Das Konstrukt Hexe - Elmar Perkmann - E-Book

Das Konstrukt Hexe E-Book

Elmar Perkmann

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Beschreibung

Das Konstrukt Hexe ist die Neuauflage einer Festschrift, die anlässlich der 500-Jahrfeier des Gedenkens an die Völser Hexenprozesse erschienen ist. In Völs am Schlern, Südtirol, fanden 1506 und 1510 die ersten Hexenprozesse auf dem Boden des damaligen Deutschen Reiches statt.

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Ich bedanke mich bei der Gemeinde Völs und der Stiftung Sparkasse für ihre Unterstützung bei Erstellung der Gedenkschrift von 2006, die als Grundlage für diese aktualisierte Auflage dient und für die Erlaubnis, dieses Material in dieser Publikation zu verwenden.

Inhalt

Einleitung

Die Zeit

Die schrittweise Konstruktion des Phänomens „Hexe“

Geschichtlicher Abriss der Hexenverfolgungen

Die Etablierung des inquisitorischen Verfolgungssystems

Die Verfolgung von Hexen und Zauberern beginnt

Hexenhammer: Verfahren und Prozeduren

Leonhard von Völs

Die Schlinge zieht sich zu

Die Völser Hexenprozesse von 1506 und 1510

Es war einmal…war es einmal?

Des Schlosses Last*

Sankt Peter auf dem Bühl, der neue Turm wird aufgerichtet

Und auch die Völser Kirche steht noch im Gerüst

Sieh nur wie sich der Nebel langsam lichtet

Bis er dann Schloss und Graben frisst.

Frühling kommt, lässt da und dort die Knospen springen;

Im Tal, das hinterm Felssporn in den Abgrund fällt

Sieht man ihn noch mit Frost und Kälte ringen.

Der Hund im Burghof bellt und bellt.

Der Blick fällt auf das Schloss, auf Balken und Gemäuer

Wer kennt die Last, die es in seinen Mauern birgt?

Angst und Not, Verzweiflung, Feuer

Das Grauen, das in leeren Fensterhöhlen würgt.

Der Lärchenwald auf Schnaggen, scheint es, steht in Flammen

Wie auch die Frau am Pfahl, die Menge johlt und schreit

Feuer tobt, schlägt über ihr zusammen

Und irgendwann herrscht wieder Dunkelheit.

Fünfhundert Jahre sind es dass die Kästen brannten

Die Asche längst verweht, die Zeit verrinnt.

Das Schloss ist leer, zerbröckelt Zinnen, Kanten

Und in den Nächten klagt die Eule,

stöhnt der Wind.

Elmar Perkmann

*vor Übernahme des Schlosses das Kuratorium Schloss Prösels und der Aufarbeitung der Hexenprozesse in einem internationalen Symposium 2006.

Einleitung

Es gibt sie überall in Südtirol, vornehmlich zwischen Völs und Kastelruth: Flugbereit auf Balkonen und Terrassen, in Wohnzimmern und Schaufenstern – und auf einer großen Zahl von Webseiten der Hotels und Pensionen: Niedliche, putzige, warzige, Kopftuch tragende Puppen in Flickenkitteln, besenbewehrt, mit hämischem bis bösartigem Grinsen zwischen Hakennase und spitzem Kinn.

Manche Touristen sammeln sie nachgerade und führen das Hexenvolk zurück nach Italien, wo die Inquisition ihren Ausgang genommen hat. Oder sie enden zwischen Gartenzwergen und Vogelhäuschen in einem Vorgarten, die Hexenpuppen, und drehen sich langsam im Wind.

