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Totgesagte leben länger... oder vielleicht doch nicht? Als sich nach Elfi Vohwinkels plötzlichem Tod in Fuensanta ihr Mann Christof und ihre Schwester Male bei ihrer Exhumierung erneut gegenüberstehen, ist der Sarg nicht nur zu Rechtsanwalt Burhems großem Erstaunen leer. Für Male steht fest: Christof hat Elfi ermordet! Der Ehemann verstrickt sich in Widersprüche, liefert dann aber ein stichfestes Alibi, was jedoch nichts daran ändert, dass Male weiterhin von seiner Schuld überzeugt bleibt. Nur Dr. Burhem lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und macht eine interessante Entdeckung: Das Foto einer gewissen Madame Sedlacek sieht Elfi verblüffend ähnlich. Wer nicht gestorben ist, muss doch noch am Leben sein... -
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Seitenzahl: 531
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Rudolf Stratz
Saga
Das Geheimnis von FuensantaCover Bild: Shutterstock Copyright © 1926, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507261
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
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– a part of Egmont www.egmont.com
Nette Zeit! — Fünf Uhr in der Früh!“ Der Medizinalrat gähnte, während er vor dem Friedhofseingang aus dem Auto kroch. Er schaute zurück. Dort hinten verschwamm, im Dunst des blassblauen Junimorgens, ein endloses Häusermeer. „Jetzt steigen die Leute in Berlin erst aus den Betten!“
„. . . und die Toten aus den Gräbern . . .“
Der Begleiter des Gerichtsarztes sprach das beiläufig. Er ging auf das trotz der frühen Stunde schon offene Gittertor zu, woe in alter Wärtet mit dem Schlüsselbund in der Hand Wache hielt.
„Ich bin der Rechtsanwalt Doktor Albert Burhem!“ sagte er schnell und nervös. Unruhe zuckte auf seinem glattrasierten, scharfen Gesicht. Er griff ungeduldig nach einem Stück Papier in der Hosentasche. „Hier der amtliche Zulassungsschein für mich als den Rechtsfreund der Familie Matteis, zu der für heute fünf Uhr morgens behördlich angeordneten Exhumierung der Leiche der Frau Elfriede Vohwinkel, geborenen Matteis!“
„Jerade die Allee lang und den zweiten Weg links, Herr Doktor!“ Der Alte legte die Hand an den roten Mützenstreifen und wante sich dem zweiten, dem Graubart, zu. „Morjen, Herr Medizinalrat! Ooch mal wieder hier bei uns stillen Leuten? Det scheint ja heute wieder ’n janz fauler Zimt zu sein! Jestern, bis das Tor jeschlossen wurde, war schon ein Menschenjedrängel um das Irab von der jungen Frau! Ob bei der ihren Tod wirklich nich allens mit rechten Dingen zugegangen sei, wollten die Leute von mir hören! ,Kann ick det wissen?‘ hab’ ick jesagt. ,Davon hat det Jericht selber noch keenen richtigen Bejriff von ’ner blassen Ahnung!‘“
„Wir werden ja sehen, lieber Freund!“ Der Kreisarzt schüttelte kurz und abwehrend den Kopf. Er und der Rechtsanwalt gingen den breiten Sandweg entlang. Sie streiften mit den Strohhüten die taufeucht niederhängenden Trauerweiden. Still standen die schwarzen Türme der Zypressen. Diamantene Wassertropfen funkelten an den Farnstauden und Grashalmen. Finkenschlag und Spatzengezirpe allein trillerte in der tiefen Morgenstille. Dann räusperte sich der Rechtsanwalt Burhem. Sein ironisch kluges Gesicht sah plötzlich resigniert und müde aus, älter als vorhin.
„Jetzt steigen die Toten aus den Gräbern . . .,“ wiederholte er, aus seinen Gedanken heraus. Er wurde in einer raschen Veränderlichkeit seines Wesens mit einem Schlag wieder lebhaft. Sein hageres Antlitz — an sich ein mathematisches Antlitz voll Verstandeslinien — füllte sich mit dem beweglichen Widerspiel neuer Einfälle. Er putzte gewohnheitsmässig seinen goldenen Zwicker, setzte ihn wieder auf und betrachtete das Gewimmel der Grabsteine umher.
„Haben Sie eigentlich einmal darüber nachgedacht,“ sagte er rasch und vertraulich zu dem kleinen, dicken, alten Herrn neben ihm, „dass die wenigsten Menschen leben? Weitaus die meisten Menschen sind schon längst wieder tot! Wenn es zu einer Abstimmung käme, würde der Tod mit zehn Pferdelängen über das Leben siegen! Die Toten sind — ganz unter uns — in einer kolossalen Überzahl! Also warum schlägt man sich zur Minderheit! Warum lebt man? Oder legt so viel Wert auf das Leben? Es ist doch nur ein Übergang vom Nichts ins Nichts. Der Genuss eines ganz kurzen Erbrechts!“
„Ihre Sorgen möchte ich haben, Herr Doktor!“
„Wissen Sie, wo mir das dämmerte? Bei ’ner Testamentseröffnung, vor Jahren, in einem alten Ahnenschloss! Immer dreissig Vorfahren an den Wänden auf einen der drei noch Lebenden! Unten in der Gruft die Kerzen in unserer Hand nur wie Lichtpünktchen in der schwarzen Nacht über unzähligen Särgen. Dieses Lichtpünktchen nennt man nun grossartig das Leben. Lachbar! Das Leben ist einfach eine kurze Unterbrechung des Todes. Diese Unterbrechung ist unnötig! Das Leben ist ’ne miserable Angewohnheit! Immer rundum — wie ’n Karussell! . . . Höherer Stumpfsinn . . .“
„Sie sehen so gelb aus! Sie haben sicher wieder die Nacht durchgespielt!“
„Ja — was soll man denn sonst nachts machen?“
„Schlafen!“
„Ich schlafe doch nicht. Schon seit zwei Jahren, seitdem ich geschieden bin, nicht mehr! Seitdem kann ich die Weiber nicht recht leiden. Und die Männer mag ich auch nicht! Na — und sonst hat die Schöpfung doch nicht viel auf Lager!“
Auf dem hageren, scharfen Antlitz des Rechtsanwalts Burhem kämpfte wieder, wie Sonne und Schatten im April, die logische Kälte juristischen Denkens mit dem heissen Kampftemperament des Verteidigers.
„Nee — mir ist manchmal katzenjämmerlich zumut, lieber Medizinalrat! Dann frage ich mich: was hat denn das alles eigentlich für einen Zweck?“
„Was denn — alles?“
„Na — Gott: alles! — Berlin da hinten — die Grabkreuze da vorn — alte und neue — die Kapelle dort drüben — das Leben — der Tod . . .! Zu so ’ner ausgefallenen Stunde wie jetzt, wo jeder vernünftige Mensch zu Bett geht, finde ich das Leben sträflich langweilig! Nie was Neues!“
„Und das sagen Sie, Doktor Burhem?“ Der alte Herr blieb entrüstet stehen. „Sie, den Tausende Ihrer Kollegen beneiden — der es mit noch nicht vierzig zu einem der berühmtesten Verteidiger von Berlin gebracht hat — der Geld verdient, wie er nur will, der über eine wahrhaft unheimliche Beredsamkeit verfügt — der dabei — verzeihen Sie, aber ich habe Sie zu oft im Gerichtssaal gehört — zugleich eine phänomenale Klarheit des Denkens besitzt . . .“
„Es müsste mal was Besonderes passieren!“ sagte sinnend der Rechtsanwalt Burhem, ohne recht zuzuhören. Der Medizinalrat marschierte zornig weiter.
