Das ist der Liebe Zaubermacht - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Das ist der Liebe Zaubermacht E-Book

Hedwig Courths-Mahler

0,0

Beschreibung

Eigentlich trennt die Unterkünfte der Arbeiter nur ein Fluss von dem Anwesen des Unternehmers Ruhland. Und doch scheint das fließende Gewässer eine scheinbar unüberwindliche Grenze für Käthe Lindner zu sein, die sich in Gert Ruhland, den Sohn des Fabrikbesitzers verliebt hat. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Gerts älterer Bruder Georg ein umtriebiger Frauenheld ist und versucht, Käthe mit allen Mitteln für sich zu gewinnen ...-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hedwig Courths-Mahler

Das ist der Liebe Zaubermacht

 

Saga

Das ist der Liebe Zaubermacht

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1924, 2022 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726950526

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

1

Käthe Lindner ging mit zielsicheren Schritten zwischen den Arbeitern dahin, die in Massen das Carolawerk verließen und ihren bescheidenen Heimen zustrebten.

Sie erwiderte hier und da einen Gruß, gab auf eine Frage Bescheid. Obwohl sie sich den Arbeitern zugehörig fühlte, fiel sie doch durch ihre freie, stolze Haltung, durch die beherrschte Anmut ihrer Bewegungen und den ruhigen, klaren Blick ihrer Augen auf.

Noch ehe sie an das große Tor kam, erreichten sie zwei Männer, die sie sofort in ihre Mitte nahmen.

»Da sind wir auch, Käthe, guten Abend«, sagte der Ältere.

Mit freundlichem Lächeln sah sie die beiden an, nickte ihnen zu und reichte ihnen die Hand.

»Guten Abend, Vater — guten Abend, Heinz! Habt ihr’s geschafft?«

»Wie du, Käthe. Bist du müde?« fragte Heinz, Käthes Bruder.

Sie reckte die jungen, schlanken Glieder.

»Nicht sehr, Heinz, nur gerade genug, um mich auf die Feierabendstunden mit euch zu freuen. Aber du bist müde, lieber Vater?«

Friedrich Lindner richtete seine breitschultrige Gestalt mit einem straffen Ruck empor.

»Ich nehme es schon noch auf mit euch zwei Jungen«, sagte er lächelnd und blickte mit väterlichem Stolz auf seine beiden Kinder, die elastisch neben ihm herschritten.

Käthe legte die Hand auf den Arm des Vaters und sah liebevoll zu ihm auf.

»Wir sind doch nicht aus der Art geschlagen, der Heinz und ich, Vater.«

Er schmunzelte.

»Ein wenig doch, Käthe. Du und Heinz, ihr seid schon ein wenig feiner geartet als ich, seid schon ein paar Sprossen weiter emporgeklettert auf dem Weg zur Höhe. Ihr habt halt mehr gelernt als euer Vater.«

»Und wem verdanken wir das, Vater? Hättest du nicht allezeit so fleißig geschafft, dann hättest du uns nicht eine so gute Schulbildung zuteil werden lassen können.«

»Nun, nun«, wehrte der Vater fast verlegen ab, »das habt ihr mehr eurer guten, seligen Mutter zu verdanken als mir. Ich wäre wahrscheinlich gar nicht darauf gekommen, daß es nützlich für euch sein könnte, wenn ihr Französisch und Englisch lerntet. Ich hätte euch im gewohnten Trott dahingehen lassen, wie meine Eltern mich gehen ließen. Aber eure Mutter hat mir keine Ruhe gelassen. Immer wieder sagte sie: Das Beste, was du deinen Kindern geben kannst, ist eine gute Erziehung, sie müssen etwas Tüchtiges lernen, denn es sind kluge, aufgeweckte Kinder. Und wenn sie etwas Ordentliches gelernt haben, können sie sich selbst vorwärts helfen. Du kannst deine Ersparnisse nicht besser anlegen, als wenn du sie für eine gute Schulausbildung der Kinder ausgibst. Ja, ja, sie war eine kluge Frau und eine gute Mutter! Und sie hat mich dazu gebracht, selbst ein bissel über alles das nachzudenken, und da hab’ ich gefunden, daß sie recht hat. Und so ist es gekommen, daß ich euch lernen ließ, was es nur zu lernen gab. Eurer Mutter müßt ihr es danken — ich hab’ das wenigste dazu getan.«

»Halt, halt, Vater«, sagte Heinz Lindner munter, »stelle nur dein Licht nicht gar zu sehr unter den Scheffel! Uns kannst du nichts vormachen, wir glauben dir nicht — das nicht. Wärst du nicht dein Lebtag so fleißig und solid gewesen, dann hättest du nichts zurücklegen und wir hätten nicht eine so gute Schulausbildung erhalten können. Und wenn du uns nicht durch dein Beispiel gelehrt hättest, die Arbeit zu lieben, dann hätten wir dir nicht nachgeeifert. Die gute Schulbildung allein macht es nicht, sonst müßten ja alle Menschen, die eine gute Schule gehabt haben, Tüchtiges leisten. Und das ist doch nicht so. Der Fleiß ist die Hauptsache — und die Freude an der Arbeit.«

Der Vater nickte.

»Ja, ja, Heinz, da hast du recht. Ich habe in dieser Hinsicht auch so meine Erfahrungen gemacht. Hier im Werk hat man die beste Gelegenheit dazu. Da gibt es viele unter meinen Kameraden, auf denen der Segen der Arbeit ruht — weil sie freudig ihre Pflicht tun. Aber manche arbeiten auch nur, weil sie müssen. Sie tun es verdrießlich und schimpfen auf die verfluchte Arbeit, statt sich an der gesegneten Arbeit zu freuen. Das färbt dann auch auf ihre Kinder ab.«

»So ist es, Vater. Auch ich habe das beobachtet. Wo man die Arbeit liebt und sie freudig tut, herrscht Zufriedenheit, Heiterkeit und Wohlstand. Wo man sie haßt, würdigt man sich selbst zum Sklaven herab. Und deshalb können wir dir, lieber Vater, nie genug danken, daß du uns die Arbeit lieben lehrtest. Das ist das Beste, was du für uns getan hast.«

Käthe drückte den Arm des Vaters.

»Heinz spricht mir aus der Seele, Vater, seine Ansicht ist die meine.«

Mit seinen guten, klaren Augen sah Friedrich Lindner auf seine Kinder.