Was soll das?, mag einer fragen, dem die Sache mit dem Hexenwesen unter die Haut geht, der an Tausende Frauen denkt, die mit verrenkten Gliedern auf dem Scheiterhaufen brennen, wo die Wahrheit doch die ist, dass –

Wenn Sie möchten, werden wir gemeinsam eine Reise in unsere Vergangenheit unternehmen, in eine Zeit, die, wie andere belastete Zeiten auch (der Nationalsozialismus etwa), vielleicht nur widerwillig ins Bewusstsein vordringen und sich doch nicht völlig verdrängen lassen. Lassen wir’s doch, wie es ist, mag einer denken. Warum in der Vergangenheit „schtirgn“ (kramen), wo es doch in der Gegenwart genügend Probleme gibt…

Der Anlass dieser Schrift sind zwei Jahre, die auch uns Völsern im ersten Moment wenig sagen: 1506. 1492, ja, die Schüler wissen von der

Entdeckung Amerikas; 1809 die Tiroler Freiheitskämpfe. Aber 1506? Und 1510? Am 7. Juli 1506 und am 3. August 1510, vor einem halben Jahrtausend, sind hier bei uns in Völs Menschen bei lebendigem Leib verbrannt worden, weil man sie für Hexen und Zauberer hielt. Und unsere Vorfahren waren mit dabei – als Täter/innen und Opfer.

Die Gemeindeverwaltung von Völs in Südtirol, Italien hat 2006 mit einigen Veranstaltungen und mit einer von mir verfassten Gedenkschrift, die dieser Arbeit als Basis dient, dieser schrecklichen Ereignisse gedacht. Sie sind eingeladen, durch Ihr Interesse und Ihre Anteilnahme einen Abschnitt unserer Vergangenheit zu reflektieren und sie damit ein Stück weit zu bewältigen. Liebe Leser/innen aus dem deutschsprachigen Ausland, bedenken Sie: Das Phänomen der Hexenverfolgung ist ein europäisches! Mit Sicherheit sind auch Sie, ist auch Ihre Heimat davon betroffen. So können wir Völser/innen, aber auch Sie, als Nachgeborene Verantwortung für ein kollektives Verbrechen übernehmen, das unsere Altvorderen auf Grund ihrer Befangenheit, auf Grund ihres Gefangen-Seins in ihrer Zeit, an unschuldigen Mitbürger/innen begangen haben.

Ich habe mir mit dieser Schrift die Aufgabe gestellt, Sie als Ihr Zeitreiseführer in jene Epoche zu begleiten, die uns einerseits ein völliges Rätsel ist, die andererseits jedoch zeitübergreifende menschliche Dimensionen sichtbar macht: Immer noch gehen wir in Momenten der Not und des Unglücks auf die Suche nach Schuldigen, weil wir unsere eigene Verantwortung nicht übernehmen wollen oder können. Noch immer setzen wir – zunehmend auch in den Sozialen Medien – Gerüchte in die Welt und werden ihrer nicht mehr Herr. Noch immer geben wir einzelnen mehr Macht als ihnen zusteht und als sie verantworten können; noch immer werden Frauen nur ihres Geschlechts, Menschen ihrer Herkunft oder Hautfarbe wegen benachteiligt und diskriminiert; und seelisch wie körperlich gefoltert wird auch heute noch. Doch wir verbrennen nicht mehr, das ist wohl wahr.

Wir werden untersuchen, inwieweit wir aus dem, was vor fünfhundert Jahren vor unserer Haustür geschehen ist, Lehren für unsere Gegenwart ziehen können. Wenn das möglich ist, haben wir die Reise nicht umsonst gemacht. Eine Vergnügungsreise wird es ohnehin nicht.

Das Phänomen der Hexenverfolgungen ist ohne Hintergrundwissen nicht nachvollziehbar. Wir werden uns darum mit Aspekten der damaligen Zeit beschäftigen, in deren Zusammenschau das Phänomen vielleicht in etwa verstanden, „begriffen“ werden kann.

Ich habe meine Recherchen und meine Schlussfolgerungen nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen, dennoch ist meine Schwerpunktsetzung subjektiv ebenso wie die Art der Darstellung. Ich bin Lehrer und Germanist und erst in zweiter Linie historisch qualifiziert. Diese Arbeit widerspiegelt das zweifelsohne, wenn ich weniger als nüchterner Historiker ans Werk gehe denn als engagierter, nach Verstehen und Verständnis suchender nachgeborener, mitbetroffener Völser. Die Analyse des akribisch recherchierten Quellenmaterials und der Sekundärliteratur folgt aber sehr wohl wissenschaftlichen Kriterien, die mir natürlich auch als Germanist vertraut sind.