„Sie, der Sie in den grössten Sensationsprozessen der letzten Jahre als Verteidiger die Hauptrolle spielten . . .“
„Sensationen?“ Der Rechtsanwalt betrachtete zerstreut im Vorbeigehen die Grabsteine . . . „Sensationen sind meist das Alleralltäglichste! Es gibt nichts Banaleres als Sensationen!“
„Sie hatten doch Fälle, bei denen einem der Atem stillstand!“
„Das Allerlangweiligste auf der Welt sind die sogenannten interessanten Fälle!“ Der Jurist bog mit dem Arzt in den Seitengang zur Linken. „Zum Beispiel diese Affäre hier, heute morgen — mit der Ausbuddelung dieses Sarges — obwohl ganz Berlin seit vier Wochen davon spricht! . . . Sehen Sie mal: da ist also eine reizende junge Frau — gekannt habe ich sie nicht — aber alle Welt sagt: sie war reizend. Die reizende junge Frau stirbt vor einem Jahr. Nein. Sie stirbt eigentlich nicht. Denn ihr Bild bleibt doch in der Erinnerung derer, die sie kannten. Noch in fünfzig Jahren murmelt ein Greis, der jetzt eben die Wahlmündigkeit erreicht hat: Gott — was war sie reizend! Aber mit dem schönen Bild begnügen wir uns nicht. Wir sind moderne Menschen. Wir sind Hunnen. Wir zerteppern, wenn’s sein muss, den schönsten Regenbogen. Wir reissen die sterblichen Überreste von etwas, was einmal reizend war, aus dem Grab, nur, um uns die Vergänglichkeit alles Irdischen zu Gemüte zu führen . . .“
„Warum haben Sie denn dann dabei die Vertretung der Familie Matteis übernommen?“
„Weil ich im letzten Jahr schon wiederholt Rechtsbeistand der Automobilfabrik Emil Matteis A.G. draussen an der Oberspree war, deren Aktien . . .“
„Gestern an der Nachtbörse 117 Geld — ich wollt’, ich hätte welche!“
„. . . also deren Aktien sich sämtlich im Besitz der Familie befinden! Nachdem Fräulein Matteis mich nun ausdrücklich gebeten hatte, hier dabeizusein . . .“
„Wieso Fräulein Matteis und nicht die Eltern?“
„Der Vater ist doch schon längst tot, und die Mutter hat nichts zu sagen. Fräulein Matteis ist der Mittelpunkt der Familie und die Seele vom Geschäft . . .“
„Die Rennfahrerin?“
„Ja. Auch. Nebenbei. Alles für die Firma. Für die Firma fährt sie auch nach dem Mond. Also nachdem dieses höchst energische Fräulein Matteis nun einmal vorsätzlich und seit Wochen das unbestimmte Gerede, mit dem Tode ihrer Schwester stimme etwas nicht, gegen ihren Schwager in Umlauf gebracht un ganz Berlin, einschliesslich der Behörden, in Aufregung versetzt hat, kann ich, als Rechtsfreund der Firma und Familie, ihr meinen Beistand nicht versagen! Klar — nicht?“
„Sagen Sie mal . . . ich wollte die ganze Zeit schon den Entschluss fassen und Sie im Vertrauen fragen: Glauben Sie, für Ihre Person, denn wirklich, dass bei dem Tod der jungen Frau Vohwinkel nicht alles in Ordnung war?“
„Ich glaube gar nichts!“ sagte der Rechtsanwalt Burhem schroff. „Wir werden in der nächsten Stunde in unbefugter Weise die Ruhe des Todes stören. Wir werden ein Etwas der Erde entreissen, das vor einem knappen Jahr noch eine der hübschesten und elegantesten Frauen von Berlin war — viel hübscher noch als ihre jüngere Schwester, die Male Matteis — sagt man wenigstens allgemein! Ich habe diese arme Elfi Vohwinkel nicht mehr gekannt. Ich trat erst später mit der Familie Matteis in Berührung . . . Überhaupt: warum ist denn ein so alter Mann wie Sie noch so neugierig?“
„Sind Sie’s denn gar nicht?“
„Worauf denn? Wir werden ans Werk gehen! Wir werden feststellen, ob der Architekt Christof Vohwinkel im Grunewald bei Berlin falsche Angaben über den im Ausland erfolgten Tod seiner Gattin Elfi gemacht hat, wie es seine Schwägerin Male jedem, der es hören will, erzählt, oder nicht! An sich ist das eine so gleichgültig wie das andere. Es geht wirklich niemanden etwas an, ausser den Beteiligten und dem Untersuchungsrichter!“
„Da drüben steht der Richter schon an dem Grab! Neben den Arbeitern mit den Schaufeln!“
„Und noch zwei Herren!“
„Der blonde Jüngling mit der Mappe unter dem Arm ist offenbar der Gerichtsschreiber! Aber der andere, der wie ein Heldenschauspieler aussieht? . . . Ein auffallend schöner Mensch — finden Sie nicht auch? — nur elend bleich . . .“
„Es gibt doch noch etwas Neues unter der Sonne!“ sprach der Rechtsanwalt Burhem dankbar und förmlich erleichtert.
„Was denn — um Gottes willen? Wenn Sie das schon sagen. . .“
„Dieser schlanke, grosse Mann dort drüben,“ der Verteidiger hatte, um besser zu sehen, seinen goldenen Zwicker abgerieben und wieder aufgesetzt, „dieser Mann mit dem bartlosen, südlichen Krauskopf, der, wie Sie richtig bemerken, mit seinem breitrandigen Schlapphut und seinem etwas zu hellgrauen, tadellosen Sommeranzug an einen Künstler, erinnert, ist in Wirklichkeit ein Stück Künstler — nämlich ein sehr gesuchter Berliner Architekt, des Namens Christof Vohwinkel . . .“
„Was . . .?“
„. . . und bringt es tatsächlich fertig, sich persönlich zu der von ihm beantragten Exhumierung einzufinden!“
„. . . das spricht für sein gutes Gewissen!“
„. . . oder für seine guten Nerven!“
„Oder für beides!“
Der Medizinalrat und der Verteidiger näherten sich dem prunkvollen, von einem schmiedeeisernen Kunstgitter umschlossenen schwarzen Marmorobelisken, auf dem eine Inschrift mit noch ganz frischen Goldlettern verkündete, dass Frau Elfriede Vohwinkel, geborene Matteis, im blühenden Alter von sechsundzwanzig Jahren, vor einem Jahr, in dem Dorf Fuensanta, nahe der Stadt Orihuela, in der spanischen Provinz Murcia, rasch und unerwartet durch ein Klimafieber ihrem Gatten, ihrer Mutter und Schwester entrissen worden war. Der Rasen rings um das Grabmal und der Kiesweg davor war, noch vom gestrigen Tag her, durch die Fussspuren von Hunderten von Neugierigen zertreten. Seitlings, unter dem Fliedergebüsch, staute sich ein Stapel übereinander geworfener frischer und welker Blumensträusse und Kränze. Da, wo sie um den Sockel der Säule gelegen, knirschten jetzt die Schaufeln der Arbeiter im Erdreich. Die braunen Schollen flogen taktmässig aus der Grube, türmten sich am Rand zu einem Haufen und füllten die kühle Morgenluft mit einem würzigen, weisslichen Dunst.
„Sie sehen: ich bin schon mitten in der Arbeit drin, Herr Doktor Burhem!“ sagte der Richter, ein alter Waffenstudent mit einem Durchzieher vom Mundwinkel bis zum Ohr und gespaltenem Nasenflügel. „An sich ist ja auch nach der Strafprozessordnung Ihre Anwesenheit durchaus nicht erforderlich!“
„Sehr liebenswürig! Aber die Teilnahme des Witwers bei diesem unbehaglichen Akt hier noch viel weniger!“
„Ich habe den Mann nicht eingeladen! Aber ich besitze keine gesetzliche Handhabe, ihn fortzuschicken. Na — der olle Medizinalrat redet ihm ja dort ernstlich ins Gewissen!“
„Ich hatte, bis jetzt eben, nur das Vergnügen, Sie aus den steinernen Kindern Ihrer Laune — so manchem aparten Landsitz im Grunewald und am Wannsee — zu kennen, Herr Architekt Vohwinkel!“ sagte drüben an dem halb offenen Grab der graubärtige Gerichtsarzt. „Gestatten Sie mir, da wir uns nun persönlich nähergetreten sind, eine offene Bitte: Gehen Sie! . . . Lassen Sie uns, die wir hier amtlich anwesend sind, mit dieser Sache hier allein! Ich bin ein alter Praktikus! Sie sind ein Laie! Sie muten Ihren Nerven hier eine Belastung zu, die völlig unnötig ist!“
Der schöne, schlanke Mann ihm gegenüber hatte den breitrandigen Künstlerhut abgenommen. Er fuhr sich gereizt und unruhig mit der flachen Hand über sein krauses, dunkles Haar. In seinen regelmässigen, glattrasierten, sehr bleichen Zügen hatte der Mund etwas Weichliches. Weich war auch der Ausdruck seiner blau umschatteten Augen. Über Mittelgrösse, in der Straffheit seiner dreissig Jahre, musste er sich zu dem kleinen, graubärtigen Medizinalrat hinabbeugen, während er helblaut, mit einer vor Zorn und Erregung zitternden Stimme, aber doch ruhig, sagte: „Ich habe die Exhumierung bei Gericht beantragt! Zur Ermittlung der Wahrheit! Ich fürchte die Wahrheit nicht! In keiner Form! Darum bin ich hier!“
„Was gäbe der Mann für einen diskreten Schauspieler!“ murmelte drüben der Rechtsanwalt Burhem. Neben ihm die Stimme des Richters: „Wir wissen noch durchaus nicht, Herr Doktor, ob er ein Schauspieler ist!“
„Ich wollte mich natürlich auch in keiner Weise über den Fall selbst äussern! . . . Mur — wie der Mann jetzt eben sprach — ich fühlte so im Ohr — Gott weiss, wieso und woher — so ein Paar merkwürdige Theatertöne . . .“ Der Verteidiger ging auf den Architekten zu. Er reichte ihm nicht die Hand. Er lüftete nur, mit einer kühlen Verbeugung, den Hut. „Mein Name ist Burhem! Sie entsinnen sich vielleicht: wir trafen uns schon neulich einmal, im Zimmer des Herrn Untersuchungsrichters hier, bei Ihrer Vernehmung!“
„Und jetzt sind Sie im Auftrag meiner Schwägerin Male Matteis hier erschienen?“ sagte der schöne Mann.
