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In 'Das Licht von Osten' nimmt der Autor Rudolf Stratz die Leser mit auf eine fesselnde Reise ins historische Byzanz. Der Roman zeichnet sich durch seinen detailreichen und atmosphärischen Schreibstil aus, der es dem Leser ermöglicht, in die prächtige Welt des Oströmischen Reiches einzutauchen. Stratz verwebt geschickt historische Fakten mit fiktiven Elementen und schafft so eine lebendige Darstellung des Alltagslebens im Byzantinischen Reich. Der Leser wird von der ersten Seite an in den Bann der politischen Intrigen, kulturellen Reichtümer und tragischen Schicksale gezogen. 'Das Licht von Osten' ist ein Meisterwerk des historischen Romans, das sowohl geschichtlich interessierte Leser als auch Liebhaber spannender Geschichten gleichermaßen begeistern wird. Rudolf Stratz, ein renommierter Schriftsteller und Historiker, ist bekannt für seine gründliche Recherche und seine Fähigkeit, vergangene Epochen zum Leben zu erwecken. Durch seine fundierten Kenntnisse der Geschichte und sein Talent für lebendige Charaktere gelingt es Stratz, den Leser mit jedem Kapitel tiefer in die Welt des Byzantinischen Reiches einzutauchen. 'Das Licht von Osten' ist ein Muss für alle, die sich für die Geschichte des Oströmischen Reiches interessieren und gerne in fesselnde Geschichten eintauchen. Dieses Buch wird Sie fesseln und begeistern, und Sie werden sich wünschen, noch mehr von Rudolf Stratz zu lesen.
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Seitenzahl: 537
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Books
Wenn wir in Zukunft Deutschland in Schmerzen und darum noch viel heißer lieben sollen – wenn wir es so lieben sollen, wie man seine kranke Mutter liebt und pflegt, dann gibt es für diese deutsche Liebe keine Schlagbäume und Grenzpfähle, am wenigsten die des bisherigen Deutschen Reiches. Weit über die schwarz-weiß-roten Schranken hinaus soll unser Herz alles umfassen, was deutsch ist, deutsch lebt, denkt, spricht, atmet. So führe ich, selbst einer durch vier Menschenalter in Rußland kerndeutsch gebliebenen Familie entsprossen, in diesem Werk den Leser nach dem äußersten Thule deutscher Artung am Baltenstrand, in die nordischste der früheren Ostseeprovinzen.
Diese einsame Küste Esthlands soll die Warte sein, von der aus sich das Rundbild des russischen Ostens entrollt. Daß die gen Westen drängenden blinden zaristischen und panslawistischen Mächte der russischen Völkerwanderung den Untergang des festländischen Europas verschuldet haben, ist, nach meiner Kenntnis Rußlands, meine feste Überzeugung. Ich habe ihr schon vor Jahren in meinem Buch »Das deutsche Wunder« Ausdruck verliehen. Daß auf die Entfesselung der russischen Unterwelt der Ausbruch des feuerspeienden Kraters französischer Vergeltungs- und Rachelust für Elsaß-Lothringen folgen mußte wie der Donner dem Blitz, suchte ich in meinem Roman »Der Eiserne Mann« – daß England unter dieser ihm unheimlich günstigen Stellung der Gestirne zum entscheidenden Schlag gegen deutsche Weltgeltung ausholen würde, suchte ich in »Das freie Meer« in seinen seelischen Triebkräften darzustellen. Wenn ich in diesem vierten Werk nochmals auf das Rußland des Weltkriegs zurückgreife, so geschieht dies, weil die Lava des Ostens inzwischen verglüht und erstarrt ist. Zwischen Ural und Beresina können wir, während im Westen noch alles im Werden ist, das ungeheuere Zertrümmerungswerk Europas, das wir den Weltkrieg von 1914 bis 1919 nennen, bereits einigermaßen übersehen. Viele Nachrichten und Schilderungen des Rußlands der Kriegsjahre gingen mir von Augen- und Ohrenzeugen zu und befestigten mich in der Anschauung, daß die Hauptschuldigen der Völkerdämmerung über Europa der gekrönte Schwächling auf dem Thron der Romanows und seine allrussischen Berater waren.
Der Zarenthron zerschellte. Die Flammenzeichen des Nordens rauchten. Zum drittenmal in anderthalb Jahrhunderten wiederholte sich, wie beim Tode der Kaiserin Elisabeth und nach dem Brande Moskaus, für Preußen-Deutschland das »Mirakel der Hohenzollern«, die Rettung aus höchster Not in letzter Stunde durch eine unerwartete Schicksalswendung im Osten. Haben wir das Licht von Osten, das Licht von 1917, richtig gedeutet und zum Heile unseres Vaterlandes gewertet? Haben wir das nachzaristische Rußland richtig behandelt? In den hier folgenden Blättern suche ich diese, nächst unserer Stellung zu Amerika schwerste deutsche Lebensfrage des Weltkriegs zu erhellen.
Ich schreibe keine Kriegsromane! Ich vermeide in meinen Büchern beinahe völlig die Darstellung von Kampfhandlungen und Heeresereignissen der mir im Osten und Westen bekannt gewordenen Front. Ich verschmähe es durchaus, den Weltbrand des Völkerkriegs zum Hintergrund für beliebige Menschenhändel und äußere Begebnisse herabzuwürdigen, die sich ebenso gut auch unter friedlichen Umständen hätten vollenden können. Die Menschen, die ich schildere, sind unlösbar mit ihrem kleinen Schicksal in den großen Gang der Weltgeschichte verflochten. Sie sind Geschöpfe des Kriegs. Mein Wille ist, aus Menschen unserer Zeit heraus unsere Zeit selbst zu erklären, soweit man sie jetzt schon erklären kann und soweit der beschränkte Blick eines Einzelnen reicht, der immerhin Europa im Lauf seines Lebens genauer kennengelernt zu haben glaubt als viele andere unserer Landsleute. Daß es da gewißlich heißt: »Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit!« – das weiß niemand besser als ich. Aber ich glaube doch: Auch ein Fünkchen Wahrheit ist in der Nacht, die über Deutschland lastet, besser als nichts. So wage ich es, auch dieses Stück Spiegelbild des Weltkriegs zu veröffentlichen. Das Licht von Osten ist erloschen. Möge das Licht von Oben über unserem Vaterlande aufgehen!
