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Konflikte scheut er nicht, den Mund verbietet ihm keiner. Er attackiert Bücklingshaltung und nennt Betonköpfe Betonköpfe, geißelt blinde Staatsgläubigkeit und eine "Du-sollst-Religion". Gegen die Kultur der Angst setzt er auf Freiheit. Woher rührt diese innere Haltung, die Notker Wolf selbst so souverän, frei und gelassen macht? Der oberste Benediktiner ist da klar: Die Verankerung in Gott schenkt uns unseren Eigenwert und unsere Würde - unabhängig davon, welchen Stellenwert wir in der Gesellschaft haben. Im Kloster wird sie eingeübt, unter Christen sollten sie selbstverständlich sein, und auch eine Gesellschaft lebt davon. Es geht um den Kern unserer Kultur. Sicherheit wächst, wenn wir lernen, Maß zu halten, zu unseren Werten stehen, kreativ sind - und selber leben statt uns leben zu lassen.
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Seitenzahl: 128
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Abtprimas Notker Wolf
Das kleine Buch der wahren Freiheit
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deKonvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, StuttgartISBN (Buch): 978-3-451-31070-6ISBN (E-Book): 978-3-451-33863-6
Vorwort
1 Zur Freiheit sind wir geboren
2 Eine Schule der Freiheit
3 Inspiration Christentum
4 Was die Gesellschaft braucht
5 Die Welt der Arbeit und der Wirtschaft
6 Neue Dimensionen der Verantwortung
Ausblick
Wir erleben etwas Unerwartetes: Freiheitsbewegungen flammen auf, gegen alle Widerstände und auch in Ländern, in denen man das nie erwartet hätte. Ob in Tunesien, Ägypten, Lybien, Syrien oder Jemen– Menschen gehen auf die Straße und riskieren ihr Leben. Diktaturen kommen ins Wanken. Dass wir ohne Angst und Zwang leben können, dass unsere Würde geschätzt wird, das gehört offensichtlich zu unseren tiefsten Sehnsüchten und Naturinstinkten. Es ist nicht weniger stark als die Sehnsucht nach Leben und Anerkennung, wie Hunger, Durst und Schlafbedürfnis. Ich bin überzeugt: Der Freiheit gehört die Zukunft, und unsere Zukunft werden wir ohne Freiheit nicht bewältigen. Wir müssen uns dessen neu bewusst werden, auch bei uns. Von ihrem Wert zu reden, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kirche – das klingt selbstverständlich und ist es doch nicht. Warum?
Auf meinen Reisen komme ich immer wieder auch nach Asien: ein Kontinent, der wirtschaftlich mit einer rasanten Dynamik boomt, wie wir uns das vor einiger Zeit noch nicht vorstellen konnten. Ein Amerikaner sagte mir kürzlich erschrocken: „Halb Amerika gehört bereits China.“ Und nannte unglaubliche Zahlen über Firmenaufkäufe, Immobilienerwerb, Finanzbeteiligungen. Und in Afrika hörte ich: „Halb Afrika gehört bereits China“ – es war ein Bischof aus Sambia, der mir das sagte: „Unser Land gehört uns gar nicht mehr.“ „Wieso?“, fragte ich. „Nicht nur |8|der Kupfergürtel ist von China aufgekauft, ganze Landstriche, riesige Ackerflächen sind inzwischen in chinesischer Hand. Sehen Sie sich in Dar-es-Salam um, die Geschäfte sind nicht mehr von Afrikanern besetzt.“ Und wer von Nairobi nach Dubai fliegt, wird feststellen: Die Businessclass ist fast ausschließlich von Chinesen eingenommen.
China schiebt sich wirtschaftlich nach vorne und zieht nicht nur an den Entwicklungsländern, sondern auch an traditionellen Industrieländern vorbei. Wir werden uns auf diese wirtschaftliche Dynamik einstellen müssen. Trotzdem, und obwohl ich diese Entwicklung schon lange prophezeit habe: Ich bin auf lange Sicht nicht überzeugt vom chinesischen Modell. Es funktioniert im Moment wegen des massiven Protektionismus. Aber auf Dauer benötigt die Wirtschaft und braucht eine Gesellschaft etwas anderes: freien Wettbewerb und vor allem Innovation. Und die werden nur aus der Freiheit geboren. Entwicklung, gerade auch der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, ist nur da möglich, wo es wirkliche Freiheit gibt.
