Das kleine Café von Lakeview - Melissa Hill - E-Book
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Das kleine Café von Lakeview E-Book

Melissa Hill

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Beschreibung

»Komm, und lass deine Sorgen da«: Der zauberhafte Wohlfühlroman »Das kleine Café von Lakeview« von Melissa Hill jetzt als eBook bei dotbooks. Im beschaulichen Lakeview ist Ellas Café der Anlaufpunkt für gebrochene Herzen. Da ist Nina, die Ellas Rat gut brauchen kann, nachdem sie schwanger von ihrem Freund sitzengelassen wurde. Auch der Schauspielerin Ruth macht eine überraschende Schwangerschaft zu schaffen und weil ihr deswegen ein Skandal droht, taucht sie in ihren kleinen Heimatort ab – wo sie ihrer Jugendliebe Charlie wiederbegegnet ... Jess hingegen wünscht sich nichts mehr als ein Baby, aber ihr Mann ist davon alles andere als begeistert. Werden die drei frisch gebackenen Freundinnen die Herausforderungen des Lebens meistern – und die der Liebe? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Liebesroman »Das kleine Café von Lakeview« von Melissa Hill wird Fans von Katie Fforde und Maeve Binchy begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 536

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Über dieses Buch:

Im beschaulichen Lakeview ist Ellas Café der Anlaufpunkt für gebrochene Herzen. Da ist Nina, die Ellas Rat gut brauchen kann, nachdem sie schwanger von ihrem Freund sitzengelassen wurde. Auch der Schauspielerin Ruth macht eine überraschende Schwangerschaft zu schaffen und weil ihr deswegen ein Skandal droht, taucht sie in ihren kleinen Heimatort ab – wo sie ihrer Jugendliebe Charlie wiederbegegnet ... Jess hingegen wünscht sich nichts mehr als ein Baby, aber ihr Mann ist davon alles andere als begeistert. Werden die drei frisch gebackenen Freundinnen die Herausforderungen des Lebens meistern – und die der Liebe?

Über die Autorin:

Melissa Hill ist eine USA-Today-Bestsellerautorin aus dem irischen County Wicklow. Ihre Romane über Familie, Freundschaft und Liebe erschienen bislang in über 26 Sprachen. Ihr Roman »Ich schenk dir was von Tiffany’s« wurde von Reese Witherspoons Produktionsfirma »hello sunshine« für Amazon Prime mit dem Titel »Weihnachtsgeschenke von Tiffany« verfilmt.

Die Website der Autorin: melissahill.info

Auf Facebook: facebook.com/melissahillbooks

Auf Instagram: @melissahillbooks

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre gefühlvollen Romane »Ich schenk dir was von Tiffany’s«, »Wiedersehen in Irland«, »Der Himmel über Castlegate«, »Die Schwestern von Killiney«, »Wiedersehen in Dublin«, »Das Glücksarmband«, »Briefe für ein ganzes Leben«, »Die Freundinnen von Glengarrah«, »Der Himmel über Dublin«, und »Das kleine Café von Lakeview«.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2010 unter dem Originaltitel »The Truth About You« bei Hodder & Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Glücksklee« unter dem Pseudonym Holly Greene bei Rowohlt.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2010 by Melissa Hill

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-154-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Melissa Hill

Das kleine Café von Lakeview

Ein Irlandroman

Aus dem Englischen von Sabine Schulte

dotbooks.

Widmung

Meinen »Jungs« Kevin und Homer gewidmet

Prolog

»Ehrlich gesagt, mein erster Gedanke war, dass es meine Doughnuts sein müssten«, begann Ella, »oder irgendetwas anderes. Es ist ja nichts Ungewöhnliches, dass ich frühmorgens schon frische Ware vor der Tür des Cafés finde.«

»Um wie viel Uhr war das genau?«

»Lass mich mal überlegen.« Ella machte eine kurze Pause. »Die Milch kommt gewöhnlich so um fünf, gut zwei Stunden, bevor ich aufmache, und die üblichen sechs Liter standen schon links vom Eingang in der Ecke. Aber dieser Karton lag direkt vor der Tür, ich konnte ihn gar nicht übersehen.«

»Verstehe.«

»Ich war ein bisschen verärgert, das muss ich zugeben. Und ich nahm mir vor, der Bäckerei mal ordentlich die Meinung zu sagen, weil sie außerhalb meiner Öffnungszeiten geliefert hatten, ohne mich zu benachrichtigen«, fuhr Ella bedächtig fort, »aber gerade, als ich den Karton öffnen wollte, da hörte ich ... da kam von innen ein Geräusch.«

»Ein Geräusch?«

»Es klang fast wie ein Wimmern. Ganz schwach, wie von einem kleinen Tier. Da habe ich natürlich sofort gedacht, aha, Familienzuwachs – mal wieder eine notleidende Kreatur.«

»Du hast gedacht, irgendjemand, der weiß, dass du streunende Tiere aufnimmst, hätte dir eins vor die Tür gestellt?«

»Genau. Hier in Lakeview kennen mich doch alle, und jeder weiß, dass ich nicht nein sagen kann.« Ella lächelte ein wenig. »Aber als ich den Karton aufmachte und sah, was da vor meiner Tür gestrandet war, kriegte ich den größten Schreck meines Lebens.« Sie schwieg einen Moment und ließ ihre Worte wirken.

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich habe natürlich die Polizei gerufen. Frank war schon nach ein paar Minuten da. Es ist ja zu Fuß nicht weit von der Wache bis hierher, aber er ist trotzdem mit dem Streifenwagen gekommen. Und ich habe Jim Kelly angerufen.«

»Das ist der Arzt hier in Lakeview?«

»Ja. Und ich habe auch einen Krankenwagen gerufen. Also, nur für alle Fälle.«

»Das klingt, als hättest du einen klaren Kopf behalten.«

»Überhaupt nicht«, protestierte Ella. Sie wirkte ein wenig nervös. »Im Gegenteil, ich stand richtig unter Schock! Erst als der Krankenwagen wieder abgefahren war und Dr. Kelly uns versichert hatte, das Baby sei körperlich ganz gesund und es gebe keine Anzeichen für eine Unterkühlung, da entspannte ich mich ein bisschen. Der Karton konnte noch nicht lange da draußen gestanden haben, und wir waren uns alle einig, dass derjenige, der ihn mir vor die Tür gestellt hatte, meinen Tagesablauf gut kannte.«

»Aber das ist keine Entschuldigung, oder? Ich meine, wer legt denn bei eisiger Kälte ein Neugeborenes in einem Pappkarton vor eine Tür?«

»Ich verstehe es auch nicht. Frank vermutete, dass die Mutter sich vielleicht irgendwo in der Nähe versteckt hatte und den Karton im Auge behielt. Dass sie wartete, bis ich das Kind fand. Aber ehrlich gesagt, ich war so bestürzt, dass ich mich gar nicht umgesehen habe.«

»Ist ja klar.«

»Frank meinte, es wäre höchstwahrscheinlich ein Missverständnis, und er würde das ruck, zuck aufklären. Ella, hat er gesagt, wenn du mich fragst, ich denke, das kleine Würmchen wurde mit Absicht ausgerechnet vor deinem Café abgelegt. Denn wenn in dieser Stadt jemand genau weiß, was in einem solchen Fall zu tun ist, dann bist du das. Du kannst toll mit Kindern umgehen, und du nimmst doch auch immer herrenlose Tiere auf.« Bekümmert schüttelte Ella den Kopf. »Im Grunde habe ich das auch so gesehen, aber hier ging es ja nicht bloß um einen elenden alten Köter, sondern um ein armes, unschuldiges kleines Baby. Ich meine, unser Städtchen ist doch klein, und die Menschen hier passen aufeinander auf – anders als in einer anonymen Großstadt.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Deswegen habe ich auch kein Verständnis dafür. Meiner Meinung nach gibt es nichts – aber auch wirklich gar nichts -, was rechtfertigen könnte, dass man ein wehrloses Baby auf der Straße aussetzt. Aber«, fügte Ella mit einem tiefen Seufzer hinzu, »wer hier ein Urteil fällt, ohne die ganze Geschichte zu kennen, macht es sich wohl zu leicht.«

Kapitel 1

Nina Hughes hatte Lakeview nie gemocht, aber diesmal fand sie den Ort sogar richtig abstoßend. Sie wünschte, ihre Mutter hätte sich für die Weltreise mit ihrem Stiefvater einen anderen Zeitpunkt ausgesucht. Denn ausgerechnet jetzt brauchte Nina dringend eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Und, noch viel wichtiger, sie brauchte dringend ein Dach über dem Kopf.

Nach der Geschichte mit Steve konnte sie nicht in Galway bleiben. Das Risiko, ihm in der Kleinstadt über den Weg zu laufen, war einfach zu groß. Sie musste weg, irgendwohin, wo sie ihre Gedanken ordnen konnte. Doch dass sie ausgerechnet ihren Vater gefragt hatte, konnte sie immer noch nicht richtig glauben.

Aber leider war ihr keine andere Wahl geblieben. Unter normalen Umständen wäre sie einfach wieder nach Dublin gezogen und bei ihrer Mutter untergekommen, bis alles geklärt war. Aber ihre Mutter und Tony waren auf Reisen und hatten das Haus für sechs Monate untervermietet. Daher hatte Nina beschlossen, Patrick zu fragen, ob sie bei ihm in Lakeview wohnen könne. Es sollte nur für eine Weile sein – bis sie wieder klar denken konnte und sich überlegt hatte, wie es weitergehen sollte.