„Als Vertreter der Familie Matteis!“
„Die Male und die Familie Matteis sind ein und dasselbe — be idem Schreckensregiment, das meine Schwägerin über ihre Mutter, über die Fabrik und den ganzen dazugehörigen Klüngel von Philistern führt! Sie werden zugeben: ohne Ihre Klientin, Herr Doktor, wäre es nie zu der Szene gekommen, die uns jetzt bevorsteht!“
„Ich habe hier nur ein Amt und keine Meinung, Herr Vohwinkel!“
„Aber wenn, durch diese furchtbare Formalität, alle die dunklen Gerüchte über den Tod meiner armen Frau zerstreut sind, die Fräulein Male Matteis seit Monaten in Berlin verbreitet, und ich in wenigen Stunden gerichtlich gerechtfertigt dastehe,“ der Architekt Christof Vohwinkel hob sich in den Schultern — jetzt sah man an der harten Energie der Stirnfurchen, dem kaltblütigen, rasch entschlossenen Ausdruck der Augen, dass er nicht nur ein Liebling der Frauen, sondern auch ein Mann des Berliner Erfolgs war —, „dann, Herr Rechtsanwalt Burhem, werde ich mir erlauben, gegen mein Fräulein Schwägerin schonungslos wegen Verleumdung vorzugehen! Das können Sie der jungen Dame in meinem Namen ausrichten!“
„Ich habe Fräulein Matteis natürlich schon längst pflichtmässig darauf aufmerksam gemacht, dass sie unter Umständen eine empfindliche Strafe riskiert! Zwei Jahre Gefängnis im Höchstfall sind nicht von Pappe! Eindruck hat mein Sermon auf Fräulein Matteis nicht gemacht! Sie wolle Gewissheit haben — sagt sie — um jeden Preis!“
„Sie soll den Preis, der ihr gebührt, kriegen! Ich bringe meine teure Schwägerin schon noch hinter Schloss und Riegel! Melden Sie ihr das nur: ich sei entschlossen, diesen Kampf mit ihr bis zum bitteren Ende zu führen!“
„Darf ich bitten, jetzt die Privatgespräche beiseite zu stellen!“ sagte herantretend, durch das Kollern der Erdbrocken, der Richter. „Herr Vohwinkel, da Sie nun schon einmal da sind, wollen wir die Zeit bis zur Beendigung der Ausgrabung nutzen und den Herrn Medizinalrat, für seine Untersuchung nachher, ein wenig über den Fall orientieren! Also Sie befanden sich, jetzt gerade vor ungefähr einem Jahr, mit Ihrer Gattin in Spanien?“
„Ja. In einem kleinen Dorf, eigentlich einer Palmenoase aus der Maurenzeit, in der südspanischen Provinz Murcia!“
„War es denn da, im Sommer, nicht blödsinnig heiss?“
„Es herrschte eine afrikanische Temperatur! Man nennt diese Gegenden im Spanischen die Bratpfanne!“
„Und in diese Bratpfanne mussten Sie hinein?“
„Auf Drängen meiner Frau. Eigentlich wollte sie nach Afrika. Das war im Juni ganz unmöglich. So bot ich ihr Südspanien als Ersatz!“
„Warum gingen Sie denn nicht lieber mit Ihrer Gattin irgendwohin, wo es nett war — nach Heringsdorf — oder Norderney — oder meinetwegen an den Lido?“
„Sie haben meine Frau nicht gekannt!“ sagte der Architekt Vohwinkel langsam. „Sie war äusserlich der verhätschelte Liebling ihrer ganzen Umgebung, innerlich ein zerrissener, ewig suchender, ewig sich nach irgend etwas sehnender Mensch. Sie hatte alle Möglichkeiten, glücklich zu sein, und fand das Glück nie und schob die Schuld daran allen anderen Dingen und Menschen, nur nicht sich selber zu. So war ihr, jetzt vor einem Jahr, auf einmal alles um sie herum, hier im gewohnten Geleise des Lebens, verhasst. Sie war in einer krankhaften, nervösen Stimmung. Nur fort! Fort! Aus Berlin! Aus Deutschland! Womöglich aus Europa! An irgend einen ganz entlegenen Ort am Ende der Welt . . .“
„. . . aber mit Ihnen zusammen?“
„Das eben war ja der Zweck dieser . . . dieser Flucht in die Wüste — möchte ich sagen . . .“
„Herr Vohwinkel, ich verstehe nicht ganz! Sie und Ihre Gattin lebten doch auch in Berlin beieinander . . .“
Der Architekt Vohwinkwl schwieg eine Weile. Auf seinem schönen, etwas verächtlichen Gesicht kämpfte ein Entschluss.
„Es war die Eifersucht!“ sagte er dann. „Es ist ja kein Geheimnis: ich gelte — natürlich masslos übertrieben — für einen Mann, der viele Erfolge beim andern Geschlecht hat — sogar dann, wenn er sie nicht sucht! Das bildete, wie alle Welt, auch meine Frau sich ein, weil es ihr von allen Seiten eingeredet wurde. Das war ihr Kummer — das war ihre fixe Idee. Ihre Hoffnung: sie wollte mich einmal ganz für sich haben — ohne irgend einen Dritten! Oder vielmehr eine Dritte! Wochenlang! Dann würde alles gut. Ich tat ihr den Willen. So gerieten wir in dieses Stück Spanien, das unbekannter ist, als manches Land in Afrika.“
„Wie lange waren Sie im ganzen verheiratet, Herr Vohwinkel?“
„Zwei Jahre.“
„Nun — und in diesem Dorf — ich kann mir den Namen nicht merken . . .?“
„In Fuensanta wohnten wir einige Wochen in der einzigen vorhandenen Fonda Parador de San Joaquin. In dieser Maultiertreiber-Herberge muss meine Frau etwas gegessen haben, was ihr bei der glühenden Hitze nicht bekam. Sie erkrankte schwer. Der Arzt dieses Distriktes, Doktor Francesco-Javier Muñoz y Macha, konnte sie nicht retten. Sie starb innerhalb von achtundvierzig Stunden. Der von dem Doktor ausgestellte amtliche Totenschein befindet sich bei Ihren Akten. Ich erfüllte in Spanien alle Formalitäten. Ich machte dem Alkalden und dem Pfarrer, Don Luis Jesus Maria Bustillo, Anzeige. Die Einsegnung der Leiche musste bei der grossen Hitze rasch erfolgen. Ich erwirkte von den spanischen Behörden die Erlaubnis zur Überführung des Sarges nach Deutschland und bestattete ihn, nach Erfüllung aller hiesigen gesetzlichen Vorschriften, hier an Ort und Stelle. Man kann nicht umsichtiger, korrekter und pietätvoller verfahren, als ich es tat. Mich trifft wahrlich nicht der Schatten eines Vorwurfs.“
„Und — damit wir uns ganz richtig verstehen — dieser Sarg hier unten in der Tiefe ist der, den Sie selbst aus Spanien überführten . . .?“
„. . . und den ich vor meinen Augen hier in der Erde versinken sah!“
„Gut — dann müssen wir diesen Sarg jetzt noch einmal auf kurze Zeit aus der Erde ans Tageslicht bringen!“
Zwischen dem lockeren Erdgeröll in der Tiefe blinkten jetzt schon an einzelnen Stellen die verrosteten Flächen eines Zinksarges. Die Arbeiter knieten in Hemdärmeln und bastelten mit Stahltrossen, die sich wie dünne Schlangen in ihren Fäusten wanden, und knüpften sie um den noch halb unsichtbaren, schweren Metallkasten da unten. Der Medizinalrat hatte sich steifbeinig rücklings in die Grube rutschen lassen, sammelte dort Sand- und Lehmproben und stopfte sie in ein verschraubbares Aluminiumgefäss. Der Untersuchungsrichter und der Gerichtsschreiber sahen ihm zerstreut zu. Der Architekt Vohwinkel stand neben ihm so ruhig, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Der Rechtsanwalt Burhem lief ungeduldig mit kleinen, schnellen Schritten auf und ab. Plötzlich machte er jäh halt und schnalzte ärgerlich mit der Zunge.
„Das hat gerade noch gefehlt!“ murmelte er nervös. Er schob mit einem flüchtigen „Pardon!“ den Protokollführer beiseite und eilte den Kiesweg entlang. Von der Hauptallee her näherte sich da, flüchtigen und energischen Schrittes, eine junge Dame im weissen Sommerkleid und Strohhut mit weissem Band auf dem kurzen, dunkelblonden Haar. Sie war mittelgross, von sportschlanker, aber kräftiger Gestalt, nicht hungerdünn, sondern mit den Umrissen ihres Geschlechts. Ihr hübsches Gesicht war von festem Schnitt, mit dem sachlichen kühlen Ausdruck des modernen Mädchens. Sie hatte den Mund atemlos halb offen. Sie richtete ihre hellbraunen Augen zornig auf den Rechtsanwalt. Sie rief schon von weitem mit heller erregter Stimme: „Das ist ja wirklich reizend von Ihnen, Herr Doktor!“
„Sind Sie denn verrückt geworden, Fräulein Matteis?“
„Sie geben mir mit keinem Wort Nachricht, dass heute die Exhumierung stattfindet! Zufällig habe ich es vorhin erfahren! Ihr Chauffeur hat es gestern abend unserm erzählt und der wieder meinem Mächen! Und die entschloss sich schliesslich, mich heute bei Sonnenaufgang zu wecken und mir’s ins Ohr zu schreien . . .“
„Und da sind Sie hier heraus . . .?“
„Da bin ich!“
„Sie werden doch nicht die wahnsinnige Idee haben, sich . . . sich mit dahin stellen zu wollen . . .?“
„Nein. Das natürlich nicht!“ Male Matteis wurde etwas blass. Sie war noch immer ausser Atem. „Aber irgendwo in der Nähe muss ich bleiben und erfahren, was vorgeht . . .“
„Sie hätten zu Hause bleiben sollen . . .“
„Ich halte es zu Hause nicht aus! Ich bin viel zu aufgeregt!“
Die Hitze auf Male Matteis Wangen kehrte wieder. „Da . . . da haben wir’s ja . . . Na also . . .“ Ihre braunen Augen leuchteten feindselig auf. Sie deutete mit der Hand den Weg hinab. „Ich wusst’ es ja . . . da steht er!“
„Es war unmöglich, Ihren Schwager zum Weggehen zu bewegen . . .“
„Wenn er nicht da wäre, würde ich auch wieder weggehen! Aber ich hab’ es mir ja gedacht! . . . Deswegen hat’s mich ja hier hinaus getrieben! Solange er da ist, halte ich mich auch hier irgendwo in der Nachbarschaft! Ich räume ihm nicht das Feld! Gott weiss, was er angibt, wenn er freies Spiel, ohne mich, hat . . .“
„Er wird ja gar nicht gefragt! Es handelt sich jetzt nur um den Sarg . . .“
„Ach — er mischt sich doch ein . . . er redet . . . er gibt Erklärungen ab. Er streut dem Gericht Sand in die Augen. Das tut er bei allen Menschen. Das hat er auch bei meiner armen Schwester getan. Mir macht er nichts vor! . . . Ich kenn’ ihn! Sehen Sie nur, wie er sich bei meinem Anblick achselzuckend abwendet! Ich komme ihm hier sehr ungelegen! Das weiss ich!“
„Wie sind Sie denn überhaupt hereingekommen, Fräulein Matteis, ohne Ausweis? Der Pförtner hätte Sie gar nicht durchlassen dürfen!“
„Der hat mich auch weggeschickt!“
„Na — und da . . .“
„Die Strassen sind ja noch ganz leer!“ sagte das junge Mädchen. „Da bin ich über die Kirchhofmauer geklettert. Furchtbar einfach!“
„Die Mauer ist doch für Sie zu hoch!“
„Es kamen zwei Strassenbahner vorüber. Die hab’ ich gebeten, mich beim Hinaufkrabbeln zu halten! Die waren gleich dabei!“
Male Matteis sagte das mit sachlicher Ruhe. Einen Augenblick spielte ein verstecktes, waghalsiges Lächeln um ihre Mundwinkel. Dann gewann ihr junges Gesicht wieder seinen frühreifen Ernst.