Ortsunkundigen Leser/innen sei erklärt, wo sich Völs am Schlern befindet: Wenn Sie über den Brennerpass nach Südtirol/Italien Richtung Bozen fahren, passieren Sie einige Kilometer vor Erreichen der Stadt auf der orografisch linken Talseite das Gemeindegebiet von Völs am Schlern. In der kleinen Ortschaft Blumau kurz vor Bozen führt eine Landesstraße nach Völs auf 800 Höhenmeter ü.d.M. Schloss Prösels liegt im gleichnamigen Weiler Prösels, zu dem eine steile Stichstraße von der Landesstraße abzweigt.

Nähere Informationen erhalten Sie auf meiner Webseite:

www.elmar-perkmann.eu

Die Koordinaten von Schloss Prösels: +46° 30' 18.99", +11° 29' 45.24"

Lasst uns unsere Reise beginnen.

Europa um 1500

Die Zeit

Klima – Vegetation –- Wirtschaft - Hauswirtschaft

Wie hat man sich unser Völs vor fünfhundert Jahren vorzustellen? Man müsste den Schlern fragen können, dessen charakteristische Skyline die Jahrhunderte kommen und gehen sah. Die klimatischen Verhältnisse waren noch etwas günstiger, Tendenz: Verschlechterung in Richtung einer „Kleinen Eiszeit“, aber noch konnte in einem breiten Gürtel von St. Konstantin über Völs, Völser Ried, Ums und Prösels bis nach Aicha Weinanbau betrieben werden, den Neustifter Chorherren, denen einige Weinhöfe zu Eigen waren, zur Freude. Föhren (Kiefern) gab es auch schon damals, Flaumeichen und so weiter. Fichten waren allerdings zur damaligen Zeit eher wenige zu finden, es standen mehr Tannen in der Landschaft herum. Die Fichten hat 250 Jahre später die österreichische Regentin Maria Theresia lanciert, weil sie schneller wachsen und ihr Holz unter anderem für die österreichische Marine (Sie lachen? Die gab es aber wirklich!) verwendet wurde. Insgesamt bestand in der damaligen Zeit ein hoher Holzbedarf (zum Bauen, für die Metallverhüttung usw.).

Die gerodeten Flächen waren kleiner, die Böden noch nicht „melioriert“, also ruppiger, das die heutige Landschaft prägende landwirtschaftliche Grün noch weniger großflächig. Einzelrodungen gab es in der Nähe der Hofstätten, gemeinsame Rodung an den unteren Hängen. Das Vieh wurde zusätzlich in die Wälder getrieben, was zu Schäden an Jungbäumen führte. Almrechte und das eigene Wiesenland scheinen für die Viehzucht nicht ausreichend gewesen zu sein. Man suchte Wiesen in den Nachbargemeinden, einige Höfe erwarben Weideflächen zum Teil mit Dille auf der Seiser Alm. Völser Bauern besaßen aber auch Weiden in Gummer, Tiers, Karneid, Fassa.

Eigenwald besaßen nur die Herrschaften und die Geistlichkeit, denen die Jagd vorbehalten war. In Blumau gab es einen Fischmeister. Flussfisch stand entsprechend den zahlreichen kirchlichen Fastenzeiten häufiger auf dem Speisezettel als heute.

Die Grünlandwirtschaft nahm also einen kleineren Teil des bearbeiteten Bodens ein. Es wurden Kühe gehalten, aber auch Ziegen, Schweine, vereinzelt Ochsen als Zugtiere und „Fleischlieferanten“. Der eine oder andere besaß ein Maultier oder einen Esel zum Transport der Lasten, Pferde waren dem Adel vorbehalten. Überall scharrten Hühner, da und dort wurden auch Gänse gehalten. Um Martini fielen diese nicht der Vogelgrippe zum Opfer, sondern den Herren und Frauen Gutsbesitzern. Getreide wurde angebaut, Hirse (Hirsch), Roggen, Hafer, Gerste, „Längs- und Herbstweizen“ (wie in den Urbaren angeführt) und als Nachfrucht der rosa blühende Schwarzplenten (Buchweizen). Einzelne Obstbäume gliederten das Landschaftsbild, Äpfel, Birnen, Mandeln, und Nüsse gab es da und dort. An südlichen Hängen gedieh wie heute die Kastanie, deren Früchte auch damals „Keschtn“ genannt wurden und als „Fille“ (Füllung von Süßspeisen), aber auch als „Armeleutebrot“ von überlebenswichtiger Bedeutung waren.