Wie ein Teenager hatte Nina sich gefühlt, nicht wie die reife, selbstbewusste Dreißigjährige, die sie eigentlich war, als sie vor ein paar Tagen bei ihrem Vater angerufen und gefragt hatte, ob er sie unterbringen könne.

»In Ordnung«, hatte er in seiner ruhigen, unbeteiligten Art gesagt.

Und Nina nahm an, dass er sich in den ungefähr acht Jahren, in denen sie keinen Kontakt gehabt hatten, kaum verändert hatte. Als Nina jünger gewesen war, hatte ihre Mutter sie zu Pflichtbesuchen bei Patrick gezwungen, aber Nina hatte immer das Gefühl gehabt, dass es ihrem Vater ziemlich egal war, ob er sein einziges Kind gelegentlich sah oder nicht.

Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie noch ein Kind war, und Nina hatte nie verstanden, wie sie überhaupt zusammengekommen waren. Ihr stiller, ernster Vater war genau das Gegenteil von ihrer fröhlichen, quirligen Mutter. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie beide in der gleichen Kleinstadt aufgewachsen waren – das heißt, eigentlich war Lakeview eher ein Dorf.

Auch wenn ihre Mutter Cathy das nie zugegeben hatte, vermutete Nina, dass Nachwuchs bei den beiden eher nicht geplant gewesen war. Ihre Eltern waren bestimmt keine Liebesehe eingegangen, sondern eine Muss-Ehe. Doch das kümmerte sie nicht. Ihre Mutter war inzwischen mit Tony in Dublin sehr glücklich, und Tony war für Nina ein besserer Vater, als Patrick es jemals gewesen war. Als Kind verbrachte sie gezwungenermaßen häufiger Wochenenden in Lakeview, später hatte sie ihren Vater nur noch gelegentlich besucht. Patrick äußerte sich dazu grundsätzlich nicht, und Nina machte sich auch keine großen Gedanken deswegen. Sie kannte den Mann ja kaum, und jetzt war es die reine Verzweiflung, die sie zwang, bei ihm unterzuschlüpfen.

Sie fragte sich, ob er wohl immer noch zwanghaft alles sammelte und ob er nach wie vor von seinem Reparaturdienst lebte. Sie dachte daran, wie Patrick stets geduldig Fernsehgeräte, Radios und überhaupt alle elektronischen Geräte auseinandernahm und wieder zusammenbaute. Stundenlang konnte er sich über seine Arbeit auslassen. Warum hatte er sich nicht auch mal im Städtchen umgetan und etwas Schönes unternommen, so wie ihre Mutter und Tony das machten? Ein weiterer Grund, sich zu fragen, was ihre Mutter in ihm gesehen hatte.

»Patrick ist ein freundlicher und sehr großzügiger Mensch«, hatte Cathy immer betont. Sie sprach nie schlecht von ihrem früheren Ehemann und wollte auch kein schlechtes Wort über ihn hören. Doch Nina hatte den Verdacht, dass da vor allem ihr schlechtes Gewissen sprach, weil sie ihn verlassen und die gemeinsame Tochter mitgenommen hatte. »Er hat auch nach unserer Trennung dafür gesorgt, dass es uns an nichts fehlte.«

Nina fand das ehrenhaft, auch wenn Patrick sich absolut nicht für sie zu interessieren schien. Sie hatte sich immer nur als das störende Kind empfunden, das ab und zu hereinschneite. Sie brachte dann sein tadellos aufgeräumtes Haus und seine geordnete Lebensweise durcheinander. Und ihr Vater war wirklich verdammt ordentlich! Und wenn seine heilige Ordnung wegen Nina mal wieder durcheinandergeriet, so äußerte sich das nicht in einem Wutausbruch, sondern in einem ruhigen, geradezu kontrollierten Ärger, der für eine Zehnjährige eher noch angsteinflößender war.

Während der Bus sich den Außenbezirken von Lakeview näherte, überlegte Nina, ob sich wohl irgendetwas im Ort verändert hatte. Natürlich gab es mittlerweile viel mehr Häuser – neue Häuser mit gigantischen Schlafzimmern, riesigen Gärten und Whirlpools im Freien. Doch auch dieser Luxus konnte niemals die trostlose Wirklichkeit des Kleinstadtlebens übertünchen, jedenfalls nicht in Ninas Augen.

Nein, Lakeview war nur eine Zwischenstation für sie. Eine Art Nothalt. Und sobald sie einigermaßen zu sich gekommen war, würde sie sofort wieder von hier verschwinden.

Sie stieg an der Main Street aus. Die Bushaltestelle lag nahe des Sees, gleich vor dem Café, das sich schon seit Urzeiten hier befand. Ob es wohl immer noch Ella gehörte? Ella war schon älter und hatte immer die herrenlosen Tiere eingesammelt, erinnerte Nina sich. Die Cafébetreiberin war immer sehr nett zu ihr gewesen, sie hatte offenbar spitzgekriegt, dass Nina sich nur ungern in Lakeview aufhielt. Oder vielleicht hatte sie auch einfach Mitleid gehabt, weil Ninas Papa nie viel Zeit für seine Tochter übrig hatte.

Nina schulterte ihren Rucksack und ging am Seeufer entlang und dann weiter über die alte Steinbrücke, die zum Haus ihres Vaters führte.

Am Telefon hatte sie ihm gesagt, sie würde etwa um sechs ankommen.

»Dann ist Essenszeit. Es gibt Kohl mit Speck«, hatte Patrick gesagt. Unwillkürlich musste Nina den Kopf schütteln. Wie hatte sie das vergessen können? Montags Schweinekoteletts, dienstags Steak, mittwochs Kohl mit Speck ... Schon damals hatte Patrick Hughes diese Gerichte immer an den gleichen Wochentagen gekocht, ausnahmslos, und daran hatte sich in all den Jahren anscheinend nichts geändert.

Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen?

***

Als Nina in den Hausflur trat, machte Patrick einen Schritt rückwärts.

»Hi, Dad. Wie geht’s?« Nina versuchte erst gar nicht, ihren Vater in die Arme zu nehmen. Berührungen kamen in ihrer Beziehung nicht vor. Aber sie war doch ein bisschen verärgert, dass das Wiedersehen mit seiner Tochter ihm anscheinend so gleichgültig war. Keine herzliche Begrüßung, keine Begeisterung, kein Interesse.

Sicher, es war ja ihre eigene Entscheidung gewesen, ihn so lange nicht zu besuchen, aber es quälte sie trotzdem. Zumal ihr Vater kein einziges Mal von sich aus versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Ob er jetzt die positiven Veränderungen an ihr wahrnehmen würde? Seit ihrer letzten Begegnung hatte Nina mehr als sechs Kilo abgenommen, und ihr ehemals kurzes dunkles Haar reichte ihr mittlerweile bis weit über die Schultern. Doch ihr Vater ließ sich nichts anmerken.

»Ich habe Essen für dich gemacht, aber das könnte kalt geworden sein«, erklärte er, und da erfasste Nina den Grund für seine Nervosität: Sie hatte Patrick gesagt, sie käme um sechs, und jetzt war es Viertel nach. Sie kam zu spät.

»Ich bin am Café aus dem Bus gestiegen. Ich dachte, ich wäre früher hier ... « Dann verstummte sie und fragte sich, warum sie sich eigentlich rechtfertigte. Schließlich war sie kein Kind mehr. Außerdem kam sie nur fünfzehn Minuten zu spät, was war denn daran so schlimm?

»Ich hoffe, du hast schon angefangen – du brauchtest nicht auf mich zu warten. Ich kann mein Essen ja in die Mikrowelle stellen.« Sie wusste, dass ihr Vater nie und nimmer mit dem Essen auf sie gewartet hätte. Wie jeden Abend aß er bei den Sechs-Uhr-Nachrichten, und auch der Besuch seiner Tochter, die er jahrelang nicht gesehen hatte, würde daran nichts ändern.

»Ich gucke gerade die Nachrichten«, bestätigte Patrick ihren Verdacht, und Nina verdrehte innerlich die Augen.

Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, das sich seit ihrem letzten Aufenthalt in Lakeview kein bisschen verändert hatte, und setzte ihren Rucksack auf dem Sofa ab.

»Ich habe dein altes Zimmer fertig gemacht«, sagte Patrick und bedachte ihr Gepäck mit einem nervösen Blick. Für Nina hieß das, dass sie den Rucksack nach oben bringen sollte, statt sein schönes, aufgeräumtes Wohnzimmer in Unordnung zu bringen.

»Danke. Ich packe nach dem Essen aus, wenn das okay ist – ich bin ein bisschen müde nach der Busfahrt.« Wieder fand Nina es schrecklich, dass sie sich in seiner Gegenwart so verlegen und so unbehaglich fühlte.

»Ist in Ordnung«, sagte Patrick unverbindlich, so als habe sie ihm mitgeteilt, sie wolle keinen Zucker in den Tee. Er bot nicht an, ihr zu helfen, stellte auch keine Fragen nach ihrer Reise, sondern ließ sich in seinem Sessel nieder und guckte in die Glotze.