„Nein! Ich lasse meinen Schwager in dieser entscheidenden Stunde nicht ausser meiner Reichweite!“ sagte sie knapp und schroff. „Ich werde dort drüben, auf der Bank vor dem Häuschen von dem Friedhofsgärtner, sitzen! Dorthin bringen Sie mir, bitte, sofort Nachricht, wenn . . .“
„Und wenn Ihr ganzer Verdacht sich jetzt in Wohlgefallen auflöst?“ Der Rechtsanwalt Burhem wollte sich nervös eine Zigarette anzünden, besann sich, dass sich das hier nicht schickte, und steckte heftig die Silberdose wieder ein. „Ich hab’ es Ihnen von Anfang an gepredigt, Fräulein Matteis, dass Sie bei der Geschichte sich noch die tollsten Unannehmlichkeiten zuziehen werden! Aber Sie wollten ja nicht hören!“
„Nein. Ich will Gewissheit haben, wie meine Schwester gestorben ist! Dann hab’ ich wenigstens von jetzt ab Ruhe!“
„Irrtum, meine Gnädigste! Ihr Schwager wird Sie nach Feststellung des Tatbestandes wegen Verleumdung verklagen!“
„Mag er!“
„Sehen Sie, wie der Mann da drüben steht! Das verkörperte gute Gewissen! Wenn er den Kirchhof hier mit ’ner weissen Weste verlässt, haben Sie nichts mehr gegen ihn in der Hand ausser Ihrer moralischen Überzeugung! Auf die geben die Schöffen in Moabit nicht ’nen Groschen!“
„Na — dann brumm’ ich eben! Ich bin der Elfi das schuldig! Ich hab’ die Elfi zu lieb gehabt! Ich bring’ dem Andenken der Elfi jedes Opfer! Übrigens — Sie sagen, ich hab’ nichts in der Hand! Bitte: hier!“
„Was ist denn das für ein Brief?“
„Ich habe schon vor vier Wochen an den Arzt in dem spanischen Nest geschrieben, der den Totenschein ausgestellt hat! Unser Korrespondent für Südamerika in der Autofabrik hat den Brief in das Spanische übersetzt. Gestern ist der Brief als unbestellbar zurückgekommen! Da — bitte — lesen Sie die Adresse: ,An den Medico Señor F. I. Muñoz y Macha in Fuensanta!‘ Und da der Vermerk von der Post dort: ,Destinatario aqui desconocido.‘ Das heisst auf deutsch: ,Adressat hier unbekannt.‘ Halten Sie das auch nur für ein moralisches Argument, Herr Doktor?“
„Hm . . . komisch . . .“
„Ich habe mich auch an den Pfarrer dort gewendet — mit der Bitte um einen Auszug aus dem Kirchenbuch! Eingeschrieben! Sehen Sie hier den Schein! Glauben Sie, der Reverendisimo Párroco L. I. M. Bustillo hätte jemals geantwortet? Nicht die Spur! Das sind nun meinem Schwager seine Zeugen!“
„Er hat doch ihre behördlichen Bescheinigungen . . .“
„Die sind natürlich gefälscht!“ Fräulein Matteis sagte das in einer vollen, beinahe lächelnden Ruhe. Aber ihr frisches, junges Gesicht hatte dabei einen starren, in sich gekehrten Ausdruck. „Also, Herr Doktor, ich erwarte Sie dort drüben — wirklich im Fieber . . . an dem Gärtnerhäuschen!“
„. . . ’n Augenblick, gnädiges Fräulein! Ich glaube, der Richter will Sie sprechen!“
Der Untersuchungsrichter kam mit langen Schritten heran und verbeugte sich.
„Ich höre eben von Herrn Vohwinkel, dass Sie Fräulein Matteis sind!“ begann er schnell und energisch. „Also, gnädiges Fräulein — das geht nicht, dass Sie auch noch hier aus der Versenkung auftauchen . . .“
„Ich war im Begriff, mich zurückzuziehen!“
„Fräulein Matteis hat mir nur eben noch diese beiden Schriftstücke gezeigt!“ versetzte der Rechtsanwalt. Der Richter prüfte sie und runzelte die Narben auf der Stirne.
„Ich werde sie zu den Akten nehmen und das weitere veranlassen!“ sagte er. „Aber trotzdem und immerhin, gnädiges Fräulein . . . Sie gelten, wie ich höre, für eine junge Dame von ganz ungewöhnlicher Umsicht und Tatkraft . . .“
„Fräulein Matteis leitet doch, zusammen mit dem technischen und dem kaufmännischen Direktor, die ganze Autofabrik!“ ergänzte Doktor Burhem.
„Sie haben sich als Streckenfahrerin bei Bergrennen und Zuverlässigkeitsprüfungen wiederholt für Ihre Firma Auszeichnungen geholt?“
„Gott sei Dank!“
„Sie sind auch weit in der Welt herumgekommen . . .?“
„Ich war dreimal längere Zeit in Fabrikangelegenheiten in Amerika!“
„Also — dann müssten Sie sich doch, bei Ihrer Weltund Menschenkentnis trotz Ihrer jungen Jahre, selbst sagen, Fräulein Matteis: Herr Vohwinkel hat von sich aus, aus freien Stücken, die Exhumierumg beantragt!“
„Nein. Weil ich ihn dazu gezwungen habe!“
„Herr Vohwinkel gab bei diesem Anlass eine völlig klare und plausible Darstellung der Vorgänge, um die es sich handelt! Ich habe ihn selbst vernommen!“
„Wie oft, Herr Richter?“
„Einmal! Das genügte doch in diesem Fall!“
„Das habe ich nun anders gemacht!“ sagte Male Matteis. „Vom Augenblick ab, wo mein Schwager als Witwer aus Spanien zurückkam und ich sein Gesicht sah . . . Sein Gesicht hat mir genug gesagt . . . Das heisst, es sagte mir natürlich nichts von dem, was wirklich passiert ist . . . Von da ab hab’ ich Fragen gestellt — so beiläufig — jeden Tag mal — ich habe genau zugehört, wenn er meiner Mutter un meinem Onkel, dem Pfarrer und den andern Verwandten die traurige Geschichte immer wieder haarklein erzählt hat, und habe mir immer gleich hinterher jede Einzelheit ebenso wörtlich aufgeschrieben!“
„Nun — und das Ergebnis, gnädiges Fräulein?“
„Entscheidende Augenblicke behält man natürlich fest in der Erinnerung!“ sagte Male Matteis ruhig und entschieden. „Die sind, wie sie sind — wenn man sie noch so oft berichtet! Und kleine Dinge kann man natürlich vergessen. Aber wenn man sich an sie entsinnt, dass sind sie auch wie sie sind — und nicht heute so und morgen so! Das war der Fehler meines Schwagers in seinem sonst fabelhaft angelegten Plan. Dadurch hat er sich verraten! Er hat eine Unmenge unwesentliche Sachen, auf die nur ich allein geachtet habe, jedesmal verschieden dargestellt und auf die Weise meinen Verdacht immer mehr bestätigt!“
„Worin hat er sich denn widersprochen?“
„Kann er einmal die Nacht hindurch tränenüberströmt bei hellem Mondschein am Bett von der toten Elfi sitzen und das nächste Mal beim Geflacker von einem Talglicht in sternenloser Nacht? Kann der Posadero, der Wirt von der Fonda de San Joaquin, einmal ganz gut Katalonisch verstehen und das andere Mal kein Wort ausser Kastilianisch? Klagte die Elfi zuerst morgens oder des Mittags über Kopfschmerzen und Mattigkeit? Beides hat er zu verschiedenen Malen behauptet! Liess er den Arzt sofort oder erst am Abend rufen? Ich habe beides aus seinem Mund gehört! Und daraus habe ich mir meine Überzeugung gebildet! Was in Wirklichkeit dort in Fuensante geschehen ist, das weiss ich nicht! Aber, was Herr Christof Vohwinkel von dort berichtet, dass es geschehen sei — das weiss ich, dass es nicht wahr ist! Und wenn er lügt, muss er doch wohl seine guten Gründe haben, die Wahrheit nicht zu sagen!“
„Und was halten Sie für die Wahrheit?“
„. . . das ser meine Schwester umgebracht hat!“ sagte Male Matteis halblaut mit einer gepressten, ganz leidenschaftslosen Stimme, im Tonfall des Alltags. Die beiden, der Richter und der Rechtsanwalt, sahen sich an und schwiegen. Sie began wieder, immer mit derselben kalten Sachlichkeit: „Das heisst — um mich korrekt auszudrücken: Wenn ich sage ,umgebracht‘. . . so will ich damit sagen, dass mein Schwager die moralische Schuld am Tode meiner Schwester . . .“
„Schnell, gnädiges Fräulein! Springen Sie hinter mich!“
„Herr Vohwinkel — Sie werden sich doch nicht an einer Dame vergreifen!“
„Nein! Ich halte an mich!“ Der Architekt Christof Vohwinkel stand, am ganzen Körper zitternd, vor den dreien. Er hielt den breitkrempigen Künstlerhut in der Hand. Er strich sich wildatmed über das krause, dunkle Haar. Auf seinem weichen schönen Gesicht jegten sich fliegende Röte und weisslicher Schein. „Ich begrüsse die letzten Worte, die ich, im unbemerkten Herantreten, aus dem Mund meiner Schwägerin hörte! Ich bitte, diese Worte zu protokollieren, Herr Richter . . .“
„Ich widerrufe nichts!“
„Da wagt sich die Verleumdung endlich einmal frech unter die freie Sonne . . .“
„. . . aber ich war noch nicht zu Ende!“
„Ich habe genug gehört! Und ich glaube, die beiden Herren auch! Setzen Sie sich bitte in meine Lage, meine Herren, um meine Aufwallung eben, die ich bedauere, zu entschuldiges! Ich ein Mörder! Ein Mörder meiner armen Frau! Das muss ich mir öffentlich von einem hysterischen jungen Mädchen sagen lassen . . .“
„Na. . . hysterisch gerade, Herr Architekt . . .“
„. . . hysterisch in der blinden Liebe zu ihrer Schwester, die Fräulein Male Matteis zu diesen Irrsinnsausbrüchen verleitet! Ja — glauben Sie denn, ich hätte meine Frau nicht ebenso geliebt? Mehr noch!“
„Elend hast du sie erst um ihr Lebensglück gebracht und dann um ihr Leben!“ sagte Male Matteis leise zwischen den Zähnen.
