kleine hob das wundersame Gebilde vorsichtig aus dem Kästchen. Eine riesenhafte Muschel war zum Trinkgefäß geworden, der obere Rand abgeschnitten und in vergoldetes Silber eingefasst. Drei Füße in Gestalt von Vogelkrallen gaben dem Becher einen festen Stand. Die Oberfläche der Muschel erinnerte an feinste Gaze.

»Sie ist wunderschön!«

»Nicht wahr!« Die Augen des Kapitäns glänzten beim Anblick des verzückten Gesichts.

Doch abseits der Menge standen zwei Seeleute und beäugten das Treiben missmutig.

»Gut, dass das Zeug endlich von Bord kommt«, sagte der Größere und kratzte sich ausgiebig am kahlen Kopf. »Möchte nicht wissen, wie viele von den Molukken mit dem Teufel im Bunde sind. Wer weiß, was für einen Zauber sie auf den Krempel gelegt haben.«

Der Kleinere nickte zustimmend. »Du siehst ja: Es lässt Männer zu Narren werden und sie mit Kindern Geschäfte treiben. Man sagt, die Kleine feilscht auch auf dem Wochenmarkt so lange, bis ihr der Preis schmeckt. Von ihrem Vater hat sie die Geschäftstüchtigkeit nicht. Der stiehlt dem Herrgott mit Schwatzen den Tag. Dann eher von der Mutter.«

Fragend hob sein Gegenüber eine Augenbraue.

»Eine Tänzerin. Sie hat dem Pillendreher den Kopf verdreht, ihm ein Ei ins Nest gelegt und dann – mit einer guten Abfindung – das Weite gesucht. Ganz schön ausgefuchst, nicht?«

»Ja. Und die Kleine steht ihr in nichts nach. Sieh nur, wie kampfeslustig sie das Kinn reckt. Die weiß genau, was sie will.«

Der Bärtige spitzte missbilligend den Mund. »Hausarbeit gehört jedenfalls nicht dazu. Es heißt, sie habe weder ein Händchen fürs Stopfen, noch könne sie spinnen oder mit dem Kochtopf umgehen. Stattdessen hilft sie ihrem Vater und seinem kauzigen Bruder stundenlang in der Apotheke, unterstützt den Pillendreher beim Sammeln von Plunder aus aller Herren Länder, mixt Duftwasser zusammen und führt Wortgefechte mit jedem, der sich mit ihr anlegt.«

»Frech und aufsässig soll sie sein, davon habe ich auch schon gehört. Stell dir vor, sie verkehrt mit dem Weib aus dem Regenbogen!«

»Das würde ich dem Gör als Erstes verbieten. Notfalls mit der Gerte!«

»Wenn der Kräutermischer seine Tochter weiterhin gewähren lässt, dann wird sich kein Freier für sie finden. Wer will schon ein Weib, dass seinen eigenen Kopf hat und sich zu viele Freiheiten herausnimmt?«

Der Bärtige gab ein freudloses Lachen von sich. »Kein Mann, der halbwegs bei Verstand ist!«

I

Der Flecken Leer

April 1716

1

Eigentlich hatte sie wirklich Besseres zu tun. Josefine dachte an die Blütendüfte, die in Tiegeln und Flakons bereitlagen, um zu neuen Kreationen zusammengestellt zu werden, und an den Sack getrockneter Gewürze, die es noch zu destillieren galt. Dann war da die parfümierte Pomade im Laboratorium, die in kleine Gefäße abgefüllt und etikettiert werden musste. Stattdessen verbrachte sie ihre Zeit mit Pillendrehen!

Eine helle Haarsträhne hatte sich aus dem nachlässig aufgesteckten Knoten gelöst, und Josefine schob sie mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Dann griff sie nach Mutterkraut und Weidenrinde, maß geschickt die Mengen für die Pillen gegen Kopfschmerzen ab und schüttete sie in den Mörser. Mit einer flinken Bewegung gab sie eine Lösung hinzu, nahm den Stößel und verarbeitete alles zu einem Brei.

Aus der Offizin, dem Verkaufsraum der Apotheke, schallte die durchdringende Stimme der Witwe Holtmann zu ihr herüber. Josefine verzog den Mund. Musste ihr Vater stundenlang mit diesem Weib plauschen? Kein Wunder, dass sich die Aufträge stapelten! Die Holtmannsche hatte es doch nur wieder darauf abgesehen, dass Meinhardus ihr die teure Salbe zu einem Spottpreis überließ, und so, wie Josefine ihren Vater kannte, würde er sich erweichen lassen. Wovon sie das fehlende Brennholz kaufen sollten, darüber machte er sich erst Gedanken, wenn das letzte Stück im Ofen lag.

Josefine seufzte leise und sah aus dem Fenster auf die dick vermummten Gestalten, die durch die engen Gassen eilten. Es war zwar schon April, doch der Frost wollte nicht weichen und setzte den Häusern und Bäumen weiße Kappen auf. Dazu wehte ein schneidender Wind. Tagsüber musste der Kamin in der Offizin unablässig brennen, ebenso wie das Feuer hier in der Materialkammer, wo auch die Arzneien zusammengestellt wurden. Mit klammen Fingern konnte man weder abmessen noch anrühren, und abends, wenn ihr Vater sich mit ihrem Onkel Bertram am Branntwein labte, wollte er auch warm sitzen.

Verbissen rührte Josefine weiter. Als die Mischung die richtige Konsistenz besaß, erhellte sich ihr Gesicht. Sie rollte die Masse auf der Arbeitsfläche zu einem gleichmäßigen Strang und drückte sie in die Felder eines Pillenbretts.

Josefines Blick huschte durch den Raum. Auf Regalen und in Schubkästen befanden sich – verstaut in Kästen, Gläsern oder Büchsen – Materialien, die für die Fertigung der Arzneien unerlässlich waren. Welchen Überzug sollte sie nehmen? Mutterkraut und Weidenrinde waren beide furchtbar bitter. Zucker wäre am besten. Josefine schnitt die Pillen, gab sie vorsichtig in den Dreher zum Runden und versah am Schluss alles mit einem süßen Überzug. Zum Trocknen legte sie die Pillen auf ein Sieb.

Gerade als Josefine den Rock ihres blauen Wollkleids anhob und leichtfüßig die Treppe hinaufeilte, um noch einige Duftsäckchen vom Trockenboden zu holen, verkündete die Glocke an der Tür das Ende des Besuchs. Gut so! Dann würde die nörgelige Witfrau zumindest ihr nicht mehr die Ohren volljammern können.

Josefine betrat die Offizin durch eine Tür hinter dem Rezepturtisch, der den Verkaufsraum teilte. Zwei Wände waren mit deckenhohen Regalen verkleidet, auf denen in langen Reihen helle, fein säuberlich etikettierte Keramikgefäße und mit Stopfen versehene Gläser standen. Ihre Beschriftungen trugen Namen wie Türkischer Rhabarber, Fieberpulver, Wermut und Schlafmohn. Getrennt davon fanden sich die Zutaten für die Farben der Maler. Im unteren Bereich waren die Regale mit zahllosen Schubfächern bestückt, die getrocknete Kräuter, Blätter und Samen von Heilpflanzen und deren Wurzeln sowie zwischen Wachspapier gelagerte Pflaster und Messlöffel enthielten.

Über dem Rezepturtisch baumelten in einer Halterung unterschiedliche Waagen, Gerätschaften und Rezepturbindfäden. Von den Deckenbalken hingen Bündel mit getrocknetem Mohn und Kamille, Salbei und Minze. Dazwischen schlängelte sich eine holzgeschnitzte Äskulapnatter, schon seit alters her Symbol der Heilkunst. Äskulap war der Schutzpatron der Ärzte und Apotheker.

Um einen runden Tisch beim Eingang scharten sich bequeme Stühle, die auf Gäste zu warten schienen. Ein weißer verzierter Schrank barg Josefines Duftkreationen, zu denen sich jetzt die Lavendel- und Rosmarinbeutel vom Trockenboden gesellten. Hier verkaufte Meinhardus während der Geschäftszeiten ihre Parfüms, Seifen, Riechsäckchen und Pomaden. Abends versammelten sich die Kunden um den Tisch und ließen sich den Wein, die Liköre und Obstwässer schmecken, die Josefines Onkel feilbot. Auch getrocknete und kandierte Früchte, Schokolade, Tee aus China, Kaffee und Kakaopulver gab es bei Bertram Meinen zu kaufen.