Auf dem Weg in die Küche erinnerte Nina sich ganz genau, warum sie ihren Vater irgendwann nicht mehr besucht hatte: Es war frustrierend und tat sogar richtig weh, dass er ihr gegenüber nie Anteilnahme, sondern fast absolute Gleichgültigkeit zeigte. Sie saß in der Klemme, ihr Herz war in tausend Stücke zerbrochen, doch ihren Vater interessierte das, wie immer, überhaupt nicht.

Konnte er nicht wenigstens so tun, als wolle er wissen, warum sie nach so langer Zeit wieder bei ihm aufgetaucht war? Oder lag ihm so wenig an ihr, dass es ihm einfach egal war? Er war wirklich das komplette Gegenteil ihrer liebevollen, warmherzigen Mutter. Cathy wäre außer sich, wenn sie erfahren würde, dass sie ihrer Tochter in einer derart schwierigen Zeit nicht zur Seite stehen konnte. Okay, Nina hatte ja nicht erwartet, dass Patrick sie mit offenen Armen und einer Schachtel Kleenex empfangen würde, aber eine einfache Frage nach ihrem Befinden war doch nicht zu viel verlangt, oder?

Nina stellte den vorbereiteten Teller mit dem Essen in die Mikrowelle, und während sie darauf wartete, dass es heiß wurde, schaute sie sich um und staunte darüber, wie pingelig Patrick war. Obwohl er gekocht hatte, war die Küche tadellos sauber. Töpfe, Pfannen und Kochutensilien hatte er bereits gespült und ordentlich gestapelt. Auf den Arbeitsflächen waren keine Wasserspritzer und kein Krümelchen zu sehen.

Bei ihrer Mutter sah es nach dem Kochen dagegen immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Die Mikrowelle klingelte, und Nina trug zögernd ihren Teller ins Wohnzimmer, um sich zu ihrem Vater vor den Fernseher zu setzen.

»Schmeckt sehr gut«, bemerkte sie nach ein paar Bissen von dem langweiligen, altmodischen Gericht, das ihr Vater so gern mochte. Der gebratene Speck war allerdings wirklich ganz lecker.

Als Antwort nickte ihr Vater nur zerstreut. Okay, er guckte gerade die Nachrichten und wollte wahrscheinlich nicht in irgendein belangloses Gespräch hineingezogen werden, aber konnten die deprimierenden Probleme der Welt nicht mal einen Abend lang warten?

»Hast du die Küchenzeile verändert, seit ich das letzte Mal hier war?«, versuchte Nina es noch mal, obwohl sie wusste, dass Patrick jahrelang nichts mehr am Haus gemacht hatte.

»Weiß ich nicht genau«, antwortete er und schien ernsthaft darüber nachzudenken. »Wann warst du denn das letzte Mal hier?«

»Vor acht Jahren«, antwortete Nina knapp.

»Nein«, sagte er mit Bestimmtheit, »seitdem ist nichts verändert worden.« Damit nahm er die Fernbedienung in die Hand und erhöhte einfach die Lautstärke des Fernsehers. Das war unmissverständlich das Ende der Unterhaltung.

Nina war trotzdem entschlossen, sich Mühe zu geben. »Der Garten sieht zu dieser Jahreszeit sicher schön aus, er steht schon in voller Blüte, nicht?«

»Ja.«

»Unterwegs sind mir die vielen Neubauten aufgefallen. Anscheinend wimmelt es in Lakeview jetzt von Gestrandeten wie mir«, fügte Nina scherzend hinzu, aber ihr Vater verstand den Witz offenbar nicht oder ging einfach nicht darauf ein, denn wieder nickte er nur teilnahmslos und starrte weiter auf den Bildschirm.

Ernüchtert stocherte Nina auf ihrem Teller herum. »Äh ... Dad, danke fürs Essen, aber ich bin wirklich ziemlich müde. Ich glaube, ich gehe einfach schon nach oben.«

»In Ordnung«, sagte er, ohne den Blick vom Fernseher zu lösen.

Als Nina ihren Rucksack aufnahm und nach oben in ihr altes Zimmer ging, fragte sie sich, ob sie schon wieder einen großen Fehler gemacht hatte.

Kapitel 2

Jess Armstrong fand es furchtbar schwierige sich zwischen der Fendi und der Prada zu entscheiden. Die Fendi war aus braunem Nappaleder und hatte goldene Schnallen, während die Prada aus weichem, mit winzigen lavendelblauen Blüten bedrucktem Leder bestand.

Wenn sie die Tasche für sich selbst gekauft hätte, wäre die Entscheidung kein Thema gewesen. Aber ein Geschenk für Emer auszusuchen, das etwas hermachte, gleichzeitig aber auch so praktisch war, dass es in ihren Alltag hineinpasste, war eine echte Herausforderung. Die elegante Fendi war sicherlich die sinnvollere Wahl, aber die Prada war hübscher und ein echter Hingucker. Und Jess wollte, dass ihre beste Freundin aus dem Staunen nicht mehr rauskam, wenn sie ihr Geburtstagsgeschenk auspackte – das hatte sie sich verdient.

Vor zehn Monaten hatte Emer ihr erstes Kind zur Welt gebracht, die kleine Amy. Doch der Übergang zum Muttersein war ihr anfänglich schwergefallen, und Jess hatte sich wirklich Sorgen um sie gemacht. Die beiden waren seit vielen Jahren befreundet, und Jess würde alles tun, um ihrer Freundin auch jetzt zu helfen. Zum Glück hatte Emer das Schlimmste überstanden. Inzwischen schien sie sich mit ihrer kleinen Familie wohlzufühlen.

Normalerweise beschenkten sie sich nicht so üppig, aber die anstrengenden Monate, die Emer hinter sich hatte, und die Tatsache, dass sie morgen fünfunddreißig wurde, waren für Jess Grund genug, ihre Freundin mit etwas ganz Besonderem zu überraschen.

»Ich kann mich einfach nicht entscheiden«, sagte sie zu der Verkäuferin bei Brown Thomas. Doch die Frau verwirrte sie nur noch mehr, indem sie eine verführerische, petrolblaue Lackledertasche von Alexander McQueen vorschlug.

Jess widerstand dem Drang, auf einer Strähne ihres honigblonden Haares herumzukauen – eine grässliche Angewohnheit aus der Kindheit –, und überlegte, ob Lackleder wohl das Richtige für eine junge Mutter war. Es wäre vielleicht sogar ganz praktisch wegen der Flecken, oder? Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass Emer mit einer leuchtend blauen, futuristischen McQueen durch Lakeview spazierte.

Lakeview war eine typisch irische Kleinstadt, eine knappe Autostunde von Dublin entfernt. An der Main Street lagen Pubs und Geschäfte, deren Inhaber alle aus dem Ort stammten, sowie ein traumhaftes Café. Dann kamen hübsche ältere Häuser und weiter außerhalb neue, größere Gebäude. Alle gingen auf den großen See hinaus, von dem der Ort seinen Namen hatte.

Emer und ihr Mann Dave waren auf Empfehlung ihrer gemeinsamen Freunde Deirdre und Kevin nach Lakeview gezogen. Die beiden hatten sich bereits dort niedergelassen. Zum einen waren die Häuser in der kleinen Stadt größer und viel billiger als alles, was in Dublin angeboten wurde. Und zum anderen war die Umgebung perfekt, um Kinder aufzuziehen. Jess besuchte ihre Freunde liebend gern in Lakeview. Gelegentlich hegte sie sogar die Hoffnung, dass sie und ihr Mann Brian eines Tages den anderen Paaren folgen würden. Doch Brian war ein eingefleischter Dubliner, und sie wusste, dass er das Stadtleben vermissen würde. Und ihr selbst würde es wahrscheinlich auch fehlen, das musste sie zugeben. Es war schön, für ein paar Stunden in einem verschlafenen Nest wie Lakeview zu Besuch zu sein und die entspannte Atmosphäre zu genießen, aber nach einer Weile konnte dieses gemächliche Tempo sicher ganz schön nerven.

Schließlich entschied Jess sich für die lavendelblaue Prada – zum Teufel mit den praktischen Gründen. Sie verließ den Laden und spazierte in der späten Maisonne zum St-Stephen’s-Green-Einkaufszentrum, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Ausnahmsweise kam ihre Ray-Ban-Sonnenbrille mal richtig zum Einsatz. An sonnigen Tagen war die Grafton Street mit Straßenkünstlern und Einkaufsbummlern bevölkert.

Fröhlich schlenkerte Jess die gestreifte Tragetasche von Brown Thomas und konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch schnell in einen Geschenkeladen zu springen und einen niedlichen Teddy für die kleine Amy zu kaufen. Ihre Nichte hatte doch auch etwas Besonderes verdient, oder nicht? Genau genommen war Amy zwar nicht ihre Nichte, aber als Einzelkind würde Jess nie Tante werden, und Amy kam einer Nichte am nächsten.