Wer auf Süßes stand, griff (vorsichtig) zur Bienenwabe. Rübenzucker gab es zwar, er war aber schwer erhältlich und teuer. Auf Mais, Tomaten, Paprika (Peperoni), Kürbisse musste der damalige Haushalt verzichten, während Reis und eine Art Pizza zumindest Reisenden aus Norditalien bekannt waren. Auch Baumwolle gab es bei uns noch nicht; Kleider und Wäsche wurden aus Schafwolle hergestellt, aus Tierhaut oder aus Leinen. Den Kaffee haben angeblich die Türken unfreiwillig bei ihrem fluchtartigen Abzug vor Wien 1683 hinterlassen; der Kakao, etwas später in den barocken Salons trendiges Modegetränk, kam wie so vieles andere aus der Neuen Welt. Brot wurde zumeist zweimal im Jahr gebacken, und das luftgetrocknete Fladenbrot („Völserbreatln“, „Schüttelbrot“) wurde vor dem Verzehr eingeweicht; mit den Zähnen stand es nämlich nicht zum Besten und Zahnausfall bereits in jungen Jahren mit den entsprechenden Lücken üblich (siehe den Abschnitt Gesundheit – Krankheit – Hygiene weiter unten). Überhaupt war die Nahrung „milchbetont“ und als Getreidebrei mit Beifügung von Wurzelgemüse zumeist von breiiger Konsistenz. Fleisch gab es nur zu besonderen kirchlichen Anlässen; aus Gründen seiner beschränkten Haltbarkeit wurde es, falls nicht durch Lufttrocknung, Selchen oder „Suren“ (Pökeln) konserviert, mit scharfen Gewürzen irgendwie genießbar gemacht. Getrunken wurden vor allem Wasser, aber auch „Leps“ (mit Wasser gestreckter Wein) und Most.

Häuser – Wege und Stege

Die Häuser hatten sozusagen einen größeren Holzanteil und waren in der Regel mit Stroh gedeckt, außer aus Sicherheitsgründen (Brandgefahr) in den Ortskernen. Natürlich gibt es heute viel mehr Häuser, diese Entwicklung ist aber keine hundert Jahre alt. Aber man zählte vor einem halben Jahrtausend im Völser Gericht immerhin bei dreihundert Wohneinheiten.

Die Wege waren staubig oder schlammig, je nach Witterung. Keine Lichterkette flankierte das Sträßchen Richtung Völser Aicha oder erhellte den Dorfplatz, schon gar nicht die Stuben der einzelnen Höfe. Elektrisches Licht gibt es bei uns erst seit den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Überhaupt war das Mittelalter – aber auch die beginnende Neuzeit – eine, wie wir wissen, buchstäblich dunkle Zeit im optischen wie mentalen Sinn. Am Abend spendeten Holzspäne dürftiges rußiges Licht. Kerzen aus Bienenwachs waren kostbar und wurden zu besonderen Anlässen oder im kultischen Zusammenhang (Taufe, Beerdigung usw.) verwendet. Das Feuer ließ man nicht ausgehen, es gloste Tag und Nacht in der Feuerstelle, bereit, bei Bedarf zu hell flackerndem Leben erweckt zu werden. Man besaß zwei Kleider, ein Werktagsgewand und ein Sonntagsgewand, und man ging davon aus, dass sie das ganze Leben hielten. Die heutige „Wohlstandsfülle“ war damals noch kein Thema, mithin passte der Zuschnitt auch noch nach einigen Jahrzehnten. Recht alt wurde man ohnehin nicht.

