Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Der falsche Handel
Kapitel 2 – Im Haus des Magiers
Kapitel 3 – Die Warnung
Kapitel 4 – Die Fehde
Kapitel 5 – Der ungleiche Kampf
Kapitel 6 – Der dämonische Blick
Kapitel 7 – Der Streit
Kapitel 8 – Bei Judah Löw
Kapitel 9 – Im Vertrauen
Kapitel 10 – Der Meister der Dämonen
Kapitel 11 – Das geheime Zimmer
Kapitel 12 – Das Treffen am Brunnen
Kapitel 13 – Tödliche Fantasie
Kapitel 14 – Blutzoll
Kapitel 15 – Meister Gremlin
Kapitel 16 – Etwas lebt
Kapitel 17 – Jagd
Kapitel 18 – Vision des Bösen
Kapitel 19 – Der Angriff des Leu
Kapitel 20 – Der Plan
Kapitel 21 – Kerkerluft und Höllenatem
Kapitel 22 – Die Suche beginnt
Kapitel 23 – Teufelswesen und Visionen
Kapitel 24 – Der Retter
Kapitel 25 – Die Bedrohung im Turm
Kapitel 26 – Entführung
Kapitel 27 – Die Bibliothek der Bilder
Kapitel 28 – Sprung in die Tiefe
Kapitel 29 – Albtraum
Kapitel 30 – Das letzte Porträt
Kapitel 31 – Ist es vorbei?
Nachwort des Autors
Copyright
1
Der falsche Handel
Es gibt Tage, an denen einem das Glück regelrecht ins Gesicht schlägt und man den Schmerz dieser Ohrfeige nicht als Gewinn empfindet.
So ging es Jan, als der Raubvogelfinger auf ihn niederstieß.
»Der hier?«
Unerwartet blieb der Mann vor Jan stehen und drückte ihm den spitzen Finger gegen die Brust. Der Besitzer des Fingers war eher klein, schmuddelig, beinahe kahlköpfig, und sein Gesicht sah aus, als hätte man es lange gegen ein Brett gedrückt, so verschoben war es. Jan wollte auf keinen Fall von ihm berührt werden. Und wie das Glück persönlich sah der Mann auch nicht gerade aus. Außerdem roch er nach Alkohol und etwas, was Jan noch niemals gerochen hatte. Mit einem Finger voller bunter Flecken stieß er erneut auf Jans Brust ein, sodass der unwillkürlich zurückwich.
»Der, Messer Arcimboldo?«
Die Frage richtete er erneut an den älteren Mann, der unter dem Torgatter stand und den er in welscher Manier »Messer«, also Herr oder Meister, genannt hatte. Der Ältere war besser gekleidet und musterte die Jungen, die sich längs der Bretterwand aufgestellt hatten, wie man Nutzvieh auf einer Auktion aufreiht: dreizehn junge männliche Waisen von fünf bis fünfzehn Jahren. Der Verschlag blieb im Halbdunkel. Das hatte Hajek, der Leiter des Waisenhauses, so vorgesehen, damit die Makel der Jungenschar wie Grind und Schorf, Auszehrung und deformierte Knochen nicht ganz so deutlich sichtbar wurden. Hajek, selbst einer Vogelscheuche nicht unähnlich, stand bei ihm und dienerte.
Messer Arcimboldo, der im Türrahmen stehen geblieben war, nickte leicht. Seine Augen maßen Jan von Kopf bis Fuß. In seinem scharf geschnittenen Gesicht zuckte kein Muskel. »Ja, er wird es wohl sein, Contrario.«
»Woher wollt Ihr das wissen, Messer Arcimboldo?«, fragte der schmutzige Kerl vor ihm nach. Als er nach Jans Kinn griff, um den Kopf ins Profil zu drehen, erwischte der Junge einen Finger und biss zu. »He, lässt du das?«
Messer Arcimboldo blickte dem Jungen kurz in die Augen, lächelte und nickte.
»Er ist der Richtige, Contrario. Und er ist hungrig. Ich brauche einen hungrigen jungen Kerl.«
»Messer Arcimboldo«, mischte sich Hajek mit seiner wie zerbrochen klingenden Stimme ein, »er ist so gut wie jeder andere. Aber er beißt, wie Ihr selbst gesehen habt, und ist auch sonst eher störrisch und eigenwillig. Ihr tut Euch damit keinen …«
»Still jetzt«, fauchte Contrario, der noch immer dicht vor Jan stand, und schnitt Hajek das Wort ab.
Jan verabscheute diesen Kriecher Hajek, der das Waisenhaus für Jungen leitete, das an der Nordmauer lag. Dem wohlhabenden Fremden wäre der Kerl am liebsten in den Hintern gekrochen, nur damit er wieder einen Esser weniger füttern musste. Gleichzeitig bewunderte Jan ihn auch. Schließlich brachte er es immer wieder fertig, Männer und Frauen wie diesen Messer Arcimboldo hierher zu locken, damit sie sich eines der Jungen annahmen.
»Nehmt den daneben, der ist harmlos und zahm wie ein Hündchen«, sagte Hajek und grinste. Jan hasste ihn dafür. Hajek deutete mit seiner vor Schmutz starrenden Hand auf Jerzy, der direkt neben Jan stand. »Er sieht etwas dünn aus, das gebe ich zu, aber er ist zäh und …«
»Halt endlich den Mund!«, fuhr Messer Arcimboldo ihn an. »Wir nehmen den.« Er deutete unmissverständlich auf Jan. »Lass ihn das überziehen, Contrario!«
Mit diesen Worten warf er Contrario-Buntfinger, wie Jan den Kerl vor sich mittlerweile nannte, ein Bündel zu.
Geschickt fing der es mit einer Hand auf. Das zusammengelegte Kleidungsstück faltete sich auf. Jan wusste, dass spätestens jetzt allen Jungen die Augen übergingen und der Neid grenzenlos wurde. Es war ein neues, völlig makelloses Leinenhemd.
Wenn er das neue Leinenhemd mit seinen eigenen Lumpen verglich, wusste er nur eines: Es musste herrlich auf der Haut beißen und jucken, weil es jeden Flecken seines Körpers bedecken würde. Sein altes Hemd dagegen biss schon deshalb nicht mehr, weil es beinahe ausschließlich aus Löchern bestand. Nein, dieses Geschenk durfte Jerzy nicht bekommen. Jerzy, den Hajek so angepriesen hatte, würde es nur voll Blut husten. Er war krank, wie viele der Jungen. Sie alle wussten, dass Jerzy nur noch ein paar Monate zu leben hatte, auch Hajek. Wenn ihn der Bluthusten nicht noch schneller unter die Erde brachte.
»Nimm! Den alten Fetzen runter und das Hemd angezogen!«, bellte Buntfinger seinen Befehl.
Jan zögerte keinen Augenblick. Er trug außer dem Hemd nur noch eine ebenso löchrige Hose, die mehr sehen ließ, als sie verdeckte. Doch er riss sich die Lumpen in Windeseile vom Leib, warf sie zu Boden und griff nach dem Hemd …
»Das gehört dem Waisenhaus«, murmelte Hajek und schnappte sich Jans löchriges Hemd. Wie nebenbei zischte er Jan dabei zu: »Hexenbalg!«
Jan kümmerte sich nicht weiter darum. Hajek war sicher kein schlechter Kerl und er schikanierte seine Schützlinge nicht schlimmer als andere Arbeitshausleiter. Doch sein Geiz kannte keine Grenzen.
Jan schämte sich seiner Blöße. Er griff nach dem neuen Hemd, doch Contrario-Buntfinger zog es ihm blitzschnell vor der Nase weg, ging ein paar Schritte zurück und Jan musste hinter dem Kleidungsstück herlaufen. Da betrat Messer Arcimboldo ganz den Verschlag, packte Jan an der Schulter, drehte ihn herum und musterte den Rücken des Jungen.
»Ich hab es gewusst!«, murmelte er beinahe unhörbar.
Doch Jan hatte ihn verstanden. Er hatte ihn sogar gut verstanden, obwohl der Fremde in welscher Zunge gesprochen hatte. Das Welsche Italiens, wie seine Mutter. Jan wusste genau, worauf der Fremde schaute. Es war das Zeichen zwischen seinen Schulterblättern, das ihn zum Waisen gemacht und hierher verbannt hatte.
»Ich … äh … das Mal … ist von meiner Mutter …« Mehr brachte er nicht heraus. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Zieh das Hemd über!«, befahl Messer Arcimboldo streng und wandte sich wieder ab. Doch Jan konnte beobachten, wie sich die Blicke der beiden Fremden kurz trafen. Messer Arcimboldos Augen schienen sich einen Lidschlag lang zu vergrößern.
»Ich zahle den üblichen Preis«, sagte Messer Arcimboldo beiläufig. Jan wusste, der Fremde hatte seine Wahl getroffen – und sie war auf ihn gefallen. Die anderen Jungen links und rechts neben ihm murrten und stöhnten, während es ihm heiß übers Gesicht lief.