Außerdem war Emer für sie wie eine Schwester. Jess hatte das Gefühl, dass sie sich schon ewig kannten, auch wenn es in Wirklichkeit erst etwa siebzehn Jahre waren. Am ersten Tag ihres Studiums hatten sie sich im Dublin Institute of Technology kennengelernt. Beide machten einen Abschluss in Marketing und arbeiteten dann bei dem gleichen Getränkegroßhandel in Dublin. Doch während Emer ihre Stelle inzwischen aufgegeben hatte und mit ihrer Familie nach Lakeview gezogen war, arbeitete Jess immer noch in der gleichen Firma. Theoretisch jedenfalls, denn das kleine irische Unternehmen war von der großen internationalen Marke Piccolo übernommen worden und hatte ein neues Image erhalten. Kürzlich hatte man Jess zur Marketing-Leiterin für Irland befördert, und nun war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die wichtigsten Marken des Unternehmens weiter durchsetzten. Zufrieden stellte sie fest, dass an den meisten Tischen draußen Piccolos derzeitige Spitzenmarke getrunken wurde.

Ach, wenn sich Brian doch auch so leicht überzeugen ließe!, dachte Jess. Ihren Mann konnte sie nämlich nicht so einfach überreden, von Guinness auf Porters umzusteigen – Piccolos Konkurrenzprodukt zum Guinness. In sieben Jahren Ehe hatte sie ihn nicht von seinem Lieblingsgetränk abbringen können. Seine Sturheit belustigte ihre Freunde immer wieder und frustrierte sie selbst in gleichem Maße. Aber weil dieser Charakterzug so ungefähr das Einzige an Brian war, was sie ärgerte, konnte sie gut damit leben.

Brian war ihr Vertrauter und Seelengefährte, ihr guter Freund, und sie wusste nicht, wie sie ohne ihn zurechtkommen würde. Dabei blieb ihr in dieser Woche gar nichts anderes übrig, denn er war beruflich in Singapur und würde erst morgen Abend zurückkehren.

Bis dahin hatte Jess allerdings noch eine Menge vor. In dieser Woche war sie jeden Abend beruflich unterwegs gewesen, heute würde sie ausnahmsweise mal zu Hause bleiben. Sie plante ein genüssliches langes Bad, um ihre Batterien wieder aufzuladen. Morgen Nachmittag würde sie dann nach Lakeview rüberfahren und Emer und Amy ihre Geschenke bringen.

Oder sollte sie auf ihren ruhigen Abend zu Hause verzichten und ihrer Freundin anbieten, auf Amy aufzupassen? Einfach für den Fall, dass die beiden am Abend vor Emers Geburtstag Zeit für sich haben wollten. Denn einen Babysitter aufzutreiben war sicherlich schwierig. Wenn sie jetzt nach Hause flitzte und schnell ihre Sachen zusammenpackte, konnte sie bis sieben in Lakeview sein.

Jess kramte nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihrer Freundin. Es war kurz nach halb sechs. Emer war bestimmt zu Hause – hoffentlich störte das Klingeln nicht.

»Hallo?« Emers Stimme klang ziemlich müde, und Jess zuckte zusammen.

»Upps, tut mir leid – ich hoffe, ich hab Amy nicht aufgeweckt.«

»Was? Ach, hallo, Jess. Wie geht’s? Nein, du hast die Kleine nicht geweckt – ich habe sie hier bei mir.«

»Wie schön. Ich mache mir immer Sorgen, ich könnte zur falschen Zeit anrufen ... Na, und wie geht es ihr? Und dir? Freust du dich auf morgen?«

»Morgen?«

Jess lächelte. »Na komm – jetzt tu mal nicht so, als wäre das keine große Sache. Jeder Geburtstag ist etwas Tolles, Emer, und dieser ganz besonders, denn du wirst eine Glückwunschkarte kriegen, auf der ›Mummy‹ steht!«

»Ich weiß, das wird bestimmt komisch.«

»Also, hör mal, ich will dich nicht aufhalten, sicher hast du alle Hände voll zu tun. Aber ich überlegte gerade, ob ihr nicht heute mal einen Abend für euch haben wollt, du und dein Dave. Oder vielleicht auch morgen den Vormittag? Ich könnte auf Amy aufpassen. Brian ist auf Geschäftsreise, ich kann also zu euch rauskommen und über Nacht bleiben.«

»Oh ... «

Jess hob eine Augenbraue. Emer klang irgendwie verlegen. War es vielleicht ein dummer Vorschlag gewesen? Es konnte ja sein, dass Emer nicht im Traum daran dachte, ihre kleine Tochter bei jemandem zu lassen, der so wenig Erfahrung und eigentlich keine Ahnung von Babys hatte wie Jess.

Emer klang jedenfalls gar nicht begeistert. »Äh, danke für das Angebot, Jess. Das ist sehr nett von dir, aber lass nur. Wir gehen eigentlich gar nicht so gerne aus.«

»Bist du sicher? Mach dir keine Sorgen – ich komme bestimmt mit Amy klar. Das habe ich Brians Großfamilie zu verdanken und – «

»Darum geht es nicht, ehrlich. Es ist einfach ... Na ja, wir möchten wirklich lieber einfach einen ruhigen Abend zu Hause verbringen – keine Umstände, verstehst du?«

»Na schön ... wenn du dir so sicher bist. Aber frag mich jederzeit, wenn du einen Babysitter suchst, ja? Ich würde euch beiden mit dem größten Vergnügen mal zu einer Pause verhelfen, das weißt du hoffentlich.«

»Ja, das weiß ich. Danke, Jess.«

»Bist du denn morgen zu Hause? Ich wollte mit deinem Geburtstagsgeschenk vorbeikommen.«

»Also nein, das brauchst du doch nicht. Wir sind sicher den ganzen Tag zu Hause. Um die Mittagszeit passt es uns wohl am besten.«

»Kein Problem. Hoffen wir mal, dass das schöne Wetter sich hält. Im Moment ist es herrlich, nicht? Es muss wunderschön sein für dich und Amy, dass ihr draußen im Garten sein könnt.«

»Wir genießen das sehr, ja.«

Jess und Brian hatten hinter ihrem Haus in Booterstown, einem Vorort von Dublin, nur ein schlichtes Rasenstück, während Emer und Dave einen riesigen Garten ihr Eigen nannten. Dort würde Amy nach Herzenslust herumtoben können. Das war einer der großen Vorteile, wenn man aufs Land zog, dachte Jess.

»Na, ich bringe jedenfalls eine Flasche Schampus mit, vielleicht kann ich dich ja zu einem Gläschen überreden – einfach zur Feier des Tages.«

Emer trank keinen Alkohol mehr. Für Jess dagegen war es in ihrem Job nach wie vor unvermeidlich, bei Feiern und Geschäftsessen Alkohol zu konsumieren. Emer war inzwischen aus diesem Karussell ausgestiegen. Nur für Jess drehte es immer noch eine Runde nach der anderen.

Emer lachte. »Wir werden sehen.«

»Schön. Also, genießt euren ruhigen Abend. Wir sehen uns morgen. Gib Amy ein Küsschen von mir, ja?«

»Mache ich, Jess. Bis morgen.«

***

Am nächsten Tag stieg Jess in ihren Mercedes SLK und erreichte Lakeview um die Mittagszeit. Unterwegs rief sie Emer an und fragte, ob sie noch irgendetwas mitbringen solle.

»Tausend Dank, nein«, antwortete Emer. Sie klang ein bisschen geschafft, woraus Jess folgerte, dass das Baby sie in der vergangenen Nacht wachgehalten hatte.

Hoffentlich gibt die neue Handtasche ihr wieder Auftrieb, dachte sie und freute sich schon auf das Gesicht ihrer Freundin, wenn sie den schön verpackten Geschenkkarton öffnete. Da die Kellermans jetzt mit einem Gehalt auskommen mussten, konnte Emer vermutlich nicht viel für sich selbst ausgeben. Ein weiterer Grund, warum sie etwas Besonderes verdient hatte, fand Jess.

»Ach je, schlechte Nacht mit Amy gehabt?«, fragte sie mitfühlend, als sie bei ihrer Ankunft Emers graues und ziemlich ausgezehrtes Gesicht sah.

»Nein, nein, Amy war ruhig«, wiegelte Emer ab. »Dave musste heute Nachmittag weg, aber ich soll dich grüßen.«

»Ach, schade, dass ich ihn verpasst habe. Na, aber bevor ich es vergesse, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Was ist das denn?« Verwundert betrachtete Emer den großen Geschenkkarton von Brown Thomas, den Jess ihr überreichte. »Sag bloß, das soll für mich sein.«

»Natürlich ist das für dich«, bestätigte Jess mit einem Grinsen.

»Jess, ich – «

»Na los, jetzt mach das Ding schon auf, und dann kannst du wieder was sagen.«

»Na gut ... « Emer zog das weiche schwarze Band auf und hob langsam das Seidenpapier ab. Als die prächtige Ledertasche endlich zum Vorschein kam, erstarrte Emer.