Auch in der Erziehung wird in der jüngsten Zeit immer wieder das asiatische Modell gerühmt. Fasziniert sprechen sogar die Feuilletons von den Erfolgen der „Tigermütter“, die angeblich durch Zucht und Drill den Erfolg ihrer Kinder produzieren. Ich habe bei vielen Besuchen gesehen, wie Schülerinnen und Schüler in Südkorea bis zu zwölf Stunden pro Tag im Sprachlabor lernen. Ein bewundernswerter Fleiß. Aber als ich eines dieser Kinder abends ansprach: „Hello, good evening, how are you?“, |9|erntete ich Unverständnis. Diesen Satz hatten sie nicht auswendig gelernt. Ein System, das im Auswendiglernen besteht? – Ich bin überzeugt: Das ist nicht der Weg in die Zukunft. Dieser Weg führt nur über wirkliche Bildung – und damit über die Freiheit. Bildung heißt für mich Befähigung zu Freiheit, Kreativität und Verantwortung, nicht nur fachliche Ausbildung und Vermittlung von Inhalten. Sie bedeutet, dass wir einem jungen Menschen Zukunftskompetenz vermitteln, damit er selber sein Leben gestalten kann, es aus eigener Initiative in die Hand nehmen kann, eigenverantwortlich und mitverantwortlich für die Gesellschaft, dass er gesellschaftsfähig wird und gleichzeitig seinen eigenen Wert erfährt. Freiheit der Gesellschaft und Freiheit des Einzelnen hängen eng zusammen.
Wo immer ich mit Menschen zusammenkomme, versuche ich klar zu machen: Im Grunde genommen brauchen wir sehr wenig, um glücklich zu sein. Aber was wir uns nie nehmen lassen dürfen, ist unsere Würde und unsere Freiheit. Es darf nie ein Ziel sein oder in Kauf genommen werden, dass wir in einem Kollektiv untergehen. Nur Bildung in einem umfassenden Sinn ist Garant und Ziel dieser Freiheit.
Bildung ist der Schlüsselbegriff, der die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft verbindet. Menschliche und charakterliche Kompetenz sind die Schlüsselqualifikation einer humanen Gesellschaft. „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seiner Seele“, heißt es im Neuen Testament. Wir brauchen also eine Vision der Zukunft, die den Menschen wieder in |10|den Mittelpunkt stellt, seine Freiheit und sein Glück, die Entfaltungsmöglichkeit seiner Seele. Als Menschen mit Menschen für eine menschliche Zukunft zu arbeiten, in der wir noch freie Menschen bleiben, das ist, glaube ich, die beste Nachhaltigkeit, für die wir sorgen können.
Es geht, wenn wir von Bildung sprechen, nicht darum, dass wir ökonomisch erfolgreiche Wirtschaftsexperten heranzüchten, die vor allem an ihrem individuellen Erfolg interessiert sind. Freiheit ist nicht isoliert meine individuelle Freiheit. Sie ist immer auch die Freude, auch mit anderen zusammen zu sein. Freude an der Freiheit ist immer auch Freude an der Freiheit der anderen. Damit ist sie etwas ganz anderes als selbstbezogene Willkür.