»Er gehört zu meinen besten Gehilfen. Er ist treu und aufgeweckt, keiner dieser …«
»Verschwendet nicht unsere und Eure Zeit, Hajek. Glaubt Ihr, ich bemerke nicht, dass Ihr ihn vorher ganz anders beschrieben habt? Ich zahle Euch, was die Stadt üblicherweise verlangt, wenn man einen Waisenjungen zu sich in die Werkstatt nimmt.«
»Herr!«, jaulte Hajek plötzlich auf und fiel sogar vor dem Fremden auf die Knie. »Er ist mehr wert, viel mehr. Ihr habt in ihm einen Stern …«
»Oh, das weiß ich bereits«, sagte Messer Arcimboldo. »Ich habe von seinem Schicksal gehört.«
Die Bemerkung ließ Hajek sofort verstummen. Er wusste genau, dass niemand Jan jemals in seine Werkstatt, geschweige denn in sein Haus aufnehmen würde, wenn bekannt wurde, wie seine Mutter gestorben war. Doch statt den Kopf demütig zu senken, blitzte Hajek Arcimboldo an. »Und jetzt holt Ihr ihn Euch und …«
Ein schneller Schlag mit dem Handschuh beendete den Angriff. Hajek hielt sich den Mund, eine Lippe war leicht aufgeplatzt.
Messer Arcimboldo öffnete den Verschlag und trat hinaus ins Licht. »Contrario, regle das. Ach ja, gib dem Halunken ein Silberstück mehr. Aber nur eines. Und nimm den Jungen sofort mit.«
Jan verschlug es die Sprache. Sonst wurde gefeilscht und gestritten, wenn ein Junge mitgenommen wurde. Egal ob es für eine abgesprochene Zeit war oder für immer. Den Mund hatte sich Hajek noch nie verbieten lassen.
Während der Ernte vermietete Hajek die kräftigeren Burschen an die Bauern der Umgebung. Das war eine harte, aber erfüllte Zeit. Die Tage begannen mit Sonnenaufgang und endeten erst bei völliger Finsternis, wenn nicht gerade der Mond aufging. Doch sie endeten mit sattem Bauch und dem wohligen Gefühl des Verdauens in den Gedärmen.
»Starr keine Löcher in die Luft. Avanti!«
Jan schreckte hoch. Die Formalitäten waren erledigt. Jan gehörte jetzt dem vornehmen Herrn, der sich Messer Arcimboldo nennen ließ.
Buntfinger schob ihn vor sich her aus der Tür, als müsse er sich beeilen, damit der Waisenhausleiter es sich nicht noch anders überlegte. Dennoch zögerte Jan an der Türschwelle. Wenn er die überschritten hatte, gehörte er nicht mehr hierher. Dann war er unterwegs in eine Zukunft, für die er ab sofort selbst verantwortlich war und von der er nur wenig bis nichts wusste.
Noch bevor er für sich entscheiden konnte, über die Schwelle zu treten, trieb ihn ein Stoß in den Rücken hinaus auf den Hof. Seine Beine verhedderten sich, er stolperte und landete mit den Händen voraus auf dem Boden. Jetzt war er froh darüber, dass er und die anderen Jungen den Hof gekehrt und mit Heu ausgelegt hatten. Er fiel weich und das frische Hemd wurde nicht beschmutzt. Blitzschnell drehte er sich jedoch zu Contrario-Buntfinger um und schnaufte. »Mach das nicht noch mal!«
Der Adlatus des Fremden sah ihn überrascht an, wobei er ein selten dämliches Gesicht zog. Die gehobene Augenbraue brachte Contrarios Mienenspiel ganz aus der Form, und man glaubte, eine Gesichtshälfte würde herabfallen und am Boden zerschellen, wenn er sie nicht mit der Hand festhielte. Doch nichts dergleichen geschah. Dann, ganz unvermittelt, brach ein krächzendes Lachen aus seiner Kehle. »Das ist gut. Das ist wirklich gut.« Buntfinger hielt sich den Bauch. Ebenso plötzlich verstummte er und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich werde dir zeigen, wer hier wem gute Ratschläge gibt! Ich kann dir jetzt bereits versichern, dass du es nicht sein wirst, mein Junge.«
Daraufhin packte er ihn – und mit einer Kraft, die Jan dem kahlköpfigen Scheusal nicht zugetraut hätte, zog er ihn auf und stellte ihn auf die Füße.
Sein neuer Herr wartete im Licht der Sonne. Jan sah, dass die Kleidung des Mannes noch edler war, als er es im Verschlag hatte erkennen können. Messer Arcimboldo war vermögend. Zufrieden baute er sich vor seinem Herrn auf und streckte ihm die Hand hin.
»Was soll ich tun, Herr?«, fragte er mit einer leichten Verbeugung. So hatte Hajek es ihm beigebracht, und Jan hielt es für richtig, jetzt den Rat zu befolgen.
Doch dieser Arcimboldo schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Er gab ihm nicht die Hand, sah ihn nicht einmal mehr an, sondern wandte sich, ohne Jans Frage zu beantworten, sofort an seinen Adlatus.
»Contrario, nimm ihn mit! Zeig ihm, wofür du ihn brauchst. Wir sehen uns im Atelier.« Damit wandte er sich grußlos um und stapfte davon. Er versuchte, den größeren Unratlachen auszuweichen, um seine feinen Lederschuhe nicht zu beschmutzen. Das war jedoch angesichts des schlechten Zustands der Straßen beinahe unmöglich.
»Er hat mich nicht einmal nach meinem Namen gefragt«, murmelte Jan enttäuscht.
Das Waisenhaus lag nahe der Nordmauer der alten Stadt. Es war ein baufälliges Fachwerkgebäude, das sich wie eine Faust um einen kleinen Innenhof schloss. Der Verschlag war früher einmal eine Werkstatt gewesen – vor dem großen Pestzug, der halb Prag entvölkert hatte. Auf einem der beiden Außentore des Gebäudes prangte noch heute ein dunkler Pfeil, der Hinweis darauf, dass sich der Schwarze Tod im Haus eingenistet hatte und man es meiden sollte. Doch das war mindestens fünfzig Jahre her und das einst blutrote Zeichen war mittlerweile ganz verwaschen und grau geworden. Hajek hatte es jedoch nicht entfernen lassen, weil er der Meinung war, damit würde das Gebäude noch immer vor unliebsamen Besuchern geschützt.
Contrario wartete, bis Messer Arcimboldo auf die Straße getreten war und den Heimweg eingeschlagen hatte, dann wandte er sich an Jan. Für einige Momente sahen sie sich gegenseitig in die Augen und schätzten sich ab. Der Adlatus hatte wasserhelle graue Augen, seine Lider waren fast wimpernlos, und er blinzelte so selten, dass Jan selbst die Augen schmerzten, wenn er nur zusah.
»Kannst du Blut sehen, Junge?« Ein Grinsen lief über Contrarios Gesicht. »Richtiges Blut?« Er wartete nicht ab, was Jan antwortete. Mit einer Kopfbewegung befahl er, sich ihm anzuschließen. Sie wandten sich direkt nach Süden wie Messer Arcimboldo.
Die Gassen südlich des Waisenhauses waren zum Bersten mit Leben gefüllt. In der engen Straßenschlucht in der Nähe der Mauer stank es zum Gotterbarmen. Das fiel Jan umso stärker auf, als Hajek immer auf Sauberkeit in seinem Waisenhaus bedacht gewesen war. Der Untergrund war holprig und unwegsam. Immer wieder mussten sie tiefen Löchern ausweichen, was nicht einfach war, denn gerade der Adel, nur hoch zu Ross, ritt rücksichtslos durch die Gossen und nahm auf nichts und niemanden Rücksicht. Je näher sie dem großen Marktplatz kamen, desto großzügiger wurden die Häuser. Die Fachwerkbauten verschwanden und machten den aus Ziegel gebauten Palästen der guten Gesellschaft Platz.
Jan musste sich anstrengen, um den Gehilfen Messer Arcimboldos nicht zu verlieren. Sie wollten gerade am Krocin-Brunnen vorbei, der inmitten des Platzes aufragte und von Frauen mit Kraxen bevölkert war, die darin Wasser in Krügen holten, als mindestens dreißig schwer bewaffnete Reiter auftauchten und über den Markt ritten.
Die Frauen flüchteten auf die Steinbänke vor dem Brunnen. Contrario zog Jan in eine der Hausnischen. Die Reiter kamen von einem der äußeren Stadttore und ritten in Richtung der Karlsbrücke und der Burg.
Contrario hielt den Jungen am Arm fest. »Der Kaiser!«, krächzte er plötzlich und deutete auf eine eher rundliche Gestalt inmitten der Reiter. »Man bekommt ihn nur selten zu sehen.«
Jan beobachtete zuerst den Regenten, dann aber warf er heimlich einen Blick auf Contrario-Buntfinger. Der sah mit brennenden Augen Kaiser Rudolf II. nach, als wollte er ihn auf der Stelle entthronen. Sie blieben noch eine Zeit lang in ihrer Nische, weil immer wieder wild gewordene Kurierreiter, die offenbar überaus wichtige Depeschen transportierten, die unbefestigten Lehmwege entlangpreschten.