Deutschland, im Frühjahr 1919
Rudolph Stratz
Der Novembersturm des Jahres 1914 heulte über dem Finnischen Meerbusen zwischen dem Strande Esthlands und dem Inselgewirr der finnischen Küste. Innerhalb dieser Granitklippen war im weiten Hafenbecken von Helsingfors die graue See selbst ruhig. Nur in der Luft blieb das brausende Leben. Die Wolken flogen. Regenböen sprühten. Auf der Esplanade der finnischen Hauptstadt bogen die Ahornbäume ihre kahlen Zweige. Der Hauskerl des Societetshus blinzelte wider das Wetter, während er den Stoßkarren mit Reisegepäck vom Gasthof über den Salutorget nach dem Hafenkai, zum Liegeplatz des Revaler Dampfers, schob. Viele Zettel klebten auf diesen eleganten, aber abgenutzten Schiffskoffern. Die Namen amerikanischer Hotels, der Zoll- und Durchfahrtsvermerk Großbritanniens, daneben, ganz frisch, norwegische und schwedische Eisenbahnscheine. Der Reisende, der zu diesen Koffern gehörte, ging lässig hinterher, die Hände in den Taschen des Wettermantels, den Kopf gegen den Wind gebeugt, kaum merklich das steife, linke Bein nachziehend. Er war zu Anfang der Dreißig, groß und schlank gewachsen, mit blondem Haarschopf, blondem Schnurrbart und großen blauen Augen. Die paar Worte: »Laufe nicht so! Du siehst, daß ich lahm bin!«, die er kurz und befehlsgewohnt, die Zigarette im Mund, dem Hausdiener zurief, waren nicht finnisch, aber jener verstand sie doch. Sie gehörten der durch gemeinsamen mongolischen Ursprung verwandten esthnischen Sprache von drüben, jenseits des schmalen grauen Meeres, an, und nun wußte der Mann am Karren: der hinter ihm war ein »Baron«, einer der deutschen Grundbesitzer der drei baltischen Provinzen.
Er hielt mit seinem Gepäckkarren vor dem Lageplatz des »Aulu«, des kleinen finnischen Küstendampfers, der die kurze Überfahrt nach Esthland besorgte. Am Ufer davor war das unveränderliche russische Bild: Baumlange, finstere Gendarmen in Schirmmützen mit umgeschnallten Revolvern, stumpfsinnige Wachtsoldaten, zigarettenrauchende bleiche Tschinowniks, die in allerhand Schriftstücken blätterten, unbestimmbare schweigsame Menschen in Zivil. Rußland im Krieg, im Krieg wider Deutschland: man sah auch die Uniformen des Militär-Tschins. Offiziere, die übernächtig und übellaunig aussahen wie die nachtlebigen Russen meist am frühen Morgen. Das Blau der Kronsschiffe des Zaren.
»Paschport... den Paß... bitte... die anderen Papiere...« Es war ein Köpfezusammenstecken... das leise, tiefe, russische Gemurmel, der Papyrossenrauch, die unbestimmten, russischen Kopf- und Schulterbewegungen. Ein höherer Tschinownik runzelte über dem Paß die Stirne und winkte dem Fremden höflich mit der Hand, ein paar Schritte mit zur Seite zu treten. Ein Offizier folgte und einer der wesenlosen Russen in Zivil, der vorher noch einige leise zweifelnde Worte mit einem der herumstehenden englischen Geheimagenten gewechselt hatte. Sie stellten sich um den jungen Balten mit den von weiter Reise zeugenden Schiffskoffern und sahen ihn still, aber durchdringend an. Er erwiderte den Blick mit hochmütiger Ruhe.
»Wie denn?« sagte er in fließendem Russisch, durch das die harte deutsche Betonung der Ostseeprovinzen durchdrang. »Schon gestern ordnete ich meine Erlaubnis zur Weiterreise auf dem Generalgouvernement. Man gab mir das Visum, nach Reval zu fahren ...«
»... Und doch ist es unsere Pflicht, die Papiere noch einmal zu prüfen. Belieben Sie zu erwägen, daß wir im Krieg sind ...«
Der bleiche Tschinownik hüstelte, blickte in den Paß und frug halblaut:
»Sie sind russischer Edelmann?«
»Nein. Baltischer Baron.«
»Das ist ein und dasselbe.«
»Ich halte es für einen großen Unterschied.«
Der junge Mann sagte das ruhig, aber mit unergründlichem Hochmut. Es war dem kühlen Lächeln seines vom Seewind geröteten Gesichts anzusehen, daß ihm Rußland nur in seiner Gesamtheit, aber niemals in Gestalt seiner einzelnen fragwürdigen Vertreter imponierte. Auch jetzt im Kriege nicht.
»Sie sind der Baron Waldemar von Kerkhuß?«
»Wie denn nicht?«
»Ihrem Namen nach von deutscher Abstammung?«
»Ja doch.«
»Von wem?« erkundigte sich ein herangetretener, glattrasierter Mann, der nichts Russisches an sich hatte.
»Ich kann es leider nur bis in das neunte Jahrhundert zurückverfolgen,« sagte der junge Balte mit unverändertem Gesichtsausdruck. »Bis zu dem Sachsenhäuptling Wittekind, von dem ...«
»Belieben Sie nicht zu scherzen! Der Gentleman möchte sich über die Persönlichkeit Ihres Vaters vergewissern ...«
»Mein Vater ist Seine Hohe Exzellenz Baron Konstantin von Kerkhuß auf Kerreküll in Esthland.«
»Ist das ein Schloß?«
»Es bildet zusammen mit den Gütern Mergel, Arromar, Alloküll, Reit und andern das Majorat, dessen Erbe ich als ältester Sohn bin.«
»Sie haben Brüder?«
»Drei.«
»Was sind sie?«
»Was mögen sie zurzeit sein? Lassen Sie sehen: Der eine war, als ich vor einem Jahr ausreiste. Älterer Gouvernementsgehilfe irgendwo im fernen Osten. Der zweite ist Offizier in der Petrograder Gardekavallerie und, wie ich höre, verwundet. Der Jüngste ist Midshipman in der Kronstadter Gardeflotten-Equipage.«
Die bleichen und gleichgültigen Gesichter der Russen hellten sich etwas auf. Sie verglichen einige geheime Schriftstücke. Der Offizier flüsterte dem Zivil-Tschinownik etwas zu. Es stimmte. Der Wortführer drehte sich eine neue Papyros.
»Sie nannten Ihren Vater Hohe Exzellenz. Wie das?«
»Er ist früheres Mitglied des Ministerkomitees, Gouverneur im Ruhestand und Kaiserlicher Hofmeister.«
Die Russen hatten sich jetzt davon überzeugt, daß ihnen in dem hochmütig lächelnden, blonden, jungen Mann der Erbe einer der größten Familien in der Baltenprovinz drüben gegenüberstand. Einer der herrschenden, nach Sprache, Name und Ursprung deutschen Geschlechter, denen der halbe Boden der Ostseeprovinzen gehörte. Um so mißtrauischer setzten sie das Verhör fort.