„Ich habe meine Frau so geliebt wie sie mich! Ihre letzten Gedanken galten mir! Sie hat mir alles verziehen! Das sagt mir untrüglich mein Gefühl. Ich lebe ja jetzt, in der Erinnerung, nur noch für sie und mit ihr. Ich lebe völlig zurückgezogen in meiner Villa im Grunewald. Ich bin ein Einsiedler geworden — fast ohne Verkehr mit den Menschen. . . und unter den Menschen nun gar mit den Frauen. Ich sehe keine Frau mehr an . . .“
„Um durch diesen nachträglichen Kult mit der armen Elfi jeden Verdacht zu zerstreuen!“ Das junge Mädchen stand, die Hände in den Seitentaschen ihrer weissen Sommerjacke, straff aufgerichtet, den Kopf im Nacken, vor den Männern. „Ich kam vorhin nicht dazu, zu Ende zu reden! Ich erkläre also jetzt hier laut und feierlich, was ich oft schon jedem, der es hören wollte, gesagt habe: ich behaupte nicht, dass Herr Christof Vohwinkel eigenhändig dem Leben meiner Schwester ein Ende gemacht hat! Dazu hatte er keinen Grund. Aber er wusste, das ser sie durch seine Lieblosigkeit in den Tod trieb. Sie war ihm langweilig. Also liess er dem Verhängnis kaltblütig seinen Gang!“
„Wenn ich Sie recht verstehe, deuten Sie an, dass nach Ihrer Meinung Ihre Frau Schwester selbst . . .?“
„Die Elfi hat in Spanien Selbstmord begangen!“ sagte Male Matteis kurz und hart. „Mein Schwager wagt nicht, das einzugestehen, weil er weiss, dass die Elfi es aus Verzweiflung über ihn und seine ständige Vernachlässigung und seine ewigen Geschichten mit andern Frauen oder Weibern getan hat! Er fürchtete nicht etwa die Vorwürfe der Familie! An uns liegt ihm nicht ’ne Bohne! Aber wenn die Geschichte in der Öffentlichkeit bekannt geworden wäre, hätte ihm das einen guten Teil von seinen schönen Berliner Bauaufträgen verhageln können! Deswegen hat er vom ersten Tag ab mit eiserner Stirne gelogen! Aber das böse Gewissen wirft ihm immer wieder die Widersprüche wie Knüppel zwischen die Beine!“
„Ich gebe zu . . .“ Der Architekt Vohwinkel schaute, während er sprach, starr vor sich auf den Boden. „Es ist das einzige, was ich zugebe — und es ist ja leider auch allgemein bekannt: es setzte allerdings Seitensprünge meinerseits in meiner Ehe! Es war ein schwerer Fehler von mir. Aber meine Frau nahm diese kleinen Irrungen, Gott sei Dank, nicht so tragisch! Sie nahm mich, wie ich war. Sie hat mir immer wieder, in ihrer grossen Liebe, verziehen. Von diesen vorübergehenden Berliner Stimmungen und Verstimmungen führt kein Weg bis zu dem angeblichen verzweiflungsvollen Entschluss in Spanien, von dem meine Schwägerin faselt . . . Herr Richter — das Blut steigt mir in den Kopf, wenn ich sehe, wie Fräulein Matteis bei meinen Worten verächtlich mit den Achseln zuckt.“
„Ein halbes Jahr nach ihrer Hochzeit,“ sagt Male Matteis langsam, Wort für Wort, „da kam die Elfi spät am Abend zu mir. Kein Mensch mehr. Sie war wahnsinnig. Zum ersten Mal hatte sie meinen Schwager gesehen, wie er wirklich war — meinen Schwager, vor dem sie bis dahin wie vor einem Wunder der Schöpfung gekniet hatte. Die Elfi war ja kein Mensch wie wir hier! Sie war ein himmlisches grosses Kind. Sie sah die Welt aus Märchenaugen an. Auch meinen Schwager. Nun war für sie das Götzenbild zertrümmert und die Welt entweiht. Sie gab mir einen Kuss und einen Abschiedsbrief an unsere Mutter. Dann wollte sie fort, in die Winternacht hinaus. Die Spree fliesst ja ganz nahe von unserer Fabrik. Mit äusserster Mühe, mit aller Gewalt meiner Arme, habe ich sie zurückgehalten. Stundenlang habe ich mit ihr gerungen, bis sie sich endlich beruhigte.“
„Hm . . . Und weiter, Fräulein Matteis . . .“
„Ein Jahr darauf klingelt mich ganz früh, während mein Schwager verreist war, Elfis Mädchen an: Die gnädige Frau liege bewusstlos im Bett! Ich hin! Wie ich ankomme, schon alle Fenster auf! Der ärgste Gasgeruch verflogen! Der Doktor da! Er hielt reinen Mund! Die Elfi erholte sich rasch. Die Geschichte wurde vertuscht . . .“
„Nun: ein Gasrohr kann doch auch durch einen Zufall undicht . . .“
„Ein merkwürdiger Zufall, Herr Richter, wenn die Elfi um Mitternacht vor dem Schlafengehen einen eigens gekauften Verlängerungsschlauch an den Gasherd in der Küche schraubt und ihn in ihr Schlafzimmer leitet! Nun das letzte — vor der Reise nach Spanien: da nestelt sich, wie wir beide beisammensitzen, die Elfi auf einmal ihr Kleid auf und zeigte mir auf der blossen Brust links eine Stelle, die sie mit einem Kohlenstift Schwarz umrändert hat. ,Das muss man nämlich wissen!‘ sagt sie zu mir. ,Ich habe nachgesehen! An dieser Stelle sitzt das Herz — nicht da, wo man gewöhnlich glaubt, dass es ist, weil man es dort klopfen fühlt! Nein — auf diesen Punkt da muss man zielen und schiessen, wenn es einmal so weit ist!‘ Dabei spielte sie mit einem scharf geladenen, kleinen Revolver. Den schleppte sie in ihrem Handtäschchen mit sich herum.“
„Und diese Fahrt nach Spanien, gleich nachher,“ schloss Male Matteis mit erhobener Stimme, „war der armen Elfi ihre letzte Hoffnung! Auf dieser Reise wollte sie alles daransetzen, ihren Mann, allein mit ihm, durch ihre unendliche, überirdische Lieb ganz und dauernd für sich zu gewinnen! Die Elfi ist von dieser Reise nur im Sarg zurückgekehrt — ein Beweis, dass ihre Hoffnung sie betrogen hat, und im Sarg werden Sie die Spur diese Revolvers finden!“
„Der Sarg ist in den Seitenraum der Kapelle drüben überführt,“ meldete, heranschnaufend, der kleine Medizinalrat.
„Wenn ich bitten darf, meine Herren!“ Der Untersuchungsrichter wandte sich zum Gehen. „Sie bleiben hier, Fräulein Matteis?“
„Ja. Drüben am Gärtnerhaus!“
„Und Sie, Herr Architekt?“
„Ich gehe mit!“ sagte Christof Vohwinkel ruhig.
Aus dem Nebenraum der Kapelle wehte eine kalte Kellerluft in den blauen Sommermorgen hinaus. Die Kübel mit immergrünen Gewächsen, zu deren Aufbewahrung er diente, waren seitlings an die weissgekalkten Wände gerückt. Auf dem freien Backsteinboden in der Mitte stand wuchtig der rostblinde Metallsarg in dem hellen, durch die Fenstergitter fallenden Sonnenschein. Es roch in dem Raum nach Moder und welken Blättern und feuchter Gartenerde und Zigarrenqualm aus dem umwölkten Graubart des Medizinalrats.