Erst als der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches weitergezogen war und wohl schon die Brücke zur Kleinseite hin erreicht hatte, setzten sie ihren Weg fort. Sie überquerten den großen Marktplatz. Als sie an der astronomischen Uhr am Rathausturm vorüberkamen, schnaubte Contrario voller Unmut durch die Nase. Die Zeiger der Uhr standen seit über einer Woche still, wusste Jan. Die Ratsherren waren wie die aufgeschreckten Hühner umhergelaufen und hatten bei Mechanikern und Uhrmachern gebettelt, das Uhrwerk zu reparieren und wieder in Gang zu setzen, doch die Zunft der Instrumentenbauer hatte abgewunken. Seit Magister Hanus von der Karlsuniversität nach dem Bau seines Werkes geblendet worden war, damit er sein Wissen um die Mechanik nicht verraten konnte, wollte niemand mehr für den Rat Prags ein Uhrwerk bauen oder gar reparieren. Hinzu kam ein merkwürdiger Umstand, der unter der Hand weitererzählt wurde: Niemand fand mehr einen Aufgang zum Uhrturm. Es schien, als sei er seit dem Stillstand des Uhrwerks verschwunden, was ja nicht sein konnte, da er deutlich sichtbar im unteren Ende des Uhrturms zu sehen war. Obwohl Jan zu gerne mehr darüber erfahren hätte, scheuchte ihn ein lautes Schnaufen des Adlatus weiter.
Offenbar trieben Contrario ähnliche Gedanken um, denn er grinste schief in sich hinein und murmelte: »Man müsste nur suchen, man müsste nur suchen.«
Contrario führte Jan über die Karlsbrücke, die zu Beginn und am Ende von je einem Torturm begrenzt wurde, und hielt sich dann nach Norden, entlang der Mauer, die die Stadt von der Moldau trennte. Dort hatten sich im feuchten Schatten der Verteidigungsanlage die Ärmsten der Armen niedergelassen. Contrario, der schief ging und deutlich humpelte, trug eine Umhängetasche und einen Stab, auf den er sich stützte. Er atmete schwer, als könnten seine Lungen den Körper nur unzureichend mit Luft versorgen.
Dennoch rannte er beinahe, und Jan hatte einige Mühe, ihm zu folgen.
Zielstrebig steuerten sie ein Häusergeviert an, dessen graue Eintönigkeit vermuten ließ, dass es einst dasselbe Schicksal erlitten hatte wie Jans bisherige Unterkunft, das Waisenhaus. Manche der Gebäude waren zusammengestürzt. Die Balken zu morsch, als dass sie das Gewicht des Dachstuhls oder der Wände hätten halten können. Contrario humpelte, ohne zu zögern, in den dunklen Eingang, wandte sich dem Treppenhaus zu und stieg behände in den ersten Stock hinauf.
Ohne anzuklopfen, öffnete er eine der Türen und trat ein. Auf einer hölzernen Pritsche hockten ein dünner Mann und zwei kleine Kinder. An der Feuerstelle werkelte eine ebenso dürre Frau mit grauem Gesicht. Ihre Blicke richteten sich auf die Ankommenden. Jedoch wirkten ihre Mienen teilnahmslos und leer. Aus einem Berg Lumpen in der Ecke begrüßte sie ein tiefes, raues Husten.
»Wie geht es ihr?«, murmelte Contrario.
Die Frau am Herd zwang sich ein Lächeln ab. »Etwas besser. Der Husten hat nachgelassen.«
Contrario nickte. »Schön. Gebt ihr das hier, wenn ich wieder weg bin. Ein wenig Laudanum wird sie schlafen lassen. Schlaf befördert die Heilung.« Er drückte dem dürren Mann eine kleine Phiole mit dunkler Flüssigkeit in die Hand. »Doch zuerst … ich muss sie zur Ader lassen!«
Ohne auf die Familie zu achten, trat Contrario ans Bett der Kranken. Aus dem Berg aus Lumpen und Fetzen sah Jan ein kleines, blasses Gesicht entgegen. Es war vermutlich die Großmutter, obwohl er dem Aussehen nach nicht sagen konnte, wie alt die Frau wirklich war.
Sie atmete schwer und tiefdunkle Ringe umschatteten ihre Augen. Ihre Nase ragte spitz empor, und auf der linken Wange hatte sich eine Warze entzündet, nässte und verursachte eine feuchte, klebrige Spur, an der das Laken haften blieb. Jan hatte genügend Kranke gesehen, um zu erkennen, was der Alten fehlte. Ihre Lunge war entzündet und die Warze war zu einem unheilbaren Geschwür ausgewachsen. Vielleicht hatte sie sogar den Bluthusten, an dem auch Jerzy aus dem Waisenhaus litt und der sich in den Stadtvierteln am Fluss ausbreitete wie eine Seuche. Wirklich geholfen hätten hier nur ein Ortswechsel und ausreichend Nahrung. Doch gerade an diese beiden Heilmittel war nicht zu denken. Wenn die Frau überhaupt zu retten war.
»Kremple den linken Ärmel hoch!«, befahl Contrario harsch. Niemand widersetzte sich seinen Anordnungen, und mit einer Kopfbewegung trieb er Jan an, der schwachen Alten zu helfen.
Jan schob den Ärmel ihres Hemdes über die Armbeuge. Was er sah, erschreckte ihn. Die Beuge war über und über mit Narben bedeckt. Dieser Contrario, der sich offenbar als Quacksalber versuchte, musste sie mindestens zehnmal zur Ader gelassen haben.
Der Adlatus zog eine Schale und eine kleine Fliete, ein besonders gebogenes Messer zum Aderlassen, aus seiner Tasche und legte beides auf ein Holzbrett neben dem Bett der Kranken ab. Dazu stellte er eine Kerze. Mit Stein und Stahl schlug er im Zunder einen Funken und blies ihn zur Flamme auf, um damit die Kerze zu entzünden.
»Warum habt Ihr sie nicht am Herdfeuer entzündet?«, wagte Jan zu fragen, doch ein scharfer Blick Contrarios traf ihn und brachte ihn zum Verstummen.
»Du fragst nicht. Du redest überhaupt nicht. Du tust, was man dir befiehlt!«, zischte Contrario nur, starrte ihn strafend mit seinen wimpernlosen Augen an und wandte sich seiner Arbeit zu.
Mit einer geschickten Bewegung hielt er die Klinge ins Kerzenlicht. Dann ging alles sehr rasch. »Die Schale!«, bellte er kurz, und Jan hatte gerade noch Zeit, die Schale zu greifen und sie unter den schwachen Blutstrahl zu halten, der aus dem Arm schoss, nachdem Contrario die Vene eingeritzt hatte. Er war dunkel und roch süßlich.
Die Alte stöhnte kurz, dann verdrehte sie die Augen und sackte langsam zusammen. Der Strahl wurde schwächer, und bevor das Blut in der Schale überlief, drückte der Adlatus die Vene mit dem Daumen ab. Jan, der in seinem fünfzehnjährigen Leben schon viel Blut gesehen hatte, musste dennoch schlucken. Der süßliche Geruch nistete sich in seiner Nase ein und füllte seinen Mund mit Speichel. Die braune Flüssigkeit schwappte in der Schale und zwei Rinnsale liefen über den Rand und über seine Finger. Dann begann das Blut von den Rändern her zu stocken, wurde dunkel und bröckelig – und Jan glaubte, er würde ohnmächtig. Sein Blick richtete sich starr auf das Gefäß, und er hatte das Gefühl, als würde sich alle Welt nur noch darauf ausrichten. Gerade dass er noch mitbekam, wie Contrario mit raschen Bewegungen die Kerze ausblies und alles wieder in seinem Sack verstaute.
Dann, nach einer kleinen Unendlichkeit, nahm er Jan die Schale aus der Hand. Mit dem Blut ging er ans Fenster, blickte kurz in die Schale, als finde er darin die Zukunft der Kranken, beroch die dunkle Flüssigkeit und schüttete sie schließlich auf die Straße hinunter.
»Wasch sie aus«, befahl er Jan, der langsam wieder zu sich kam und sich aus seiner Erstarrung lösen konnte. An die Familie gewandt, wiederholte er: »Gebt der Frau drei Tropfen des Laudanums, wenn sie erwacht. Jeweils morgens, mittags und abends. Es wird sie stärken. Ich schaue übermorgen wieder vorbei.«
Die jüngere Frau, die während der gesamten Prozedur am Herd gestanden und ihnen den Rücken zugedreht hatte, trat auf Contrario zu, Tränen in den Augen. »Wie können wir Euch nur danken?«
Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, sah er ihr ins Gesicht. »Ich kann nur lindern. Allein Gott kann ihr noch helfen.«
Damit drehte er sich um und ging grußlos hinaus. Jan folgte ihm.
Noch auf der Treppe hielt es Jan nicht mehr aus. »Ist Messer Arcimboldo ein berühmter Arzt? Seid Ihr sein Gehilfe?«
Contrario blieb auf der Treppe stehen. Jan drehte sich zu ihm um. Obwohl Jan eine Stufe tiefer stand, sahen sie sich direkt in die Augen.
»Ein Arzt ist nur Wächter über Leben und Tod. Unser Herr aber erschafft Leben!« Contrarios Stimme hatte sich zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt und krächzte rau. »Und jetzt weiter mit dir, wir haben zu tun.«
Jan konnte mit dieser Antwort wenig anfangen, doch sie klang sehr geheimnisvoll. Ein Mensch, der Leben erschafft? Menschen konnten nur Leben nehmen, vielleicht auch – wenn sie als Arzt und Bader geschickt genug waren – Leben verlängern. Aber Leben geben? Das konnten nur Gott und – bei diesem Gedanken lief es Jan eisig den Rücken hinab und er wäre die letzten Stufen beinahe hinuntergestolpert – die großen Magier unter den Alchemisten. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man von Experimenten in der Goldenen Gasse, von Humunculi und Golems und anderen dienstbaren Wesen, die in Flaschen gezüchtet und aus Lehm geformt worden sein sollten. Doch gesehen hatte sie noch nie jemand.