Diese Freiheit beinhaltet auch die Freude daran, Herausforderungen anzunehmen und sich nicht nur immer hinter abgeschirmter Sicherheit zu verstecken, Aufgaben zu bewältigen und etwas zu bewältigen, lernen zu wollen und dadurch auch Bestätigung zu finden, streben zu können – nicht nur im Verfolgen eigener Interessen, sondern in der Absicht, etwas Gutes zu verwirklichen. Ich habe diese Freiheit, nicht weil ich unter Druck stehe, sondern aus Respekt vor mir selber. Und umgekehrt: Weil ich die Freiheit selber hochhalte und sie auch für mich einklage, schätze und respektiere ich sie auch bei anderen – und ich räume sie dem anderen auch aktiv ein. Dieser Respekt ist es im Übrigen, der uns demokratiefähig und dialogfähig macht. Nur so können wir den Menschen auf eine humane Zukunft hin bewahren – gegenüber allen Versuchungen |11|des Kollektivismus, die in allen Systemen existieren. Freiheit bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern Anerkennung von Vielfalt. Dialog ist die Form dieser Anerkennung von Vielfalt. Vielfalt ist die Bereicherung. Europa hat gerade in unserer Situation der Globalisierung die große Chance, der Welt zu zeigen, welcher Reichtum in der Vielfalt seiner Kulturen liegt – und auch klar zu machen, welche wichtige Rolle Religion dabei spielt.
Freiheit ist nämlich nach christlicher Überzeugung das größte Geschenk, das Gott uns gemacht hat. Aber sie ist gerade dadurch auch Verpflichtung. Der Glaube, dass wir Geschöpf sind, geschaffen als Ebenbild Gottes, macht die Würde des Menschen aus. Und es gehört zu unserem Erbe, dass wir dafür eintreten. Es ist das Erbe des Christentums und das Erbe Europas für die Welt von heute.
Friedrich Schiller ließ seinen Helden Don Carlos „Gedankenfreiheit“ fordern. Das gehört zu diesem Erbe dazu. Die Freiheit selber zu denken und unsere Überzeugung offen zu äußern, sollten wir uns nicht nehmen lassen.
Und wir sollten nicht vergessen, auf welch tiefen Wurzeln die humanistische Tradition beruht: Der höchste Wert der Freiheit rührt daher, dass sie nach biblischem Verständnis zu Gott selber gehört. So heißt es im zweiten Korintherbrief (3.17): „Der Herr aber ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit.“ Die Verankerung in Gott also macht uns frei. Sie schenkt uns unseren Eigenwert und unsere Würde – unabhängig davon, welchen Stellenwert wir in dieser Gesellschaft haben. Das gibt uns die Freiheit einzutreten für das, was wir als wahr und recht erkannt haben.
|12|Dass mein Verständnis von Freiheit zudem inspiriert ist vom heiligen Benedikt, das wird man in diesem Buch leicht merken. Die Tradition des Mönchtums ist für mich eine hohe Schule der Freiheit. Das klingt möglicherweise für manche überraschend, die das Gelübde des Gehorsams als etwas ansehen, was der Freiheit entgegensteht. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn man mich fragt, ob ich es je bereut habe, Mönch geworden zu sein, treffe ich oft auf überraschte Gesichter, wenn ich antworte: „Nein, denn ich liebe die Freiheit, und die ist in den Klostermauern eingesperrt. Dieses Privileg endet, sobald ich das Kloster verlasse.“
Freiheit und Gehorsam sind in dieser Tradition keine Gegensätze. Das gilt für den einfachen Mönch, und das gilt auch für den Abtprimas der Benediktiner. Als Abtprimas unterstehe ich jetzt nicht mehr direkt einem Abt, aber ich muss vielen Äbten und Mönchen gehorchen. Denn ein Abt, der Vater seiner Gemeinschaft sein will, kann nicht einfach dekretieren. Er muss „horchen“, er muss auf die ganze Gemeinschaft hören: denn Gehorsam kommt von horchen.