»Sie lebten früher auf Ihren Gütern?«
»Ich bewirtschaftete sie. Mein Vater hat wenig Interesse daran.«
»Sie haben Landwirtschaft studiert?«
»Gewiß doch.«
»Wo das?«
»In Deutschland natürlich. Wo sollte man es sonst?«
»Sie waren wiederholt und längere Zeit in Deutschland?«
»Jeder vernünftige Mensch ging ins Ausland ...«
»Vor einem Jahr erbaten Sie einen Paß nach Amerika. Was wollten Sie dort?«
Der russische Tschinownik blähte erstaunt die Nasenflügel und hob fragend die Schultern hoch. Er verstand das geläufige Englisch nicht, mit dem ihm Baron Waldemar Kerkhuß plötzlich antwortete.
»Belieben Sie, warum reden Sie auf einmal Englisch?«
»Aus Rücksicht auf den Gentleman,« sagte der Balte gleichmütig, »der sich, soweit ich es, ohne mich umzudrehen, beurteilen kann, seit Beginn unseres Gesprächs fünf Zoll hinter mir aufgestellt hat und offenbar kein Wort zu verlieren wünscht. Ich habe diesen Wissensdrang unserer englischen Verbündeten schon auf meiner ganzen Reise von New York hierher beobachtet.«
Der glattrasierte, untersetzte Mann hinter ihm ging, ohne eine Miene zu verziehen und sinnend die Windrichtung über dem Meere beobachtend, etwas zur Seite. Er war nicht der einzige britische Geheimagent in Helsingfors. Hafen und Stadt waren von ihnen voll, so wie Petersburg selbst, so wie drüben die ihm benachbarte Küste Esthlands von den Vorposten Englands, Landkäufern, Lieferanten, Geldmännern, Cityleuten, wimmelte. Große Unbekannte von angelsächsischer Herkunft waren überall. Sie saßen in den Hotels von Stockholm und Bergen, sie reisten auf den Bahnen, sie fuhren auf allen Schiffen in allen Meeren nach allen Häfen. Überall spannte sich das ungeheure Netz, in dessen Maschen sich, was deutsch war, fangen sollte.
Der Brite stand seitwärts. Aber in den geschlitzten Augen der Russen drüben brütete unter den Schirmkappen und Pelzmützen auch ohne ihn das feindselige Mißtrauen gegen das Deutschtum der baltischen Lande. Eine unsichtbare Welle dumpfen, durch Jahrzehnte in der Slawenseele eingefressenen Deutschenhasses umflimmerte den jungen Baron, der nachlässig, als ob ihn die Sache eigentlich gar nichts anginge, seine Zigarette rauchte.
»Zu welchem Zweck begaben Sie sich vor einem Jahr nach den Vereinigten Staaten?«
»Zu volkswirtschaftlichen Studien.«
»Welcher Art?«
»Nun – nehmen wir vor allem die Landfrage! Ist sie für uns hier in den baltischen Provinzen und in ganz Rußland nicht das Schicksal von morgen? Sehen Sie doch einmal unsere Bauern an! Wie soll das enden? Es gibt da Probleme, die man nur im Ausland klar studieren kann.«
»Und doch haben Sie sich schon hier im Inland tief, sehr tief in diese Fragen eingelassen!« sagte einer der Russen mit leiser und weicher Stimme, die hinter dem regennassen Pelzbesatz des heraufgeklappten Mantelkragens etwas dumpf Warnendes hatte. »Es ist bekannt, daß Sie mit der örtlichen esthnischen Bevölkerung wie einer ihresgleichen verkehrten ...«
»Gott schuf die Esthen als Menschen so gut wie Sie und mich!«
»... und daß Sie, ein vornehmer Mann, nächtelang mit diesen Gesindewirten und Knechten zusammensaßen ...«
»Wie sollte ich nicht?«
»... daß Sie zuweilen sogar esthnische Tracht anlegten und so durch das Land streiften ...«
»Ich hörte da manches, was ich in meinem Viererzug nicht gehört hätte ...«
»Immerhin ... es war ungewohnt ...«
»Leider.«
»Es konnte verwirrend wirken ...«
»... heute zu wollen, was man morgen muß?«
»Wie denn? Ich verstehe nicht ...«
Baron Kerkhuß gab darauf keine Antwort. Er unterdrückte ein Gähnen und versetzte dann:
»Ich hoffe, daß mir nun endlich nichts im Wege steht, diesen Teekessel von Dampfer da zu besteigen und nach Reval hinüberzufahren ...«
»Ich will Sie nicht zurückhalten!« sagte der fröstelnd in seinen nassen, feldbraunen Mantel gewickelte russische Offizier, »denn ich sehe Ihnen die Ungeduld an, sich unverzüglich beim Chefkommandanten des Militärbezirkes Petrograd zum Waffendienst zur Verteidigung Rußlands zu melden.«
»Leider muß ich diese Meldung unterlassen!«
»Sie wollen nicht dienen?«
»Ich kann es nicht. Mein linkes Bein ist lahm. Schon seit meiner Kindheit. Ich stürzte mit dem Pony vier Faden tief in den Schloßgraben von Kerreküll.«
Die Köpfe von slawisch-fremdartigem, halb asiatischem Typ drängten sich über dem Paß zusammen. »Es ist richtig!« sagte eine heisere Stimme. »Es ist hier vermerkt!« Der Paß wanderte durch verschiedene Hände mit zweifelhaften Nägeln und zu seinem Besitzer zurück, und zugleich klang das erlösende, millionenfach in Rußland jeden Tag gehörte Endwort aller Dinge: »Karazchó! Es ist gut!« ... Und noch eine letzte Frage, während Waldemar Kerkhuß sich schon dem Dampfer näherte:
»Was gedenken Sie nun in Ihrer Heimat zu tun?«
Er blieb noch einmal stehen und sagte in einer hochfahrenden Gleichgültigkeit über die Köpfe der andern hinweg und doch in einem Tonfall von Unbestimmtheit des weiten Ostens:
»Ich weiß es nicht. Man wird sehen ...«
Der Dampfer »Aulu«, auf dem er sich befand, war uralt, klein und schmutzig. Schon als er, noch in stillem Wasser, an dem stahlgepanzerten, brückenüberspannten Inselgewirr der Seefeste Sweaborg vorbeikeuchte, fing er zu schaukeln an. Sein regennasses Deck war halb leer. Die meisten Reisenden unten in den Kabinen. Aus den Luken des Vorderschiffs quoll ein heißer, scharfer Brodem von Menschendunst, Leder, Zigarettenrauch, Stiefelschmiere, Staub, den alle diese zusammengedrängten Körper in feldbraunen Mänteln und bäuerlichen Schafpelzen hier und überall in Rußland gleichmäßig um sich verbreiteten. Oben im Freien gingen nur ein paar Offiziere, leise und mit aufgeregtem Händespiel sich unterhaltend, auf und ab. Ein Reisender in Pelzmütze und verschnürtem Mantel lehnte windabgewandt an dem warmen Schornstein. Auch er ein Russe, aber, durch die fein geschnittenen länglichen Züge und den schmalen Wuchs seiner mittelgroßen Gestalt, seine Herkunft aus dem Süden des Reichs, aus dem Lande der Kleinrussen, verratend. Er erkannte den Baron Kerkhuß, stutzte einen Augenblick und grüßte ihn dann lächelnd über die halbe Länge des Verdecks hinüber, und jener erwiderte den Gruß, aber ohne sich dem andern zu nähern, und es lag in seiner hochmütig-höflichen Zurückhaltung: Gewiß kennen wir uns, Gospodin Kjaschko! Wir haben zusammen in Bonn und Halle studiert. Sie sind einer der wenigen Russen, die deutsches Wesen und Wissen wahrhaft in sich aufgenommen haben. Sie besitzen sogar das Doktordiplom einer deutschen Hochschule, wenn ich nicht irre. Sie können deutsche Kenntnisse bei sich verwerten. Denn Ihre Güter unten in der Ukraine sind vielleicht noch größer als meine drüben in Eschland. Aber ...