»Ich freue mich über eure Ansicht. Manche meiner Kameraden haben mich freilich einen Obenhinaus gescholten, weil ich euch eine bessere Erziehung zuteil werden ließ, als ich sie selbst genossen hatte. Sie haben mich verhöhnt, wenn ich nicht mit zum Biertisch ging und ein gut Teil meines Lohns für zweifelhafte Genüsse hingab. Ich habe dann lieber friedlich in meinem Gärtchen gebastelt. Andere haben mir aber recht gegeben und es mir nachgetan. Und die haben alle den Segen der Arbeit an sich und ihren Kindern gespürt.«

Die drei Menschen schwiegen und sahen mit hellen, frohen Augen um sich.

Die Menge, in der sie dahinschritten, hatte sich mehr und mehr gelichtet. Nach allen Seiten waren die Menschen in den Straßen der Arbeitersiedlung verschwunden. In diesen Straßen standen die kleinen Häuser, die alle von Arbeitern der Werke bewohnt waren. Die ganze Siedlung lebte von den Werken, direkt und indirekt. In den kleinen Läden kauften die Arbeiter ihre Bedürfnisse ein, und alles hing mit den Werken zusammen.

Lindners wohnten ein Stück weiter, wo die Straßen breiter wurden. Es kam ihnen nicht darauf an, einige Minuten weiter zu laufen. Ihr Häuschen lag ziemlich frei, von einem Stück Garten umgeben.

Als Friedrich Lindner noch jung war, hatte er sich zusammen mit dem Vater, der auch in den Werken beschäftigt gewesen war, dieses Häuschen selbst gebaut. Es umfaßte drei Zimmer und eine Küche im Erdgeschoß und ein Giebelstübchen, zu dem außen an der Rückseite des Hauses eine Holztreppe emporführte.

In diesem Giebelstübchen wohnte und schlief Heinz Lindner. Seine Schwester Käthe hatte ihr Schlafzimmerchen zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer ihres Vaters. Sie teilte es mit Tante Anna, der Schwester ihres Vaters, die, seit sie Witwe war, den Haushalt ihres Bruders besorgte.

Das Häuschen war einfach weiß getüncht, und wilder Wein rankte sich an ihm empor. Rechts und links neben der Haustür standen große Fliederbüsche, die bereits dicke Blütentrauben angesetzt hatten. Einige begannen schon aufzublühen.

Als der Vater mit seinen Kindern vor der Haustür anlangte, zog Käthe eine der aufgeblühten Fliederdolden zu sich herab und sog ihren Duft ein.

»Es ist Frühling geworden, Heinz. Sieh nur, der Flieder fängt an zu blühen! Prachtvoll werden unsere Büsche wieder aussehen!«

Heinz nickte.

Hinter dem Vater betraten sie den schmalen Hausflur. Hier legten sie ihre Überkleider ab, und während Vater und Sohn das Wohnzimmer betraten, eilte Käthe in die Küche, wo Tante Anna am Herd hantierte.

»Guten Abend, Tante Anna! Kann ich dir etwas helfen, oder wirst du allein fertig?«

Frau Anna Bauer, die ihrem Bruder so ähnlich sah, wie eine Frau nur einem Mann ähnlich sein kann, blickte vom Herd auf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie wendete in einer großen Pfanne Bratkartoffeln um.

»Guten Abend, Käthe! Ich werde schon allein fertig. Seid ihr alle drei zu Hause?«

»Ja, Tante, und wir haben einen Bärenhunger mitgebracht«, erwiderte Käthe lachend.

Die Tante nickte. »Dem wollen wir schon zu Leibe gehen. Da, nimm die Suppenterrine mit hinein! Der Tisch ist schon gedeckt. Ich komme gleich mit den Bratkartoffeln nach.«

Käthe zog das Näschen kraus. »Hm! Wie das duftet!«

Damit verschwand sie mit der Terrine im Wohnzimmer.

Wie in der blanken Küche blitzte und blinkte auch hier alles vor Sauberkeit und Frische. Die Möbel waren gut gepflegt. Auf dem Sofa lagen weiße Schutzdecken, und am Fenster hingen die weißen Gardinen, in zierliche Falten gerafft.

An einem der beiden Fens!er stand ein Nähtisch, an dem anderen ein altmodischer, hoher Lehnstuhl, dessen Lehnen ebenfalls mit Schutzdecken belegt waren. Inmitten des freundlichen Zimmers stand ein viereckiger Tisch mit vier Stühlen. Der Tisch war mit einem grobgewebten, sauberen Tischtuch bedeckt. Das war ein Luxus, den erst Käthe und Heinz, seit sie erwachsen waren, in dem Häuschen eingeführt hatten. Früher aß die Familie hier an einer blankgescheuerten Tischplatte. Blauweißes Steingutgeschirr stand auf dem Tisch, und schlichte Eßbestecke lagen neben den Tellern.

Etwas fiel in diesem Arbeiterhaus besonders auf — das war ein großes, hohes Bücherregal an der Wand, auf dem Reihen von Büchern aufgestapelt waren. Da standen die meisten Klassiker in Reih und Glied, daneben einige Werke von Gustav Freytag und Felix Dahn. Außerdem gab es Fachwerke, die Heinz Lindner gehörten, und ein Lexikon sowie verschiedene englische und französische Bücher.

Über dieses Bücherregal hatte man in der kleinen Arbeitersiedlung viel gesprochen. Auch hielt man sich ein wenig darüber auf, daß Lindners am gedeckten Tisch aßen, ganz wie »Herrschaften«. Die Bücher und der gedeckte Tisch fielen eben aus dem Rahmen. Überhaupt waren Lindners schon manchmal Gesprächsstoff gewesen. Daß Friedrich Lindner seinen Sohn Ingenieur werden ließ und daß seine Tochter fremde Sprachen erlernte, das sah doch sehr nach Überheblichkeit aus. Aber daß die Geschwister Lindner trotzdem in bescheidener Freundlichkeit mit allen verkehrten, versöhnte doch wieder. Und als Heinz mit einem guten Gehalt in den Werken als Ingenieur angestellt wurde und Käthe einen gut bezahlten Posten als Korrespondentin erhielt, rechneten die anderen aus, daß Friedrich Lindner doch seine Ersparnisse gut angelegt hatte, und man hätte es ihm nun gern gleichgetan.