„Zigarren kann ich von jetzt ab empfehlen!“ sagte er und beobachtete durch seine Brillengläser die Handgriffe der Arbeiter, die den Sarg aufschraubten. Der blonde Referendar sass etwas bleich auf einem durchlöcherten Strohstuhl und ordnete auf dem wackeligen Gartentisch vor ihm das Protokoll. Der Rechtsanwalt Burhem verfolgte gähnend, an die Tür gelehnt, den Kampf eines dicken Hänflings mit einem Regenwurm im Efeu des Grabes ihm gegenüber. Der Untersuchungsrichter stand stumm mit dem Architekten Vohwinkel abseits in einer Ecke. Durch das allgemeine Schweigen brummte jetzt schon von fern das dumpfe Grollen und Rollen des erwachenden Berlin. Etwas näher läutete eintönig eine Glocke. Der Sirenenpfiff einer Fabrik heulte von der Vorstadt her über die Stätten der Toten und rief die Lebenden zur Tagesarbeit. In dem Seitenraum der Kapelle ächzten die Fugen des Sarges unter den Fäusten der Handwerker. Der alte Friedhofs- inspektor, der sie beaufsichtigte, machte zu dem Richter hinüber eine Bewegung des gefurchten, mit einer Dienstmütze bedeckten Kopfes: „Es ist gleich so weit!“ Der narbige Jurist nickte dankend. Er wandte sich an den Architekten Vohwinkel neben ihm.
„In kurzem werden wir ja nun sehen, woran wir sind!“ sprach er gedämpft. „Herr Vohwinkel, ich frage auf alle Fälle: Haben Sie vorher noch irgend eine Erklärung abzugeben?“
„Ich habe nichts zu sagen!“ Der schöne Mann streifte sich ruhig ein Stück staubiges Spinnweb vom Ellbogenärmel. „Ich habe ja auch vorhin geschwiegen! Ich kann mein Inneres nicht öffnen, wenn ich die von Hohn und Hass funkelnden Augen meiner Schwägerin auf mich gerichtet sehe! Es erstickt mir die Kehle! Es ist unter meiner Würde!“
„Jetzt ist Fräulein Matteis ja nicht anwesend!“
„. . . ja . . . und deswegen . . . Ich möchte doch noch, wenn Sie erlauben, ein paar Worte zu Ihnen sprechen, Herr Richter!“ Christof Vohwinkel wurde lebhafter. „Ich will mich wahrhaftig nicht besser machen als ich bin! Aber ich stehe ja nach den Worten meiner Schwägerin förmlich da wie ein Verbrecher — nicht ein Verbrecher gegen das Strafgesetzbuch, sondern in moralischem Sinne . . . Gewiss . . . ich habe Schuld . . .“
„Es scheint doch, dass Sie Ihre selige Gattin vernachlässigt haben, Herr Vohnwinkel . . .“
„Ich habe sträflich an meiner armen Frau gehandelt. Aber ich wusste gar nicht, was ich ihr damit antat und wie sie darunter litt — eben aus Liebe zu mir! Ich war in unserer Ehe noch gar nicht zu ihrem Innenleben durchgedrungen! Ich ahnte nicht, dass ihre Liebe zu mir von einer Art war, die zu stolz war, um sich aufzudrängen oder sich überhaupt zu zeigen . . . dass es eine scheue Liebe war, die lieber schwieg und duldete, als sprach! Mir war das sehr bequem! Ich war froh, dass meine Frau mich gewähren liess. Ich lebte so hin . . .“
„. . . aber die Vorfälle, von denen Ihre Schwägerin sprach, mussten Ihnen doch die Augen öffnen!“
„Ahnte ich denn etwas von dieser verzweifelten Stimmung meiner Frau? Es blieb mir ja alles verborgen! Von dem Auftritt zwischen den beiden Schwestern, als die. Elfi angeblich ins Wasser wollte, erfuhr ich gar nichts. Die Geschichte mit dem Gasschlauch wurde vor mir vertuscht. Dass meine Frau im Besitz eines Revolvers war, habe ich jetzt eben zum ersten Mal gehört. Hätte ich damals schon gewusst, wie bald ich meine arme Frau würde hergeben müssen, glauben Sie mir: ich wäre am selben Tag in mich gegangen. Aber ich fühlte mich ja so sicher in ihren Besitz!“
Christof Vohwinkel schaute verstört durch den unwirtlichen Raum auf den Sarg in der Mitte, dann auf die staubigen Bachsteinfliesen zu seinen Füssen. Er schüttelte den Kopf. Er seufzte tief auf. Er fuhr fort: „Dann, eines Tages, Herr Richter, kam sie mir plötzlich mit dem Vorschlag, wir wollten einmal ganz weit weg von allem hier reisen und irgendwo in fremdem Land unter fremden Menschen eine Zeitlang nur noch für einander leben! Ich begriff den Grund ihrer Bite nicht recht. Aber ich gewährte ihr diese Bitte, weil sie sonst nie eine Bitte an mich hatte — höchstens stumme Bitten, die ich nicht verstand. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gegen sie. Darum tat ich ihr, ohne mir viel dabei zu denken, den Gefallen!“
„Und so kamen Sie nach Spanien?“
„So kamen wir nach Murcia!“ Der Architekt Vohwinkel sprach leise und beinahe feierlich. Er legte, in einer Anwandlung von Vertrauen, leicht seine Fingerspitzen auf den Unterarm des Richters. „Und dort — unter diesem fremden Sternenhimmel — unter diesen Palmen — in diesem heissen Sonnenland geschah das Wunder: wir waren ganz aufeinander angewiesen. Wir waren ständig beisammen. Und auf einmal erfüllte sich die Hoffnung meiner Frau, dass ich sie eines schönen Tages entdecken würde. Ich sah sie auf einmal in dem ganzen Reichtum ihres Herzens. Die Schuppen fielen mir von den Augen. Ich begriff erst, wie reich ich schon seit Jahren gewesen war, ohne es zu wissen.“
Der Architekt Vohnwinkel lächelte eine Sekunde wehmütig in der Erinnerung. Seine weichen Augen wurden feucht. Er nickte.
„Wir fanden uns jetzt erst wirklich! Wir waren so glücklich. Eine neue Zukunft tat sich vor uns auf. Wir waren nun schon drei Wochen in Fuensanta gewesen. Wir dachten an die Weiterreise — wir lachten, wir nannten es unsere zweite Hochzeitsreise — nach Biarritz oder San Sebastian oder sonst, wo es nicht so heiss war wie hier im Süden des Landes. Und da — ich erinnere mich wie an gestern — nachmittags bei der Schokolade wurde meine Frau, mitten in der Sonnenglut, von einem Frostschauer befallen . . .“
„Nachmittags?“
„Ja. Gegen fünf Uhr. Ich life in das Dorf. Ich holte den Arzt. Er kam . . . Und dann . . .“
Christof Vohwinkel lehnte sich gegeb die Mauer. Er sah vor sich ins Leere hinaus. Er atmete schwer.
„Und dann . . . war über Nacht beinahe . . . alles aus! . . . Ich hatte mir zu spät erworben, was ich durch Jahre schon besessen hatte. Es war mir mit derselben Hand gegeben und genommen! Aber ganz genommen nicht! Es gibt Dinge, die kann man nie mehr völlig verlieren! Es ist ein rätselhaftes Wort, Herr Richter, aber es ist wahr: erst seit meine Frau nicht mehr ist, ist sie wirklich meine Frau. Jetzt erfüllt sie erst, inder Erinnerung, mein ganzes Leben. Ich sehe keine andere Frau mehr an. Ich denke nur an sie. Seit sie fern ist, ist sie bei mir. Sie ist jetzt ein Geist. Abe rein gutter Geist, dessen Nähe ich standing um mich fühle.“
Christof Vohwinkel blickte nach den Arbeitern hinüber.
„Die irdischen Überreste, die Sie dort aus dem Erdreich heben werden,“ versetzte er gefasst und halblaut, „haben mit diesem Schutzgeist, mit dem ich für den Rest meines Lebens verbunden bin, nichts zu tun! Ich sage das, Herr Richter, damit Sie die Ruhe, mit der ich der Eröffnung des Sarges entgegensehe, nicht fälschlich als Herzenskälte auslegen!“
„Und Sie selbst haben, vor einem Jahr, diese sterblichen Überreste dem Sarg dort anvertraut?“
„Ich persönlich!“ Der Architekt musste laut sprechen, um das bange Kreischen der verrosteten Metallschrauben zu übertönen, die sich langsam unter den Zangen der Handwerker lockerten.
„Und Sie erkenner den Sarg als den damaligen wieder?“
„Hier, auf dem Innern des Deckels, steht ja noch die Firma des Tischlers: ,Fernandez Silvestra, Carpintero, Orihuela!’“
Christof Vohwinkel rief es, auf den Boden deutend, durch die Hammerschläge, die dröhnend an den Wänden widerhallten. Die Handwerker hatten die äussere Zinkhülle geöffnet. Sie arbeiteten jetzt an dem inneren, schwarzlackierten Holzsarg. Die Planken stöhnten und knirschten. Der Medizinalrat beugte sich neugierig vor und dampfte heftiger. Der junge Gerichtsschreiber wurde noch bleicher. Der Rechtsanwalt Burhem gähnte. Der Richter nickte ernst dem Architekten Vohwinkel zu.
„Seien Sie überzeugt, dass ich das Vertrauen zu würdigen weiss, mit dem Si emir einen Einblick in Ihr Seelenleben geben!“ sagte er. „Ich begreife vollkommen, dass diese Stunde, die Sie ja selbst gewünscht haben, für Sie eine schwere ist . . .“
„Ich durfte mich ihr nicht entziehen, Herr Richter, um meine Ehre und meinen guten Ruf gegen die Verleumdungen meiner Schwägerin . . .“
Mit einem dumpfen Krach flog der Sargdeckel auf. Der kleine, dicke Gerichtsarzt guckte sachlich hinein und flog im nächsten Augenblick zwei Schritte zurück.