Aber ... es ist Krieg. Krieg gegen Deutschland – nein, Krieg gegen alles, was deutsch ist, deutsch redet, deutsch denkt, außerhalb und innerhalb der russischen Grenzen wie auf der ganzen Welt. Es ist jetzt gefährlich für einen wahrhaften Russen, sich einem Deutschen zu nähern. Man vermeidet ja auch die Berührung mit ansteckenden Kranken. Man kann nicht wissen. Vorsicht ist der bessere Teil ...
Während er so dachte, kam jedoch der junge Kiewer Zuckerrübenmillionär schon auf ihn zu. Er ging leicht und elastisch, mit trotz des schwankenden Verdecks tänzerisch gleitenden Schritten, und entblößte durch ein unbefangenes Lächeln die weißen Schneidezähne unter dem kurzgeschnittenen Schnurrbärtchen. Den Kopf hielt er dabei nach schmiegsamer, halb polnischer Art etwas zur Seite geneigt. Es machte einen weichlichen, aber nicht unangenehmen Eindruck. Ebenso der zarte, beinah schonende Druck seiner rasch vom Handschuh befreiten Rechten. Dann war hinterher doch eine kurze Stille, eine Pause der Unsicherheit, in der die beiden, demselben Zarenreich angehörenden Männer jeder das erste Wort des andern abzuwarten schienen.
Endlich, da Baron Kerkhuß freundlich, aber mit einem in sich versunkenen Ausdruck in seinen großen blauen Augen im Schweigen verharren zu wollen schien, begann Leonid Kjaschko lebhaft und doch zögernd:
»Nun – wie geht es, Baron?«
»Wie Ihnen! Also vortrefflich!«
»Vortrefflich? ... Belieben Sie zu erklären ...«
»Was ist da zu erklären? Wir befinden uns im Krieg und beide auf Seite des Stärkeren! Kann es zurzeit etwas Besseres geben?«
Baron Kerkhuß sagte es in anscheinend unverbrüchlichem Ernst. Nur seine Nasenflügel bewegten sich dabei in sonderbarer Weise. Das Schiff unter ihnen begann schwer zu rollen. Sie hatten die finnischen Schären hinter sich. Vor ihnen kochte unabsehbar, wolkenverhangen, in trüben, weißen Schaumkämmen die graue finnische See. Der Balte blickte auf die verschwimmenden Umrisse der Sweaborgschen Festungsinseln zurück.
»Schon als Junge sah ich hier im Frieden die Flottenmanöver!« sagte er. »Ich war glücklich, wenn die Scheinwerferstrahlen nachts über das Wasser fielen und die Torpedoboote sich vor ihnen wie ein Gewimmel schwarzer Ratten in ihre Klippennester zurückflüchteten ... Nun wurde aus dem Spiel Ernst. Sehen Sie dort drüben ...«
Zerstörer schnitten wie dahinschießende Schatten fern durch den kurzen Wogenschlag des finnischen Golfs. Weiterhin schwamm undeutlich die Luftspiegelung eines grauen Leviathans am Himmelsrand. Ein Ahnen des Weltkriegs war in dieser weiten Leere von Wolken, Sturm und See. Der Ukrainer glaubte sich entschuldigen zu müssen, daß er, ein junger Mann, keine Uniform trug.
»Ich komme in einem besonderen Auftrag aus dem Ausland!« sagte er. »Und Sie? Was trieben Sie in diesen Jahren, seit wir uns aus den Augen verloren? Traten Sie in den Staatsdienst?«
»Nein. Es wurde so schon jenug jestohlen!«
Der andere prallte entsetzt einen Schritt zurück. Waldemar Kerkhuß war plötzlich in das harte, baltische Deutsch seiner Heimat übergegangen. Deutsch – jetzt im Kriege! Es war zum Glück, außer ein paar Möwen, niemand in der Nähe, der in dem Wind- und Wellenbrausen die geächteten Laute hätte hören können. Baron Kerkhuß riß seine blauen Augen noch weiter auf und bekräftigte:
»Es wurde jrimmig jestohlen! Jeder kleine Tschinownik stahl wie ein Großfürst ...«
»Nehmen Sie sich in acht! Ich darf das nicht hören!«
»... und dies war der erste Eindruck bei der Heimkehr, der mich erjriff: Es scheint, es wird nicht mehr jestohlen! Der Engländer steht daneben und jiebt jedem eins auf die Finger! Ich erkenne Rußland nicht wieder!«
Der Großgrundbesitzer aus der Ukraine war etwas blaß geworden. Er blieb bei seinem Russisch, so gut er, der Hallenser Doktor, auch das Deutsch verstand, das Waldemar Kerkhuß halblaut, aber doch förmlich herausfordernd sprach. Er taumelte einen Augenblick, denn der »Aulu« stampfte immer stärker, und griff nach dem Schiffsbord, um sich zu halten.