»Dann ist er ein mächtiger Alchemist?« Jan flüsterte nur.
»Mächtiger als alle Herrscher dieser Welt zusammen«, zischte der Adlatus und spuckte in die Gosse. »Nur wenige können ihm das Wasser reichen.«
»Ich habe noch nie von ihm gehört«, flüsterte Jan zurück. Das unheimliche Treiben der wirklich bedeutenden Magier am Hof des Kaisers sprach sich rasch unter der Bevölkerung herum. Schließlich arbeitete die halbe Stadt im Kaiserpalast.
»Er war schon Hofmaler, Architekt, Bildner, Ingenieur und Organisator von Festen unter Kaiser Maximilian und seit zehn Jahren ist er Hofmaler Rudolfs II. Sie schätzen ihn, aber sie kennen noch nicht alle seine Talente. Er ist ein Gott …«
Jan sah die Augen des Adlatus glänzen, als fiele von der Göttlichkeit seines Meisters ein Schein auch auf den Gehilfen. Doch dann verzog sich das Gesicht des Mannes zu einer wütenden Grimasse – und wieder spuckte er aus. Diesmal gegen eine Hausmauer, dass es zischte, als wäre der Speichel eine Säure.
Jan wagte es nicht, sich noch einmal an Contrario zu wenden, um ihn zu fragen, was er mit seinem Satz gemeint hatte. Stumm wartete er an der Tür, ließ Contrario wieder die Führung übernehmen und folgte ihm.
Weitere fünf Patienten besuchten Contrario und er noch an diesem Vormittag. Sie suchten dazu die äußersten Winkel der Stadt auf, liefen dorthin, wo die Stadtmauer bereits Lücken aufwies, weil niemand den Befehl gab, sie zu reparieren, dorthin, wo die Gelder der großen Prager Burg niemals hingelangten, wo das Goldene Prag zu einem Schutthaufen aus faulenden Balken und morschen Ziegeln zerfiel. Und jedes Mal geschah dasselbe. Sie betraten ein Wohnhaus, stiegen Treppen hinauf oder krochen in hinterste Winkel, in denen sie Menschen vorfanden, die kaum noch am Leben waren. Der Adlatus ließ einen aufs Äußerste geschwächten Menschen zur Ader und schüttete zuletzt das abgezapfte Blut auf die Gasse. Die Menschen, die diese Elenden pflegten, ertrugen stumm deren Leiden, obwohl sie oft finster und verbittert dreinschauten. Doch niemand widersetzte sich den Künsten Contrarios.
Jan und der Adlatus bewegten sich bei ihren Krankenbesuchen langsam die Mauer entlang bis zur Karlsbrücke.
Kurz vor dem Torturm am Aufgang zur Brücke ereignete sich das, was Jan längst erwartet hatte. Sie betraten in einem besseren Wohnviertel das Zimmer eines jüngeren Mannes. Es roch nach Schweiß und Urin, nach Eiter und – Tod. An seinem Bett saß eine junge Frau und wischte dem Kranken mit einem Tuch die Stirn ab. Die Augen, mit denen sie die beiden Ankömmlinge musterte, wirkten wie dunkle Höhlen im Weiß ihres Gesichts.
Der junge Mann lag mit offenem Mund im Bett und schnarchte leicht. Das Laken war zur Seite gerutscht, sein Körper mit Schweiß bedeckt. Die Haut schimmerte wächsern. Sein linker Arm hing überstreckt über die Bettkante, als warte er nur darauf, zur Ader gelassen zu werden.
Contrario stellte seine Tasche ab. Jan konnte beobachten, wie sich auf seinem schiefen Gesicht eine Art Zufriedenheit einstellte. Ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen und sich um die Frau zu kümmern, griff er nach seiner Fliete.
»Die Schale. Rasch!«, flüsterte er und kniete sich neben den Mann.
Doch kaum hatte er das Messer angesetzt, polterte es im Treppenhaus draußen. Die Tür, die sie nur angelehnt hatten, wurde ganz aufgestoßen.
»Was … um alles in der Welt …«, hörte Jan jemanden fluchen. Dann durchschnitt ein Schrei die Stille. Der Kranke zuckte zwar, erwachte jedoch nicht. Die Frau blieb einfach sitzen.
»Wollt Ihr mich von meiner Arbeit abhalten?«, keifte Contrario.
»Quacksalber! Scharlatan! Teufelsbrut!«, schrie der Kerl, der aussah, als wäre er dem Kranken wie aus dem Gesicht geschnitten, nur dass sein Gesicht hochrot angelaufen war und er höchst lebendig im Zimmer herumtobte. »Rühr meinen Bruder nicht an oder ich bring dich um!« Er packte Contrario am Kragen und hob ihn hoch. Obwohl der Gehilfe über außerordentliche Kräfte verfügte, wie Jan wusste, schien er der Gewalt des Zwillings doch hilflos ausgeliefert zu sein. »Raus – oder ich werfe dich die Treppe hinunter! Und dich gleich mit. Verbrecher, alle beide!«
Er schleuderte Contrario durch das halbe Zimmer. Der rutschte bis auf den Treppenabsatz hinaus. Dann drehte sich der Kerl um, um Jan zu suchen, doch dieser war zwischen den Beinen des Wütenden hindurchgekrabbelt und hatte bereits das Weite gesucht. Sie flohen im Eilschritt die Treppe hinab und aus dem Haus. Oben wurde das Fenster aufgerissen und der Mann schickte ihnen wüste Flüche hinterher.
»Nicht jeder kann die Segnungen der ärztlichen Wissenschaft annehmen«, murmelte Contrario. »Wir holen ihn uns dennoch«, setzte er noch hinzu.
Endlich überquerten sie die Karlsbrücke, um auf die Kleinseite zu gelangen. Sie durchschritten die beiden Tore am Beginn und zum Ende der Brücke und stiegen die Spornergasse hinauf in Richtung Hradschin. Am unteren Ende der Gasse besuchten sie erneut einen Patienten.
Sie betraten das schmale Grundstück durch ein Gartentor. Die Tür zum Haus stand offen. Sie traten in einen Vorraum und stiegen in einem Haus die Treppen hinauf, das erfüllt war von Biergeruch. Die Schänke im unteren Geschoss schien geschlossen. Dennoch stank es nach abgestandenem Bier und der Feuchtigkeit ausgewaschener Gärtröge. Gleichzeitig lag ein scharfer Duft nach Hefe und gärendem Sud über allem. Die Wirtschaft braute selbst.
Im nächsthöher gelegenen Stockwerk erhaschte Jan einen Blick durch ein halb offenes Zimmer. Es war angefüllt mit Büchern und Schriftrollen. Erst im dritten Stockwerk fanden sie den Kranken. Bereits als sie den Raum betraten, der auf einen Wirtschaftsgarten hinter der Gasse hinaussah, wusste Jan, dass sie zu spät kamen. Der Alte, der dort im Bett lag, hatte eine Gesichtsfarbe, die ein nahes Ende verkündete. Jan kannte diese wächserne, beinahe durchscheinende Farbigkeit, die die Haut annahm, kurz bevor das Leben sich langsam vom Leib löste und aus dem Körper entwich. Ein halbes Dutzend seiner Freunde hatte er sterben sehen. Als würde die Seele die Hautfarbe mit sich nehmen. Jan hatte es sich immer so zurechtgelegt, als bräuchte die Seele, die jetzt ohne Körper durch die Weite der Welt schwebte, eine Art Kleid aus Farbe, um sich damit zu bedecken.
Die Verwandtschaft des Alten stand um das Bett und betete lautstark. Auch sie wusste, dass es mit dem Großvater zu Ende ging.
Contrario kümmerte sich nicht um die Anwesenden, sondern trat ans Bett, legte dem Alten die Hand auf die Stirn und befahl Jan, dessen Ärmel hochzukrempeln.
Hinter ihnen räusperte sich ein wohlhabend gekleideter Mann, offenbar der Braumeister und Herr des Hauses. »Müsst Ihr ihn noch einmal quälen, Contrario?«
Wie von der Tarantel gestochen fuhr der Adlatus herum. »Seid Ihr der Arzt?«, fuhr er den korpulenten Mann an. »Dass der Herr Euren Schwiegervater zu sich nehmen will, dafür kann ich nichts. Ich habe den Eid des Hippokrates geschworen und will noch einmal versuchen, ihn davon abzuhalten. Wollt Ihr daran schuld sein, dem Alten die letzte Möglichkeit genommen zu haben, dem Tod von der Schippe zu springen?«
Betreten und dennoch widerwillig schüttelte der Mann den Kopf. Man sah es ihm deutlich an, dass ihm der Aderlass an seinem Schwiegervater zuwider war, der so offensichtlich im Sterben lag. Da er jedoch nichts sagte, drehte sich Contrario zu dem Alten um und begann mit seiner Arbeit. Als sich Jan dazugesellte, fuhr ihn der Adlatus an: »Ich brauche dich nicht, warte draußen!«
Jan, über diese Wendung erstaunt, zog sich zurück. Was hatte er jetzt wieder verbrochen, dass er den Raum verlassen musste? Er lief die Treppen hinunter und in den Wirtschaftsgarten hinaus. Zwischenzeitlich hatte es zu regnen begonnen und über die Stadt hatte sich eine sanfte Stille gelegt. Kühl war es geworden unter den Wolken und ein leichter Wind strich um die Ecken der Häuser.