Als ich zu einem General des Jesuitenordens einmal sagte: „Die Macht des Abtprimas ist die Machtlosigkeit“, war seine schmunzelnde Antwort: „Ihre Macht hätte ich gerne.“ Ich musste grinsen. Scherzhaft sage ich manchmal: „We are not an order but a disorder – Wir sind kein Orden im eigentlichen Sinn, eher eine Unordnung.“ Es gibt keine hierarchische Struktur. Jedes Kloster muss mit sich selbst fertig werden. Ein Abtprimas kann von Rechts wegen selbst bei Konflikten oder in problematischen |13|Situationen nicht eingreifen, es sei denn er würde gerufen. Er kann in kein Kloster hineinregieren, soll aber die Einheit und Zusammenarbeit unter den Benediktinerklöstern bewirken. Schon der Abt soll nach den Worten Benedikts mehr vorsehen als vorstehen, umso mehr gilt das für den Abtprimas. Autorität wächst im Laufe der Jahre. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich viel erreichen kann, wenn ich auf Menschen eingehe und ihnen die Freiheit lasse. Sie fühlen sich geachtet, ihr Ehrgeiz fordert sie dann heraus, das Beste zu geben.
Auf diesem Wert der Freiheit bestehe allerdings auch ich, wenn ich selber immer wieder meine Meinung äußere, in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft. Ich nehme da meist kein Blatt vor den Mund. Wenn ich Betonköpfe in der Kirche vorfinde, sage ich das. Und wenn sie bei den Gewerkschaften noch betonhärter sind, halte ich mich auch da nicht mit der Wahrheit zurück. Bei Wirtschaftsbossen nicht anders. Manche werfen mir deswegen vor, ich sei ein Revoluzzer. Ich scheue Konflikte nicht und lasse mir auch den Mund nicht verbieten. Ich habe diesbezüglich nie Probleme gehabt und habe immer gesagt, was ich dachte. Bin ich deswegen aber schon ein Revoluzzer? Revoluzzer wollen die Verhältnisse mit Gewalt ändern. Das möchte ich aber nicht. Ich bin nur ein freiheitlich denkender Mensch. Ich werde jedenfalls auch in Zukunft sagen, was ich denke. Auch wenn es nicht allen immer genehm ist. „Tritt auf, sei es gelegen oder ungelegen“, hat Paulus seinen Schüler Timotheus ermahnt. Ich muss natürlich auch gegenteilige |14|Meinungen und Kritik gelten lassen, die genauso unbequem sein kann.
Die Frage nach der eigenen Freiheit hat natürlich auch noch eine andere Seite. Wenn ich selber gefragt werde: Wann fühlen Sie sich selber wirklich frei? Wann erleben Sie es? Dann ist meine Antwort immer ganz einfach: Im Gebet, in der Erfahrung, bei Gott zu verweilen und in ihm geborgen zu sein. Das ist für mich, ganz persönlich, Glück.
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|16|Tun, was ich will
Was ist Freiheit? Ich kann sie zunächst einmal als Freiheit von Zwang verstehen. Das bedeutet, dass der Mensch nicht tun muss, was er nicht will, wozu ihn aber der Wille eines anderen mit Macht zwingen will. Solche Situationen gibt es immer wieder, in politischen Zusammenhängen, in der Wirtschaft, überall da, wo Machtverhältnisse das Zusammenleben bestimmen. Zwang ist hier verstanden als die totale Beschneidung der Freiheit, als Beschreibung einer Situation, in der jemand sein eigenes Leben nicht mehr nach eigener Vorstellung, nach eigenen Wertvorstellungen, nach eigenem Gutdünken gestalten darf.
Ich kann Freiheit aber auch von der anderen Seite her verstehen: Die Freiheit des Menschen liegt ja nicht einfach schon darin, dass er das tut, was er will. Natürlich sollte er aktiv sein und das auch realisieren, was er will. Aber unter dem Vorbehalt: Er sollte natürlich das Gute wollen. Nicht das, wonach ihm gelüstet. Der momentane Impuls, der in mir hochkommt und den ich nicht unter Kontrolle habe, ist kein Zeichen von Freiheit, sondern Unterwerfung unter einen Trieb. Also das Gegenteil von Freiheit.