Im Mittelalter, in der beginnenden Neuzeit, trug man eine Kopfbedeckung, zwingend! Haare galten als „sensible Zone“, als verboten, erotisch, pfui. Was glauben Sie, warum die als Hexen inhaftierten Frauen mit lüsternem Interesse seitens der Kerkerknechte einer peniblen Leibesvisitation unterzogen wurden, bei der vor allem die haarigen Körperregionen untersucht und rasiert worden sind? Weil sich der Teufel angeblich mit Vorliebe im mysteriösen Areal der Schambehaarung einnistete… Wie praktisch für die Lüstlinge unter den Gerichtsdienern, dass die Klientel mehrheitlich weiblich war. In Tirol, darf gesagt werden, wurde in dieser Hinsicht etwas zurückhaltender verfahren als beispielsweise in Norditalien oder in der Schweiz.

Gesundheit – Krankheit - Hygiene

Die gesundheitliche Versorgung besorgten Hebammen und volksmedizinisch kundige Frauen, ein Umstand, der ihnen spätestens seitdem die Absolventen der medizinischen Fakultäten anfingen, das Heilmonopol für sich zu beanspruchen, zum Verhängnis werden wird. In besseren Tagen war da, auch in Völs, ein „Bader“, das männliche Pendant zur Hebamme. Aber auch Reliquien und Talismane wurden bemüht und konnten hysterische, psychisch bedingte Leiden mit der Kraft der Suggestion womöglich sogar heilen. Die hygienischen Verhältnisse waren vermutlich katastrophal, auch weil Zusammenhänge zwischen Reinlichkeit und Krankheit nicht bekannt waren. Mangelernährung förderte infektiöse Krankheiten, das Immunsystem war chronisch geschwächt, Kinderkrankheiten endeten oft tödlich (auch dieser Umstand wurde „Hexen“ angelastet). Wurmerkrankungen plagten viele Menschen, und bedingt durch die mangelhafte Hygiene wurden sie auf die Familienmitglieder übertragen genauso wie Filz- und Kopfläuse. Frauen konnten den durch die Monatsblutung verursachten Eisenmangel kaum ausgleichen. Kalziummangel führte zu Knochendeformationen. Ungeziefer grassierte in diesem nach heutigen Maßstäben unappetitlichem Milieu allerorten, Flöhe transportierten hüpfenderweise Krankheitserreger über Ratten zu den Menschen. Pestwellen suchten regelmäßig unsere Vorfahren heim, einige Jahrzehnte nach den Völser Hexenprozessen im gesamten Europa mit der Folge einer katastrophalen Ausweitung der Hexenverfolgungen. Es gab aber auch Tuberkulose, Lepra, Pocken, und von solchen Krankheiten Gezeichnete gehörten zum Alltag und erregten trotz ihres entstellten Aussehens keine übermäßige Beachtung. Man sah in der Erkrankung eine göttliche Strafverfügung oder Prüfung. Zahnschmerzen und Zahnausfall befielen unsere Vorfahren schon in verhältnismäßig jungen Jahren. Die Zähne wurden mit faserigen Hölzchen notdürftig gereinigt. Mundgeruch wurde mit Nelkenwasser oder anderen aromatischen Absuden neutralisiert. (Kriegs-)Versehrte bewegten sich auf selbstgefertigten Prothesen und Gehhilfen fort und bettelten um Almosen. Infolge der Inzucht (Gendefekte), von Syphilis (Syphilis cerebrospinalis), Hepatitis B und anderen Krankheiten gab es eine beträchtliche Anzahl von geistig und körperlich Behinderten.