»Durch Gottes Hilfe haben wir England zur Seite!« sagte er, seine Pelzmütze fester in die Stirne drückend. »Bei diesem Gedanken schlägt das Herz jedes wahren Russen höher. Aber ich kenne Deutschland besser als andere Russen. Ich verdanke ihm viel. Ich vermag besser die Gefühle zu würdigen, die einen Russen deutscher Sprache wie Sie jetzt bewegen – wenn ich es auch nur mit eurer selbstherrlichen Einsamkeit dort drüben in euren Ostsee-Gouvernements entschuldigen kann, daß Sie sich jetzt noch dieser Sprache bedienen!«
»Jestatten Sie mir doch den Jebrauch der paar armen Worte! Bald ist das ja wieder jewesen! Ich war ein Jahr weg. Weit weg. Ich muß mich erst wieder an Rußland jewöhnen!«
»An das neue Rußland. Das Rußland des Kriegs gegen Deutschland! Was soll diese Zeit Ihnen und den Ihren in den Ostseeprovinzen bringen? Ich habe oft an Sie gedacht, Baron Kerkhuß!«
»Ja – was soll das werden?«
Waldemar Kerkhuß sprach das halb zu sich. Er hatte die Mütze abgenommen, daß der mächtige blonde Haarschopf über der Stirne sich im Winde bäumte und wie eine Mähne nach hinten flatterte. Er strich mit der Hand darüber und sagte, während seine nordisch blauen Augen durch das Nebelgrau vor dem Schiffsbug das Land seiner Väter zu suchen schienen, mit jener Mischung von Kühle und Lebhaftigkeit, in der baltisches Wesen sich die Wage hielt, und mit dem schnellen Tonfall der aus vielseitiger Bildung heraus zu ebenso umfassendem Denken erzogenen deutschen Herrenschicht am Ostseestrand:
»Der Krieg Rußlands jejen Deutschland jeht schon seit dreißig Jahren. Nur wurde er bisher bloß jejen uns Deutsche innerhalb Rußlands jeführt und jetzt erst jejen die siebzig Millionen Deutsche jenseits der schwarz-jelb-weißen Pfähle! Wir bekommen Jesellschaft – das ist alles! Und haben dies Schicksal nicht verdient. Denn wir waren immer jute Bürjer Rußlands und treue Diener des Zaren ...«
Leonid Kjaschko nickte. Er hatte viel mehr Vordereuropäisches an sich als seine Landsleute. Selbst seine Züge waren westlicher geschnitten.
»Es ist etwas Wahres daran,« sagte er. »Man schlug euch und meinte den allzu starken Nachbarn. Nun aber stehen wir in Ostpreußen. Wir haben Galizien besetzt. Das Frühjahr 1915 wird noch größere Dinge sehen ...«
Waldemar Kerkhuß schwieg.
»Hand aufs Herz, Baron Kerkhuß: wie denken Sie sich für Ihr Teil, was da kommen soll?«
»Es kann nichts kommen!« sagte Waldemar Kerkhuß und sah starr auf das Meer hinaus. »Nehmen wir selbst ein Wunder an: Es wäre den Deutschen möglich, bis in meine Heimat vorzudringen! Auf den Türmen von Reval flatterten die schwarz-weiß-roten Fahnen ...«
Der junge Magnat aus der Ukraine lachte.
»Sagen Sie doch lieber gleich, die Deutschen besetzen Kiew, da Sie schon beim Phantasieren sind!«
»Nehmen wir selbst an, die Deutschen könnten es, so könnten sie es doch nicht!«
»Wieso?«
»Die Deutschen haben am vierten Aujust jeschworen, die Jrenzen ihres Vaterlands zu verteidigen, nicht fremde, ferne Länder zu besetzen! Was hätten sie also hier oben in Esthland vor den Toren Petersburgs zu suchen? Sie dürfen nicht hierher, selbst wenn ihnen Gott die Kraft jäbe! Denn es widerspräche ihrem Sinn des Kriegs.«
»Was für Schlüsse ziehen Sie daraus, Baron Kerkhuß?«
»Wir Balten haben zwei Jejner! Deutschland, jejen das wir kämpfen, und Rußland, das in uns Deutschland bekämpft. Und wir haben keinen Freund. Denn unser eijnes Vaterland, Rußland, unterdrückt uns, und Deutschland, unser Jejner, kann uns nicht helfen!«
»Wie soll das also mit euch werden?«
»Gott allein weiß es!«
Waldemar Kerkhuß schleuderte mit einer grimmigen, halb verzweifelten Bewegung, deren innere Leidenschaftlichkeit der sonstigen hochfahrenden und selbstsichern Kühle seines Wesens widersprach, seine ausgerauchte Zigarette in die See. Eine Möwe haschte heranschießend im Flug nach dem Stummel und ließ ihn eilig fallen. Der oben lachte. Er erschien dem Vollblutrussen an seiner Seite jetzt wieder ganz der Mensch, als den er ihn seit Jahren kannte: der Sohn einer bevorrechteten, in ihrer Einsamkeit hoch oben im Norden von der Weltgeschichte anscheinend vergessenen und so aus dem halben Mittelalter in die Gegenwart hinübergeretteten Herrscherkaste, das Mitglied einer Sammlung von vielen hundert, instinktiv auf das »Ich« gestellten und miteinander, nicht mit der übrigen Welt zusammenhängenden Charakterköpfen, die man den baltischen Adel nannte, ein Erbe der Jahrhunderte, dem schließlich, solange Besitz und Name noch galten, alle Zeitläufte nichts anhaben konnten.
»Sie sehen bleich aus, Gospodin Kjaschko?« frug Baron Kerkhuß, wieder in das Russische verfallend. Er hatte die Hände in den eisernen Strickleitern der Wanten neben sich verschlungen und hielt sich daran fest.
»In der Tat ... Dieses planlose Schaukeln des Schiffes ...«
»Nirgends wird man leichter seekrank als in den kurzen Wellen der Ostsee.«
»Und Sie verspüren nichts?«
»Ich habe eine große Seereise hinter mir.«
Leonid von Kjaschko überlegte ... Es schoß ihm etwas durch den Kopf ... eine Erinnerung ... als habe er zufällig, zu Anfang dieses Jahres, in Petersburg gehört, was der Grund dieser weiten Auslandsreise des Barons Kerkhuß gewesen ... irgend etwas mit einer Frau war dahinter ... er konnte sich nicht mehr entsinnen ... er fühlte sich mit einemmal sehr leidend und lächelte schmerzlich.
» C'est plus fort que moi!« sagte er, sich zur Heiterkeit zwingend, und reichte dem andern die Hand. »Ich werde lieber hinuntergehen und mich in der Kabine ausstrecken!«
Waldemar Kerkhuß blieb allein auf Deck zurück. Er konnte jetzt die eisernen Wanten nicht mehr loslassen und seinen Platz nicht mehr verlassen. Man wäre bei den ersten Gehversuchen hingestürzt. Der »Aulu« schlingerte zu stark. In grausiedendem Klatsch schwappte vorn das Wasser über den Bug, der Wind schnitt wie mit kalten Messern rechts und links an den Wangen vorbei, die Luft war mit nassem, fliegendem Salzstaub erfüllt – es war eine Welt und ein Wetter, um das alles tief in sich einzuatmen, was da draußen stürmte und wogte, gleich einem Widerspiel des Sturms in einem selbst, des Sturms tief im Innern, den man mit der anerzogenen Kälte des großen Herrn nach außen hin verbarg.