Freiheit besteht in der Praxis positiv darin, sich für das Gute entscheiden zu können und ungehindert das Gute tun zu können. So hat es schon Benedikt in seiner Regel verstanden. Er hat diese Regel auch so ausgerichtet: die Mönche darin zu üben, dass sie den Verlockungen des Zeitgeists widerstehen und sich durch tägliche Praxis darin |17|stärken. So sollten sie sich aus Abhängigkeiten befreien können und sich nach den Geboten des Schöpfers ausrichten. Die Gelübde von Beständigkeit, klösterlichem Lebenswandel und Gehorsam haben diese Grundausrichtung. Die Einbindung in eine Gemeinschaft bildet dabei eine große Stütze. Wer sich darauf einlässt, lässt sich aus freiem Willen auch darauf ein, mit jenen Antriebskräften der Zivilisation zu brechen, die zumindest ein Doppelgesicht haben können. Der Drang nach Besitz, Sexualität und Macht – das sind Antriebe, die Menschen auch leicht in Abhängigkeiten und damit in den Zustand innerer Unfreiheit bringen. Benedikt will die Mönche davor bewahren, einen falschen Weg zur Selbstverwirklichung einzuschlagen. Unserer Neigung zur Absolutsetzung des Besitzes, der Gier oder der Habsucht setzt er etwas anderes entgegen: der Arbeit den Gottesdienst, der Habsucht die Armut, der Gier die Enthaltsamkeit und der Herrschsucht die Grundregel des gegenseitigen Dienens. Und in einer von Workaholikern bevölkerten Welt kann man noch hinzufügen: der Absolutsetzung der Arbeit setzt er den Gottesdienst entgegen und den ausgewogenen Tageslauf.
Auch jenseits des Klosters ist das ein Zeichen, gerade heute: Zur wahren Freiheit und zur wahren Selbstverwirklichung kommen wir, wenn wir uns nicht auf die eigene Person konzentrieren, sondern bereit sind, Gott als den Mittelpunkt unseres Lebens anzuerkennen.
|18|Eine Fähigkeit, die Ihr Leben verändert
In einer süddeutschen Großstadt war kürzlich ein Plakat zu lesen, das für den Vortrag eines berühmten Neurowissenschaftlers warb. Der Mann hatte sich auch als Lebenshilfeguru einen Namen gemacht. Der paradox formulierte Titel war: „Warum tun wir oft nicht, was wir wollen?“ Das interessierte mich, und ich las weiter, was auf diesem auf einer öffentlichen Litfass-Säule plakatierten Text – mit Verweisen auf den allerneuesten Stand der modernen Hirnforschung und auf aktuelle Publikationen in weltberühmten Zeitschriften wie „Science“ zu lesen war: „Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Fähigkeit, die jeder Mensch mehr oder weniger hat und von der Ihr gesamtes Leben ganz entscheidend abhängt und die dennoch kaum jemand kennt. Langfristig beschert sie uns Glück und Erfolg, ja sogar ein langes Leben. Die Fähigkeit lässt sich trainieren wie ein Muskel, am besten schon in der Kindheit und wer sie besitzt, hat in der Schule bessere Noten und im Alter bessere Zähne, verdient mehr und behält darum auch mehr Geld auf dem Konto, wird nicht kriminell und ist selten alleinerziehend, raucht eher nicht und fliegt auch eher nicht von der Schule. Diese Eigenschaft gibt es, sie heißt Selbstkontrolle und wirkt sich auf unsere Lebensqualität und sogar auf unser Leben aus. Eintritt 10Euro. Ermäßigt 8Euro. 10Gratisplätze für Alleinerziehende.“ Abgesehen davon, dass ich die Freiplätze für die vorher mit Rauchern, Kriminellen und Schulabbrechern in einen |19|Topf geworfenen Alleinerziehenden als einen eher zynischen Werbegag empfinde: Der Mann hat recht. Auch wenn das, was er sagt, in die Kiste der banalen Einsichten nach dem Muster „Die Wissenschaft hat festgestellt…“ gehört und eine uralte Lebensweisheit ist.
Die frühen Mönche haben es so gesagt: „Alles Übermaß ist von den Dämonen.“
Und bei Matthias Claudius heißt es: „Niemand ist frei, der über sich selbst nicht Herr ist.“
Einsichten werden nicht schlechter, wenn sie alt sind.
|20|Leitplanken, nicht Fesseln