Jan sah sich um und entdeckte im hinteren Teil eine überdachte Nische direkt neben einem Hühnerstall und schlang die Arme um sich, um sich ein wenig zu wärmen. Jan wunderte sich, dass ihn dieser Contrario nicht dabeihaben wollte, wenn er dem Alten Blut abnahm. Er hatte ihn doch bislang nicht weggeschickt.
»Worauf wartest du?«, fragte ihn eine Stimme, die direkt aus dem Hühnerstall zu kommen schien.
Jan, der sich mit hochgezogenen Schultern und frierend unter das kleine Vordach des Hühnerstalls duckte, um dem endlosen Regen zu entgehen, blickte verwundert auf. »Reden jetzt schon die Hühner?«, fragte er zurück und spähte durch das Riemenflechtwerk ins Innere des Hühnerstalls.
Ein Schlupf öffnete sich und das Gesicht eines Mädchens erschien, dunkler Teint, ebenso dunkle Augen und ein schwarzer Haarschopf. Auf ihren Augenbrauen saßen kleine Flaumfedern.
»Gack, gack!«, begrüßte sie Jan. Der musste grinsen. »Du machst eine mindestens ebenso lächerliche Figur wie ich!«, sagte das Hühnergeschöpf schnippisch. »Bist du der Kerl, der unsere Hühner frisst und die Eier stiehlt?«
»Eure Hühner? Niemals. Ich bin aus dem Zimmer geschickt worden.« Er deutete nach oben. »Dem alten Mann geht es überhaupt nicht gut. Er stirbt.«
Jan hörte im Inneren des Stalls die Hühner erschreckt aufflattern und ein Scheppern, als wäre eine der Stangen herabgebrochen. »Haben sie wieder den Quacksalber zu Großvater gelassen?«, tönte die Stimme dumpf.
»Bist du von der Stange gefallen?«, erkundigte er sich besorgt. Doch da wurde hinter ihm die Stalltür geöffnet. Das Mädchen stand darin und schob ihn mitsamt der Tür in den Regen hinaus.
»Sie dürfen ihn nicht zu ihm lassen. Er bringt ihn nur um!« Flink klopfte sie sich die kleinen Federn aus Haaren und Kleidern.
»Was machst du überhaupt im Hühnerstall? Soll ich dir helfen?«
»Fass mich nicht an!«, keifte das Mädchen und funkelte ihn wütend an, weil Jan versuchte, kleine weiße Federchen aus ihren schwarzen Haaren zu zupfen. »Ich muss mich beeilen. Weg da!«, sagte sie nur. »Großvater braucht Hilfe, sonst stirbt er tatsächlich.«
Wie eine Windbö fegte sie durch den Garten und ins Haus, und Jan hörte, wie sie im Stockwerk über ihm lautstark gegen den Aderlass protestierte. Er musste ihr recht geben. Contrario beschleunigte mit seinem Eingriff nur das Sterben des Alten. Das Kreischen des Mädchens, das offenbar von den Verwandten festgehalten werden musste, weil es sich sonst auf den Adlatus gestürzt hätte, fuhr ihm wie scharfe Fingernägel über den Rücken. Ihn bissen Schuldgefühle, weil sie sich so für ihren Großvater einsetzte, während er nichts dagegen getan hatte, dass Contrario sein grausames Handwerk ausübte. Zumindest wollte er den Gehilfen genauer beobachten und sich einmal das ausgeschüttete Blut vor den Fenstern ansehen, ob an ihm etwas auffällig war.
Jan zog sich wieder in den Schutz des Hühnerstalls zurück und sah zerknirscht in den Regen hinaus, der einen Schleier über Prag gelegt hatte. Von seinem Standpunkt aus hatte er einen Blick über die Moldau und die südliche Vorstadt bis zur Karlsbrücke. Zwei riesige Holzflöße trieben stromabwärts und wurden von mindestens fünfzehn Flößern um das Moldauknie gesteuert. Sie tauchten aus dem Wasservorhang auf und verschwanden wieder darin, als wäre es die Vorstellung einer Wanderbühne gewesen. Das Wasser tünchte die Stadt mit sattem Braun und Grau. Alles wirkte ebenso trostlos, wie Jan sich gerade fühlte.
Zu seinen Füßen raschelte es, und Jan hätte beinahe den Fuß zurückgezogen, um gegen einen Stock zu treten, der dort lag. Im letzten Augenblick konnte er die Bewegung stoppen. Dort lag kein Stock. Ein Lebewesen kroch aus einer Lücke des Hühnerstalls, eine Art Schlange mit Beinen, eine übergroße rötliche Eidechse. Sofort beschleunigte sich sein Atem und Jan musste mehrmals hörbar schlucken. Auch das Tier hörte offenbar das Geräusch und hob den Kopf. Smaragdgrüne Augen fixierten ihn und eine blaue Zunge schoss aus dem Mund des Wesens. Sie war gespalten wie bei einer Kreuzotter. Dann öffnete sich der Mund und gab zwei spitze feuerrote Zähne frei, die sich höher aufrichteten, je weiter das Maul aufgerissen wurde.
Du frisst hier also die Hühner, dachte Jan und wagte sich nicht zu rühren. Wer oder was bist du?
Der Körper der Echse war mit Schuppen bedeckt, die rötlich schimmerten und sich der Umgebung anzupassen schienen, denn sie wechselten die Farbe je nach Untergrund, einmal braunrot, wie das Holz des Verschlags, dann wieder grün wie die Grasbüschel davor, aber immer mit diesem Anflug von Purpurrot.
»Kerl! Komm endlich, wir müssen fort!«
Jan schreckte hoch. Contrario rief ihn. Er konnte sich jedoch nicht rühren, aus Furcht vor den Folgen. Und rufen wollte er ebenso wenig.
Das fremdartige Tier schien sich über sein Dilemma zu amüsieren, denn es verzog die Mundwinkel, dann senkte es den Kopf und schloss den Mund. Mit einer Geschwindigkeit, die man den klauenbewehrten kurzen Beinen nicht zugetraut hätte, sauste es in den hinteren Garten und von dort aus in Richtung Wasser. Kurz bevor es aus seinem Blick verschwand, hob es noch einmal den Kopf und blickte zu ihm herüber, als wolle es sich vergewissern, dass er noch da war.
»Herrgott, Jan, wo bist du?«, fauchte Contrario erneut.
»Hier. Ich bin hier!« Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken, wenn er an das Biest dachte. Er zog die Schultern hoch und huschte aus seinem Unterstand, den Blick auf den Boden geheftet. Der Adlatus stand bereits unter dem Torbogen. Er steckte eben eine Phiole in seinen Beutel, drehte sich um und lief den Berg hinauf in Richtung Burg, ohne weiter auf ihn zu warten.
Jan ging hinter ihm her und hätte aus Furcht vor dem schlangenartigen Wesen beinahe vergessen, was er sich vorgenommen hatte, nämlich die Blutlache genauer anzusehen. Vor dem Haus musterte er neugierig den Boden, ob er etwas an dem Blut entdecken konnte, das Contrario sonst aus dem Fenster schüttete. Doch die Flusskiesel glänzten nur regenfeucht. Von Blutfarbe keine Spur. Dabei regnete es keineswegs so heftig, dass der Inhalt einer ganzen Schale bereits hätte weggeschwemmt werden können.
Überrascht folgte er dem Adlatus, der trotz seines Humpelns einen tüchtigen Vorsprung herausgelaufen hatte. Er durfte ihn nicht verlieren, schließlich hatte er keinen Schimmer, wo Messer Arcimboldo wohnte.
2
Im Haus des Magiers
Die Sonne ging früh hinter dem Burgberg unter, und der mächtige Hradschin, der über der Spornergasse aufragte, warf einen düsteren Schatten in die Häuserschlucht. Das schwarze Vlies der Nacht begleitete ein eisiger Atem, der kalt den Weg herabwehte und mit der Feuchtigkeit der Moldau Nebelschleier erzeugte. Mit zwischen die Schultern eingezogenen Köpfen stapften Contrario-Buntfinger und Jan den gepflasterten Anstieg hinauf. Die Burganlage mit dem Veitdom als Krönung wirkte in ihrer Massigkeit einschüchternd auf Jan. Eine Baumasse war das, die daran gemahnte, dass hier der mächtigste Mann der Christenheit, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Seine Majestät Rudolf II., seinen Wohn- und Herrschersitz genommen hatte. Wie bei einem Spinnennetz liefen alle Fäden dieses Riesenreiches und auch die weniger langen der Stadt Prag dort oben zusammen. Und wurde an einem der Fäden gezogen, dann wanderten geistliche und weltliche Fürsten, Diener und Zofen, Soldaten und Bauern dort hinauf und brachten ihren Tribut dar, seien es Goldleistungen oder bloße Arbeit. Von hier aus pulste der Herzschlag bis in die feinsten Verwinkelungen Europas – und ein Husten aus den Fenstern der Macht ließ die Scheiben der christlichen Welt klirren.