Käthe hatte die Suppe auf den Tisch gestellt. »Komm, Vater, komm, Heinz, es gibt Biersuppe und nachher Bratkartoffeln!« lud sie Vater und Bruder zum Essen ein.

Der Vater erhob sich aus seinem Lehnstuhl am Fenster und Heinz aus der Sofaecke. Sie traten an den Tisch und ließen sich nieder. Käthe füllte die Teller mit der duftenden Suppe.

Und dann trat Tante Anna mit einer Schüssel voll Bratkartoffeln ein. Es wurde mit gesundem Appetit gegessen, wie ihn fleißige Menschen nach getaner Arbeit entwickeln. Aber man unterhielt sich munter und angeregt dabei. Auch als die Mahlzeit beendet war und Käthe und Tante Anna den Tisch abgeräumt und in Ordnung gebracht hatten, saß man noch eine Weile plaudernd zusammen. Der Vater rauchte dabei ein Pfeifchen, Heinz eine Zigarre. Man besprach die Ereignisse des Tages.

Später nahm Vater Lindner die Zeitung zur Hand und Tante Anna den Strickstrumpf.

Da sagte Heinz zu seiner Schwester: »Kommst du noch ein halbes Stündchen mit mir ins Freie, Käthe?«

Sie erhob sich bereitwillig. »Gern, Heinz. Ich bin froh, wenn ich mich noch ein wenig auslaufen kann.«

Die Geschwister verabschiedeten sich vom Vater und der Tante, legten im Flur ihre Mäntel wieder an und traten ins Freie.

Tief atmeten sie die köstliche Frühlingsluft ein, die noch ein wenig herb, aber voller Düfte war.

Sie schritten vollends hinaus aus der kleinen Arbeiterstadt, am Ufer des Flusses entlang, der die Carolawerke von der Arbeiterkolonie schied und zwischen beiden dahinrauschte. Die Geschwister plauderten von ihren Zukunftsplänen und von allem, was junge Menschenherzen bewegt.

Käthe wußte, was Heinz vorläufig nicht einmal dem Vater anvertraut hatte, daß er seit zwei Jahren an einer Erfindung arbeitete. Alle seine Mußestunden waren diesem Werk gewidmet. Jeden Sonntag arbeitete er daran und jeden Abend, bis ihn die Müdigkeit zwang, sein Lager aufzusuchen. In seinem Giebelstübchen saß er täglich einige Stunden an seinem Werk. Und Käthe teilte seine Hoffnungen und Wünsche und war mit ihrem ganzen Interesse dabei. Heinz Lindner erhoffte viel von dieser Erfindung und wollte noch diesen Sommer damit zu Ende kommen.

Vorläufig war er so ziemlich der jüngste Ingenieur der Carolawerke. Er wollte aber vorwärtskommen, und seine Erfindung sollte ihm dabei helfen. Im Lauf des Gesprächs sagte Heinz: »Denke dir, heute blieb Herr Georg Ruhland lange bei mir stehen und sah meiner Arbeit zu. Und dann sprach er auch mit mir. Du weißt doch, daß er sonst ungemein hochmütig ist, im Gegensatz zu seinem Vater, dem Herrn Kommerzienrat, der stets freundlich und höflich ist. Bis heute hat mich Herr Georg nie beachtet. Heute zeigte er mir zu meinem Erstaunen ein ganz besonderes Interesse. Er schien ganz vergessen zu haben, daß ich nur der Sohn eines Arbeiters bin. Sonst hat er mich das immer in ziemlich unartiger Weise fühlen lassen. Ich möchte wissen, weshalb er plötzlich so verändert war!«

Käthes Stirn hatte sich zusammengezogen.

»Vielleicht ist es ein Unrecht, Heinz, aber ich halte nicht viel von dieser Freundlichkeit. Es mag töricht sein, daß ich bei seinem Anblick immer das Gefühl habe, als sträube sich alles in mir gegen ihn. Jedenfalls habe ich das sichere Empfinden, daß er kein guter Mensch ist.«

Heinz zuckte die Achseln. »Dieses Empfinden habe ich auch. Leider habe ich auch schon zuviel Böses über ihn gehört. Er hat kein Herz für die Arbeiter. Und so gerecht und großmütig sein Vater ist, so ungerecht und kleinlich ist er. Nur eins muß man ihm lassen — er ist ein tüchtiger Geschäftsmann, und als solcher weiß er zu beurteilen, ob man den Werken nützlich ist oder nicht. Deshalb hat man nichts von ihm zu befürchten, wenn man wirklich etwas leistet.«

»Das glaube ich auch. Aber wenn mir ein Mensch unsympathisch ist, so ist er es. Und soviel ich sonst von allen Familienmitgliedern unseres Chefs halte, von ihm halte ich nichts.«

Heinz nahm den Hut ab und ließ den Frühlingswind um seine Stirn wehen.

»Es ist ganz gut, daß du nichts von ihm hältst, Käthe. Du bist ein schönes Mädchen, und Herr Georg Ruhland gilt als ein Don Juan ärgster Sorte. Er hat in dieser Beziehung wohl viel auf dem Gewissen. Hoffentlich ist sein Bruder von anderer Art. Ich hörte, seine Heimkehr stehe bevor. Seit vier Jahren ist er den Carolawerken fern gewesen und soll die halbe Welt bereist haben. Soviel ich mich erinnere, war er ganz anders geartet als sein älterer Bruder. Hoffentlich hat sich das in den vier Jahren seiner Abwesenheit nicht geändert.«

In Käthes Gesicht stieg ein rosiger Schimmer. Aber Heinz sah das nicht, da es dunkel geworden war.

»Ich glaube, er ist mehr nach seiner Schwester geraten. Fräulein Ruhland ist sehr liebenswürdig. Sie ist zu allen Arbeitern freundlich, und so habe ich ihren jüngeren Bruder auch im Gedächtnis«, sagte Käthe.