Besonders verbreitet war auch das Antoniusfieber (Ergotismus), eine Lebensmittelvergiftung durch das so genannte Mutterkorn, das Roggengetreide befallen kann: Durch die einsetzende Klimaverschlechterung wurde immer mehr Roggen angebaut, da dieser robuster als Weizen ist. Dadurch kam es in schlechten Erntejahren, in denen aus Not alles Korn unbesehen vermahlen wurde, zu Mutterkornerkrankung mit Fieberschüben, Delirium, Halluzinationen. Wenn wir schockiert oder kopfschüttelnd, je nachdem, die Palette an magischen Vorstellungen und Phantasiegeburten jener Zeit bestaunen, sollten wir vielleicht auch an diese gerade in kargen Zeiten weit verbreitete Wirkung des Mutterkorns denken, die gepaart mit vorchristlichem Glaubensgut eine völlig andere Sicht der Welt bewirkt haben mag. - Gute alte Zeit?

Familie – soziale Kontrolle - Nachbarschaft

Man ging zu Fuß, zumeist barfuß, bei gewissen Arbeiten wurden Holzschuhe getragen. Die Familie lebte als Großfamilie zusammen, man schlief „kreuz und quer“, in der kalten Jahreszeit eng beieinander und im damals weit verbreiteten Einhof in unmittelbarer Nähe des Viehs. Man verbreitete ein entsprechendes Aroma. Vermutlich kam es immer wieder zu Fällen von Inzest. An kalten verschneiten Winterabenden, wenn alle nach dem Mus in der Stube beisammen saßen, erzählte die Großmutter vielleicht eine Geschichte von Hexen, Unholden und unheimlichen Geisterwesen, die in den Raunächten und an Quatemberabenden ihr Unwesen treiben. Einen jeden, der nicht durch göttlichen Schutz gesegnet ist, nehmen sie mit sich „in die Fahrt“ (in der Urgicht der Anna Mioler kommt eine entsprechende Aussage vor). Die Kinder ziehen die Beine hoch und kuscheln sich schaudernd aneinander. Das zerfurchte Gesicht der Großmutter flackert im rötlichen Schein der verdämmernden Glut. Draußen hört man das lang gezogene Heulen eines Wolfes, weitere fallen ein, ein schauriger Chor. Etwas – jemand? – streift ums Haus, eine Holzstange fällt um. Das Knirschen eines Balkens, ein Knacken in der Diele, der Kienspan flackert rötlich und schickt schwarzen Qualm zur Decke; die Großmutter wendet sich ab, bekreuzigt sich hastig und kommt zur Erleichterung aller auf ihren Kräutergarten zu sprechen.

Ein in unserem Zusammenhang bedeutsames Schlüsselphänomen war die intensive soziale Kontrolle, ein mächtiger Schutzraum und ein erbarmungsloser Schraubstock zugleich, dem niemand entging. Jeder wusste vom anderen, er kannte den Besitzstand bis ins kleinste Detail, wusste um erbliche Belastungen und um gesundheitliche Anfälligkeiten. Man wusste um die Verpflichtungen dem Grundherrn gegenüber, man stand gemeinsam im Schlosshof oder beim Maierhof und zählte unter den Augen aller die Eier und die anderen Abgaben ab. Wehe, wenn dieses fest gefügte gesellschaftliche Puzzle durch unerklärliche Witterungsschläge, Unglücks- oder Todesfälle ins Ungleichgewicht geriet! Misstrauen, Neid, Hass und über Generationen tradierte Feindschaften und Allianzen summierten sich zu einer tödlichen kollektiven Welle, schossen sich auf ein Mitglied der Gemeinschaft ein.

Umgekehrt mag Nachbarschaftshilfe ein tragendes Element zur gegenseitigen Stützung und Versorgung gewesen sein in einer Zeit, als es noch keine Altersvorsorge von Amts wegen gab (in den Regesten wird immer wieder berichtet, wie der Adel Bettlern, Bedürftigen, Verwachsenen, in Not Geratenen, Kriegsversehrten und Kriegswitwen „aus Gnade“ einen oder zwei Gulden reicht). Die Altersversorgung wurde nicht zuletzt durch die leiblichen Kinder garantiert, und Nachwuchs bzw. dessen Überleben war in diesem Sinne in doppelter Hinsicht von existentieller Bedeutung. Das in den „Geständnissen“ der Völser Frauen in teilweise recht makabrer Ausführlichkeit geschilderte Töten und Verzehren von Kindern ist auch im Lichte dieser Tatsache zu sehen. Dieses war ein mehrfaches Verbrechen: Das rituelle Schlachten bzw. Schächten umfasste den Tatbestand des vorsätzlichen Mordes zusammen mit den okkulten Tatumständen; dazu kam der Entzug der elterlichen Altersversicherung, wodurch neben dem individuellen und familiären Schaden auch einer am Gemeinwesen (Erhaltungspflicht durch die Armenkasse) entstand.