Jan und Contrario-Buntfinger schlichen am Portal entlang, misstrauisch beäugt von den Wachen. Doch der Gehilfe ließ die Burg rechter Hand liegen und wandte sich wieder bergab einer kleinen Siedlung zu, die gerade noch hinter die Wehrmauer im Westen zu passen schien.
Dort lag das Atelier Messer Arcimboldos. Ein Haus, das ein wenig größer war als die umliegenden Gebäude. Obwohl es nicht besonders auffällig wirkte, reckte es sich keck in die Höhe und sah im oberen Stockwerk frech über die Mauer weg, die hinter ihm emporragte. Jan gefiel dieser unscheinbare und doch stolze Trotz.
»Hier sind wir«, murmelte Contrario-Buntfinger und blieb vor dem Haus stehen.
Jan sah sich um. Das Gebäude stand auf der obersten Kuppe eines Hügels, sodass man vom ersten Stockwerk aus, das gleichzeitig das einzige war, sicher über die Mauerzinnen ins Land hineinsehen konnte. Es besaß einen freundlich hellen, leicht ins Rötliche reichenden Anstrich.
Buntfinger stellte sich vor die Tür, breitete die Arme aus und murmelte etwas, das Jan nicht verstand. Wie von selbst öffnete sich die Haustür. Jetzt erst bemerkte Jan, dass sie über keinerlei Griff oder Schloss verfügte, mit der man sie hätte öffnen können. Verwundert und ein wenig besorgt musterte er den Adlatus und fragte sich ernsthaft, an wen er da geraten war.
»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte er, doch Contrario-Buntfinger trat, ohne eine Erklärung abzugeben, ein und winkte Jan, ihm zu folgen. Innen war das Haus noch größer, als es von außen gewirkt hatte. In die gesamte Westfront waren Glasfenster eingelassen. Sie gaben dem Geschoss den Charakter einer Kirche. Überall – und das war wirklich erstaunlich – fanden sich Bilder. Sie waren auf Staffeleien montiert oder standen einfach hintereinander geschichtet am Boden herum. Es mussten Dutzende sein.
»Rühr ja nichts an, Junge. Ich zeig dir jetzt den Dienstbotenraum. Dort kannst du schlafen. Du solltest ihn dir ein wenig einrichten. Was du brauchst, findest du in den beiden Räumen daneben.« Er zeigte auf zwei Türen im Erdgeschoss. Dann stapfte Contrario-Buntfinger, den gesenkten Kopf voraus, zu einer dritten Tür, und er öffnete sie, wie man alle Türen der Welt öffnet: indem er eine Klinke drückte.
»Contrario?«, ertönte eine Stimme aus dem oberen Stockwerk. Jan blickte sich um. Eine steile Treppe führte vom Erdgeschoss aus hinauf. »Hast du es?«
»Ja, Messer Arcimboldo«, antwortete der Adlatus und deutete Jan mit einer Geste an, er solle sich den Dienstbotenraum ansehen. »Mein Herr und Meister ruft mich«, entschuldigte er sich.
Jan betrat den Raum. Es war ein Kabuff mit einem Fenster, das gerade so viel Licht hindurchließ, dass man nicht das Gefühl hatte, blind zu sein, wenn man die Tür schloss. Auf einer Pritsche, die wohl sein Bett darstellte, lagen Berge von Spannrahmen, allesamt bereits rötlich grundiert. Jan begann, sie vom Bett zu räumen und an die Wand zu stellen, setzte sich danach auf die Pritsche und ließ den Blick über seine neue Zuflucht schweifen. Einen Palast konnte man dieses Zimmer nicht nennen, doch war es allemal besser, als im Waisenhaus mit zehn Jungen in einem Raum zu schlafen. Das Zimmer gehörte ihm. Ihm allein. Hier war er ungestört. Er musste den Raum mit niemandem teilen, wenn er erst mal all die Rahmen und Farbtöpfe und Pigmentgläser aus ihm verbannt hatte. Endlich wusste er, was Messer Arcimboldo von Beruf war: ein Maler.
Da er Contrario-Buntfinger nicht fragen wollte, wohin die Spannrahmen zu schaffen seien, beschloss er, selbst eine Lösung zu finden. Mit einem ganzen Schock von zwölf Rahmen im Arm betrat er die Halle und suchte nach einem Stauraum. Er war sich sicher gewesen, dass neben seinem Zimmer eine weitere Tür gewesen war, doch sie war verschwunden. Vermutlich hatte er sich getäuscht. Da er die grundierten Leinwände nicht einfach irgendwohin bringen konnte, stellte Jan sie vor seinem Zimmer gegen die Mauer.
Dann machte er sich auf, das Haus zu erkunden. Vermutlich würde es länger dauern, wenn der Adlatus mit seinem Herrn im ersten Stock zu sprechen hatte, um ihm von Jan und seinem ersten Arbeitstag zu erzählen. Derweil schlenderte er selbst durch das Untergeschoss und sah sich um.
Jan betrachtete zuerst die überall auf Staffeleien und am Boden stehenden fertigen Bilder. Sie waren flüchtig gemalt, als hätte Messer Arcimboldo nicht die Zeit gehabt, sie fertigzustellen. Die Konturen der Landschaften und Bäume waren undeutlich, die Farben blass und überall schien die Leinwand durch. Allesamt zeigten sie auch merkwürdige Dinge. Da gab es Köpfe, die sich aus Muscheln oder Blättern zusammensetzten, Tiere, die aussahen wie dreiköpfige Hydren, oder eine Schlange mit gewaltigen Zähnen im Maul. Sie zeigten ebenso Riesenkatzen und schnappende Schildkröten, die ihr Maul aufgerissen hatten, als wollten sie die Welt verschlingen, und deren Schlund höllenrot leuchtete, wie dunkle pantherartige Wesen mit großen grünlichen Augen. Ein ganzes Sammelsurium an dämonenfratzigen Wesen war hier festgehalten und konnte einem den Schlaf rauben. Es gab jedoch auch einen bunt schillernden Vogel darunter, der direkt dem Paradies entflohen zu sein schien mit seinem buntfarbigen Gefieder. Er hockte auf einem Ast und blickte Jan direkt an. So echt war er, dass Jan glaubte, er würde das Rascheln seiner überlangen Nackenfedern hören. Sie alle machten einen unfertigen Eindruck und wirkten bis auf das Rot eher blass, als fehle ihnen noch die letzte Überarbeitung. Ganz hinten entdeckte Jan sogar eine Art Pantherdrachen mit Natternkopf. Einen Flügel hatte er an den Körper gelegt, den anderen entfaltete er gerade. Seine Tatzen waren die eines Vogels, sein langer Hals und der platte Kopf der einer Schlange.
»Eine Chimäre!«, murmelte Jan. Solch einem Wesen wollte er niemals im Leben begegnen. Und etwas weiter vorn im Bilderstapel stieß er auf ein weiteres Tier dieser Art, mit Katzenkopf und dem breiten Brustkasten eines Bären.
Jan wusste nicht, ob er nach oben in den ersten Stock gehen durfte, entschied sich dann jedoch dafür, sich bei Messer Arcimboldo vorzustellen. Hajek hatte das seinen Jungen geraten. Wenn der Waisenhausleiter auch zu sonst nichts taugte, über solche Dinge wusste er merkwürdigerweise Bescheid. Höflichkeit verlängerte eine Anstellung entschieden. Vielleicht sollte er seinen neuen Herrn fragen, warum er ausgerechnet ihn ausgewählt hatte …
Jan hatte nicht vor zu schleichen, als er jedoch auf halber Treppe Stimmen vernahm, versuchte er, so leise wie möglich emporzusteigen. Käme er ungelegen, könnte er unbemerkt umkehren und müsste sich nicht umständlich entschuldigen.
So erklomm er lautlos die Stiege, prüfte bei jedem Schritt, bevor er ihn aufsetzte, ob die Stufe unter seinem Fuß knarrte. Als sich sein Kopf auf Höhe des oberen Bodens befand, konnte er erkennen, dass das Stockwerk aus einem einzigen Raum bestand, aus dessen Fensterfront man tatsächlich in die freie Landschaft hinter der Mauer blicken konnte. Nahe am Fenster, im letzten Licht der untergehenden Sonne, die hier länger in das Zimmer schien als in die Schlucht der Spornergasse, stand Messer Arcimboldo. Direkt hinter ihm, devot gebückt, aber mit einem lauernden Ausdruck im Gesicht, Lob oder Tadel erheischend, Contrario-Buntfinger. Sein neuer Herr betrachtete eben eine Phiole gegen das Licht der Sonne. Jan konnte erkennen, dass die Flüssigkeit darin rötlich funkelte.
»Das Blut eines Sterbenden. Er wird kaum noch eine halbe Stunde gelebt haben«, vernahm er Contrarios Erklärung. »Danach sind wir gleich hierher zurückgekehrt.«
»Du hattest den Jungen dabei?«, fragte Arcimboldo.