Ihr Bruder sah eine Weile schweigend vor sich hin. Als Käthe von Fräulein Ruhland sprach, hatte es seltsam in seinen Augen aufgeleuchtet. Die Geschwister blieben jetzt am Flußufer stehen und sahen nach dem anderen Ufer hinüber. Da lag die große, vornehme Villa Ruhland, die der Chef der Carolawerke mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnte. Etwas abseits davon lag eine kleinere Villa. Die bewohnte jetzt der älteste Sohn des Kommerzienrats Ruhland, Georg, ganz allein. Aber sie war zugleich als Wohnung für seinen jüngeren Bruder Gert bestimmt. Georg bewohnte das Hochparterre der Villa Carola, und für Gert war die erste Etage reserviert.

Der Kommerzienrat hatte seinen Söhnen möglichst viel Freiheit schaffen wollen, als er ihnen die Villa Carola bauen ließ.

In der Villa Ruhland waren fast alle Fenster erleuchtet, in der Villa Carola nur wenige im Hochparterre. Heinz Lindners Augen suchten die hellen Fenster in der Villa Ruhland. Und sein Herz klopfte unruhig. Hinter welchem dieser Fenster mochte wohl Rose Ruhland weilen?

Er sah sie im Geist ganz deutlich vor sich, die schlanke Gestalt, ihr feines, zartes Gesicht, die großen, dunklen Augen mit dem sanften, freundlichen Ausdruck, den blütengleichen Teint, die schlanken, feinen Hände und die vornehm graziöse Haltung. All diese Einzelheiten hätte er aus dem Gedächtnis malen können, wäre er ein Maler gewesen. So oft schon war sie an ihm vorübergegangen oder -gefahren, in kostbare Gewänder gehüllt, umflossen von dem undefinierbaren Hauch, der die Frauen der bevorzugten Gesellschaftsklasse umgab. Er war bezaubert worden vom Anblick der jungen Dame. Aber am meisten hatten ihn der gütige Ausdruck ihres Gesichts und ihr freundliches Lächeln entzückt. Wenn er an dieses Lächeln dachte, wurde ihm das Herz warm und weit. Und einige Male hatte das Lächeln auch ihm gegolten, ihm allein, und das hatte ihm schlaflose Stunden bereitet.

Einmal hatte sie auch mit ihm gesprochen. Es war an einem Sonntag. Er hatte mit seiner Schwester zusammen einen Ausflug ins Freie gemacht, und Käthe hatte den Arm voll Feld- und Wiesenblumen gehabt. Auf dem Heimweg durch den Wald, unweit dem Parktor, das den zur Villa Ruhland gehörigen Park abschloß, waren sie Rose Ruhland begegnet. Sie war lächelnd stehengeblieben, als die Geschwister auf sie zukamen. Wohlgefällig hatte sie die Eintracht der beiden bemerkt. Die Geschwister hatten Rose Ruhland schon immer interessiert, nicht nur die schöne, sympathische Käthe, sondern auch Heinz Lindner, dessen schlanke, sehnige Gestalt und dessen kluges, interessantes Gesicht ihr wiederholt aufgefallen waren. Mit Käthe hatte sie schon einige Male gesprochen. Sie redete sie auch an jenem Sonntagmorgen an.

»Was haben Sie für herrliche Blumen gepflückt, Fräulein Lindner? Danach haben Sie sicher weit laufen müssen, denn hier blühen sie nicht.«

Käthe hatte freimütig gelächelt. »Zwei Stunden sind wir gewandert, mein Bruder und ich, gnädiges Fräulein, ehe wir die Blumen fanden. Nun sollen sie unsere Zimmer schmücken.«

Rose hatte nach einer besonders schönen Sternblume gefaßt. »Sehen Sie nur, wie köstlich diese Feldblumen sind! Sie sind mir lieber als alle Garten- und Treibhausblumen.«

»Dürfen wir Ihnen einen Strauß davon anbieten, gnädiges Fräulein?« hatte Heinz gefragt.

Rose hatte ihn unschlüssig angesehen. »Ich möchte Sie und Ihr Fräulein Schwester nicht berauben.«

Aber Käthe und Heinz hatten schnell die schönsten Blumen ausgesucht, und Heinz reichte sie Rose mit einer Verbeugung. »Sie machen uns eine Freude, wenn Sie die Blumen annehmen, gnädiges Fräulein.«

Lächelnd hatte Rose nach den Blumen gefaßt. Dabei hatte ihre Hand leicht die seine berührt. Und einen Moment trafen die beiden Augenpaare ineinander. Seltsam hatte es darin aufgeleuchtet. Und in Rose Ruhlands Wangen und in Heinz Lindners Stirn war jäh das Blut geschossen.

»Ich danke Ihnen herzlich«, hatte Rose gesagt und war dann schnell davongeschritten.

Am nächsten Tag aber hatte ein Diener für Käthe Lindner einen großen Strauß Rosen abgegeben. Auf einer Visitenkarte, die angeheftet war, hatte gestanden:

»Als Revanche für die reizenden Feldblumen, die mein Zimmer schmücken, mit freundlichem Gruß

Rose Ruhland.«

Daß Heinz Lindner eine dieser Rosen heimlich an sich genommen hatte und noch heute in seiner Brieftasche verwahrte, wußte außer ihm kein Mensch. Niemand ahnte, mit welchen Gefühlen er an Rose Ruhland dachte und wie ihm das Herz klopfte, wenn er ihr einmal begegnete.

Und nun hing sein Blick mit einem sehnsüchtigen Ausdruck an den erleuchteten Fenstern da drüben. Einer der Schatten, die sich dahinter bewegten, mußte der Rose Ruhlands sein.

Während Heinz Lindner stumm nach der Villa Ruhland schaute, blickte Käthe in Gedanken verloren auf die dunklen Fenster im ersten Stock der Villa Carola. Dort würde Gert Ruhland wohnen, wenn er von seiner Weltreise zurückkehrte

Käthe konnte sich seiner noch ganz genau erinnern. Oft hatte sie ihn an sich vorüber gehen, fahren und reiten sehen. Und eines Sonntagmorgens, kurz bevor er seine Weltreise antrat, war er ihr hoch zu Roß begegnet, als er von einem Spazierritt heimkehrte.

Käthe war damals siebzehn Jahre gewesen. In Trauerkleidern war sie vom Friedhof gekommen, wo sie das Grab ihrer kürzlich verstorbenen Mutter besucht hatte.

Gert Ruhland hatte sein Pferd dicht neben ihr angehalten und hatte sie mit seinen guten, offenen Augen freundlich und teilnahmsvoll angesehen.