Der Grundherr

Tirol war in Gerichte eingeteilt, in Niedergerichte mit „niederer Gerichtsbarkeit“, die die kleinen Straftaten ahndete wie im Gericht Schenkenberg, und in Landgerichte oder „Malefizgerichte“, die über einen Landrichter für die Ausübung der Blutgerichtsbarkeit für schwere Vergehen zuständig waren, wie dies in Kastelruth und in Völs der Fall war. Eine untere Verwaltungseinheit bildeten die Malgreien, wobei eine Malgrei eine Ansammlung von Höfen und Häusern war, die über einen Kirchsteig an eine Kirche angebunden waren.

Man hat gehört, dass der Herr (Leonhard) nun auch die Pfarrkirche umbauen will. Die Frau (Katharina von Firmian) drängt ihn dazu, die verfallende Kirche auf dem Bichl (Peterbühl) über der heidnischen Ruine zu erneuern. Die Bauleute fürchten eine Erhöhung von Robot oder Abgaben, manch einer hofft aber auch auf eine „Tagschicht“ (Tagelöhnerarbeit) und auf einen Ablass anlässlich der Einsegnung. Bald ist wieder Quatember und die Abgaben sind fällig.

Ab und zu kommen ein paar versprengte Landsknechte des Weges, ein fahrender Händler, oder es rumpelt ein Karren über den erst vor wenigen Jahrzehnten ausgebauten Kuntersweg. Der Fuhrmann hält auf eine Marende, bindet das Maultier an einen Pfosten und erzählt das Neuste vom fernen Kastelruth, von Breien oder gar von Bozen, wo er einmal auf der Messe gewesen ist.

Wo immer möglich, wird die Wasserkraft für die Holzverarbeitung, also zum Sägen, als Mühle und zum Hämmern des Eisens in den Schmieden benutzt. Am Völser- und Schlernbach ist die Gerichtsherrschaft mit Bestandsbetrieben beteiligt (Hofmühle, Hofschmitten…). Leonhard der Völser sammelt das Wasser zu einem Mühlbach und lässt als Fischweiher für die Herrschaften Wasserbehälter, Weiher, anlegen: oberhalb von Zimmerlehen und beim Schloss. Wenn Sie im Völser Weiher baden: Wem haben Sie dieses nasse Vergnügen zu verdanken?

Seit 1517 gab es die nigelnagelneue Wasserleitung von Tuff durch Ober- und Untervöls herab auf den Dorfplatz. Auch ein Werk des Völsers (nun, er hat ein bisschen Hilfe beim Graben gehabt…) Dass er durch die Wiesen und Felder der Bauleute „gefahren“ ist und diese auch noch beim Graben roboten mussten: Schwamm darüber. Das Wasser auf dem Dorfplatz ist (aus Leonhards Sicht) die Sache wert.

Der Herr hält sich selten im Gericht auf, meist ist er auf Schloss Tirol in Meran, seinem Amtssitz, beim Landesherrn und König oder auf irgendeinem Kriegszug. Krieg gibt es immer. Gerade kämpft er als Feldhauptmann gegen die Republik Venedig. Vor ein paar Jahren sind ein paar Völser Knechte im Vinschgau gewesen und haben sich mit den Schweizern geschlagen. Ein draufgängerisches Volk! Die rauen Kerle verstehen mit ihren Hellebarden umzugehen und haben dem König eine herbe Niederlage nach der anderen bereitet. Aber ihr Käse, der ist Spitzenklasse!

König und Kaiser Maximilian I.

Ab und zu kommt es mit Halali und Holladio (ein Tiroler Jubelruf