»Gefällt sie dir?«, fragte Jess besorgt. Hatte sie die falsche Tasche ausgesucht? Vielleicht war sie doch zu ausgefallen, und die Fendi wäre viel eher Emers Stil gewesen. »Die Farbe ist vielleicht ein bisschen heikel, aber – «

»Sie ist der helle Wahnsinn! Gott im Himmel, Jess, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ... «

»Du brauchst nichts zu sagen. Ich wollte dir diesmal wirklich etwas Besonderes schenken, nach allem, was du im vergangenen Jahr durchgemacht hast.«

»Ich kann’s gar nicht fassen, Jess, ich bin total baff. Mit so was hätte ich nie gerechnet ... Dass du überhaupt ... «

»Nein, natürlich hast du nicht damit gerechnet, sonst wäre es ja keine Überraschung gewesen, oder?« Jess lächelte. Sie war froh, dass ihr Geschenk die gewünschte Wirkung hatte. Allerdings hoffte sie, dass es Emer nicht unangenehm war – oder, noch schlimmer, dass Emer jetzt dachte, dass sie sich revanchieren müsse. »Siehst du, das ist jetzt einfach etwas Einmaliges, zur Feier, dass du Mutter geworden bist, und natürlich zum Geburtstag. Aber auch, weil du schon so viele Jahre lang eine tolle Freundin bist, verstehst du?«

Emer schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Eine echte Prada! Die Tasche muss dich doch ein Vermögen gekostet haben, Jess.«

»Ach was. Ich habe letzten Monat überraschend eine Prämie gekriegt, daher war das keine große Sache.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber wenn es Emers Gewissen beruhigte ...

»Keine große Sache? Mensch, mir scheint, ich bin zu früh ausgestiegen aus dem Job. Seit deiner Beförderung schwimmst du ja offensichtlich in Geld.«

War das Einbildung, oder lag in Emers Tonfall tatsächlich eine Spur von Groll? Nein, sicher nicht. Schließlich war es Emers eigene Entscheidung gewesen, die Firma zu verlassen, nach Lakeview zu ziehen und sich auf das Familienleben zu konzentrieren. Außerdem wusste sie besser als jeder andere, wie hart Jess arbeitete.

»Aber im Gegensatz zu dir habe ich eigentlich niemanden, für den ich es ausgeben könnte, also ... Ach, wo wir gerade davon sprechen ... « Jess griff wieder in die Tragetasche und holte den kleinen Teddybären heraus. »Der hier ist für Amy.«

»Oh, danke – noch mal. Den wird sie bestimmt liebhaben.«

»Wo ist die Kleine denn?«, fragte Jess.

»Draußen auf der Terrasse in ihrer Babywippe. Ich hoffe, sie schläft noch. Reicht dir ein Sandwich zum Lunch? Ich hatte keine Zeit, um viel vorzubereiten.«

»Ein Sandwich ist perfekt, und mach bloß keine Umstände – ich bin mit allem zufrieden. Oder soll ich uns was machen, während du dich um Amy kümmerst?« Jess wollte nicht von vorne bis hinten bedient werden.

»Nein, nein, ich habe schon etwas fertig. Ein Glas O-Saft?«

»Perfekt.« Für Sekt schien aus unerfindlichen Gründen nicht die richtige Stimmung zu herrschen.

***

»Weißt du, du hättest mich heute auch gerne wieder ausladen können«, sagte Jess zu Emer, als sie schließlich draußen am Terrassentisch saßen und Amy friedlich neben ihnen schlief.

»Ausladen?«

»Na ja, wenn du keine Lust auf Besuch hast.« Jess konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum ihr die Atmosphäre zwischen ihnen so angespannt erschien.

»Nein, überhaupt nicht. Ich freue mich, dass du da bist«, sagte Emer, aber ihr Tonfall konnte Jess in keiner Weise beruhigen.

»Na schön. Dann Prost«, sagte sie und hob ihr Glas Orangensaft. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke, Jess, und noch mal ganz vielen Dank für die schöne Tasche. Ich bin wirklich platt.«

»Wie gesagt, du hast sie verdient.« Jess lächelte. »Ich habe zwar keine Ahnung, was du dazu anziehen wirst, aber – «

In diesem Moment klingelte es an der Tür, und Emer sprang auf. »Wer könnte das denn sein?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Ich erwarte niemanden.«

Wenig später kam sie mit einer Frau zurück, die ein Baby auf dem Arm trug, das ein wenig älter aussah als Amy.

»Jess, das ist Grainne, eine Nachbarin.«

Jess stand auf, um sie zu begrüßen. »Wie schön, Sie kennenzulernen. Und wer ist dieser bezaubernde kleine Kerl?«, gurrte sie und lächelte den kleinen Jungen an.

»Das ist Ross«, sagte die Frau, bevor sie sich wieder an Emer wandte. »Tut mir leid, dass ich störe, aber in dem Wahnsinnstrubel gestern Abend hat Ross vermutlich sein Stofftier hiergelassen. So ein kleines Schwarz-Weißes mit zwei abgekauten Pfoten, sieht aus, als könnte es mal ein Hund gewesen sein.«

»Oha. Ich glaube, so was ist mir nicht untergekommen«, antwortete Emer und warf Jess einen verlegenen Blick zu. Unübersehbar stieg ihr dabei eine tiefe Röte ins Gesicht.

Jess war verblüfft. Was war heute bloß mit Emer los? Jeder musste doch denken, dass ihr der Besuch der Freundin peinlich war. Was ging hier vor? Und was meinte Grainne mit dem »Wahnsinnstrubel gestern Abend«?

»Kein Problem«, erwiderte die Nachbarin. »Vielleicht hat eins von den anderen Kindern ihn mitgenommen. Ist ja meine Schuld, ich habe halt nicht richtig aufgepasst. Aber die O’Connors waren auch nicht viel besser! Wieso musstest du uns auch bloß so abfüllen? Das war ja fast schon Nötigung.« Sie zwinkerte Jess zu. »Aber das Barbecue war toll«, fügte sie noch hinzu. Dann drehte sie sich wieder zu Emer. »Ich habe vorhin Jill Carney getroffen, die ist genauso geschafft wie ich – wir sind solche langen Abende einfach nicht mehr gewohnt!«

Mit einem Mal fühlte Jess sich vor den Kopf gestoßen. Lange Abende? Hatte Emer nicht gestern gesagt, sie und Dave würden sich einen ruhigen Abend machen? Stattdessen hatten sie offenbar eine große Grillparty veranstaltet. Ihre Freunde konnten natürlich tun und lassen, was sie wollten, das ging Jess ja nichts an, aber warum hatte ihre Freundin sie belogen?

»Ich halte die Augen offen«, sagte Emer schnell, während sie Grainne zur Haustür schob.

Jess blieb verdutzt auf der Terrasse zurück und versuchte, das alles zu begreifen.

»Gestern Abend ist es also spät geworden?«, fragte sie mit ruhiger Stimme, als Emer wieder nach draußen kam.

»Ja. Kam alles ganz überraschend, verstehst du?«

»Wie schön. Nur gut, dass du genug zu essen und zu trinken im Haus hattest.«

»Äh ... ja.«

»Also bist du gar nicht zu deinem ruhigen Abend mit Dave gekommen?«

»Nein. Sieh mal, Jess, ich hätte dich ja auch eingeladen, aber ... «

Ein bedrückendes Schweigen entstand, und in diesem Moment verstand Jess, dass in ihrer Freundschaft eine bedeutsame Veränderung stattgefunden hatte.

»Na ja, es ist einfach so ... «, stammelte Emer. »Es ging eher um die Kinder, deswegen habe ich gedacht ... Also, weißt du, ich dachte, es wäre einfacher, wenn du nicht ... ich meine ... « Emer brach ihren Satz ab, aber Jess brauchte den Rest auch gar nicht mehr zu hören.

Sie war verletzt. Brauchte sie jetzt etwa ein Kind als Eintrittskarte zum Leben ihrer Freundin? Das Herz wurde ihr schwer. Beste Freundin hin oder her, Emer hatte offenbar das Gefühl, es sei einfacher, sie aus bestimmten Aspekten ihres Lebens herauszuhalten, sie fernzuhalten – bloß weil sie nicht Mitglied in diesem exklusiven Club war, dem die meisten ihrer Freundinnen inzwischen angehörten – dem Mama-Club.

Kapitel 3

Ruth Seymour drehte sich bewundernd vor dem hohen Spiegel. Das silberne Kleid von Christian Dior mit dem unglaublich tiefen Rückenausschnitt war ideal für diesen Abend. Sie sah wie ein Star aus und strahlte, wie eine Diva strahlen sollte. Das lange Haar fiel ihr in üppigen Wellen über die Schultern, ihre blauen Augen funkelten, ihre vollen Lippen schimmerten, und das Kleid passte ihrem superschlanken Körper wie angegossen. Heute war wirklich kein Abend für schlichtes Schwarz. Sie war Ruth Seymour, der ungeheuer erfolgreiche Star der amerikanischen Fernsehserie Glamazons, und gegenwärtig ließ sie Hollywood erstrahlen wie eine Supernova.

Sie wandte sich um und schaute Chloe an, ihre Assistentin, die gerade etwas in ihr BlackBerry tippte.

»Na, wie sehe ich aus?«, erkundigte sie sich, auch wenn sie die Antwort schon kannte – schließlich bezahlte sie Chloe ja. Aber ihr Selbstvertrauen konnte noch eine kleine Stärkung gebrauchen.