Im Steigen und Sinken des Schiffes tauchten nun, wenn der Bug sich neigte, ferne Klippenufer über der Wasserwildnis auf. Die esthnische Küste lugte bleich und schattenhaft zwischen fliegenden Wolken und Regenböen herüber. Und dann kam das für Rußland wundersame Bild, das Waldemar Kerkhuß' gespannte blaue Augen im Heimweh der Heimkehr suchten, das Bild der mittelalterlichen Hanse inmitten des Reichs des weißen Zaren. Grau, deutsch und ernst, ein Stück Nürnberg am Meer, stieg das alte Reval aus den Fluten des Finnischen Golfs empor. Vom Deck des Dampfers sah Waldemar Kerkhuß den Domberg aus den Wellen wachsen, die mittelalterlichen Bollwerke, Mauern und Zinnen. Die Stätten seiner Jugend grüßten ihn, während das Schiff durch die Klippen des Neckmann-Grundes seinen Weg zum Hafen suchte: der Lange Hermann, der ragende Wachtturm der alten Hansestadt, der Kiek in die Koek, die Dicke Margarete, die Strandpforte, das Hohe Kreuz auf St. Olai.
Schwere Schlotschwaden zogen sich dazwischen: die Schornsteine der russischen Kriegsdampfer qualmten. Weit in die See hinaus lagen die düsteren Ungeheuer, schwammen träge längs der Baltenküste dahin, winkten sich im Spiel der bunten Flaggen. Zerstörer schossen wie schwarze Wasserschlangen zwischen ihnen und dem Kriegshafen hin und her. Der finnische Küstendampfer fuhr, ihn zur Rechten lassend, in den Kauffahrteihafen der grauen deutschen Stadt am Meer ein. Asien empfing den Landenden, jener überall gleiche scharfe russische Grenzgeruch von Holz und geschmiertem Leder, Papyrossen und Schafpelzen. Waldemar Kerkhuß atmete ihn als etwas Selbstverständliches ein, als die Lebensluft eines jeden, der nun einmal in Rußland geboren war, in Rußland seine Tage zu verbringen hatte, an russischer Scholle klebte. Er drängte sich durch die baumlangen Gendarmen, die Massen von feldbraunen Soldaten und blauen Matrosen, die Bürger mit ihren großrandigen Schirmmützen, die ihre Geschäfte in den Hafen führten. Russisch schlug an sein Ohr, das vokalreiche und doch rauhe Esthnisch, Schwedisch, das Englisch der an der Hafenbahn stehenden und den Diebstahl der angelsächsischen Heereslieferungen verhindernden britischen und amerikanischen Vertreter, unbekannte, im fernen Asien heimische Mundarten sibirischer und turkestanischer Soldaten. Nur diejenige Sprache fehlte, die diese Stadt selbst war, die ihre ehrwürdige Vergangenheit, ihr Geistesleben durch mehr als ein halbes Jahrtausend, ihren Besitz und ihre Bildung bezeichnete. Nirgends hörte man das markige Deutsch der Ostseeprovinzen mit seinem harten, rollenden R und seinem biegsamen Tonfall. Baron Waldemar von Kerkhuß sagte trotzdem ruhig auf deutsch zu dem Kaufherrn Scharpenberg, der am Kai stand:
»Allgemeine Unordnung, wie immer!«
Herr Scharpenberg, der Revaler Bürger aus altem Schwarzhäuptergeschlecht, hob warnend die Hand, schaute ängstlich umher und atmete auf. Um sie her waren nur breitknochige Mongolengesichter unter hohen Zipfelmützen aus Pelz, sibirische Scharfschützen, die nicht einmal den Klang irgendeiner europäischen Sprache kannten. Er flüsterte:
»Nehmen Sie sich in acht, Herr Baron! Man ist im Handumdrehen verschickt!«
»Paschport!« mahnte herantretend ein finsterer Riese von Gendarm. Waldemar Kerkhuß erledigte drinnen im Zollhof seine Paßangelegenheiten.
»Nicht einmal schmieren kann man diese Tiere mehr!« sagte er, wieder herauskommend, zu Herrn Scharpenberg. »Sie nehmen nichts! Können Sie sich das vorstellen: Man ist in Rußland, und es wird nichts jenommen!«
»Wenn Sie durchaus nach Sibirien wollen, dann reden Sie weiter Deutsch, Herr Baron!«
»Wirklich?«
»Um Gottes willen: jedes deutsche Wort ist verboten! Wir sind vogelfrei! Hier in den baltischen Provinzen und in ganz Rußland! Aus Petrograd und Moskau jehen jeden Tag die Eisenbahnzüge mit verhafteten Deutschen nach Sibirien, in Viehwagen, ohne warme Kleidung, fast so wie die Ochranja sie nachts aus den Betten holte, oft ohne Nahrung ... Frauen, Kinder, alte Herren ... viele sind schon unterwegs jestorben ... Die südrussischen deutschen Kolonisten werden zu Hunderttausenden von ihrer Scholle vertrieben. Es ist eine Schreckensherrschaft, wie sie nur bei uns möglich ist!«
»Nur bei uns? Ich komme aus der weiten Welt! Es jeht auf der janzen Welt so zu!« Waldemar Kerkhuß gab dem Revaler deutschen Patrizier die Hand. »Nun. Ich nehme mir jetzt einen Fuhrmann und fahre auf den Dom!«
Unterwegs sprang er, beim Garten der alten deutschen Canuti-Gilde, aus der wildrasselnden, kleinen einsitzigen Droschke. Er hatte auf dem Bürgersteig den Pastor Magnus seines eigenen Kirchspiels St. Jochens erkannt. Jetzt schaute auch schon er bei der Begrüßung sich vorsichtig um, ob niemand in der Nähe sei.
»Was treiben Sie in der Stadt, Pastor? Hier ist ja Dschinghiskhan los!«
Pastor Gotthard Magnus war ein großer, starker Mann aus einem alten, weitverzweigten, baltischen Literaten-Geschlecht. Er sah nicht aus, als ob er sich fürchtete. Er hatte noch im vorigen Winter einen Wolf, der sich ihm zwischen Pfarrhaus und Kirche in den Weg stellte, mit einem Knüppel verjagt.
»Ich war beim Stadthaupt, um mich für verhaftete Amtsbrüder zu verwenden!« sagte er. »Pastor Jürgens ist schon in Krasnojarsk, nahe am Nördlichen Eismeer! Pastor Wohlmann ist unterwegs! Pastor Linde, Pastor Wareß, ein Esthe, sind festgenommen ... Ich will jetzt mein Heil im Gouvernementspalast versuchen ...«
»Haben diese Vierfüßler in Moskau denn den Verstand einjebüßt?«
»Es ist wieder einmal Zeit, für seinen Jlauben zu zeugen, Herr Baron! Für alles, was sich zu unserem Herrn Martin Luther bekennt und nicht zu den vierzig Wundertätern der Lawra in Kiew! Uns Pastoren trifft es am schwersten. Ihr von der Ritterschaft fandet immer noch euer Fortkommen drinnen in Rußland, wenn man dort auch orthodox war. Wir Diener am Wort von Wittenberg sind von unseren drei kleinen protestantischen Ostseeprovinzen umschlossen ...«
»... und wir darin mit unseren Güttern! Ihr könnt schlimmstenfalls nach Deutschland auswandern! Ich erbe einmal, ich weiß nicht wieviel tausend Dessätinen Land ...«
»Jeben Sie acht: Ein Gorodowoi!«
Der Stadtsoldat bummelte langsam heran. Es war ein schmutziger, stumpfsinniger Kerl. Aber der Schrecken lag auch in seiner Erscheinung über dieser Stadt. Asien lag über dem verdüsterten, langbärtigen Gesicht des Pastors Magnus. Sie trennten sich stumm. Waldemar Kerkhuß fuhr weiter nach Reval hinein und steil durch den Torweg den Domberg empor.