»Sie haben einen schweren Verlust erlitten, Fräulein Lindner.«

Unsicher hatte sie zu ihm aufgesehen. »Ja, Herr Ruhland, meine Mutter habe ich verloren«, hatte sie geantwortet.

Da hatte er ihr vom Pferd herab die Hand gereicht. »Gestatten Sie mir, Ihnen meine herzlichste Anteilnahme auszusprechen.«

Mit großen, ernsten Augen hatte sie zu ihm aufgesehen. »Ich danke Ihnen, Herr Ruhland«, hatte sie geantwortet.

Darauf hatte er sich verabschiedet.

Das war die ganze Unterhaltung gewesen, die einzige, die er je mit ihr geführt hatte. Aber es war ihr gewesen, als sei es ein großes Ereignis in ihrem Leben. Sie hatte es nie vergessen, und in ihren Träumen hatte sie oft Gert Ruhland hoch zu Roß gesehen, und seine Augen hatten dann immer gütig und freundlich in die ihren geblickt.

Wann würden sich die dunklen Fenster da drüben erhellen?

Und während sich Käthe diese Frage vorlegte, schrak sie plötzlich zusammen. Hinter den dunklen Fenstern flammten plötzlich die Lampen auf, eine nach der anderen, bis alle Zimmer erleuchtet waren. Und die Geschwister sahen silhouettengleich die Schatten von verschiedenen Menschen vorüberhuschen.

Heinz Lindner faßte den Arm seiner Schwester. »Hast du gesehen, Käthe?«

Sie richtete sich aus ihrer Versunkenheit auf. »Was denn, Heinz?«

»Daß die Wohnung Gert Ruhlands eben erleuchtet wurde.«

»Ja, ich habe es bemerkt. Was schließt du daraus?«

»Daß Gert Ruhland entweder schon heimgekehrt ist oder noch heute abend erwartet wird.«

Käthe neigte das Haupt: »So wird es sein.«

Heinz richtete sich auf.

»Nun haben wir lange genug hier gestanden und zum anderen Ufer hinübergesehen. Laß uns nun wieder heimgehen, Käthe! Ich möchte noch einige Stunden arbeiten.«

Käthe riß ihren Blick los von den hellen Fenstern. Dann wandten sich die Geschwister zum Gehen.

Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her. Dann sagte Heinz plötzlich mit einem tiefen Atemzug: »Weißt du, was ich mir brennend wünsche, Käthe?«

»Nun?« fragte sie.

»Ich wünsche mir, daß meine Erfindung so epochemachend ist, wie ich es mir erträumt habe. Dann —«

Er brach ab und atmete tief und schwer.

»Was würde dann, Heinz?«

Er drückte ihren Arm an sich in heimlicher Erregung. »Dann würde ich ein reicher Mann.«

»Gelüstet es dich so sehr danach?«

Seine Augen sahen groß und starr vor sich hin.

»Nicht des Reichtums wegen — den brauche ich nicht für mich, um glücklich und zufrieden zu sein.«

»Weshalb also sonst?«

Wieder atmete er tief. »Weil es mich da hinüber treibt, mit meiner ganzen Sehnsucht. Sieh, wenn ich mir eines Tages eine Frau nehmen würde, dann, ja, dann würde ich mir kein einfaches Mädchen wählen. Ich wüßte unter unseren Bekannten hier auch keine, die mir gefallen könnte. In diesem Punkt strebe ich über meine angestammten Kreise hinaus. Ich könnte nur mit einer gebildeten Frau glücklich sein. Aber wie würde sich eine solche Frau zu einem Arbeitersohn stellen, der ihr nichts zu bieten hat als ein bescheidenes Monatsgehalt.«

»Und eine Persönlichkeit, Heinz. Das darfst du nicht vergessen.«

»Meinst du, daß meine Persönlichkeit irgendwie in die Wagschale fallen würde?«

Käthe sah lächelnd zu ihm auf. »Du würdest doch nur eine Frau heiraten, die dich liebt. Und einer liebenden Frau würde eben deine Persönlichkeit die Hauptsache sein. Sie würde nicht danach fragen, ob du ein Arbeitersohn bist und was du verdienst, sondern sie würde dich um deiner selbst willen lieben. Und sie würde das Große Los gezogen haben.«

»Das sagst du als meine Schwester.«

»Nein, das sage ich als Frau. Ich überschätze dich ganz sicher nicht, weil du mein Bruder bist. Und wenn du wirklich liebst, wirst du auch nicht fragen, aus welchem Stand deine Frau und ob sie reich oder arm ist.«

»Aber ich würde ganz sicher fragen, von welcher Art sie ist. Ich muß dir ganz offen gestehen, Käthe, daß ich eine große Vorliebe für vornehme, elegante Frauen habe. Und die sind nur außerhalb unserer Kreise zu finden.«

Käthe drückte seinen Arm. »Ich verstehe dich, Heinz. Sieh, auch ich könnte mir nicht denken, daß ich mit einem Mann glücklich werden könnte, der keine geistigen Interessen hat. Wir sind eben ein wenig über unsere Kreise hinausgewachsen. Unsere Wurzeln haften wohl noch im angestammten Boden. Aber die Kronen unseres Lebensbaums strecken sich über die der anderen Menschen aus unserer Sphäre hinaus. Dadurch ist es uns möglich geworden, unsere Blicke in die Weite schweifen zu lassen. Wir sehen anderswo ein Licht entzündet, und das winkt uns verlockend, als gehörten wir dazu. Aber das ist eine Täuschung — unsere Füße haften im alten Erdreich und halten uns fest.«

Heinz seufzte. »Und du meinst, wir werden ewig darin festgehalten?«

»Das müssen wir abwarten. Vielleicht werden wir so stark und kräftig, daß wir eines Tages, ohne Schaden zu nehmen, in anderes Erdreich verpflanzt werden können. Aber dann müssen wir viel eigene Kraft in uns aufspeichern. Und einen Teil des angestammten Bodens müssen wir mit uns nehmen. Ganz kann sich kein Mensch freimachen von dem, was er einmal war. Und das Gute davon soll er sich auch nicht nehmen lassen.«

Heinz atmete tief auf. »Ein Wunder müßte schon geschehen.«

Käthe lächelte verträumt. »Jede echte, wahre Liebe ist schon ein Wunder an sich.«