»Oh, du siehst phantastisch aus, wirklich!«, rief Chloe. »Welche Schuhe willst du anziehen?«

Ruth lächelte und dachte sofort an das Paar todschicke Manolo Blahniks, die ihre Stylistin gerade rübergeschickt hatte. Dreizehnhundert Dollar! Aber sie hatte die Highheels umsonst gekriegt, weil sie eben Ruth Seymour war. Eigentlich waren ihr ja Louboutins lieber, nur machten die anscheinend keine Werbegeschenke. Auch gut, schließlich war es ja nicht so, als könnte sie sich so was nicht leisten: Ihr Agent sprach von einer sechsstelligen Summe pro Folge von Glamazons. Und Ruth hatte sich in ihrem Leben schon mehrere Paar Louboutins gekauft.

»Wahrscheinlich die Manolos«, antwortete sie unbekümmert. Als sie die Highheels aus der Schutzhülle zog und mit ihrem schlanken Fuß hineinschlüpfte, sah sie den puren Neid in Chloes Gesicht. Ruth stellte sich vor, damit in Lakeview durch die Straßen zu gehen. Den Frauen würden vor lauter Neid die Augen aus dem Kopf fallen.

Ja, vielleicht würde sie genau das tun, dachte Ruth, während sie den zweiten Schuh anzog. Sie nahm sich vor, das Paar nachher in den Koffer zu packen. »Erinnerst du mich bitte daran, dass ich die Highheels hier morgen mitnehme?«, wandte sie sich an Chloe.

»Natürlich. Bereit für ein Glas Champagner?« Ihre Assistentin drehte gerade den Korken aus einer Flasche Veuve Clicquot. Bei dem satten Plopp musste Ruth grinsen. Sie überlegte, ob das wohl ihr Lieblingsgeräusch war.

»Wann bist du eigentlich das letzte Mal zu Hause gewesen?«, fragte Chloe, während sie ihr ein Glas reichte.

Ruth schlürfte von dem Champagner. »Ach, es muss schon ein paar Jahre her sein«, antwortete sie munter. »Ich hatte einfach so viel zu tun in den letzten Jahren, und die Reise ist ja nicht gerade kurz.« Sie bewegte sich wieder vor dem Spiegel, um ihre Erscheinung zu betrachten und schnell das Thema zu wechseln. »Wann kommt denn der Wagen?«

Chloe schaute in ihre Notizen und erklärte, dass der Wagen sie um sieben abholen würde.

In Wirklichkeit wusste Ruth genau, wann sie das letzte Mal in ihrer irischen Heimat gewesen war. Fünf Jahre war das her, und seitdem hatte sie einen Besuch dort gemieden wie die Pest. Nicht dass sie keine Sehnsucht nach ihrer Familie gehabt hätte. Sie vermisste ihre Eltern unglaublich, und zum Glück waren sie ein paarmal nach Los Angeles zu Besuch gekommen. Nein, die anderen Einwohner von Lakeview waren das Problem. Ruth wollte keine Kritik einstecken müssen, sie hatte panische Angst, dass man sie bemitleiden oder – noch schlimmer – als Versagerin bezeichnen könnte. Selbst wenn sie in Paris oder im Urlaub an der Riviera war, hatte sie doch nie den Wunsch verspürt, in das verschlafene irische Provinznest zu reisen, in dem sie aufgewachsen war.

Bis jetzt.

Ruth lächelte. Jawohl, jetzt war sie dank Glamazons ein erfolgreicher Star. Und es war deshalb nicht mehr so schwer, sich der Vergangenheit zu stellen.

Zurzeit war Ruth wirklich in Bestform. Die erste Staffel der Fernsehserie hatte in den USA hohe Einschaltquoten erzielt. Im Herbst sollten die Aufnahmen für die zweite Staffel beginnen. Es ging um den glanzvollen Lebensstil der Elite von Malibu, und Ruth spielte eine Hauptrolle. Man munkelte sogar, dass Ruth und ein weiterer Hauptdarsteller für den Emmy nominiert werden sollten. Soeben war eine dritte Staffel in Auftrag gegeben worden, was Ruths Aktien noch weiter steigen ließ und sie bald zum waschechten Hollywood-Star machen würde. Diese Ankündigung war auch der Grund für die Party heute Abend. Ruth hatte also gerade noch genug Zeit, ordentlich einen draufzumachen, bevor morgen ihr Flieger nach Dublin ging.

Die Pilotsendung für die Serie sollte schon bald über die irischen Bildschirme flimmern, weshalb Ruth zu einem Interview in Late Tonight eingeladen war, Irlands bekanntester und beliebtester Talkshow. Diese Einladung war die größte Ehre, die sie sich wünschen konnte, und ein eindeutiger Sieg über alle Leute zu Hause, die an ihr gezweifelt hatten.

Da die Aufnahmen für die zweite Staffel von Glamazons nicht vor Herbst beginnen sollten, wollte sie den Sommer bei ihrer Familie in Lakeview verbringen und sich in ihrem wohlverdienten Erfolg sonnen. Außerdem hatte sie sich ein paar Monate Auszeit verdient. Denn endlich, endlich, fügte sich alles so zusammen, wie es sollte.

Schon von Kindesbeinen an wusste Ruth, dass sie mal ein Star werden würde. Schließlich war sie schon als Jugendliche attraktiv und hatte sich mit der Zeit in eine umwerfend schöne Frau verwandelt. Mit ihren dreißig Jahren brauchte sie an Botox- und andere leidvolle Behandlungen, denen ihre Kolleginnen sich andauernd unterzogen, keinen Gedanken zu verschwenden. Sie hatte großartige Gene, und das wusste sie auch.

Obwohl sie sich immer für eine sehr gute Schauspielerin gehalten hatte, waren die vergangenen fünf Jahre unglaublich hart gewesen. Umso größer war jetzt der Triumph, dass ihre Begabung endlich anerkannt wurde. Nach einem frühen Erfolg in einer heimischen Soap namens The Local hatten in Irland alle, Ruth selbst eingeschlossen, fest daran geglaubt, dass ihre Karriere in Hollywood ausgemachte Sache war.

Doch als sie vor fünf Jahren nach Los Angeles gekommen war, hatte man sie sofort als Außenseiterin behandelt. In den ersten Jahren strampelte sie sich in den gefürchteten Kosmetik-Werbespots ab und bekam ab und zu mal eine Nebenrolle. Meist als junge Irin, nett, komisch und klischeehaft. Die Filme schafften es in Europa häufig gar nicht ins Kino.

Angewidert zog Ruth die Nase kraus. Gut, dass diese Zeiten vorbei waren. Jetzt stand einer steilen Karriere nichts mehr im Wege, das wusste sie.

Der Abend konnte beginnen, und als Chloes BlackBerry summte, um ihr mitzuteilen, dass der Wagen unten wartete, fühlte Ruth sich vollkommen entspannt.

Ihre Assistentin raffte ihre Notizen, Ruths Pelzstola und verschiedene andere Dinge »für alle Fälle« zusammen und begleitete sie aus ihrer Wohnung zum Fahrstuhl.

Als sie das Gebäude verließen, wartete bereits ein ganzer Schwarm Paparazzi auf sie. Die Blitzlichter der Kameras blendeten, aber Ruth war das egal, nein, sie liebte es sogar – die Leute wollten Ruth Seymour! Sie lächelte selig, beantwortete ein paar Fragen und nahm die Glückwünsche entgegen, während Chloe ihr den Weg durch die Menge und in die wartende Limousine bahnte.

Vielleicht war es Zeit, über einen Bodyguard nachzudenken, überlegte Ruth. Die Idee gefiel ihr, und sie verstand nicht, wie manche Stars sich darüber beschweren konnten, dass sie ständig von Fotografen verfolgt wurden – das war doch wunderbar!

Als sie sich dem Beverly Hills Hotel näherten, fragte der Fahrer, ob er Ruth zu einem Hintereingang bringen solle, um die Menschenmengen zu umgehen. Chloe fand das eine prima Idee, doch Ruth brachte sie rasch zum Schweigen.

»Natürlich nicht. Fahren Sie vor dem Haupteingang vor. Die Fans warten schließlich schon seit Stunden.« Ruth lächelte. Die anderen sollten bloß nicht glauben, dass sie das für ihr Ego machte. Nein, sie tat einfach dem Publikum einen Gefallen. Niemand mochte Frauen, die zu sehr an sich selbst dachten. Als Irin verstand Ruth das möglicherweise besser als viele andere.

Der Fahrer folgte ihrer Anweisung und hielt vor dem Hotel. Ruth schaute aus dem Fenster auf die Menschenmassen. Sie erinnerte sich an ihre Yoga-Übungen und atmete tief ein.

Die Vorstellung begann.

»Du siehst ganz großartig aus.« Chloe sprang auf ihrer Seite aus dem Auto, während ein Mann in Uniform vortrat und Ruths Tür öffnete.

Im Blitzlichtgewitter streckte sie ein langes, schlankes Bein aus der Tür und wand sich elegant aus dem Wagen heraus. Langsam glitt sie über den roten Teppich, posierte für Fotos, bedankte sich bei den jubelnden Fans und badete in ihrem Ruhm. Sie würde den kaum zwanzig Meter langen Weg zur Eingangstür des Hotels möglichst lange ausdehnen.

Vor sich entdeckte Ruth ihren Filmpartner Troy Valentine, der in der Serie ihren Ehemann spielte. Mit seinem perfekt frisierten schwarzen Haar, dem strahlend weißen Lächeln und seiner Sonnenbräune sah er heute Abend wirklich zum Anbeißen aus, fand Ruth und fragte sich, ob es vielleicht an der Zeit war, aus ihrem Apartment in den Hollywood Hills in ein Haus am Strand zu ziehen.