Zu beiden Seiten der Straße standen die Häuser des deutschen Adels. Uralte, landgesessene Rittergeschlechter wohnten da, hatten von hier aus im Mittelalter sogar jahrelange Fehden mit den deutschen Bürgern unten in der Stadt geführt. An der Wand des Landtagssaals im Ritterhaus oben hingen in bunten Reihen ihre Wappen, nach dem Alter geordnet. Die Kerkhuß gehörten zu den vordersten. Waldemar Kerkhuß' erster Ahnherr hatte schon als verehelichter Mitbruder vom Schwertbrüderorden der Ritterschaft Christi in Livland vor siebenhundert Jahren den weißen Mantel mit rotem Schwert und Kreuz unter dem Hauptbanner der Jungfrau Maria getragen. Dänen, Schweden, Polen, Russen hatten die Baltenlande erobert. Aber die Sprache der alten baltischen Herrengeschlechter war bis zum Tag des Weltkriegs so deutsch geblieben, wie sie am Ausgang der Kreuzzüge war.
Schwerer Glockenklang dröhnte oben vom Domberg. Riesig und plump, mit ihren vergoldeten Byzantinerkuppeln wie ein Drache funkelnd, ragte auf der Fläche hoch über der Stadt, ein Wahrzeichen des Moskowitertums, die neuerbaute orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale und dahinter, eine zweite Hochburg Asiens, das Schloß des russischen Gouverneurs. Banner blähten sich auf seinen Dächern. Schwarz-gelb-weiße Fahnen hingen in den Straßen Revals. Es war heute morgen von der Polizei befohlen worden zu flaggen. Reuterdepeschen hatten aus London neue große Siege über die Deutschen gemeldet.
Waldemar Kerkhuß sah sich das finster an und läutete an einem der niederen Adelshäuser. Niemand öffnete. Er trat in den Torweg daneben und rief befehlsgewohnt: »Koiames!« Endlich erschien der Hauskerl. Flachsmähnig, fiachsbärtig, mit stumpfer, breitflügeliger Nase, und beugte sich zum Kuß über seine Hand. Er frug ihn auf esthnisch:
»Wo ist der Baron?«
Der alte Baron Kerkhuß und die Baronin waren draußen auf dem Lande, auf Schloß Kerreküll.
»Wie denn? Jetzt noch?«
»Seine Exzellenz ließen viel Holz schlagen, zum Heizen. Sie wollen dies Jahr nicht nach Reval kommen, sondern auf den Gütern bleiben!«
Waldemar Kerkhuß nickte, mit einem schwach spöttischen Zug im Gesicht. Das war ganz Papa, der alte, hochgestellte deutsch-russische Diener des Zaren, der Mann der leichten Hand, der in seiner Beamtenlaufbahn als Vertrauensmann der Petersburger Regierung so viele heikle Aufgaben in dem russischen Riesenreich erledigt hatte. Der Vielgewandte, mit Halbasien wie ein Tierbändiger Spielende, dem das Leben eine Kunst des Abwartens war. Er hatte sie, in seinen siebzig Jahren, nie ohne Erfolg geübt. Vielleicht ging das Unwetter auch diesmal vorüber ...
Das Haus auf dem Dom, vor dem Waldemar Kerkhuß nun stand, hatte keine Läden vor den Fenstern. Das Tor öffnete sich gleich. Ein geschmeidiger, älterer, glattrasierter Mensch erschien in ihm und verbeugte sich beim Anblick des jungen Barons tief.
»Ist mein Onkel daheim?«
Der Petersburger Kammerdiener mit dem Schauspielerkopf zuckte bei den deutschen Worten schmerzhaft zusammen und sagte flüsternd auf französisch:
»Bedauere! Herr Baron Butwengen befinden sich in Petrograd!«
»In Petersburg? Mit der Baronin?«
»Sehr wohl!«
»Seit wann?«
»Seit dem Kriegsausbruch!«
»Und auf wie lange?«
»Herr Baron schickten mich vorgestern aus Petrograd hier herüber, um noch einige Sachen zu holen. Seine Gnaden begeben sich in nächster Zeit im Auftrag der Kaiserlich Russischen Regierung nach Bukarest ...«
Er hat Chance ... Waldemar Kerkhuß war bei den Worten des Franzosen in seinen Gedanken selbst in das Französische verfallen. Derlei färbte ab. Es zog an einem von rechts und links. Es stritt um die Seelen. Und über allem, schwer wuchtend, barbarisch feindlich, in jeder seiner Einzelheiten von ihm verachtet und als Ganzes in seiner unerhörten Größe über zwei Erdteile und an fünf Meeren doch wieder Ehrfurcht einflößend, das unermeßliche Zarenreich ...
Bertil Butwengen in Petersburg ... Du hast wenigstens gewählt ... Du hast dich entschieden ... Im Gehen machte Baron Kerkhuß noch einmal halt und frug den Glattrasierten:
»Und Baron Oxberg ... der Pirküllsche Baron?«
Seine Exzellenz, der General von Oxberg, war bei der Petersburger Garde an der Front, in Ostpreußen ...
Und sein Neffe, Waldemar Kerkhuß, dachte sich, halb ärgerlich: Was frage ich da? Wo sollte Onkel Panluscha sonst sein? Er ist Soldat. Es ist schon der dritte Zar, dem er dient ... Natürlich muß er ihm auch im Krieg dienen ...
Er stieg wieder den Dom hinab. Unten, vor der Langstraße im Gedränge russischer Marineoffiziere und Matrosen, begegnete er bei dem Adelsklub dem alten Awesand. Baron Awesand besaß kein Haus in Reval. Er saß Sommer und Winter auf seinem Kartoffel- und Spritgut Laart. Ein Stiller im Lande, voll Herrnhuter Geistes, äußerlich mit seiner goldenen Brille und seinem weißen Bart einem Stubengelehrten ähnlich. Er trug einen schwarzen Flor um den Pelzärmel. Er drückte Waldemar Kerkhuß, dem Mitbruder, dankend die Hand, ehe jener noch dazu kam, ein Wort des Beileids auszusprechen.