„Kinder . . . Ist das bei mir ’ne Alterserscheinung . . .?“ jappte er, krampfhaft die abgenommene Brille reibend. Die Zigarre fiel ihm aus der Hand. Der alte Kirchhofs-inspektor stand feierlich, wie eine versteinerte Schildwache, daneben.
„Siebenunddreissig Jahre bin ich be idem Jeschäft!“ sagte er langsam. „Aber das habe ich doch noch nicht erlebt . . .“
„Nee — so wat . . .!“ raunte, scheu zurücktretend und sich ungläubig mit der Hand über die Augen fahrend, einer der Arbeiter.
Der Rechtsanwalt Buthem war schon aus dem düsteren Raum heraus. Er rannte, im hellen Morgensonnenschein, die Gräberreihe entlang, nach dem Wärterhäuschen. Die weissgekleidete Mädchengestalt, die davor auf einer Bank saaa, hatte ihn schon von weitem gesehen und war aufgesprungen. Sie stürmte ihm entgegen. Die beiden prallten aufeinander. Ein atemloses: „Was ist, Herr Doktor?“
Und ein ebenso hastiges: „Kommen Sie, Fräulein Matteis! Schnell! Schnell! Schnell!“
„Erzählen Sie doch . . .“
„Das müssen Sie selber sehen . . . Ich trau’ mir selber nicht recht . . . Vielleicht sind meine Nerven wackelig geworden; und ich leide an Halluzinationen . . . Nee — ausgeschlossen! . . . Die andern waren ja genau so perplex . . . So — da sind wir ja schon an Ort und Stelle . . .“
Male Matteis blieb stehen. Ihr frisches, junges Gesicht wurde sehr blass.
„Nein. Dahinei geh’ ich nicht!“ sagte sie mühsam. „Ich bin sonst kein Hasenfuss. Aber davor fürchte ich mich! Ich hab’ die Elfi zu lieb gehabt. Ich will mir ihr Bild nicht in der Erinnerung zerstören!“
„Sie können ruhig hinein . . .“ Der Rechtsanwalt zog sie mit sich über die Schwelle. „Es ist unmöglich, dass Sie dadurch ein anderes Bild von Ihrer Frau Schwester bekommen!“
„Warum . . .?“
„ . . . weil sie gar nicht in dem Sarge drin ist!“
„Was . . .?“
„Überzeugen Sie sich selbst!“
Male Matteis holte tief Atem. Sie ging auf den Fussspitzen, mit grossen, ungläubigen Augen, auf den Sarg zu. Sie blieb stehen. Nach einer Weile sagte sie langsam wie im Traum: „Der Sarg ist ja leer . . .“
„Es war auch niemals etwas darin, meine Gnädigste!“ Der Medizinalrat beschnüffelte und beklopfte die sauber gehobelten weisslichen Wände. „Der Geruch von ganz frischem Holz . . . Palmenholz vermutlich . . . Oasen von Dattelbäumen dort in Murcia . . . Stimmt alles — bis auf den Inhalt . . .“
„Und dass man auf dem Transport, bei dem Mordsgewicht von dem Metallsarg, nicht gemerkt hat, dass der eigentliche Inhalt fehlt,“ er richtete sich kurzatmig auf, „ — das ist auch kein Wunder! . . . Abe rim übrigen . . . Was gibt’s dahinten?“
„Schnell, Herr Medizinalrat! . . . Herr Vohwinkel fällt in Ohnmacht . . .“
„Er kämpft schin die ganze Zeit damit . . .“
„Setzen Sie ihn auf einen Stuhl. Halten Sie ihn! Bringen Sie Wasser! Warten Sie: ich knöpf’ ihm unterdessen Kragen und Krawatte auf!“
„Protokollieren Sie, Herr Referendar!“ sagte daneben der Untersuchungsrichter. „Herr Vohwinkel verlor, angesichts des leeren Sarges, das Bewusstsein! Was machen wir mit ihm, Herr Medizinalrat? Hinüber in das Gärtnerhaus? Ja. Gut!“
Es gab in dieser kleinen Wohnung eine gute Stub emit eingerahmten Photographien auf der Blümchentapete und fuchsig lackierten Plüschmöbeln. In diesen neideren vier Wänden hatte man den Architekten Vohnwinkel auf das Kanapee gebettet. Er lag, kaum atmend, mit geschlossenen Lidern. Sein schönes, südlich weiches Antlitz war wachsgelb wie das eines Toten. Ein jähes Zucken lief zuweilen darüber hin. Der Medizinalrat sass brummig neben dem Ohnmächtigen und fühlte ihm den Puls und spritzte ihm aus einem Wassergals kalte Tropfen in das Gesicht. Der Untersuchungsrichter stand mit gerunzelten Stirnnarben dahinter und schaute dem Gerichtsarzt über die Schulter.
„Herr Vohwinkel . . .,“ frug er gedämpft. „Verstehen Sie, was ich sage?“
„Jetzt kommt er zu sich!“ murmelte im Hintergrund des Zimmers der Rechtsanwalt Burhem. „Oder er tut wenigstens so . . . Ich bin ausnahmsweise wirklich mal auf was gespannt!“
„Er versucht, sich aufzurichten . . .,“ flüsterte Male Matteis. „Er lässt sich noch Zeit! Er muss sich noch überlegen, was e runs jetzt erzählen wird!“
„Herr Vohwinkel . . .“ Die Stimme des Untersuchungsrichters klang sehr ernst. „Sind Sie jetzt, wenigstens für ein paar hauptsächlichste Fragen, vernehmungsfähig?“
Der schöne Mann auf dem Sofa setzte sich langsam auf. Er schaute geistesabwesen, mit dem Ausdruck eines aus dem tiefsten Schlaf gerissenen Menschen um sich.
„Bin ich denn verrückt geworden . . .?“ sagte er leise und verstört.
„Überlassen Sie die Fragen mir, Herr Vohwinkel!“
„Was ist mit dem Sarg?“ Der Architekt Vohwinkel schrie es in hellem Schrecken auf. Er krampfte die Hände ineinander. Seine dunklen Augen verglasten sich. „Um Gottes willen — was ist mit dem Sarg?“
„In dem Sarg ist nichts! Das wissenSie ja besser als wir!“
„Aber wie ist denn das möglich . . .?“
„Das möchte ich ja eben von Ihnen hören! Bitte, lieber Medizinalrat, machen Sie mir mal ein wenig Platz!“
Der dicke kleine Graukopf warf, während er sich zur Seite schob, einen langen und bedenklichen Blick durch die Brillengläser auf Christof Vohwinkel. Der Richter langte sich einen Stuhl neben das Kanapee und setzte sich.
„Ich muss Sie bitten, unter dem ersten Eindruck des neuen Tatbestandes die schreienden Widersprüche in Ihren Bekunddungen aufzuklären!“ began er knapp und bestimmt. „Wir haben zu Protokoll genommen, dass sich in dem Sarg weder die Leiche der Frau Vohwinkel noch sonst etwas vorfand. Wollen Sie die Behauptung aufstellen, dass der Sarg unterwegs geöffnet und seines Inhalts beraubt wurde? Oder dass dies etwa gar hier auf dem Friedhof geschah?“
„Der Sarg ist niemals benutzt worden!“ grollte vom Fenster her der Medizinalrat. „Ich nehme das ausdrücklich als amtliches Gutachten auf meine volle Verantwortung!“
„Leichenraub! So wat ist ja überhaupt bei ’ner plombierten Sendung auf der Eisenbahn ausjeschlossen! Und hier draussen in Berlin sind wir doch nicht mang die Wilden!“ ergänzte grimmig an der Tür der Friedhofsinspektor.
„Schliessen Sie sich dieser Auffassung an, Herr Vohwinkel?“
„Ja . . .,“ sagte der Architekt sachwach, immer noch wie ein Schlafwandler. Er lag halb, auf den Ellbogen gestützt. „Ja.“
„Also war der Sarg von Anfang an leer?“
„Es scheint so . . .“
„Wollen Si emir erklären, Herr Vohwinkel: Warum gestanden Si emir das nicht lieber gleich vorhin unter vier Augen, wo Sie doch genau wussten, dass die nächsten Minuten die Entdeckung bringen mussten?’
„. . . weil ich es selbst nicht gewusst habe . . .“
„Was?“
„ich habe es nicht gewusst, dass sich nichts in dem Sarg befand!“
„. . . wo Si emir vor einer halben Stunde beteuerten, Sie hätten selbst die Einsargung geleitet!“
„Das war nicht wahr!“ sagte Christof Vohwinkel leise, mit dem Blick nach einem Spinnweb an der Decke.
„Sie waren also nicht dabei?“
„Ich war nicht dabei!“
„Und wo befinden sich nun in Wirklichkeit Frau Vohwinkels sterbliche Überreste?“
„Ich weiss es nicht!“
„Herr Vohwinkel, die Dinge sind jetzt im Fluss! Versuchen Sie nicht mehr, ihren unabwendbaren Gang aufzuhalten. Es ist vergeblich! Erleichtern Sie Ihr Gewissen! Reden Sie!“
„Ich weiss es nicht, wo sie ist!“ Christof Vohwinkel sprang taumelnd auf. Er stand unsicher auf den Beinen. „Ich bin ja wie vor den Kopf gehauen! Mir ist, als ob ich alles träume! . . . Das ist ja . . . Das ist ja alles . . . Herrgott . . . Ich werd’ ja verrückt!“
„Es hilft nichts, Herr Vohwinkel! Wir müssen hier einen klaren Kopf behalten und versuchen, die Zusammenhänge zu entwirren! Sie wollen nicht wissen, was aus Ihrer Frau Gemahlin geworden ist?“
„Nein . . .“ Der Architekt Vohwinkel stützte sich wankend mit der flachen Hand gegen die Blümchentapete und starrte in die kernfrische, blitzblank gehobelte Holzwölbung vor sich am Boden. „Das . . . Das da unten . . . das ist . . . ein Rätsel!“
„Sie müssen doch wissen, wo Frau Vohwinkel ihre letzte Ruhe gefunden hat! Sie waren doch, allein in fremdem Land, bei ihrer Krankheit und ihrem Ableben zugegen! Es war doch das einfachste, selbstverständlichste Gebot der Pietät — ich möchte hinzusetzen: der gebieterischen äusseren Notwendigkeit, dass Sie hinterher alle die traurigen Formalitäten erfüllten . . .“
„Das konnte ich nicht . . .“ Christof Vohwinkel drehte sich mit dem Gesicht gegen die Zimmerwand.