Der Laden war jetzt leer. Josefines Onkel, dessen lange, dürre Gestalt in einem untadeligen Gehrock aus braunem Tuch steckte, und der auf dem Kopf eine ewig rutschende Perücke trug, staubte mit missmutiger Miene Regale ab, während ihr Vater summend das Sortiment in den Schubladen ergänzte. Seine bärenhafte Gestalt wurde von einem wehenden Umhang in dunklem Rot umhüllt, der besonders gut mit der langen grauen Haarpracht harmonierte, die ihm das Tragen eines Haarersatzes ersparte. Er war bester Laune, und das schien seinen Bruder besonders zu ärgern.

»Ich schäme mich für dich, Meinhardus! Sobald ein Weibsbild dir Honig um den Bart schmiert, wirst du zum Narren!«

»Du bist nur neidisch, dass sie ihren Honig nicht an dich verschwendet hat. Es dauert mich ja, Bruderherz, dass die Natur es nicht besser mit dir gemeint hat. Diese spitze Hakennase, das vorstehende Kinn, keine Haare auf dem Kopf und nichts auf den Rippen. Ich kann die Witwe verstehen! Frauen gefallen stattliche Männer eben besser als dürre Lattenkerle.«

»Stattlich? Von wem sprichst du? Ich sehe hier nur einen aufgeblasenen dicken Strohkopf, der dumm genug ist, sich die Butter vom Brot schwatzen zu lassen.«

»Wollt ihr wohl friedlich sein?!«

Josefine baute sich kopfschüttelnd vor den beiden Männern auf.

»Dein Vater ist der größte Dummkopf unter der Sonne!«

»Dein Onkel ist ein Neidhammel.«

Glockenläuten machte dem Wortgefecht ein Ende. Ein Fremder in einem dunklen Reiseanzug betrat den Raum, und Josefines Vater sprang eilfertig herbei.

»Guten Tag, mein Herr. Willkommen in Meinhardus Meinens Apotheke. Womit kann ich Euch dienen?«

Bertram verzog den Mund, als der Kunde mit einem Magenmittel den Laden wieder verließ.

»Deine Apotheke? Du brauchst gar nicht so zu tun, als gehörte dir der Laden alleine. Alter Angeber und Schwerenöter. Ohne Josefines Düfte, meine Stärkungsmittel und den guten Wein hätten wir nur halb so viele Kunden. Die meisten ziehen meine Genussmittel doch deinen bitteren Pillen vor!«

»Dein Gesöff kannst du doch nur verkaufen, weil ich als Apotheker sie in angemessener Menge verordnen darf. Wer hat für sechs Jahre seine Heimat verlassen müssen, um bei dem alten, stocktauben Klaas Buntekuh im Schweiße seines Angesichts das Handwerk zu erlernen?«

Bertram brach in schallendes Gelächter aus. »Im Schweiße seines Angesichts! Du bist so faul wie die Sünde! Immer schon gewesen. Und gearbeitet hast du zeit deines Lebens mehr mit der Zunge als mit den Händen!«

»Pah! Was habe ich als Lehrjunge in Amsterdam geschuftet! Schon vor dem Morgengrauen hieß es Kessel putzen, Standgefäße reinigen, Fußböden scheuern und derlei mehr. Tagsüber wurde ich als Bote herumgescheucht und habe Vorräte einsortiert. Nebenbei galt es, sich die Farben, den Geruch und die Beschaffenheit der zahllosen Arzneien einzuprägen und abends, beim Schein einer alten Funzel, Stunde um Stunde über Latein und Botanik zu schwitzen. Was habe ich gezittert, als ich vor dem strengen Physikus meine Prüfung ablegen musste!«

»Ach hör mir doch auf mit den alten Geschichten! Dein Studienfreund Cornelis hat mir von Zechgelagen und der weiblichen Kundschaft erzählt, der ihr beiden nicht nur Mittelchen gegen Hühneraugen verkauft habt.«

Meinhardus riss den Mund auf, schloss ihn dann nach einem raschen Blick auf Josefine wieder. »Cornelis ist ein altes Tratschweib!«, sagte er schließlich. »Wahr ist und bleibt, dass ich vom Fürsten eigenhändig beauftragt worden bin, hier in unserem schönen Flecken eine Apothekerstube aufzubauen! Ich! Ich ganz allein!«

»Der Fürst hat doch nie ein Wort mit dir gewechselt. Die Regentschaft suchte damals händeringend nach einem Pillendreher für den Flecken Leer, und du warst als Einziger zur Stelle. Wenn der Fürst wüsste, was du unter der Hand für Geschäfte treibst! Ist dir eigentlich klar, dass du ihn betrügst, wenn du deine Arzneimittel den Seeleuten im Tausch gegen Plunder aus aller Welt kostenlos überlässt und ihm die Steuern schuldig bleibst?«

»Was sagst du da? Plunder? Mein Kuriositätenkabinett mit ihren Kostbarkeiten ist eine Wunderkammer, die ihresgleichen sucht!«

»Wunderkammer? Das ist doch wohl eher eine Gruselkammer! Ausgestopfte Vögel, Fische und anderes totes Getier hängen einem vor der Nase, in den Schubladen stinken Muscheln, Schlangenhäute und Insekten vor sich hin. Die Schränke sind voll mit Taranteln, Riesenspinnen und getrockneten Kröten. Mumien und Skelette stehen in den Ecken, dass einem angst und bange wird. Und dann die Glasflaschen mit den unaussprechlichen Kreaturen, die du in Weingeist eingelegt hast.« Bertram schüttelte sich. »Plunder! Und dafür überlässt du den Seeleuten die teuersten Medikamente, meinen besten Wein und Josefines liebliche Düfte. Fehlt nur noch, dass du anfängst, alte Zähne und Fußnägel zu sammeln.«

»Lustreisende von nah und fern kommen eigens hierher, um meine Sammlung zu bestaunen. Sie ist ein Theatrum Mundi! In meiner Wunderkammer zelebrieren die Besucher die Lust am Staunen, sie lernen im Kleinen die ganze Welt kennen, die Vielseitigkeit unserer Schöpfung. Doch von derlei hat ein Kunstbanause wie du natürlich keine Ahnung.«

»Ich weiß nur, dass du deine wunderliche Kammer nutzt, um so manches erholsame Schläfchen zu halten. Statt bei deinen Staubfängern zu schnarchen, solltest du lieber deiner Arbeit nachgehen. Wenn deine Kundschaft wüsste, dass Josefine stundenlang im Laboratorium werkelt, dann gäbe es reichlich Ärger.«

»Die Pillen gegen Kopfschmerzen sind übrigens fertig«, unterbrach Josefine den Disput trocken. »Ich werde jetzt auf den Boden gehen und nach den Kräuterbündeln sehen.«

»Es ist ein Segen, dass du deinem alten Vater so zur Hand gehst.« Meinhardus tätschelte Josefines Wange.

»Reine Notwehr!«

»Da hörst du es, Bruderherz! Wann gedenkst du endlich einen Apothekerlehrling einzustellen?«

Wieder ging die Türglocke und enthob Meinhardus einer Antwort. Während sich Josefines Vater um den Kunden kümmerte, der nach Bärenfett fragte und sich die Wirkung auf den Haarwuchs erklären ließ, fuhr Bertram grummelnd mit seiner Arbeit fort.

Josefine verkniff sich ein Lachen. Wer den Brüdern lauschte, musste den Eindruck gewinnen, sie seien sich spinnefeind, dabei gehörte ihr tägliches Gezanke zum Alltag und machte den beiden einen diebischen Spaß.

Wenn Josefine der betagteren Kundschaft glauben durfte, war das schon zu Kinderzeiten so gewesen. Meinhardus, der ältere der Brüder, war dazu bestimmt worden, bei einem Apotheker in die Lehre zu gehen, während Bertram, der ewig kränkelnde, von seinem Vater in die Herstellung von Likören und den Handel mit Genussmitteln eingeweiht wurde. Das Spirituosenbrennen hatte Tradition bei den Meinens, und im Laboratorium, das sich in einem kleinen Hintergebäude befand, standen immer noch die alte Kräutermühle und eine kupferne Branntweinblase und taten ihren Dienst. Der hauseigene Echte Friese sorgte schon seit Generationen für Gesundheit und Wohlbefinden. Die Zutaten für den Schnaps kaufte Bertram von den Kräuterweibern, die genau wussten, wann die rechte Zeit zum Sammeln war und wo der beste Ort. Einige Bestandteile fanden sich auch im eigenen Garten. Daneben destillierte Bertram Obstwässer und Liköre, die Namen trugen wie Birnengold, Kirschenkobold oder Vogelbeerbart.