Troy gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er sie ins Hotel begleiten würde. Ruth schenkte ihm ein freundliches Lächeln, ohne jedoch ihre Schritte zu beschleunigen. Sie würde ihn später treffen. Im Moment war es besser, sich auf die Menschen zu konzentrieren, die nicht zur Party eingeladen waren – auf die Paparazzi und die Fans, die ihr zu Füßen lagen.

***

Drinnen war die Party schon in vollem Gange, und der Champagner floss in Strömen. Ruth nahm von allen Seiten Glückwünsche entgegen. Sie fühlte sich wirklich wie eine Ballkönigin. Bob, der Producer von Glamazons, veranstaltete einen Riesenwirbel um sie, genauso wie die Fernsehbonzen und andere Gäste, die mit der Serie zu tun hatten. Ruths Charme arbeitete auf Hochtouren – oder vielleicht war es auch bloß der Champagner. Jedenfalls war es sehr spannend, Troy Valentine den ganzen Abend lang aus nächster Nähe zu erleben. Sie hatten beide von Anfang an in Glamazons mitgespielt. Aber Troy war schon etabliert in Hollywood, und obwohl die Chemie zwischen ihnen auf dem Bildschirm absolut stimmte, fühlte Ruth sich von seinem Starruhm immer ein bisschen eingeschüchtert.

Dank ihrer glanzvollen, durch und durch amerikanischen Darstellung der Mia Reynolds in der Serie war Ruth aber jetzt genau so ein Publikumsmagnet wie Troy. Er selbst schien das auch allmählich zu kapieren, denn er beugte sich irgendwann zu ihr und flüsterte: »Du siehst wahnsinnig toll aus, weißt du das?« Seine warme, samtweiche Stimme und der männliche Duft seines Aftershaves jagten Ruth einen Schauer über den Rücken.

Troy, der normalerweise die schönsten Frauen der Welt im Arm hatte, schien heute Abend nur Augen für sie zu haben. Ruth fand zwar, dass er gut aussah, aber er schien ihr nicht gerade der Hellste zu sein. Trotzdem, ein kleiner Flirt konnte ihrem Ansehen nicht schaden, schließlich waren sie beide nicht verheiratet. Und was noch wichtiger war, die Boulevardpresse würde schlichtweg begeistert sein von einem Anlass zur Spekulation.

»Oh, danke«, sagte sie und klimperte verführerisch mit ihren Wimpern. »Aber entschuldige mich, ich bin gleich wieder da.« Während sie in Richtung Damentoiletten stöckelte, warf sie über die Schulter einen Blick zurück. Ja, tatsächlich, Troy Valentine schaute ihr nach! Genüsslich wiegte Ruth die Hüften in ihrem spektakulären Kleid – er sollte ruhig etwas zu gucken haben.

Im Vorraum der Damentoilette nahm sie sich einen Moment Zeit, um sich frischzumachen und sich zu sammeln. Die letzten Tage waren der Wahnsinn gewesen. Ruth hatte immer davon geträumt, einmal von den einflussreichsten Personen Hollywoods verehrt zu werden, und jetzt war es so weit. Außerdem hatte sie bereits eine Menge Champagner getrunken, und ihr war ein kleines bisschen schwindlig.

Die Presse in Hollywood war begeistert von ihr, und Erik, ihr Agent, hatte gerade einen unglaublich tollen Vertrag für die dritte Staffel ausgehandelt. So, wie es jetzt lief, würde Ruth für lange Zeit keine Geldsorgen mehr haben. Schluss mit den nervtötenden Castings, den öden Statistenrollen und endlich auch den hinterhältigen und neunmalklugen Kommentaren der irischen Medien. Wenn aus dieser Nominierung für den Emmy tatsächlich etwas wurde, war vielleicht sogar mit einem L’Oréal-Vertrag zu rechnen. Jetzt konnte ihr in Lakeview niemand mehr vorwerfen, sie hätte versagt, oder?

Während ihrer ersten Jahre in Los Angeles hatten die Medien in Irland erbarmungslos Kritik geübt. Es war ein gefundenes Fressen gewesen, dass Ruth Seymour den Durchbruch in Hollywood nicht schaffte. Doch wenn sie diesmal zurückkam, war alles anders.

Auch wenn die Aussicht auf den zehnstündigen Flug über den Atlantik sie nicht gerade begeisterte, freute Ruth sich schon auf ihre Heimat. Sie musste nur mit dem Champagner aufhören.

Aber wieso sollte sie ausgerechnet heute Abend vernünftig sein?

Als sie wieder nach draußen kam, lehnte wie aufs Stichwort Troy Valentine lässig an der Wand.

»Hallo«, sagte er in unverkennbar flirtendem Tonfall.

»Selber hallo.«

»Herrgott, ich liebe diesen Akzent«, seufzte er mit einem Kopfschütteln.

Einen Moment lang war Ruth nicht klar, worauf er sich bezog, aber dann dämmerte es ihr. Der verdammte Alkohol führte bei ihr oft dazu, dass sie in ihren starken irischen Akzent zurückfiel, was ihr eigentlich gar nicht lieb war.

Aber wenn Troy der Akzent gefiel ...

Ruth lächelte. »Wer weiß, vielleicht schreiben sie dir in der nächsten Staffel eine Affäre mit einer Irin ins Drehbuch?«

»Ich könnte dich niemals mit irgend ’ner Tussi betrügen. Keine Chance.«

Troy rückte näher heran und strich ihr einen imaginären Fussel von der Schulter. Ruth erschauerte. Auch wenn die Medien häufig etwas von »knisternder Atmosphäre« zwischen dem Bildschirmpaar schrieben, hatte sie selbst ihren Filmpartner eigentlich noch nie auf diese Weise betrachtet. Ob es nun der Champagner war oder die Art, wie er sie ansah, allmählich verstand sie, wovon die Rede war.

»Ich glaube, du verwechselst mich mit Mia«, neckte sie ihn. »Das wäre kein Betrug.«

»Doch, wäre es wohl«, entgegnete Troy, indem er sie sanft in eine schummrige Ecke schob. Ruth erstarrte, als er den Kopf senkte und sie gierig auf die Lippen küsste.

»Ist viel besser, wenn man es nicht für die Kameras macht, was?« Er lächelte sanft.

»Das kannst du laut sagen«, stimmte sie ihm atemlos zu, als er sich für den nächsten Kuss herabbeugte.

Er hatte recht: Das hier war etwas ganz anderes, als ihn am Set zu küssen. Da waren sie normalerweise von einem Dutzend oder noch mehr Menschen umgeben. Aber das hier war ... einfach unglaublich.

Er strich ihr sanft über den Hals und die Brüste, dann ließ er die Hände auf dem dünnen Kleiderstoff ihren Rücken hinuntergleiten und spielte mit dem Saum ihres Kleides. Mit heißer, gieriger Zunge erkundete er ihre Lippen und ihren Mund. Ruth presste sich an ihn, ihr schwindelte von einer berauschenden Mischung aus Champagner und Begehren. Nicht zu fassen, dass Troy Valentine sie in den Armen hielt und sie küsste, richtig küsste!

»Hab ich dir schon gesagt, dass ich dich küssen will, seit ich dich das erste Mal gesehen habe?« Er überschüttete ihren Hals mit Küssen, dann glitten seine Lippen zu ihrem Ausschnitt hinunter. Durch das Kleid hindurch spürte Ruth seinen Atem auf der Haut. Ja, Troy war genauso erregt wie sie selbst.

Und warum hast du dann so lange damit gewartet?, hätte sie am liebsten gefragt. Es war wirklich kaum zu fassen, wie dieser Abend sich entwickelte. Es war ein absolutes Hollywood-Märchen – viel schöner, als sie es sich hätte erträumen können.

Irgendwann hob Troy den Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. »Komm, Ruth, nichts wie weg von hier.«

***

Das Morgenlicht strömte durch die Fenster.

Als Ruth zögernd die Augen öffnete, überfielen sie heftige Kopfschmerzen. Langsam hob sie den Kopf vom Kissen und drehte ihn zur Seite. Ach, irgendwie hatte sie gehofft, dass es nur ein Traum gewesen war, aber jetzt fand sie es bestätigt. Verdammter Mist ...

Neben ihr lag Troy Valentine auf dem Rücken und schnarchte leise. Zwar sah er immer noch gut aus, aber seine unbändige Anziehungskraft, die sie gestern Nacht überwältigt hatte, war verschwunden. Was hatten sie nur getan?

Troy bewegte sich im Schlaf und fing nun an, lauter zu schnarchen. Nach dem Aufwachen würde er bestimmt genauso schlimme Kopfschmerzen haben wie sie selbst, vermutete Ruth.

Langsam setzte sie sich auf und schaute sich um. Wo waren sie denn bloß? Sie versuchte, sich die Ereignisse des vergangenen Abends ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatten die Party getrennt verlassen, um keinen Verdacht zu erwecken. Später trafen sie sich im Chateau Marmont, einem Hotel, in dem Prominente – natürlich nicht völlig unbemerkt – untertauchen konnten. Aber ganz offensichtlich hatten sie beide nicht mehr klar denken können.