»Ein Wunder an sich? Ja, es wäre ein Wunder, wenn die mich liebte, von der ich geliebt sein möchte«, dachte er. »Aber selbst wenn dieses Wunder geschähe — wir könnten doch nicht zusammenkommen. Ihre Eltern, ihre Brüder würden Hindernisse zwischen uns aufbauen, die unüberwindlich sind. Aber — wüßte ich nur, daß sie mich liebte, ich würde den Kampf mit allen Hindernissen aufnehmen.«

Käthe riß ihn von seinen Gedanken zurück. Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Was sind wir für wunderliche Menschen, Heinz! Wenn Vater gehört hätte, was wir eben sprachen, ich glaube, dann wäre er sehr unglücklich. Er würde sich am Ende gar Vorwürfe machen, daß er uns geholfen hat, emporzuwachsen. Und er könnte dann vielleicht nicht verstehen, daß er uns trotzdem eine große Wohltat erwiesen hat.«

Heinz nickte. »Vater darf natürlich solche Reden nicht hören. Wir wollen es ihm ewig danken, daß er uns emporgeholfen hat und uns zu freien Menschen machte, durch das, was wir gelernt haben.«

»Schließlich ist ja auch unsere Sehnsucht nach der anderen Sphäre nicht so groß, daß wir uns in der unseren nicht wohl fühlen könnten.«

»So ist es, Käthe. Wir sind wieder einmal auf Flügeln der Phantasie ins Blaue hineingeflogen. Jetzt stehen wir wieder auf festen Füßen und wandern fröhlich heim.«

Käthe lachte leise. Ihre Brust hob sich in tiefen Atemzügen.

»Ich glaube, der Frühling war dran schuld, Heinz. Im Frühling ist man leichter bereit, Märchen auszuspinnen. «

Heinz drückte ihre Hand, erwiderte aber nichts. Auch seine Brust hob sich in tiefen Atemzügen. Aber es brannte ein stilles Sehnen darin, von dem Käthe keine Ahnung hatte — die Sehnsucht nach Rose Ruhland.

In Käthe aber hatte ein stiller Jubel Einzug gehalten, seit die dunklen Fenster in der Villa Carola erhellt worden waren. Gerade, als sie auf ihr Häuschen zuschritten, sahen sie das Ruhlandsche Auto vom Bahnhof her über die Brücke des Flusses fahren.

Da klopfte Käthes Herz rasch und laut. Er ist da! dachte sie.

2

Das Auto, das die Geschwister gesehen hatten, war in schnellem Tempo jenseits des Flusses weitergefahren. Es sauste erst an den Beamtenwohnungen, dann an den Werken mit den Hochöfen vorbei und verschwand zwischen den Bäumen des Parks.

Nach wenigen Minuten hielt es vor der Villa Ruhland.

Ein hochgewachsener junger Herr sprang heraus.

Es war Gert Ruhland.

In der Vorhalle kamen ihm die Seinen entgegen, die er mit lebhafter Herzlichkeit begrüßte. Je nach Charakteranlage erwiderten seine Angehörigen seine Begrüßung. Sein älterer Bruder Georg reichte ihm nur mit korrekter Höflichkeit die Hand. Gert drückte sie aber in der Wiedersehensfreude so kräftig, daß Georg eine kleine Grimasse nicht unterdrücken konnte. Er schlenkerte die Hand hin und her. Gert sah es und lachte.

»Hab’ ich zu fest gedrückt, Georg?«

»Nun, es genügte: Du machst deinen Gefühlen etwas gewaltsam Luft«, erwiderte er mit fadem Lächeln.

Das verstimmte Gert ein wenig. Seine impulsive Art fühlte sich durch des Bruders Kälte verletzt.

»Ach so! Ich vergaß, daß du nicht für Gefühlsbeweise bist. Verzeih, daß ich nicht gleich daran dachte! Weißt du, in mir steckt noch viel von unseren urwüchsigen Vorfahren. Ich kann nicht vergessen, daß unser Großvater in jungen Jahren noch am Amboß gestanden hat.«

Georg sah sich erschrocken um.

»Mußt du das mit solcher Vehemenz in die Welt hinausschreien? Wenn das die Dienerschaft hört!«

Gert lachte sorglos. »Hast du Angst, daß dir dadurch deine Autorität verlorengeht? Ich nicht — ich verschaffe sie mir auch so. Ich bin nämlich sehr stolz darauf, daß mein Großvater als einfacher Arbeiter die Carolawerke gründete und am Anfang selbst fest zugegriffen hat.«

Der Kommerzienrat, eine stattliche, imponierende Erscheinung mit einem sehr sympathischen, klugen Gesicht, nickte lächelnd und sah wohlgefällig auf seinen jüngsten Sohn.

»Recht hast du, Gert, und es freut mich, daß du dich so stolz zu deinem Großvater bekennst.«

Jetzt mischte sich die Kommerzienrätin ins Gespräch, nachdem ihr Georg einen empörten Seitenblick zugeworfen hatte.

»Immerhin brauchst du nicht mit Stentorstimme hier zu verkünden, was du eben so heftig betont hast, mein lieber Gert. Das sind ja schließlich intime Dinge, die nur die Familie angehen; die Dienerschaft braucht so etwas nicht zu hören, denn sie mißbraucht es. Also sei ein wenig vorsichtig!«

Dabei richtete sie sich stolz empor und blickte durch ihre Lorgnette vorsichtig nach etwa lauschenden Dienstboten aus.

Rose Ruhland aber trat schnell zu ihrem jüngsten Bruder und hängte sich zutraulich in seinem Arm.

»Das weiß doch hier in den Werken jedes Kind, Mama, daß unser Großvater die Carolawerke sozusagen aus dem Nichts geschaffen hat.«

Die Kommerzienrätin sah achselzuckend ihren ältesten Sohn an, als wollte sie sagen: »Es ist nichts mit diesen beiden anzufangen.«

Georg verneigte sich tadellos vor seiner Mutter und bot ihr seinen Arm.

»Ich darf dich wohl hineinführen, Mama.«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und nickte Gert zu.

»Du kleidest dich schnell um, Gert. Wir wollen dann zu Tisch gehen, da wir mit dem Essen auf dich gewartet haben.«

Gert verneigte sich nun ebenfalls. »Wie du befiehlst, Mama.«

Aber er sah mit seltsamem Ausdruck von seinem Vater auf seine Schwester.