Josefines früheste Erinnerung war die an das wunderbare Aroma, das den Kräutern, Gewürzen und Wurzeln bei der Verarbeitung entströmte. Ein Duft, der sie in jedem Moment an ihren Onkel erinnerte, an seine Sanftmut und Herzensgüte, die er hinter beißendem Spott zu verstecken suchte.

»Warum bist du zu mir immer lieb und zu allen anderen so ruppig?«, hatte Josefine ihn schon als Siebenjährige gefragt.

»Ich war zeit meines Lebens der Kleinste und Schwächste. Weißt du, mein Kind, wenn Worte die einzigen Waffen sind, die einem bleiben, dann fallen sie nicht immer liebreizend aus.«

Die Ruppigkeit, das Höhnen und Spotten, war Bertram in Fleisch und Blut übergegangen und Meinhardus sein liebstes Opfer. Doch in Wahrheit hielten die beiden Brüder zusammen wie Pech und Schwefel. Es war ganz selbstverständlich gewesen, dass Bertram, der das Haus geerbt hatte, seinen Bruder Meinhardus nach dessen Ausbildung bei sich aufnahm. Die beiden Männer ergänzten sich auf das Feinste. Die Apotheke, bereichert um Kräuterbrände, Fruchtliköre und Naschwerk, erwies sich als gute Einnahmequelle. Selbst Georg Albrecht, der Fürst von Ostfriesland, leckte sich die Lippen nach ihren Waren und ließ in regelmäßigen Abständen Bertrams Stärkungs- und Genussmittel in die Residenz nach Aurich bringen.

Josefine machte sich auf den Weg zur Treppe in das zweite Stockwerk, wo sich Meinhardus’ Kuriositätenkabinett und ihre Schlafräume befanden. Auf ihrem Weg zum Dachboden regten sich Erinnerungen in ihr und hüllten sie ein wie in einen Schleier. Sie sah sich als Neunjährige in eine Decke gekuschelt vor dem Kaminfeuer sitzen und den Gesprächen der Erwachsenen lauschen, denn an zwei Abenden in der Woche versammelte sich die gesamte Honoratiorenschar des Fleckens Leer in der Apothekerstube, um bei Wein und Gebäck das Tagesgeschehen zu besprechen.

Mucksmäuschenstill hatte sie sich verhalten, sodass ihre Anwesenheit regelmäßig in Vergessenheit geriet. Wie war es interessant gewesen, wenn die vier Schüttemeister, die das Vermögen der Stadt verwalteten und für die Ordnung auf den Straßen und am Markt zuständig waren, von gezinkten Gewichten, gepanschten Weinen und liederlichen Weibern berichteten! Oder wenn der Marktmeister Meenke Jakobi Anekdoten vom Viehmarkt, der jedes Jahr zu St. Gallus stattfand und Händlerscharen von nah und fern anlockte, zum Besten gab.

Ein regelmäßiger Besucher der geselligen Abende war auch Wilhelm von Imhof. Vor mehr als zehn Jahren war er im Gefolge der Fürstin Eberhardine Sophie, der Mutter des jetzigen Grafen, nach Ostfriesland gekommen und hatte das Drostenamt in Leer übernommen. Mit seiner Familie bewohnte er das Drostenhaus bei der Festung Leerort an der Ems, wo die Fähre aus dem Rheiderland anlandete.

Der Drost war ein leidenschaftlicher Erzähler, und je weiter der Abend fortschritt und je mehr von Bertrams Likör er trank, desto faszinierender wurden seine Geschichten. Anfangs sprach er noch über die Schwierigkeiten der Versorgung der Truppen, die in der Festung lagerten, über Fehler in der Buchhaltung und das Unvermögen der Köche. Zu später Stunde jedoch zog er die Zuhörer mit düsteren Geschichten in seinen Bann wie jener von den schwarzen Schwänen, die er auf der Ems gesehen haben wollte.

»Sie sind nicht wirklich Tiere, sondern vom Teufel geschickte Verführerinnen, die schon so manchen Seemann in ein kaltes Grab gezogen haben!«

Josefine mochte ihn und auch seine Frau Isabella, deren Vater Bürgermeister von Amsterdam war. Manchmal begleitete Isabella von Imhof sie und Meinhardus in die Niederlande. Von dort aus verkaufte Josefines Vater Medizin bis nach St. Petersburg. Der Kontakt nach Russland war durch Cornelis Zander, Meinhardus’ Studienfreund, zustande gekommen. 1697, vor neunzehn Jahren, war der junge Zar Peter nach Amsterdam gereist, um dort den Schiffsbau zu studieren. Mit Cornelis hatte er sich angefreundet, da sie beide eine Leidenschaft für Exotisches verband. Schon damals besaß der Holländer, dessen Apotheke am Kloveniersburgwal stand, eine umfangreiche Naturaliensammlung. Als ein schweres Fieber den russischen Herrscher aufs Lager warf, hatte Cornelis’ Behandlung dem Zaren das Leben gerettet. Dies war der Beginn einer langjährigen Freundschaft und Geschäftsverbindung, denn fortan orderte der Monarch seine Arzneien und die des russischen Hofes nur noch über Cornelis Zander. Dieser seinerseits bat befreundete Apotheker, ihm bei der Fertigung der Mengen von Medikamenten zu helfen. Meinhardus Meinen war einer von ihnen.

Seitdem reiste er in regelmäßigen Abständen nach Amsterdam, um die Heilmittel persönlich bei Cornelis abzuliefern und so lange sie zurückdenken konnte, hatte Josefine ihren Vater begleitet. Nichts liebte sie mehr als diese Besuche bei Cornelis und Ansje Zander, die sie in ihre Arme und ihr Herz geschlossen hatten. Cornelis war ein großer, schlanker Mann, der trotz seiner fünfundsechzig Jahre immer noch volles dunkles Haar besaß. Sein schmales Antlitz mit der großen Nase und den tiefblauen Augen war voller Lachfältchen. Seine Frau Ansje war das genaue Gegenstück: klein, rundlich und mit einem Gesicht wie ein Eierkuchen, in dem die kleinen blauen Augen fast verschwanden. Ansje hatte immer ein Lied auf den Lippen und nahm die Welt leicht. Genau wie ihr Mann war sie weit davon entfernt, aufgrund ihres Standes in Eitelkeit auszubrechen. Die Zanders kleideten sich zwar teuer, aber sie verzichteten ganz auf bunte Farben und bestickte Stoffe. Auch für schmückendes Beiwerk hatten die beiden Holländer nichts übrig. Ansje trug stets ein kleines Filigranherz, das Cornelis ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Damals, als er noch ein junger Mann war und die Apotheke seinem Vater gehört hatte.

Josefine liebte Cornelis und Ansje fast so sehr, wie sie Amsterdam liebte, diese unglaubliche Stadt! Sie schloss die Augen und wäre fast über die letzte Treppenstufe gestolpert. Wasser und Schiffe, Gassen mit roten Backsteinbauten, deren Giebel sich stolz bis zum Himmel reckten, dazwischen Grachten, die die Stadt in Ringen durchzogen und von zahllosen Brücken überspannt wurden. Beladene Lastkarren, die über das Pflaster rumpelten, und Schleppkähne, die Waren zu den Märkten und den wunderschönen Kaufmannshäusern brachten und sie direkt vom Wasser aus belieferten.

Das Glucksen des Wassers vermengte sich in ihren Erinnerungen mit dem Pfeifen des Winds, der durch die Straßen zog, und den Schreien der Möwen, dem Singen, Schimpfen und Schnattern der Menschen. Überall in den Gassen, auf den Booten und Brücken waren vornehme Bürger und Kaufleute, Bettlern und Dienstboten unterwegs, und ihre Gestalten spiegelten sich im Wasser der Grachten.

Josefine seufzte leise und öffnete die Lider. Energisch schüttelte sie die Träume ab. Es war April und an eine Reise nach Amsterdam nicht zu denken. Sie konzentrierte sich auf die schmalen Stufen der Stiege, die vom zweiten Stock bis zum Kräuterboden hinaufführte, wo alles gelagert wurde, was trocken aufbewahrt werden musste.