Troy hatte wohl vorher angerufen, denn Ruth konnte sich nicht entsinnen, offiziell eingecheckt zu haben. Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass eine Dame von der Rezeption sie ins Zimmer geführt hatte. In dieses Zimmer. In dem Troy schon mit neuem Champagner wartete.

Igitt, stöhnte Ruth. Beim bloßen Gedanken an Alkohol drehte sich ihr der Magen um.

Sie sah sich um. Neben dem Bett lag ihr prachtvolles silbernes Kleid, lieblos zerknüllt auf dem Boden. Ihre Dreizehnhundert-Dollar-Highheels hatte jemand quer durchs Zimmer geworfen.

Was sollte sie bloß machen? Sie konnte das Hotel doch nicht in dem zerknitterten Kleid von gestern Abend verlassen. Sicher lagen Paparazzi auf der Lauer. Nein, sie würde Chloe bitten müssen, ihr etwas zum Anziehen zu bringen.

Ruth ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken und schloss die Augen.

Allmählich fielen ihr noch mehr Einzelheiten vom gestrigen Abend ein. Troy hatte sich seinen Ruf als Playboy wahrlich verdient. Der Sex war unglaublich gut gewesen, und Ruth fühlte sich merkwürdig befriedigt – aber gleichzeitig war sie auch ein bisschen verlegen.

Und noch etwas anderes quälte sie, ohne dass sie es richtig zu fassen kriegte. Was war nur mit ihr los? Es gehörte absolut nicht zu ihren Gewohnheiten, mit anderen Schauspielern ins Bett zu gehen, schon gar nicht mit Männern wie Troy. Aber es war eine so aufregende, berauschende Nacht gewesen und hatte sich irgendwie ... richtig angefühlt. Und es war ja nicht so, als ob –

Schlagartig setzte Ruth sich auf. Plötzlich wusste sie, was an ihr genagt hatte. Und mit einem Mal waren die angenehmen Träumereien wie weggeblasen. Ruth begann, schwer zu atmen. Ach du lieber Gott!

Sie sprang aus dem Bett und erfasste mit einem Blick die Überbleibsel der vergangenen Nacht: leere Champagnerflaschen, zerwühltes Bettzeug, ihr Portemonnaie, sein Handy ... und das Kondom.

O Gott, plötzlich fielen ihr alle Details wieder ein: Wie er sich auf ihr bewegt hatte. Wie sie gelacht und die Beine fest um ihn geschlungen hatte, als könne sie nicht genug von ihm bekommen. Wie das Kondom geplatzt war. Wie sie beide kurz innegehalten und dann trotzdem weitergemacht hatten ...

Ruth spürte, wie ihr die Galle hochkam. Sie sauste ins Bad und betrachtete sich voller Entsetzen im Spiegel. Die leuchtende Göttin von gestern Abend war längst verschwunden. Mascara und Lippenstift waren über ihr Gesicht verschmiert. Das stumpfe Haar hing in wirren Zotteln herunter, und sie spürte einen klebrigen Schweißfilm auf der Haut. Sie stützte sich auf den Marmorwaschtisch und drehte das Wasser an. Während sie sich das Gesicht wusch, wiederholte sie das immer gleiche Mantra: Das kann nicht wahr sein! Es ist nicht wahr. Es ist nichts passiert. Nicht jetzt, nicht nach der letzten Nacht, nicht mit Troy.

Ruth unterdrückte ein Schluchzen. Sie musste hier weg, und zwar schnell.

Leise schlich sie ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte in einen der luxuriösen weißen Frotté-Bademäntel, die vom Hotel gestellt wurden. Troy schien immer noch fest zu schlafen.

Behutsam holte Ruth ihr Handy aus der Handtasche und trat auf den Balkon.

Gleich beim ersten Klingeln ging ihre Assistentin dran. »Chloe, hier ist Ruth. Du musst mir was zum Anziehen ins Chateau Marmont bringen. So schnell wie möglich, bitte.«

»Alles in Ordnung?« Die Besorgnis in der Stimme ihrer Assistentin war unüberhörbar. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Auf der Party warst du plötzlich verschwunden, und dein Flug geht doch heute, und ich ... «

»Ich weiß. Bitte, mach einfach schnell, ja?« Ruth schaute auf ihre Armbanduhr. Am liebsten hätte sie geweint. In ein paar Stunden musste sie im Flugzeug nach Dublin sitzen. So ein verdammter Mist.

»Klar, aber wie bist du denn bloß im Chateau Marmont gelandet?«

Ruth biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe, naja ... jemanden kennengelernt.«

»Kenne ich ihn auch?«, neckte Chloe sie, und ihre spielerische Art beruhigte Ruth ein wenig. Als wolle ihre Assistentin andeuten, dass echte Hollywood-Stars ständig in solche Situationen gerieten.

»Na ja ... irgendwie schon, es ist Troy Valentine«, gestand sie voller Unbehagen, doch gleichzeitig war sie auch irgendwie stolz.

Wie erwartet reagierte Chloe beeindruckt. »Troy Valentine? Das ist ja toll! Klingt nach einer supertollen Nacht.«

Ruth zwang sich zu einem Lächeln. Ja, dachte sie, es wäre eine Wahnsinnsnacht gewesen, wenn nicht ...

»Ja, war es auch«, sagte sie knapp, »aber ich muss hier jetzt wirklich raus. Könntest du also bitte – «

»Kapiert«, unterbrach Chloe sie. »Bin sofort da. Keine Sorge, deine Sachen sind schon gepackt. Wir kriegen dich rechtzeitig zum Flughafen. Und vergiss nicht, in die Manolos zu schlüpfen!«

Ruth schluckte ihre Tränen hinunter. Ihr wurde klar, dass sie diese Highheels nie mehr sehen wollte.

»Chloe, da ist noch was ... Ich brauche noch was anderes.«

»Ja, klar. Was denn? Was kann ich tun?«

Ruth überlegte. Sie konnte Chloe doch vertrauen, oder? Doch, natürlich. Sie befanden sich hier in Los Angeles, und ihre lebenskluge Assistentin würde wahrscheinlich nicht mal mit der Wimper zucken. Jedenfalls blieb ihr kaum etwas anderes übrig, denn sie konnte sich mit diesem Anliegen schlecht an jemand anderen wenden – weder hier noch zu Hause.

»Du musst etwas für mich besorgen und es in meinen Koffer legen, bevor du herkommst«, erklärte sie mit zittriger Stimme. »Etwas ganz Privates.«

»Ja, natürlich. Was brauchst du denn?«

»Das muss ganz unter uns bleiben, okay?«

»Selbstverständlich. Nur raus mit der Sprache.«

Ruth schluckte schwer und schloss die Augen. »Ich brauche die Pille danach.«

Kapitel 4

In ihrer ersten Nacht in Lakeview wälzte Nina sich schlaflos im Bett herum und dachte über ihre Probleme nach. Die ländliche Stille und die Reise am vergangenen Tag hätten sie eigentlich todmüde machen müssen, aber sie lag wach und starrte an die Decke.

Vieles quälte sie, vor allem aber die Trennung von Steve. Noch heute vor einem Monat war sie so glücklich gewesen wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie hatte nicht den leisesten Verdacht gehabt, dass etwas nicht stimmte.

Wie konnte ich bloß so dämlich sein?, fragte sie sich bitter. Doch sosehr sie Steve auch liebte und so tief er sie verletzt hatte, es war richtig gewesen, die Beziehung zu beenden, davon war sie überzeugt. Allerdings kam hinzu, dass sie in der gleichen Firma gearbeitet hatte wie Steve, und sie hätte es nicht ertragen, ihn weiterhin jeden Tag zu sehen – schon gar nicht unter diesen Umständen. Daher hatte sie beschlossen, ihre Zelte in Galway abzubrechen und zurück in den Osten zu gehen. Damit war sie jetzt zwar sowohl ihre Arbeit als auch ihren Partner los, dafür hatte sie aber eine ganze Menge zusätzlicher Probleme am Hals.

Sie warf sich im Bett herum und wünschte sich sehnsüchtiger als je zuvor ihre Mutter herbei. Cathy wäre sofort zurückgekommen, wenn sie Ninas Situation in ihrer ganzen Tragweite gekannt hätte, da war Nina sich sicher. Aber eine Reise wie diese machten ihre Mutter und Tony nur einmal im Leben, und Nina wollte sie ihnen nicht verderben. Cathy hatte in den vielen Jahren als alleinerziehende Mutter weiß Gott schon genug Opfer für ihre Tochter gebracht. Erst als Nina schon auf die zwanzig zuging, hatte Cathy Tony kennengelernt und sich in ihn verliebt. Er war ein wunderbarer Mann, freundlich, sanft, ein wahrer Fels in der Brandung für Cathy – und eigentlich für sie beide.

Nina seufzte, als sie daran dachte, wie anders Patrick, ihr leiblicher Vater, war. Warum hatte sie bloß geglaubt, er hätte sich vielleicht verändert? Veränderungen waren einem Mann vom Land wie Patrick schließlich ein Gräuel. Hatte er Lakeview eigentlich jemals verlassen? Andererseits – woher sollte er sonst die Teile haben, die er zum Reparieren der Fernseher und der anderen Geräte brauchte?

Nein, außer den Genen hatte sie nichts mit diesem Mann gemeinsam. Wie lange würde sie ihn ertragen können?