Rose drückte seinen Arm fest an sich. »Ich bin froh, daß du wieder da bist, Gert — und Papa auch. Wir haben dich sehnsüchtig erwartet. Nicht wahr, Papa?«

Der alte Herr nickte lächelnd. »So ist es, Gert. Nochmals herzlich willkommen daheim!«

Gert eilte in die Villa Carola hinüber und vertauschte schnell die Reisekleider mit dem Abendanzug. In zehn Minuten kehrte er in die Villa Ruhland zurück.

Man ging sofort zu Tisch. In Gegenwart der servierenden Diener wurde nur über oberflächliche Dinge gesprochen. Aber nach der Tafel, als man behaglich in einem Nebenzimmer saß, mußte Gert Reiseerlebnisse zum besten geben.

Er tat es in seiner frischen Art und in sehr lebhafter, anschaulicher Weise. Mit klugen, offenen Augen und warmem Empfinden hatte er sich in der Welt umgesehen und überall Gutes und Schönes aus seinen Erlebnissen herausgeholt.

Schließlich kam er auf Reformen zu sprechen, die er auf den Carolawerken eingeführt zu sehen wünschte.

»Wir müssen unseren Arbeitern noch mehr Freiheit geben, daß sie sich loslösen können aus den Fesseln der Abhängigkeit. Ich habe in Amerika ein Unternehmen kennengelernt, größer noch als unsere Werke, wo mustergültige Zustände herrschten. Ein geradezu ideales Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist da zustande gekommen. Die Arbeiter sind alle interessiert am Gedeihen des Ganzen, denn sie sind, wenn auch in bescheidenem Maße, am Reingewinn beteiligt. Diese Arbeiteranteile werden an eine Art Pensionskasse abgeführt, und aus dieser Kasse erhalten die arbeitsunfähigen Arbeiter eine Pension bis an ihr Lebensende. So sieht jeder Arbeiter ein geruhsames, vor Not geschütztes Alter vor sich. Er hat ein Anrecht auf seine Pension und muß nicht fürchten, in seinem Alter Almosenempfänger zu werden. Das gibt den Leuten eine frohe Zuversicht. Und es erhöht das Zusammengehörigkeitsgefühl. Scheidet ein Arbeiter im Vollbesitz seiner Arbeitskräfte aus dem Unternehmen aus, was allerdings selten geschieht, so bekommt er seinen Gewinnanteil ausbezahlt und nur die Zinsen davon verbleiben der Pensionskasse. Wie ist es, Vater, hättest du nicht Lust, dieses Modell auch bei uns einzuführen?«

Ehe der Kommerzienrat antworten konnte, fuhr Georg Ruhland auf.

»Was fällt dir ein, Gert? Sollen wir zuerst für die Arbeiter sorgen? Was würde dann für uns bleiben? Setze Papa nicht solche überspannte Ideen in den Kopf! Er ist ohnedies schon viel zu ideell veranlagt in dieser Beziehung. Hat er nicht Unsummen den Arbeitern vorgestreckt, damit sie sich eigene Häuser bauen konnten?«

»Nun, das Geld hat sich doch verzinst«, erwiderte der Kommerzienrat ruhig.

»Ja, mit lumpigen drei Prozent. Es hätte mindestens das Dreifache bringen können, wenn du es anders angelegt hättest.«

»Ich finde, daß Vater dieses Kapital herrlich angelegt hat, und ich habe die Art, den Arbeitern zu einem eigenen Heim zu verhelfen, vielen Betrieben zur Nachahmung empfohlen. Wenn du dich aber noch zu diesem Pensionierungssystem verstehen könntest, lieber Vater, dann wären unsere Werke vorbildlich für alle anderen.«

Eine Weile sah der Kommerzienrat seinen jüngsten Sohn nachdenklich an. Georg Ruhland preßte die Lippen zusammen und trommelte erregt mit den Fingern auf seiner gepolsterten Sessellehne.

Endlich sagte der alte Herr:

»Darüber läßt sich reden, Gert. Man muß nur erst reiflich überlegen, ob diese Idee hier bei uns ausführbar ist.«

»Sie ist es nicht«, ereiferte sich Georg, »es ist unverzeihlich von Gert, daß er dich auf solche Gedanken bringt. Ich habe doch wahrlich schon genug bremsen müssen, daß du in deiner gutmütigen Schwäche den Arbeitern gegenüber nicht zu weit gehst. Glaubt ihr denn, die Arbeiter werden es anerkennen, wenn ihr auf diese Weise große Summen opfert? Sie bekommen ja doch nie genug und werden es euch nicht danken. Sie verlangen schließlich als ihr Recht, was ihr ihnen großmütig opfert. Ich protestiere jedenfalls ganz energisch dagegen, daß solch eine Neuerung bei uns eingeführt wird.«

Da richtete sich der Kommerzienrat plötzlich straff empor.

»Und mit welchem Recht protestierst du, mein Sohn?«

Einen Moment stutzte Georg Ruhland. Dann sagte er hart und kalt:

»Mit dem Recht eines Menschen, der sich sein Erbe nicht wegen eines Hirngespinstes schmälern lassen will. Gert ist sich wohl nicht darüber klar geworden, daß er schließlich, so gut wie Rose und ich, die Kosten dieser Neuerung tragen muß.«

Gert zuckte lächelnd die Achseln. »Es wird uns nicht arm machen. Hast du Angst, Rose?«

Die junge Dame, die mit regem Interesse der Unterhaltung gefolgt war, schüttelte energisch den Kopf.

»O nein, Gert. Ich finde deine Idee wunderschön und würde gern ein Opfer bringen, um sie verwirklichen zu helfen.«

»Ich auch«, sagte Gert aufatmend.

»Aber ich nicht — ich denke nicht daran«, stieß Georg rauh hervor.

Die Kommerzienrätin sah ihren jüngsten Sohn mißbilligend an.