In dem luftigen Raum befanden sich in großen gedeckelten Holzkisten Kamille, Zinnkraut und andere Heilpflanzen. In der Nähe des Fensters trockneten Samen, Wurzeln und Blumen auf Weidengeflecht, das zwischen hölzernen Gestellen gespannt war. Kräuter hingen in Bündeln von der Decke.

Josefine blieb einen Augenblick stehen und genoss die wunderbare Duftkomposition, die sie an einen Waldspaziergang erinnerte, öffnete dann das Sprossenfenster und blickte auf das Markttreiben vor der Apotheke.

Die Häuser hatten ihre weißen Mützen verloren. Zu Josefines großer Freude lachte die Sonne endlich einmal vom Himmel und lockte die Menschen trotz der Kälte nach draußen. Der Marktplatz, der unweit der Waage am Hafen lag, hatte sich gefüllt. Beschicker mit irdener Keramik, Imker, Kerzenzieher und Besenbinder boten ihre Waren an. Es gab die verschiedenartigsten Stände mit Fleisch, Eiern, schönem Tuch oder saftigem Kuchen. Frauen mit Körben am Arm feilschten um Brot und Käse, eilfertige Dienstboten erledigten Aufträge, und Mägde machten Besorgungen für ihre Herrschaften.

Die Stimmen der Händler klangen bis unters Dach zu Josefine. An den Ständen wurde gehandelt, gelacht und manchmal auch gestritten. Gewürze und Öle wechselten den Besitzer, Konfitüren und Branntwein. Schreiner und Zimmerleute besiegelten per Handschlag ihre Geschäfte. Immer wieder übertönte das Klappern der Pferde und Fuhrwerke das Rufen, Lachen und Schreien an den Ständen. Kutschen fuhren vor und rollten wieder davon.

Josefine musste beim Anblick des Gebrauchtkleiderhändlers lachen, der direkt unter dem Fenster stand. Er trug vier Hüte auf dem Kopf, hatte sich etwa sechs Mäntel umgehängt und sprach davon, dass der Frühling nie kommen würde und warme Kleidung ein Muss sei. Über seinem Arm baumelten Kniehosen, Hauskleider und Schleifen. Abgelegte Kleidung der Reichen, die er nun meistbietend an den Mann oder die Frau bringen wollte. Der Händler kramte Kämme aus seinen Taschen und bot sie einer jungen Frau an, die dankend ablehnte und stattdessen zum Stand einer Putzmacherin schlenderte, die Spitzenbänder, Rüschenmanschetten, Hauben und Schleifen anpries.

Die Lippen der Putzmacherin waren tiefrot gefärbt, und das dunkle Haar floss in üppigen Wellen über ihren grauen Umhang. Henricus Wilken, der sich im letzten Jahr als Arzt in Leer niedergelassen hatte, kam vorbei und erstand ein kleines mit Duftstoffen gefülltes Riechdöschen für die Spitze seines Spazierstocks. Josefine hatte ihn schon oft dabei beobachtet, wie er solche Döschen an die Nase hielt, bevor er in die Häuser einkehrte, deren Bewohner dafür bekannt waren, nicht nach Maiglöckchen zu duften.

Einen starken Kontrast zu der aufgetakelten Putzmacherin boten die Mennoniten, die in großer Zahl auf dem Markt einkauften. Sie betrieben in Leer das Leinenweberhandwerk. Ihre Kleidung war schlicht und in dunklen Tönen gehalten. Die Männer trugen allesamt Bärte und Hüte, die Frauen dunkle, unter dem Kinn zusammengebundene Hauben. Meinhardus schätzte sie als Kunden, denn die Mennoniten zahlten unverzüglich und feilschten nicht um den Preis.

Eine Kutsche hielt vor der Apotheke, der ein Mann in gelben Kniehosen und einem goldbetressten Rock entstieg. Auf seinem Kopf thronte ein Käppchen mit Schnüren und Quästchen. Josefine reckte den Hals, um das Gesicht des Mannes erkennen zu können, doch es gelang ihr nicht. Na, hoffentlich war das kein Revisor der Regentschaft, um die Zustände in der Apotheke zu überprüfen. Das fehlte noch!

Im Geist durchstreifte Josefine rasch alle Räume. Offizin und Materialkammer waren sauber, und es herrschte die vorgeschriebene Ordnung. Alle Gefäße waren beschriftet, die Gläser mit Stopfen versehen und die Giftkräuter weggeschlossen. Die erforderlichen Waagen waren allesamt vorhanden, die Gewichte geeicht und die Rezepte in den Büchern nach der vorgeschriebenen Taxe berechnet worden. Der Katalog würde nicht vollständig sein, da einige Kisten auf dem Kräuterboden noch nicht signiert waren. Und wo war nur die Apothekenordnung geblieben, die sie gut sichtbar auszulegen hatten?

Josefine hörte die Eingangsglocke läuten und sah den aufgeputzten Besucher die Apotheke wieder verlassen. Erleichterung durchströmte sie. Also doch kein Revisor!

Eine Menschentraube drängte sich vor dem stattlichen Gebäude der Waage mit dem Uhrenturm, an deren Doppeltür die neuesten Bekanntmachungen angeschlagen wurden.

»Die Schüttmeister verbieten den Fischweibern, den Fang vor dem Anlanden aufzukaufen.« Josefine erkannte die Stimme des Schmieds, der immer viel zu laut sprach. Sie reckte sich aus dem Fenster, um mehr von der Unterhaltung mitzubekommen.

»Recht so«, nickte ein älterer Mann mit grauem Bart. »Das war ja auch eine Unsitte, den Fischern mit Booten entgegenzufahren, ihren ganzen Fang aufzukaufen und uns Kunden dann einen unangemessenen Preis dafür abzunehmen.«

»Schüttemeister Meeken hat eigens die Tonnenträger um Beistand gebeten, als er gegen die Fischweiber vorging. Eine von ihnen soll mit einem Hering auf ihn losgegangen sein.«

Der Schmied schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Die Weiber heutzutage erlauben sich was! Wenn es nicht in der Hand der Männer läge, ihnen Einhalt zu gebieten, dann hätten sie uns bald unter!«

»Ich habe gehört, in Paris haben sich die Wäscherinnen und Marktweiber in Zünften zusammengeschlossen und fordern gleiche Rechte für Männer und Frauen.«

»Es kommt noch so weit, dass wir unsere Söhne an die Waschtröge setzen und unsere Töchter an den Universitäten lehren.«

Der Graubart gab ein meckerndes Lachen von sich. »Ich werde schon dafür sorgen, dass meine Joseffa ihren Platz hinter dem Herd behält!« Seine Hand hieb durch die Luft. »Wir Mannsleute sind nach dem Gesetz dafür verantwortlich, dass in unseren Häusern Zucht und Ordnung herrscht. Da ist manchmal der Rohrstock das beste Mittel zum Zweck.«

»Weiber, Hunde und Bäume – je öfter man sie schlägt, desto besser geraten sie!«, lachte der Schmied.

Josefine hatte dem Gespräch mit wachsendem Groll gelauscht.

»Der Rohrstock täte auch bei alten Böcken wie euch einen guten Dienst!«, schrie sie, doch die Männer verschwanden bereits gestikulierend, sicherlich in Richtung Goldene Kuh, dem einzigen Gasthaus am Hafen.

Josefine schloss das Fenster mit einem Knall. Was für ein Glück, dass Meinhardus die Einstellung dieser Kerle nicht teilte. Nie hatte ihr Vater die Hand gegen sie erhoben.

»Ich könnte es auch nicht ertragen«, sagte Josefine laut und erschauderte.

Bei ihrem letzten Kirchenbesuch hatte sich der Pastor darüber ausgelassen, dass Unterordnung und Gehorsamkeit bei Kindern unabdingbar seien. Tugenden, die Josefine nicht besaß und auf die Meinhardus glücklicherweise auch niemals Wert gelegt hatte. Sie war von ihm und ihrem Onkel Bertram stets ernst genommen und liebevoll behandelt worden.