»Ich hatte den Jungen weggeschickt. Es sind zweierlei Dinge, einen Menschen zur Ader zu lassen und ihm … nun Ihr wisst ja.«
»Gut gemacht!«, sagte Messer Arcimboldo und schien ganz in die Betrachtung des roten Blutsaftes vertieft zu sein.
Jan war alarmiert. Was verhandelten die beiden da? Langsam, ohne ein Geräusch zu verursachen, trat er den Rückzug an. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass er diese kurze Besprechung nicht hätte mithören dürfen. Obwohl er sich geräuschlos die Treppe hinabbewegte, lauschten seine Ohren auf jeden Atemzug, der dort oben getan wurde. Gleichzeitig herrschte in seinem Kopf die schlimmste Verwirrung: War Messer Arcimboldo doch kein Maler, sondern ein Alchemist, der mit Blut oder gar Menschenteilen experimentierte oder womöglich einen Jungen wie ihn für seine Experimente brauchte und ihn sich dafür aus dem Waisenhaus geholt hatte? Ihn würde niemand vermissen, so viel war sicher.
»Er richtet sich gerade ein … wir werden die Gelegenheit haben, es auszuprobieren … nicht vorsichtig genug … einzigartig …« Er verstand noch den einen oder anderen Brocken, der oben gesprochen wurde, konnte sich jedoch aus diesen einzelnen Bruchstücken kein sinnvolles Ganzes mehr zusammenreimen. Dennoch klang es bedrohlich, für ihn bedrohlich. Als er die letzte Stufe nach unten genommen hatte und wieder auf dem Steinboden des Erdgeschosses stand, beeilte er sich, zu seinem Zimmer zurückzukommen.
Die Phiole mit ihrem funkelnden Inhalt ging ihm nicht aus dem Kopf. Wozu benötigte Messer Arcimboldo Blut? Blut eines Sterbenden? Hatte Contrario nicht alles Blut seiner Patienten zum Fenster hinausgeschüttet?
Jan stand wie erstarrt inmitten des Raums, bis ihn die Stimme Contrarios herumriss.
»Allzu viel aufgeräumt hast du noch nicht«, knurrte der Adlatus. »Aber du wirst noch zum Schwitzen kommen, wenn du heute Nacht hier schlafen willst. Jetzt werde ich dich jedenfalls in deine eigentliche Arbeit einweisen, Kerl.«
Mit einem Wink der Hand befahl er, ihm zu folgen. Buntfinger öffnete die Tür, die dem Hauseingang am nächsten lag. Scheinbar mit dem Schnippen eines Fingers entzündete er eine Kerze. Jan musste schlucken, denn er entdeckte weder Zunder noch Feuerstein in der Hand des Gehilfen. Und er hatte das Gefühl, als würde sich der Raum langsam aufblähen, seit die Tür geöffnet war und Licht brannte. Aber das war sicher nur eine Täuschung, die mit dem Unterschied zwischen Helligkeit und Dunkelheit zu tun hatte. Das schwache Licht der Kerze wurde heller und heller und leuchtete schließlich den Raum aus, als schiene darin die Sonne.
Er war vollgestellt mit Regalen, auf denen Steine und Farbsande lagerten. Manche lagen in offenen Kistchen, andere waren auf einfachen Brettern abgelegt oder lagerten in Schalen. Sie waren nach Farbunterschieden geordnet. Ganz links begannen die rötlichen Erden und Steine, ganz rechts endete die Skala bei den blauen oder bläulichen Erden und Steinen. Dazwischen fanden sich unzählige andere Farben wie Grün, Gelb und Ocker oder Braun. Hin und wieder wurde die Farbpalette von unscheinbaren grauen Steinen oder Sanden durchbrochen. Jan vermutete, dass sie sich einfärbten, wenn man sie mit Öl oder Wasser anmischte.
»Das sind Pigmente, mein Junge. Farbpigmente. Deine erste Aufgabe wird es sein, sie im Mörser zu mahlen – und zwar staubfein.« Er drehte sich um und zeigte auf mehrere Steinkrüge mit Stößeln, die an der Wand neben der Tür aufgereiht standen. »Jede Grundfarbe hat einen eigenen Mörser. Verwechsle sie nicht, sonst könnten die Farbnuancen darunter leiden und damit die Qualität. Außerdem sind manche Farben nicht miteinander vereinbar oder färben so stark, dass bereits kleinste Partikel genügen, die Grundfarbe zu zerstören.« Er nahm einen Mörser vom Regal und drückte ihn Jan in den Arm. Das Gerät war so schwer, dass es Jan beinahe umgeworfen hätte. »Sachte, sachte!«, mahnte Contrario lachend und deutete auf einen Tisch. »Stell ihn hier ab und dann los! Ich werde dir zeigen, wie du deine Arbeit zu erledigen hast.«
Jan schleppte den Mörser zum Tisch und setzte ihn mit einem Krachen ab. Es war ihm einfach unmöglich, ihn sanft hinzustellen. Das kann ja heiter werden, dachte er sich. Der Tiegel, den er verwendete, hatte noch nicht einmal mittlere Größe.
»Rot«, sagte Contrario, griff nach einer Schale, in der gelbliche Brocken lagen. Er nahm sie mit bloßen Fingern und legte sie in den Mörser.
»Aber das ist doch nicht … rot«, wandte Jan ein.
Contrario-Buntfinger drehte sich zu Jan um und grinste. »Du hast keine Ahnung, mein Junge, deshalb stehst du am Mörser, und ich sage dir, was du zu tun hast. Du sollst den Stein hier so fein reiben, dass man seine Farbe nicht mehr erkennt. Am Ende muss ein unscheinbares graues Pulver im Mörser sein. Dann erst bist du fertig.«
»Contrario!« Der Adlatus zuckte zusammen, als er die Stimme Messer Arcimboldos vernahm. Der stand in der Tür, mit verschränkten Armen, und betrachtete sie beide.
»Wie lange steht Ihr schon … Herr?«, wollte der Gehilfe wissen, doch sein Herr wischte alle Fragen mit einer Kopfbewegung beiseite und trat ganz in den Raum.
»Der Junge soll etwas lernen, also musst du ihm erklären, warum er etwas tun muss.« Messer Arcimboldo nahm einen Klumpen des gelben Gesteins heraus und hielt ihn Jan vor die Nase. »Das hier ist weißer Schwefel. Man muss ihn höchst fein reiben, denn er wird mit Quecksilber vermischt. Wenn man den gestoßenen Schwefel in eine mit Lehm ausgekleidete Glasflasche gibt, reines Quecksilber hinzufüllt und die Mischung auf kleinster Flamme erwärmt, steigt gelber Rauch auf. Sobald der Rauch eine rötliche Farbe annimmt, verschließt man die Flasche, erhitzt sie aber weiter. Hebt man sie schließlich nach einiger Zeit vom Feuer, dann hat man ein Rot, das zwar recht blass, aber dafür beständig ist.« Die Augen Messer Arcimboldos glänzten. »Quecksilber ist der Stoff des Lebens. So agil, so beweglich, ein Metall, das lebt, fließt und atmet.«
Jan zuckte sofort zurück. Quecksilber war natürlich quecksilbrig, im wahren Sinne des Wortes, aber es war vor allem eines: giftig. Lucazs, ein Waisenjunge, der vor einem Vierteljahr abgeholt worden war, hatte einem Goldschmied beim Feuervergolden geholfen und so lange giftige Dämpfe eingeatmet, bis ihm die Zähne ausgefallen waren. Er war unter unsäglichen Schmerzen gestorben. Blühte ihm nun dasselbe? Musste er bei Messer Arcimboldo die Arbeiten übernehmen, die der Meister und sein Adlatus selbst nicht ausführen wollten. Um ihn war es schließlich nicht schade, schließlich war er ein Waisenjunge und zudem der Sohn einer … Jan verbot sich den letzten Gedanken sofort.
»Mischen und Auskochen nimmt Contrario vor«, beruhigte ihn der Maler. »Du musst nur mörsern.« Er schien Jans Gedanken erraten zu haben. Jan sah ihn dankbar an. »Jetzt nimm einen Stößel in die Hand, ich habe dich nicht fürs Nichtstun hierher holen lassen.«
Er drehte sich um und ging hinaus, ohne sich weiter um die beiden zu kümmern.
»Du hast gehört, was er gesagt hat«, drängte Contrario und legte noch einen weiteren Brocken in den Mörser.
Jan nickte und begann zu reiben und zu schlagen, zu stoßen und zu drehen. Die Steine zerfielen zu Staub und selbst den Staub musste er durch und durch walken, bis Contrario mit dem Ergebnis zufrieden war. Mehr als einmal verfluchte er Contrario, weil er immer noch einen Brocken zugab. Zuletzt schmerzten ihn die Handflächen, die an den Ballen rötlich entzündet waren, sowie die Arme. Endlich bedeckte ein beinahe weißlicher Staub den Boden des Mörsers.
»Wozu braucht er das Rot?« Jan war neugierig. Mit der Menge, die er angerührt hatte, hätte man eine ganze Hauswand färben können.
Contrario, der die ganze Zeit über eher freundlich als verdrießlich gewesen war, zuckte zusammen und reagierte dann mit einer Wucht, die Jan erschreckte.