»Wenn du nichts Besseres von deiner Reise mit heimgebracht hast als solche Pläne, die den Familienfrieden stören, dann hättest du sie lieber nicht unternehmen sollen. Ich stehe ganz auf Georgs Seite. Es tut nicht gut, wenn man diesen Leuten zuviel Rechte einräumt. Sie maßen sich ohnedies zu viel an und vergessen nur zu leicht, daß sie auch Pflichten haben. Und Dank wird euch ganz gewiß nicht zuteil.«

»Liebe Mama, auf Dank rechnet man nicht — man darf nicht darauf rechnen, wenn man den Leuten, die ihre ganze Kraft für uns einsetzen, das Leben etwas erleichtert. Man muß sich mit dem Bewußtsein begnügen, Gutes geschaffen zu haben. Mindestens macht man die Leute schaffensfroher, wenn man ihnen die Sorge für die Zukunft abnimmt.«

»Oder nur nachlässiger. Sie verlassen sich dann auf die Versorgung und werden sich keine Mühe mehr geben, selbst voranzukommen«, warf Georg erregt ein.

Der Kommerzienrat hob die Hand. »Man könnte auch hier einen Ausweg finden, um die Tüchtigen und Leistungsfähigen zu bevorzugen. Das läßt sich einrichten. Und trotz deines Protestes, Georg, werde ich die Angelegenheit ins Auge fassen. Wir sprechen noch darüber. Jetzt wollen wir aber das Thema ruhen lassen. Gert hat uns sicher noch mehr Interessantes zu erzählen.«

»Hoffentlich fördert er nicht noch mehr solche phantastischen Ideen zutage«, warf Georg ärgerlich ein.

Gert sah ihn lächelnd an. »O Georg, wie dir die bleiche Furcht aus den Augen leuchtet, daß du von deinem Reichtum etwas abgeben solltest! Sei doch nicht so engherzig! Für uns bleibt noch genug übrig, und wir sind doch noch jung und können selbst verdienen, durch eigene Arbeit.«

Georg zuckte ärgerlich die Achseln. »Ich denke anders über diese Angelegenheit als du. Und wenn ihr nicht auf mich hört, werdet ihr schlimme Erfahrungen machen. Man darf die Leute nicht so verwöhnen.«

»Aber Georg, es sind doch Menschen wie wir auch, und man sollte alles tun, was man kann, um ihr Dasein lebenswerter zu gestalten«, warf Rose ein.

Georg machte eine abwehrende Bewegung. »Du redest wie der Blinde von der Farbe. Was verstehst du davon! Unsere Leute haben es schon viel zu gut. Sie fühlen sich als Herren in ihren eigenen Häusern, und viele unter ihnen wollen noch höher hinaus.«

»Das sind meist die Tüchtigsten, mein Sohn. Schilt mir nicht die Strebsamkeit meiner Leute! Sie hat noch immer gute Frucht getragen«, sagte der alte Herr ruhig.

»Aber sie geht über das Ziel hinaus. Sieh dir zum Beispiel den Werkmeister Lindner an! Nicht genug, daß er einen einträglichen Posten und ein eigenes Haus hat, er läßt auch noch seinen Sohn Ingenieur werden.«

»Nun, warum soll er nicht, wenn sein Sohn die Fähigkeiten dazu hat? Er hat das Recht, seine Ersparnisse anzulegen, wie es ihm gefällt. Und er hat sie wahrlich gut angelegt, indem er seine Kinder etwas lernen ließ.«

»Das geht aber über die Grenzen hinaus, die man diesen Leuten stecken müßte.«

Sein Vater sah ihn groß und ernst an.

»Wenn man nun deinem Großvater diese Grenzen gesteckt hätte, als er sich unterfing, seinen Sohn auf der Hochschule studieren zu lassen?«

Georg gab sich noch immer nicht geschlagen. »Dein Vater hat dich erst studieren lassen, als die Carolawerke bereits in Blüte kamen.«

»Allerdings — und so weit hat es Lindner noch nicht gebracht. Hätte man aber deinem Großvater, nach deinem Rezept, Grenzen gesteckt, dann wärst du heute nicht der Sohn des Besitzers der Carolawerke. Also sei vernünftig. Gleiches Recht für alle und freie Bahn dem Tüchtigen! Und der junge Lindner scheint mir sehr tüchtig zu sein. Oder hast du etwas an ihm und seinen Leistungen auszusetzen?«

Rose Ruhlands Gesicht hatte sich leicht gerötet, als Heinz Lindners Name genannt wurde. Nun sah sie gespannt in ihres Bruders Gesicht.

»Nein, ich habe nichts an ihm auszusetzen«, erwiderte er widerwillig.

»Nun, siehst du wohl! Ich höre von seinen direkten Vorgesetzten nur Gutes und Lobenswertes über ihn und freue mich darüber. Ich werde ihn jedenfalls im Auge behalten. Auch seine Schwester ist eine hervorragend tüchtige Kraft. Lindner kann stolz auf seine Kinder sein.«

»Arbeitet Lindners Tochter auch in den Werken?« fragte Gert interessiert.

»Ja, sie ist unsere tüchtigste Korrespondentin und hat einen so blendenden Stil, daß wir ihr alle diffizilen Korrespondenzen zur Erledigung übergeben. Sie ist entschieden ein Sprachtalent und beherrscht die englische und französische Sprache vollständig. Jedenfalls freut es mich, daß so tüchtige Menschen aus unseren Arbeiterkreisen hervorgehen. Es sind nicht die einzigen, die etwas Tüchtiges gelernt haben und in den Werken angestellt sind, wenn es auch unbedingt die intelligentesten sind«, erwiderte der Kommerzienrat.

Georg zuckte spöttisch die Achseln. »Sie streben aber über ihre angestammte Sphäre hinaus, und das tut nie gut.«

»Warum nicht?«

»Weil solche Beispiele zur Nacheiferung anspornen.«

»Das ist doch sehr gut.«

»Nein, Papa, das ist nicht gut — verzeih, daß ich dir widerspreche. Wenn alle Arbeiterkinder sich so auswachsen würden, wo sollten wir dann Arbeiter hernehmen?«

Der Kommerzienrat lächelte. »Eine so ausgeprägte Intelligenz ist immer nur in Ausnahmefällen vorhanden, gleichviel, ob in Arbeiterkreisen oder in anderen. Aber gerade darum soll man besonders begabten Menschen die Wege ebnen — auch zu den höchsten Zielen.«

Rose ergriff impulsiv die Hand ihres Vaters und drückte sie. »Ich bin stolz darauf, deine Tochter zu sein, weil du ein so großzügiger Mensch bist, Papa«, sagte sie.

3