Lächelnd dachte Josefine an die Zeit zurück, als sie ein überaus neugieriges kleines Mädchen von zehn Jahren gewesen war, das liebend gerne herumstreunte. In dem zwischen den Flüssen Leda und Ems gelegenen idyllischen Ort, der ihr Zuhause war, kannte sie jeden Stein und jeden Strauch, alle Menschen rundum, und sie nannte selbst die Tiere beim Namen. Ihre Wege führten sie vom Westerende bis zur Wörde, von der Brummelburg bis zur Kampstraße. Vorbei am Fresenhaus, der neuen Kirche der Lutheraner, und dem alten Gotteshaus der Reformierten. Sie bestieg den Plytenberg, von dem aus man den Emslauf überblicken konnte, und stromerte zur Großen Bleiche, einem von langen Wasserbecken durchzogenen Platz, wo die Leinenweber ihre Tücher in die Sonne legten. Josefine blickte in Schneiderstuben, lauschte den Scherenschleifern, beobachtete das Entladen der Fuhrwerke und die Gäste, die den Kutschen entstiegen. Oft verharrte sie bei einem der vier Brunnen, um Wasser zu trinken und einen Blick durch die Fenster der Weberhäuser an der Marktstraße zu werfen. Dort saßen Meister und Gesellen an Stühlen, die den ganzen Raum ausfüllten.

Die meisten Bewohner des Fleckens lebten in Lehmhütten oder winzigen Backsteinbauten. Im Hinterhaus wurden Tiere gehalten, in den Gärten wuchsen Obst und Gemüse. Es gab aber auch reichere Bürger, die Handel trieben und zu Vermögen gekommen waren. Ihre Häuser standen in der Pfefferstraße, Backsteinbauten, die Namen trugen wie Die goldene Kuh oder Das schwarze Ross.

Bei Regenwetter verwandelten sich die Wege des Fleckens in schmutzige Rutschbahnen, sodass die Kutschen und Fuhrwerke Mühe hatten voranzukommen. Gepflastert waren einzig die Straßen zur Festung Leerort und zum Marktplatz.

Unternehmungslustig und mutig wie sie war, verbrachte Josefine ihre Zeit nicht mit den braven Bürgerstöchtern, sondern schloss sich den Webersöhnen und Böttcherzöglingen an, um mit ihnen leer stehende Hütten und verwilderte Gärten zu erforschen. Sie kletterte auf Bäume, machte Klimmzüge an der uralten Eiche im Kirchenviertel, spielte Fangen und Verstecken.

Mehr noch als mit den Jungen durch die Gassen zu ziehen, gefiel es Josefine, sich in der Apotheke aufzuhalten. Sie war fasziniert von den Pflanzen, deren Blätter, Rinden, Knollen oder Blüten heilsame Wirkung zeigten und die so wunderbar würzig dufteten. Meinhardus verarbeitete sie zu Tees, Salben, Essenzen, Pulvern und Pillen. Seit sie lesen konnte, verschlang Josefine Bücher über die Heilkraft der Kräuter und Pflanzen, und ihre ersten Schreibversuche bestanden im Etikettieren der Gläser in der Offizin. Alle ihre Handlungen wurden begleitet von Erklärungen ihres Vaters. Josefine lernte, dass Rosmarin auf Lateinisch ros marinus hieß und gegen Blähungen half, dass Schöllkraut zur Herstellung von Augenwasser diente, ein Umschlag aus Maßliebchen bei Verletzungen wirkte und Tausendgüldenkraut bei Fieber einen wunderbaren Dienst tat.

An einem Frühlingstag, Josefine war elf Jahre alt, lag Meinhardus mit Fieber im Bett.

»Was für ein Unglück! Wer soll nun dem armen Jan van Deelen helfen?«

Jan betrieb in der Tonnenträgerstraße eine Fleischerei und war von so runder Gestalt, dass er es kaum noch vermochte, sich hinter seinen Tresen zu quetschen.

»Was fehlt ihm denn?«, fragte Josefine, die mit kalten Wickeln hantierte, um ihrem Vater Linderung zu verschaffen.

»Ihn plagt wieder sein Zipperlein. Seine Tochter Anna sagt, die Gelenke sind fürchterlich angeschwollen, und er kann nicht einmal mehr das Gewicht des Bettlakens auf seinen schmerzenden Füßen ertragen.« Meinhardus betrachtete seine Tochter nachdenklich und spitzte den Mund. »Ich habe dich gestern wieder im Aufrichtigen Spezereien-Händler blättern sehen. Was denkst du, wie könnte dem armen Kerl geholfen werden?«

»Hm, Zipperlein. Ich habe gelesen, die Gicht sei die Strafe für zu viel Völlerei. Der dicke Jan sollte seine Mahlzeiten halbieren und fortan nur noch Gänsewein trinken.«

Meinhardus lachte. »Richtig, mein spitzzüngiges Mädchen. Dazu können wir ihm raten, doch damit ist ihm jetzt nicht geholfen.«

Josefine überlegte und krauste die Nase. »Er soll viel Milch trinken, sich warm halten und die schmerzenden Gelenke mit einem Aufguss aus Zinnkraut umwickeln. Außerdem würde ein Tee aus Brautkraut, Schlüsselblume und den Zwiebelknollen der Herbstzeitlosen helfen, stimmt’s?«

»Sehr gut, mein Kind. Ich würde noch Rosmarin dazugeben. Er hat eine erwärmende Kraft. Die genauen Mengen stehen in meiner Rezeptsammlung. Könntest du die Mischung zusammenstellen? Ich glaube, mir würde schwindelig werden, wenn ich das Bett verließe.«

Sie konnte es, und einige Tage später war der dicke Jan eigens mit einem Schinken erschienen, um sich zu bedanken.

Er und Meinhardus machten es sich in der Apothekerstube gemütlich und sprachen über das Leiden des Fleischers, als Josefine mit einem Krug Wasser erschien.

Jan van Deelen verzog schmerzlich das Gesicht. »Seid Ihr sicher, dass Wein nicht besser ist?«

»Ganz sicher«, sagte Meinhardus. »Soll ich Euch eine Geschichte über das Zipperlein erzählen? Sie wurde mir in meiner Lehrzeit zugetragen.«

Der Fleischer rückte neugierig näher, und Meinhardus bedeutete auch Josefine, sich zu setzen.

»Zipperlein, das sind in Wahrheit hitzige Kobolde, die anfangs über einen armen Knecht herfielen. Doch so krank der Mann auch war, er quälte sich aufs Feld, denn ohne Arbeit gab es kein Brot. Die Schinderei und magere Kost waren jedoch nicht im Sinne der Kobolde, und so verließen sie den armen Knecht und quartierten sich bei einem reichen Kaufmann ein. Dieser versuchte alles, um die Zipperlein loszuwerden, jedoch ohne Erfolg. Selbst der Medicus wusste keinen Rat, denn mit Kobolden kannte er sich nicht aus. So verordnete er dem Reichen eine volle Speisekammer, guten Wein und ein weiches Bett. Er solle sich nur ja nicht bewegen und lieber die Dienstboten herumkommandieren. Das tat der gute Mann dann auch, und den hitzigen Kobolden gefiel es bei ihm so gut, dass sie es allen anderen Zipperlein weitersagten. Fortan ließ sich kein Quälgeist mehr mit arbeitendem Volk ein.«

»Ich schufte von morgens bis abends …«, erboste sich der Fleischer.

»Aber Ihr esst zu gut und trinkt zu viel.«

»Das sagt mir gerade der Richtige«, lachte der dicke Jan und wies bezeichnend auf Meinhardus’ gut gepolsterte Mitte. »Was habt Ihr mit Euren Kobolden gemacht?«

»Bei mir hält es kein Zipperlein lange aus. Dafür sorgt schon mein Bruder mit seiner scharfen Zunge. Er macht jedem den Garaus!«

Als der Metzger den Laden wieder verlassen hatte, klopfte Meinhardus seiner Tochter auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht!«

Von diesem Tag an wurde Josefine die Gehilfin ihres Vaters, und sie hätte sich nichts Schöneres vorstellen können. Sie bestückte die Schubladen neu, ordnete Spirituosen und stand hinter dem Tresen, um Pflaster und Salben, Weingeist und Liköre zu verkaufen. Josefine arbeitete mit Kräutern, Wurzeln, Früchten und Blumen. Sie pulverisierte getrocknete Rinderklauen, Walrosszähne und menschliche Hirnschalen genauso unbeeindruckt, wie sie mit Hingabe Gemsenkugeln zerlegte und abgestreifte Schlangenbalge und Kröten dörrte. Josefine verfertigte Essige, bereitete Öle zu und drehte Pillen.