»Merk dir eins, mein Junge: Wer hier fragt, der fragt nicht mehr lange. Also halt den Mund – und wenn du etwas wissen willst, das dieses Haus anbelangt, dann frag mich, aber nicht vor dem Herrn und nicht bei der Arbeit.« Er zischte noch ein paar Flüche, dann nahm er den Mörser mit einer Leichtigkeit, die Jan wieder erstaunte, weil er ja wusste, wie schwer der Behälter wirklich war, kippte seinen Inhalt in eine Schale und verließ danach mit dieser Schale den Raum. Unter der Türschwelle drehte er sich um. »Schluss für heute. Richte deine Schlafstätte her. Die Sonne geht bald unter. Morgen wirst du die vier Leinwände hier grundieren. Und zwar gründlich. Samten müssen sie werden wie der Hintern eines Säuglings, nur dann sind sie etwas wert.«
Jan hörte die letzten Worte kaum mehr, sondern war froh über den Feierabend. Seine Arme schmerzten, seine Hände waren beinahe gefühllos. Er nickte dankbar und fühlte, wie ihn die Erschöpfung überwältigte, die seinen Körper längst erfasst hatte und die bislang nur vom Kopf niedergehalten worden war.
Während Contrario sich mit dem Farbpulver in den oberen Stock verzog, schlenderte Jan in sein Zimmer. Die Tür war geschlossen, obwohl er sie bestimmt offen gelassen hatte, als er mit dem krumm gewachsenen Adlatus in den Farbenraum gegangen war. Für einen Augenblick blieb er vor dem Raum stehen und überlegte. Ob Messer Arcimboldo keine offenen Türen mochte und sie für ihn zugemacht hatte?
Unsicher betrat er den Raum und musterte ihn. Alles war wie … zuvor … hätte er gerne gesagt. Doch das stimmte nicht ganz. Nichts war genau so, wie er es verlassen hatte. Rasch drehte er sich um und sah nach draußen. Die Spannrahmen neben seinem Bett waren verschwunden. Der Raum schien außerdem länger zu sein, als er vorher gewesen war, denn zwischen Fenster und Bett gab es jetzt eine Lücke. Jan schluckte. War sie ihm vorhin nur nicht aufgefallen?
Er sah sich weiter um. Die Fensteröffnung war bei der ersten Besichtigung schmäler gewesen. Jetzt wirkte sie größer und hatte ein Gitter vor der Laibung, dafür fehlte der Pergamentrahmen, der Kälte und Licht aussperrte. Jan war sich sicher, dass zuvor kein Gitter vorhanden gewesen war und ein Rahmen in der Öffnung gestanden hatte.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Was ging hier vor – oder hatte er sich nur in der Zimmertür geirrt? War er in den Raum nebenan gelangt? Er verließ sein Zimmer und sah die Wand entlang. Neben ihm gab es drei weitere Türen. Drei? Waren es vorher nicht zwei gewesen? Mittlerweile zweifelte er an sich und an seinen Augen. Langsam schlich er zurück in sein Zimmer. Unbehagen erfüllte ihn. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Jan legte sich auf sein Bett … und fuhr sofort wieder hoch. Das Bett war gemacht. Er selbst hatte jedoch weder ein Laken angerührt noch einen Bezug mit Gras gefüllt. Jetzt erst roch er den Duft der Kräuter, die in den Leinensack gesteckt worden waren. Dieser Umstand beruhigte ihn wieder. Offenbar besaß Messer Arcimboldo einen weiteren dienstbaren Geist, eine Dienerin oder einen Diener, die ihm zwischenzeitlich das Bett gerichtet und es wohl auch umgestellt hatten. Beruhigt legte er sich auf die Grasdecke und schloss die Augen. Was er nur immer für einen Unsinn dachte.
Müdigkeit kroch in ihm hoch. Es roch wie auf einer Frühlingswiese, als würde er beim Gänsehüten unter einem Baum liegen. Nur das Summen der wilden Bienen fehlte. Jetzt erst plagten ihn die Muskelschmerzen seiner Arbeit. Die Arme lagen wie Blei neben ihm und die Muskeln seiner Hände schienen sich von selbst zu verkrampfen. Etwas zu essen wäre schön gewesen, doch er fühlte sich zu müde, um aufzustehen.
Im Stockwerk über ihm hörte er Messer Arcimboldo und Contrario hin und her laufen, hörte seinen Meister Befehle rufen und immer wieder das Prasseln von Feuer und das Fauchen eines Blasebalgs. Sie stellten die Farbe Rot her.
Jan bemerkte, wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren, und wie er langsam in einen Dämmerzustand hinüberglitt, in dem er zwar wach, aber nicht bei vollem Bewusstsein war. Er sah in diesem Halbschlaf Messer Arcimboldo und Contrario-Buntfinger mit rot erhitzten Köpfen über der Feuerstelle kauern, sah, wie sie auf eine Apparatur starrten, die wie ein Kürbis mit langem Hals aussah und aus deren Spitze grüner Rauch quoll, der langsam schwarz und schwärzer wurde und den Raum zu vernebeln begann, bis er die beiden Männer vollständig einhüllte. Ihm war, als würden sie die Teufel der Hölle beschwören.
»Es ist so weit!«, sagte Messer Arcimboldo dumpf und befahl Contrario-Buntfinger: »Nimm den Alambic vom Feuer!« Der hob mit bloßen Fingern das heiße Gefäß an – und dann stieß er einen Schrei aus, der die Wände um ihn her erzittern ließ. Gleichzeitig krachte das Gefäß mit einem dumpfen Poltern zu Boden.
Mit einem Schlag war Jan hellwach.
Jan riss die Augen auf, doch im Zimmer war es dunkel wie in einem Grab. Nicht ein Lichtschein drang zu ihm herein, sodass er für einen Moment befürchtete, die Dämpfe, die er im Traum gesehen hatte, hätten ihn erblinden lassen. Er richtete sich auf und ließ die Beine über den Bettrand baumeln. Hatte ihn dieser Traum tatsächlich aus dem Schlaf gerissen? Bislang hatte er sich von solchen Träumen nicht erschrecken lassen. Doch das war keine Einbildung gewesen, auch kein Traum. Das Gebrüll oder der Schrei sowie der dumpfe Schlag waren echt gewesen. Er fühlte das Nachbeben des Hauses noch und glaubte, in seinen Ohren gelle noch der dunkle Schrei.
Durch das Gitter hätte eigentlich der Mond ins Zimmer scheinen müssen, doch hier drinnen war es abgrundtief finster. Jan stand auf und tappte, die Hände von sich gestreckt, in Richtung Fenster. Wenn er den Pergamentrahmen entfernte, würde der Mond oder das Licht der Sterne zumindest ein wenig Helligkeit liefern. Merkwürdigerweise hatte er im Dunkeln das Gefühl, die Wand wiche vor ihm zurück, während er auf sie zuging. So weit konnte es doch nicht bis zum Fenster sein. Endlich spürte er die Laibung, dann ertastete er den pergamentenen Rahmen. Er hob ihn aus der Fensterlaibung und stellte ihn ab. Der Mond war aufgegangen und tatsächlich fiel Licht in einem breiten Strahl ins Zimmer. Erst jetzt staunte er über die Tatsache, dass der Pergamentrahmen eben wieder in der Öffnung gestanden hatte …
In diesem Augenblick der Verwunderung durchschnitt ein Brüllen die Stille. Es war ein dröhnendes Fauchen, wie er es sich für wütende Drachen ausgemalt hatte, wenn diese angriffen. Jerzy mit dem Bluthusten hatte von diesen Wesen erzählt und geschworen, dass in den Karpaten noch immer Drachen hausten und manchmal ganze Dörfer und Landstriche seiner Heimat zerstörten und entvölkerten.
Der Schrei wiederholte sich, diesmal schien er von draußen zu kommen. Jan steckte den Kopf in die Fensteröffnung. Verblüfft stellte er fest, dass sich auch das Gitter verflüchtigt hatte. Ungläubig griff er mit seiner Hand durch die Öffnung, aber da war nichts. Dafür hörte er zum dritten Mal den brüllenden Laut, und jetzt sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein Wesen mit vier Pfoten hob sich in den Himmel, beschienen vom Mondlicht, das sich glasklar und blau über die Welt und das Getier ergoss, und flog mit Fledermausflügeln dem Nachtgestirn entgegen. Jan sah dem Tier hinterher, bis es sich im Silberlicht des Mondes auflöste, und traute seinen Augen nicht. Was um alles in der Welt war das gewesen? Er zog den Kopf zurück und suchte sein Bett. Er setzte sich auf die Grasdecke und starrte in die Dunkelheit. Was ging in diesem Haus vor?
Jemand polterte die Treppe herunter. Es war Contrario. Messer Arcimboldo schimpfte hinter ihm drein, und der Adlatus erwiderte etwas so leise, dass es für Jan kaum zu hören war. Jedenfalls war gut zu vernehmen, wie sich die beiden Männer stritten – oder zumindest nicht einer Meinung waren. Jan schlich bis zur Tür und legte sein Ohr dagegen.
»… nicht aufgepasst … Vieh sehen … bis zum Auftritt …«, hörte er den einen oder anderen Fetzen aus Messer Arcimboldos Mund.
Contrario schien sich auf eine der Türen neben der seinen zuzubewegen, denn Jan vernahm seine gemurmelten Verwünschungen immer deutlicher. Es waren grobe Flüche in welscher Mundart, die alles und jeden verdammten.