„Das mussten Sie! Das erzählten Sie mir doch auch selber! So nahe wie Sie, nach Ihren eigenen Worten, gerade damals Ihrer Gattin standen, ist es ganz unglaubhaft, dass Sie diese letzten Liebesdienste Dritten überliessen!“
„Doch . . . Das haben andere getan . . .“
„Und Sie haben das zugegeben?“
„Ich wurde nicht gefragt . . .“
„Warum nicht?“
„Weil ich gar nicht da war . . .“
Christof Vohwinkel stand mit dem Rücken gegen die Anderen. Er presste die Stirn an das Tapetenmuster. Sie konnten sein Gesicht nicht sehen. Sie hörten nur seine trockene, matte, abgebrochene Stimme: „Ich war abwesend — schon seit vier Tagen — als es geschah . . . Ich kam erst vier Tage später zurück — und da war es schon geschehen. Alles vorüber. Die Hitze des spanischen Sommers duldete keinen Aufschub. Doktor Muñoz y Macha, der Arzt, hatte aus eigener Machtvollkommenheit mit grosser Umsicht für alles gesorgt, die Eintragung in die Bücher des Pfarrers Bustillo veranlasst, den Alkalden benachrichtigt. Der Sarg war, auf seine Anordnung, schon verlötet. Mir blieb nur noch die schwere Pflicht, ihn nach Deutschland zu bringen!“
„Und warum sagten Sie nicht hier den Behörden und der Familie einfach die Wahrheit? ,Ich war nicht dabei’. . .“
„. . . Ich . . . hielt . . . es so für besser . . .“
„Sie müssen doch Ihre Gründe gehabt haben . . .“
„Wahrscheinlich . . . Ich entsinne mich nicht mehr . . . Ich war körperlich und geistig gebrochen!“
„Herr Vohwinkel, es ist unzweifelhaft in jenem spanischen Städtchen damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen — in Ihrer Abwesenheit, wie Sie jetzt, im Gegensatz zu Ihren bisherigen Bekundungen, behaupten! Gelingt es Ihnen, Ihr Alibi nachzuweisen, so müssen wir allerdings auf Sie als Augenzeugen verzichten und unsere Nachforschungen in anderer Richtung führen! Also Sie traten, einige Tage vor der Erkrankung Ihrer Frau, eine Reise an?“
„Ja, Eine ganz kurze Reise . . .“
„Aus welchen Gründen!“
„Aus plötzlich eingetretenen, geschäftlichen . . .“
„Wohin?“
„Das . . . möchte ich für mich behalten . . .“
„Wen trafen Sie an dem uns unbekannten Ort? Mit wem sprachen Sie? . . . Mit wem verkehrten Sie?“
Der Architekt Vohwinkel drehte sich langsam von den Familienphotographien an der niederen Wand der guten Stube weg. Er zeigte dem Richter sein Gesicht. Es war erdfahl, aber ruhig.
„Darüber kann ich keine Auskunft geben, Herr Richter!“ versetzte er.
„Und doch muss ich die Frage zum zweiten Mal an Sie stellen, wo Sie während der Krankheit Ihrer Gattin waren!“
„Und man hätte sofort, bei meiner Rückkehr aus Spanien, damals schon von allen Seiten dieselbe Frage an mich gerichtet, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte! Darum habe ich gleich zu Anfang die Wahrheit nicht gesagt. Ich konnte nicht. Ich durfte nicht! Ich sage jetzt die Wahrheit. Aber im übrigen muss ich schweigen!“
„Herr Vohwinkel — stürzen Sie sich nicht durch Schweigen ins Unglück! Nennen Si emir lieben die Zeugen, die beschwören können, dass sie mit Ihnen in der kritischen Zeit irgendwo fern von dem Flecken Fuensanta zusammen waren!“
„Ich werde sie nie nennen!“
Christof Vohwinkel sagte es tonlos, aber fest. Es war seine letzte Kräfteanspannung. Er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Er liess sich schwer auf einen Stuhl nieder. Er betrachtete stumpf, beinahe geistesabwesend, seine flach auf die Knie gelegten Hände. Durch die Stille forschte eintönig die Stimme des Richters.
„Sie fanden sich also bei Ihrer Rückkehr der stattgehabten Tatsache des Ablebens Ihrer Gattin gegenüber. Sie gleubten an diese Tatsache?“
„. . . bis zu dieser Stunde . . .“ murmelte der matte Mann auf dem Stuhl.
„. . . und jetzt . . .?“
„. . . jetzt weiss ich nur — und darüber kann bei allen, die sie kannten, kein Zweifel sein — , dass die Elfi nicht mehr lebt. . .“
„. . . weil du sie ermordet hast . . .!“
Die helle, wilde Mädchenstimme hallte von den Wändes des friedlich durchsonnten, kleinbürgerlichten Zimmers wider. Male Matteis war mite in paar hastigen Schritten vor den Richter hingetreten. Sie zeigte mit zitterndem Finger auf ihren Schwager. Die Worte flogen ihr stürmisch, stossweise über die Lippen: „Vorhin habe ich nur gesagt: moralisch gemordet! Ich habe mir eingebildet, die Elfi hätte aus Gram über ihn Selbstmord begangen! Aber da ist mehr! Da ist noch ein ganz anderes, furchtbares Geheimnis um den Tod von der Elfi . . .“
„Gemach . . . gemach, Fräulein Matteis! Wir wissen bis jetzt noch gar nicht, ob Ihre Frau Schwester nicht am Ende noch am Leben ist!“
„Nein, Herr Richter, die arme Elfi lebt längst nicht mehr!“ Das junge Mädchen schüttelte, etwas ruhiger, entschieden und ergeben den Kopf. „Das kann niemand so sicher missen wie ich! Meine Schwester und ich haben uns so lieb gehabt. Wir waren so vollkommen ein Herz und eine Seele . . . Es ist ganz unmöglich. . . Die Elfi brächte das nie in ihrem Leben fertig, dass sie noch am Leben ist und mir doch seit einem Jahr kein Lebenszeichen von sich gibt und mich in der Trauer um sie lässt!
Und da sitzt er . . .,“ Male Matteis lachte in einem verächtlichen, heissblütigen Zorn auf, „und sagt, er weiss von nichts! Das sieht nämlich ihm und seinem Kopf voll galanter Abenteuer so ähnlich, Herr Richter, das ser sich als Alibi gerade ein angebliches Rendezvous ausgesonnen hat. Das ist der Gedanke, der ihm immer am nächsten liegt! Da kann er geheimnisvoll durchblicken lassen, dass die Diskretion gegen eine Dame ihm Schweigen auferlegt, wo und mit wem er war! Herr Richter, glauben Sie ihm um Gottes willen die ganze Reise und die ganze grosse Unbekannte nicht! Die hat nie existiert!“
„Der Glaube macht den Christen selig, aber nicht den Juristen!“ sagte mühsam der bleiche Mann auf dem Stuhl. „Hier handelt es sich nicht um Meinungen, sondern um Tatsachen!“
„Bleiben wir bei den Tatsachen!“ Das junge Mädchen warf den Kopf zurück und verschränkte die Arme über der Brust. „Wer sind denn diese merkwürdigen Spanier, die, in Abwesenheit meines Schwagers, den leeren Sarg für Deutschland hergerichtet haben sollen? Der Doktor Muñoz y Macha ist unauffindbar! Der Pfarrer antwortet nicht! Das ist alles Lug und Trug meines Schwagers! Er hat Fuensanta nie verlassen! Was dort an Verbrechen geschehen ist, ist durch ihn geschehen . . .“
„Herr Richter! Ich bitte, mich gegen meine Schwägerin zu schützen!“ Christof Vohnwinkel machte einen halben Versuch, sich zu erheben. Er hatte nicht die Kräfte. Er sass erschöpft zurückgelehnt, mit offenem Mund und herzbhängenden Armen, den Nacken auf die Hinterlehne des Stuhls gestützt. Er keuchte. Er griff nach dem Glas Wasser, aus dem ihm vorhin der Medizinalrat das Gesicht besprengt hatte, und trank es hastig leer. Male Matteis wandte sich, mit einem letzten drohenden Blick, von ihm zu dem Richter.
„Wenn meine Schwester noch lebte,“ sagte sie halblaut und nachdrücklich, „so wäre es nur denkbar, dass sie irgendwie durch diesen Menschen da seit einem Jahr der Freiheit beraubt wäre! Aber das ist heutzutage in Europa doch kaum möglich! Darum, Herr Richter, erhebe ich hiermit Anzeige, in aller Form, gegen meinen Schwager, das ser meine Schwester Elfi in Spanien umgebracht hat!“
„Die Behörden sind, wie Sie sehen, bereits mit der Sache befasst, gnädiges Fräulein!“ Der Untersuchungsrichter packte seine Akten in eine Mappe. „Es bedarf keiner Initiative von privater Seite mehr!“ Er überlegte. Dann näherte er sich dem Architekten Vohwinkel, der jetzt ganz teilnahmlos, in sich zusammengesunken, auf dem Stuhl sass.