Meinhardus ignorierte die Vorschrift, dass nur ein ausgebildeter Apotheker in die Geheimnisse der Formeln und der Künste eingewiesen werden durfte, und lehrte sie alles, was er wusste. Er tat dies nicht ganz uneigennützig: Josefines Hilfe verschaffte ihm die Freiheit, seinen Mittagsschlaf auszudehnen oder mit den Kräuterweibern und Honighändlern zu plauschen.

Bertram summte zufrieden, wenn Josefine in der Apotheke arbeitete, während Dietlinde, die den Meinens den Haushalt führte, ihr Tun aufs Schärfste missbilligte. Josefine störte das nicht, denn Dietlinde fand immer etwas zu mäkeln. Sie trug strenge schwarze Kleidung, war mürrisch und kantig, hatte den Umfang eines riesigen Kürbisses und schielte fürchterlich. Ihre Hände waren so groß wie Suppenteller und rutschten gerne aus – vornehmlich auf Josefines Hinterteil.

»Warum, um aller Heiligen willen, kannst du dich nicht benehmen wie andere junge Dinger auch? Was hat ein Mädchen von elf Jahren im Laboratorium einer Apotheke zu suchen? Warum vergeudest du deine Zeit damit, getrocknete Walrosszähne zu pulverisieren oder die Hinterlassenschaften von Schafböcken zu zerlegen? Kannst du mir das mal erklären?« Dietlindes Doppelkinn bebte. »Andere Mädchen in deinem Alter besticken Altartücher, backen stundenlang und setzen mit Verstand Butter an. All das sind nützliche Beschäftigungen. Wenn dich dein Vater weiterhin gewähren lässt, dann wirst du nie einem Haushalt vorstehen können.«

»Das will ich auch gar nicht. Ich finde es langweilig, Decken zu besticken, die dann doch nur mit Suppe vollgekleckert werden, oder Brote zu backen, die ich doch im Samson schon fertig kaufen kann.«

Dietlinde ließ nicht mit sich reden. Sie scheuchte Josefine in regelmäßigen Abständen zurück in die Küche und schimpfte mit Meinhardus über schlechte Erziehungsmethoden. Die Haushälterin hatte ein Talent dafür, ihren Zögling gerade dann zur Hilfe zu rufen, wenn es im Laboratorium interessant wurde. Kaum jemals schaffte es Josefine, ihrer Hartnäckigkeit zu entgehen. Vielleicht auch, weil Meinhardus immer reumütig klein beigab, wenn Dietlinde ihm seine Verfehlungen vor Augen hielt.

»Es ist schon schlimm genug, dass das Kind ohne Mutter groß werden muss, aber dann auch noch einen törichten Vater zu haben, der ihre Unarten fördert! Meinhardus! Ein Mädchen gehört hinter den Webstuhl und nicht zwischen Schmelztiegel und Mörser.«

Dietlinde war ins Haus gekommen, als Josefine noch in der Wiege lag, daher kannte sie nichts anderes als die kratzbürstige Hartnäckigkeit der Haushälterin, die sie um alles in der Welt zu einem brauchbaren Mitglied der Gesellschaft erziehen wollte. Jedes Abweichen von diesem Weg nahm Dietlinde als persönliche Niederlage. Die Haushälterin war eine Verwandte der Imhofs. Ihr verstorbener Mann hatte nichts als Schulden hinterlassen, und so wurde sie vor zweiundzwanzig Jahren bei Meinhardus und Bertram, denen Haushalt und Kind über den Kopf wuchsen, vorstellig. Josefine war erst wenige Wochen alt gewesen, als ihre Mutter die kleine Familie verließ, um sich einer Theatertruppe anzuschließen.

In Tulia hatte sich der damals schon vierzigjährige Meinhardus während einer Theatervorstellung verliebt. Die Komödiantin war in die Rolle einer Amazone geschlüpft, und an einem heißen Sommertag im Jahr 1691 hatte die Wanderbühne Rosenstolz ihre Zelte in Leer aufgeschlagen.

»Tulia trug einen Speer, und es schien, als habe Amor ihr diesen nur für mich in die zarte Hand gelegt. Wir verliebten uns auf der Stelle ineinander«, hatte Josefine ihren Vater schwärmen hören.

»Sie verliebte sich wohl eher in die klingenden Münzen, die du großzügig in ihren Beutel geworfen hast«, kam der trockene Kommentar von Bertram.

»Sie liebte mich! Jawohl! Doch eine wahre Künstlerin kann nicht auf ewig ihrer Bestimmung entsagen. Und so konnte sie nicht bei mir bleiben.«

»Ich dachte, sie hätte dich wegen des Hanswursts verlassen, der in ihrem neuen Stück die Hauptrolle spielte.«

»Sie ließ mich schweren Herzens zurück«, ignorierte Meinhardus den Einwurf seines Bruders, »aber gottlob mit einer Aufgabe, die mir keine Zeit zum Trauern ließ. Ich bin glücklicher Vater eines wunderbaren Mädchens.«

Dass diese Aufgabe nicht immer einfach war und Meinhardus’ Erziehung Gefahren in sich barg, zeigte sich kurz vor Josefines zwölftem Geburtstag. Schulmeister Reenke Böken suchte die Apotheke auf, um sich über sie zu beschweren. Er war ein großer, schlanker Mann Ende fünfzig. Ein Kranz spärlicher Haare zierte sein Haupt und ein Ziegenbart das Gesicht.

»Apotheker Meinen, ich beobachte jetzt schon seit geraumer Zeit, dass Ihr Eurer Tochter Freiheiten gestattet, die nicht rechtens sind, und verlange, dass das unterbleibt! Ansonsten sehe ich mich gezwungen, dies zur Anzeige zu bringen!« Er wies bezeichnend auf Josefine, die hinter dem Tresen stand. »Das ist es, was ich meine. Wie kommt Ihr dazu, dem Kind zu erlauben, in der Offizin zu stehen?«

»Schulmeister Böken, Josefine geht mir nur zur Hand …«

»Sie tut mehr als das! Eure Tochter erdreistet sich, anderen gesundheitliche Ratschläge zu erteilen.«

»Ich wollte Euch nur helfen«, rief Josefine. »Euer Husten …«

»Das bezweifle ich! Du wolltest dich über mich lustig machen!« Der Schulmeister wandte sich wieder Meinhardus zu. »Gestern, als ich Eure Tochter zu mir an das Pult gebeten habe, um ihr die Tagesaufgaben zu geben, hat sie die Frechheit besessen, mir lautstark das Verspeisen von Huflattichblättern gegen meinen Husten zu empfehlen. Ihr könnt Euch vorstellen, was das für ein Gejohle gab. Huflattich! Damit wischen sich bestenfalls Wanderer den Allerwertesten ab.«

Josefine kam aufgebracht hinter dem Tresen hervor. »Bei Bertram hat er wahre Wunder gewirkt. Dietlinde musste ganze Betttücher voll Rotz und Schleim waschen, und dann war die lästige Sache vorbei.«

»So ist es gewesen!«, nickte Meinhardus. »Auch ich hätte Euch zu Huflattichblättern geraten, sehr klein geschnitten und als Salat angerichtet. Josefine hat in bester Absicht gehandelt …«

»Auf derlei gesundheitliche Ratschläge, noch dazu vor meinen Schülern, verzichte ich dankend. Sorgt gefälligst dafür, dass Eure Tochter sich künftig zurücknimmt. Auch was Verdächtigungen angeht.«

»Verdächtigungen?«

»Sie unterstellt mir, ein Dieb zu sein!« Der Schulmeister wippte auf den Zehen.

Meinhardus blickte seine Tochter an und hob fragend die Augenbrauen.

»Ich habe nur gesagt, dass die übelriechenden Winde und der Durchfall, die den Schulmeister Böken plagen, von den vielen Birnen kommen, die er jeden Tag vom Baum des dicken Jan pflückt.«

Der Lehrer machte ein triumphierendes Gesicht. »Da hört Ihr es, Apotheker Meinen. Eure Tochter unterstellt mir, dass ich Obst vom Baum des Fleischers van Deelen stehle.«

Josefine runzelte die Stirn. »Ihr klettert doch jeden Morgen auf die Gartenmauer und …«

»Ich klettere auf keine Mauern!«

»Doch, das tut Ihr! Ich habe es genau gesehen.« Josefine trat einen Schritt auf den Schulmeister zu, kniff die Augen zusammen und wies auf eine Stelle an seinem Mantel. »Ihr habt ja sogar noch eine Birne in der Jackentasche. Der Stiel schaut aus einem kleinen Loch in der Naht.«

Der Schulmeister erstarrte für einen Moment, öffnete dann den Mund, schloss ihn jedoch wieder und rauschte ohne ein weiteres Wort aus dem Laden.

Meinhardus seufzte. »Mein Mädchen, du musst deine Zunge im Zaum halten.«

»Er hustet zum Gotterbarmen, stinkt aus dem Mund wie eine alte Ziege und aus dem …«

»Josefine! Und wenn er wie ein ganzer Misthaufen duftet – es ist seine Sache. Wenn der Schulmeister mich anzeigt, dann bin ich meine Konzession los.«

Josefine ließ den Kopf hängen. »Darf ich dir jetzt nicht mehr helfen, Meinhardus?« Tränen rannen über ihre Wangen.

Meinhardus streichelte ihr über den Schopf und seufzte traurig. »Jetzt, wo mich der Schulmeister auf dem Kieker hat, kann ich dich nicht weiter in der Offizin arbeiten lassen.«

»Aber in der Materialkammer und im Laboratorium. Bitte, Meinhardus!«

Ihr Vater nickte zögerlich.

Am Abend belauschte Josefine ein Gespräch zwischen Meinhardus und Bertram, dem jede Bissigkeit fehlte.

»Sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Meinst du, ich müsste ihr den Mund verbieten?«, fragte Meinhardus.

»Ich finde nichts dabei, die Wahrheit zu sagen, egal wem. Die Kinder sind zu bedauern, die es jeden Tag mit dem alten Stinksack aushalten müssen. Mir reicht es schon, wenn der verlogene Kerl ab und zu unsere wöchentlichen Versammlungen stört.«

»Trotzdem. Josefine ist so furchtbar altklug. Vielleicht stopfe ich ihr zu viel Wissen in den Kopf. All die Bücher, und ich rede den ganzen Tag … Aber sie fragt mich natürlich auch ständig. Stell dir vor, gestern wollte sie wissen, was der Schüttemeister mit den ›losen Weibern‹ gemeint hat.«

»Du hast ihr doch hoffentlich eine ehrliche Antwort gegeben, Meinhardus. Wenn sie mich fragt, dann rede ich nie drum herum. Josefine ist ein schlaues Mädchen und würde es sofort merken, wenn du sie anlügst.«

»Du hättest das Gesicht des Schulmeisters sehen sollen, als Josefine auf den Birnenstiel zeigte.« Die beiden Männer prusteten los. »Wenn sie nur nicht so vorlaut wäre.«

»Von wem hat sie das lose Mundwerk wohl?«

»Ich weiß, Bruderherz. Du glaubst also nicht, dass ich in der Erziehung zu nachgiebig bin?«

»Du und ich, wir sind vielleicht ab und an ein wenig zu weich, aber Dietlinde gleicht das wieder aus.«

Meinhardus lachte leise. »Was für ein Glück, dass wir sie haben. Strenger als Dietlinde wäre auch eine Mutter nicht. Sie hat Josefine nie etwas durchgehen lassen, sie nie verwöhnt, und sie erzieht meine Tochter nach bestem Wissen. Sie ist nicht dumm und steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden.«

»Außerdem hat die Frau ein gutes Herz – auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Und ihre Küche«, Bertram küsste seine Fingerspitzen, »vom Feinsten!«

»Was hätten wir nur ohne sie gemacht, damals, als Tulia ging?«

Eine Weile blieb es still.

»Vermisst du sie noch manchmal? Ich meine, Tulia?« Bertrams Stimme war so leise, dass Josefine seine Worte kaum verstehen konnte.

»Ja. So wie man im Winter den Sommer vermisst, mit all seinen Schmetterlingen und Blumen. Ich war schon ein alter Esel, aber mit ihr zusammen fühlte ich mich jung und unbeschwert. Tulia steckte so voller Leben und hatte ein großes Herz.«

»Wie kannst du so von ihr reden, wo das Frauenzimmer dich doch betrogen hat.«

»Es ist die Wahrheit. Tulia kann nur in Freiheit glücklich sein. Erinnerst du dich an den gelben Vogel, den ich vor vielen Jahren aus Amsterdam mitgebracht hatte? Anfangs ist er in dem großen Käfig herumgesprungen und hat gesungen, dass einem das Herz aufging. Doch dann wurde er immer stiller, verstummte schließlich und starb. Genauso wäre es Tulia ergangen, wenn ich sie festgehalten hätte. Manche Menschen können nur in Freiheit glücklich sein.«

»Hast du jemals wieder etwas von ihr gehört?«

»Nein. Aber in meinem Herzen weiß ich, dass uns eine ganz besondere Liebe verbindet, eine Liebe, die anders ist als all die Tändeleien, denen Tulia jetzt vielleicht nachjagt. Sie hat sich für die Freiheit entschieden, entscheiden müssen, um leben zu können, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass es ihr gut geht. So, wie ich hoffe, dass Josefine nicht zu sehr unter dem Verlust ihrer Mutter leidet.«

Darüber hätte Meinhardus sich nicht zu sorgen brauchen. Josefine vermisste ihre Mutter nicht, da ihr deren Abwesenheit nie bewusst geworden war. Konnte es einen besseren Ersatz geben als ihren Vater und ihren Onkel? Die beiden Männer wetteiferten förmlich um Josefines Gunst.

Bertram schaukelte sie als kleines Mädchen stundenlang auf seinen Knien und sang ihr Lieder vor, die er selbst erdacht hatte. Mit ihm durchstreifte sie Wiesen und Felder auf der Suche nach Kräutern und Beeren, aus denen er seine Aufgüsse und Liköre herstellte. Gemeinsam packten sie voller Spannung Kisten aus, die er bei Amsterdamer Händlern bestellte und die Dinge enthielten wie Rosenhonig, Mandelmilch, Konfekt oder überzogene Nüsse. Spannender noch war die Ankunft der Düfte, die Bertram aus Grasse kommen ließ. Die französische Stadt war seit vielen Jahren auf die Extraktion von Blütensaft, insbesondere aus Jasmin und Orangen, spezialisiert. Josefine konnte die Ankunft der neuen Parfüms kaum abwarten, genauso wie sie voller Vorfreude auf das Herstellen der Duftwässer war, in denen ihr Onkel die seidenen Abriebtücher tränkte! Nicht nur das Laboratorium, die ganze Apotheke schien sich dann in ein Blumenmeer zu verwandeln.

So wie Bertram ihre Sinne schärfte, so förderte Josefines Vater ihre Fantasie.

Meinhardus machte mit ihr ausgedehnte Spaziergänge durch den Ort und zum Hafen und unterhielt sie mit Geschichten über die ankernden Schiffe. Leer war Kreuzungspunkt der Straße von Münster nach Emden und des Weges, der von Bremen nach Groningen führte. Mit schweren Fuhrwerken konnte man die Straßen nur in trockenen Sommern passieren, da der Marschboden das Regenwasser nicht versickern ließ und sich große Tümpel bildeten. Die Versorgung mit Waren fand daher größtenteils auf dem Wasserweg statt. Meinhardus erzählte von fernen Ländern und anderen Sitten, von den vielen wunderbaren Dingen auf Gottes Erde, die es noch zu entdecken gab und natürlich von seiner Kuriositätenkammer und deren Schätzen. Mit ihnen wuchs Josefine auf. Jede Kostbarkeit, die ihr Vater erwarb, ließ auch ihr das Herz aufgehen. Josefine verbrachte Stunden damit, die Erwerbungen ihres Vaters zu zeichnen und mit Namen zu versehen.

Josefine lächelte leicht und kehrte mit einem tiefen Atemzug in die Gegenwart zurück. Sie konnte nicht ewig am Fenster stehen und träumen. Arbeit wartete auf sie! An die dreihundert Bündel mit Kräutern wie Beifuß, Bohnenkraut, Dill, Majoran, Minze, Rosmarin und Salbei hingen auf dem Dachboden und mussten akribisch untersucht werden. Einige brauchten mehr Licht und erhielten einen neuen Platz am Fenster, bei anderen überprüfte sie die kleinen Stoffnetze, die über den Bündeln angebracht waren, um die getrockneten Blüten aufzufangen.

Als Josefine fertig war, hörte sie draußen jemanden laut rufen und öffnete erneut das Fenster. Stirnrunzelnd betrachtete sie einen hageren kleinen Mann im schlecht sitzenden Reiseanzug, der sich bei der Waage aufgebaut hatte. Er stand neben einem Handkarren auf einem durchgesägten Fass, hielt ein braunes Fläschchen in die Höhe und verkündete in der Art eines Predigers die wunderbare Wirkung des flüssigen Inhalts. Seine Rede war so leidenschaftlich, dass die Locken seiner dunklen Perücke einen wilden Tanz vollführten. Der Marktschreier trug einen großen Sack um den Bauch gebunden und verkaufte vom Fass aus. Wie magisch angezogen, umringten ihn die Zuhörer.

»Ja! Ihr habt richtig gehört! Ich, Doktor Fernandes, darf euch hier und heute Maliks Drachensaft aus dem Orient anbieten. Dieser Saft kann mehr als jedes gewöhnliche Arzneimittel. Er reinigt die Adern, verdichtet die Körpersäfte und hilft dem traurigen Gemüte auf. Er schafft Hilfe bei gelähmten, schwindenden, erfrorenen und zitternden Gliedern, verbessert die Haut, lässt Sonnenflecken verschwinden – Altersflecken natürlich auch –, und er macht das Herz ruhig.«

»… und den Geldbeutel dünner«, stieß Josefine zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und durchbohrte mit den Fingern das Blütenstoffnetz in ihren Händen. Wieder einmal so ein Scharlatan! Was mochte er seinen Kunden wohl andrehen? Katzenpisse mit einem Hauch Rosenduft?

Josefine versuchte, sich zu beruhigen. Es brachte überhaupt nichts, sich aufzuregen und den Leuten die Augen zu öffnen. Sie wollten Wundermittel, und sie bekamen welche. Es war so widersinnig! Warum schrieben die Menschen einer Medizin aus fernen Ländern eine bedeutendere Wirkung zu als dem, was sie kannten? Warum wurden arabische Traumdeuter, kabbalistische Lehrer oder selbst ernannte Wunderheiler wie dieser Kerl als weise angesehen, während man die Rezepturen ihres Vaters misstrauisch beäugte?

Erst gestern hatte der alte Dirkohm gezetert, als Meinhardus ihm zu einem Aufguss aus den Wurzeln des Salomonssiegels für seine schlecht heilende Kopfwunde riet.

»Salomonssiegel? Das ist doch die Pflanze, die Hexen den Garaus macht. Es sorgt dafür, dass sie sich die Seele aus dem Leib kotzen. Du willst wohl den guten alten Dirk vom Erdboden tilgen, was?«

»Übelkeit und Erbrechen verursachen nur die beerenartigen Früchte, mein Guter«, hatte Meinhardus zu erklären versucht. »Die Wurzeln, in heißem Wasser eingelegt …«

Mit einer Handbewegung hatte der Alte Meinhardus zum Schweigen gebracht, und noch auf der Straße hörte Josefine ihn zetern: »Dieser Furz von einem Apotheker will mir Zauberkraut verkaufen!«

Und dann Reemtje, die junge Frau von Gerd dem Tonnenträger. Josefine hatte sich das Lachen verbeißen müssen, als sie am Montag, gegen Abend, mit einem in Essig eingeweichten Schwarzbrot vor der Stirn in der Offizin erschienen war.

»Ich habe es mir vom Mund abgespart, Herr Apotheker, doch es vertreibt das Brummen im Schädel nicht im Geringsten.«

»Gesüßter Ringelblumentee, meine liebe Reemtje, der wird dir besser helfen! Trink ihn am besten jetzt gleich und geh dann früh schlafen.«

»Ringelblumentee?« Reemtje hatte erschrocken die Augen aufgerissen. »Ne, ne, das ist mir zu gefährlich! Die alte Annamö sagt, wenn man in hellen Nächten einen Ringelblumenaufguss trinkt, dann träumt man von seiner heimlichen Liebe. Nicht auszudenken, wenn ich den Namen laut herausposaune. Mein Gerd schlägt mich tot!«

Meinhardus hatte sich nicht die Mühe gemacht, von Unsinn und Aberglauben zu sprechen, sondern ihr die Zutaten für einen Nelkentee mitgegeben.

Die Stimme des Wunderheilers drang erneut an Josefines Ohren.

»Mein Allheilmittel vertreibt jede Art von Krankheit – selbst die Pest. Auch für junge Mädchen gibt es nichts Besseres als Maliks Stärkungssaft. Es ist eine Verschönerungskur von innen. Denkt an eure Töchter, ihr Frauen. Sichert euch einen vermögenden Eidam durch glänzendes Haar und seidige Haut. Morgen bin ich fort, und ihr müsst wieder mit den abgedroschenen Arzneien dieser alten Apotheke vorlieb nehmen …«

Abgedroschene Arzneien! Das war ja wohl die Höhe. Wütend schloss Josefine das Fenster. Sie warf das Blütennetz auf den Boden und eilte die Treppe hinunter. Der laute Gong, mit dem Dietlinde alle zum Mittagessen rief, ertönte und Josefine hörte, wie Meinhardus die Ladentür schloss. Entschlossen schnappte sie sich einen Umhang vom Kleiderhaken und verließ das Haus durch den Nebeneingang. Das Essen würde warten müssen.

Draußen überfiel sie wieder das Geschrei, mit dem der selbst ernannte Wunderheiler sein Medikament anbot. Viele aus der Zuhörerschaft hatten das Allheilmittel schon gekauft und hielten es so vorsichtig in den Händen wie einen Säugling. Josefine blieb ungeduldig stehen, um ein Fuhrwerk passieren zu lassen. Dem Kutscher gelang es nur mit Mühe, sich mit seinem schwerfälligen Gefährt einen Weg durch die immer größer werdende Menge zu bahnen. Der Quacksalber war wirklich die Attraktion des Tages!

Josefine schob sich an einer Gruppe von Waschfrauen mit weißen Hauben und Schürzen vorbei, nickte dem Samtschneider zu und grüßte etliche Tonnenträger und Matrosen. Der hagere Wundermeister auf seinem Fass hielt in der Rechten ein Horn, in das er jetzt stieß, und reckte die Linke mit dem zugestöpselten Fläschchen hoch in die Luft.

»Hier spielt die Musik! Kommt alle herbei und hört von dem Wundermittel, das euch Schönheit verleiht und Krankheiten den Garaus macht! Ihr Alten, kommt nach vorn und hört! Maliks Stärkungssaft hat die Kraft, euer Leben um einiges zu verlängern. Wollt ihr hundert Jahre alt werden? Sollen auf eurem kahlen Kopf wieder Locken sprießen? Es kann geschehen, wenn ihr nur wollt!«

Wieder stieß er in sein Horn, und noch mehr Menschen eilten hinzu. Köche und Mägde kamen aus den Häusern gerannt, Angetrunkene aus den Gaststuben. Kinder strömten von überall herbei, redeten aufgeregt miteinander und ließen sich vor dem Holzfass auf dem Boden nieder.

»Das orientalische Elixier fördert die Verdauung und hilft bei Blähungen. Hat jemand ein Weib im Wochenbett liegen?« Mehrere Hände reckten sich in die Luft. »Bringt ihr den Drachensaft, und schon morgen wird die junge Mutter ihrem Haushalt wieder in voller Kraft vorstehen können. Leer hat doch einen Hafen. Wo sind die Seeleute unter euch?« Der Scharlatan hielt gespielt Ausschau. »Fahrensmänner! Ihr fürchtet nicht Piraten und Krieg, sondern die Mundfäule? Dem kann abgeholfen werden!« Wieder hielt er das Elixier in die Höhe.

Josefine verzog angewidert den Mund. Sie trat an den Karren, in dem drei Körbe voller Glasflaschen standen und nahm eine heraus. Der Marktschreier beobachtete sie verblüfft.

Grimmig betrachtete Josefine das Etikett. So hatte sie es sich vorgestellt! Weder Angaben zu den Inhaltsstoffen noch eine Dosieranleitung, geschweige denn ein Hinweis auf die Nebenwirkungen. Nur Versprechungen. Eine voll erblühte Rose war auf dem Etikett abgebildet. Hilft gegen jedwede Erkrankung. Josefine zog den Korken heraus und schnupperte. Auf jeden Fall enthielt der ›Stärkungssaft‹ Knoblauch und Pfingstrose.

Mit spitzen Fingern legte Josefine das Glasfläschchen zurück. Sie baute sich vor dem Quacksalber auf und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Ich würde Euch gerne eine Frage stellen.«