»In der ersten Schlacht, bei Gumbinnen, ist mein Junge jefallen!« sagte er. »Die Preußen schießen gut! Mitten ins Herz! Achtzehn Jahre. Vor einem halben Jahr jing er noch hier mit seiner Mappe in Jymnasiastenuniform! Der Herr hat es jejeben – der Herr hat es jenommen ... Unser Jeschlecht jeht aus. Fünfhundert Jahre! Mit mir werdet ihr das Wappen zerbrechen ...«
Der alte Lutheraner schaute still und trübe vor sich hin.
»Jesellschaft hat der Junge jenug! Der junge Walrabe ist neben ihm tot jeblieben ... der aus dem Kirchspiel St. Jürgens ... Der Newenhofer und noch ein anderer ... Wolthusen ... der Jermasche Bockenförde hat zwei Söhne verloren ... Und wofür?«
»Ja – weißt du das?« Waldemar Kerkhuß sah dem älteren Mitbruder scharf in das gefurchte Gesicht. Der dämpfte noch mehr die Stimme.
»Bluten dürfen wir für die ›Echt russischen Leute‹ und den Antichrist im Heiligen Synod! Und was jeschieht inzwischen hier? Mayen ist schon in Sibirien jestorben ... Ein Mann in meinem Alter ... und im Viehwagen von seinem Gut nach Tobolsk ... Ob Dreilewen in Schlüsselburg oder wo sonst sitzt, ist nicht zu erfahren. Der Tschin in Petrograd schweigt sich aus. Brüggenoye ist wegen Deutschsprechens von der Straße weg verhaftet und abjeführt ... der Tapsküller Ehingen sitzt seit Monaten ... Lennar, Einhorn sind in Untersuchung ... das ist der Dank Rußlands ...«
»Sie werden uns vermissen, nach dem Krieg!« sagte der Jüngere hochmütig. Der alte Laartsche Baron seufzte. »Wie ist das mit uns nach dem Krieg? Was wird nach zwanzig Jahren vom Deutschtum in den Ostseeprovinzen noch übrig sein? So manche Jahrhunderte haben wir uns jehalten. Diesmal rottet uns der Moskowiter aus. Und die Deutschen können uns nicht helfen. Sie haben genug zu tun, sich selbst zu retten: Sie haben geschworen, ihr Vaterland zu verteidigen, und weiter nichts! Nun – ich jehe bald zu Gott ... Ich habe jenug gelebt ...«
»Was soll man also tun?«
»Nichts kann man dajejen tun als beten und hoffen!«
Ein trüber Blick des alten Awesand suchte den Osten, wo in der Ferne im Petersburger Winterpalais der gekrönte Schatten, Nikolaus der Zweite, das von ihm angestiftete Menschheitsgemetzel bei der Beschwörung anderer, spiritistischer Schatten vergaß. Waldemar Kerkhuß unterdrückte eine Anwandlung von Ungeduld.
»Mit der bloßen Erjebung kommen wir nicht weiter!« sagte er. »Dann jeht die Welle über uns weg. Wir müssen handeln!«
Waldemar Kerkhuß wandte sich wieder den Domberg hinab. Er hatte eben gesagt, er müsse handeln. Aber er schritt langsamer und langsamer und blieb schließlich unschlüssig stehen. Die struppigen Iswoschtschiks, die ihn von ihrem Halteplatz aus beobachteten, rasselten eilfertig über das holprige Steinpflaster heran. Er scheuchte sie mit einer unwirschen Kopfbewegung. Er machte wieder ein Paar Schritte. Hemmte endlich vor einem Hause den beim Gehen leicht nachhinkenden Fuß.
Es war ein Haus wie die andern umher. Herrschaftlich, trotz des niederen Oberstocks. Es fiel ihm auf, daß die Klingel verrostet war, an der er zog. Er hörte sie innen durch den Flur schrillen. Dann war alles still. Es pfiff kalt die steile Straße hinab. Er hatte sich die schwarze Lammfellmütze tief in die Stirne gedrückt und die Hände in die Taschen des Pelzes geschoben. Aus fest mit Läden verschlossenen Fenstern sah ihn das Haus, vor dem er stand, abweisend an. Er wartete und trat fröstelnd von einem Fuß auf den andern. Dann schellte er noch einmal. Nichts regte sich drinnen. Die Ungeduld erwachte in ihm. Er ging auf und ab. Kehrte zurück und stand vor der schweigenden Türe. Endlich entschloß er sich und klopfte mit der silbernen Krücke seines Spazierstocks dagegen. Laut. Zwei, dreimal hintereinander. Es kam kein Widerhall.
Waldemar Kerkhuß drehte sich um. Mißmut und Enttäuschung verfinsterten sein Gesicht. Ein Herr kam den Domberg herauf. Er erkannte den Rechtsanwalt Dr. Iwan von Eilard. Der Balte drüben machte erstaunt halt, reichte Waldemar Kerkhuß die Rechte und sagte durch das dröhnende Triumphläuten der orthodoxen Glocken:
»Eben erzählt man, Sie seien aus dem Ausland zurück! Nun – willkommen! Aber was wollen Sie hier an dem Metztakschen Hause?«
»Mein Gott, ich will Alexander Metztak und seiner Frau juten Tag sagen!«
»Wie ist das: Sie wissen nicht, daß Baron Metztak längst im Ausland ist?«
»Wie sollte ich wissen? Eben kam ich an!«
»Alle. Er, die Baronin. Die beiden Kinder. Schon acht Wochen vor der Kriegserklärung reiste er zur See nach Lübeck aus.«
»Nach Deutschland?«
»Nach Deutschland!« sagte der andere Balte leise und sah sich um.
»Der Kuilsche Metztak?«
»Wer anders? Der Elise Haseldorp zur Frau hat. Eben er.«
Dann brach Dr. von Eilard ab und räusperte sich, als wollte er einen Zusatz unterdrücken: Ihnen, Kerkhuß, brauche ich doch nicht erst von Elise Metztak zu sagen! Man denkt es sich doch, weswegen Sie vor einem Jahr den Entschluß faßten, auf unbestimmte Zeit hinaus nach Amerika zu gehen ...
Waldemar Kerkhuß verzog keine Miene. Er frug:
»Und Kuil?«
»Kuil und Ettel und sein drittes Gut hat er dieses Frühjahr schon, bei Bejinn der russischen Probemobilmachung, unter der Hand in aller Stille verkauft, dies Haus, vor dem wir stehen, auch, und das Jeld ins Ausland überschreiben lassen. Er muß sich das Ganze schon lange überlegt haben. Man behauptet, seine Frau sei es, die ihn dazu jedrängt und jetrieben habe!«
»Ich jlaube es wohl,« sagte Waldemar Kerkhuß ruhig.
»Es heißt, er sei schon deutscher Untertan jeworden!«
»Sein Jeschlecht kam aus Westfalen. Sechs Jahrhunderte hat es hier in Esthland jeblüht. Er verpflanzt es wieder nach Deutschland zurück. Er hat den jroßen Entschluß jefaßt.«
»Er ist nicht der einzige! Baron Erik Stier in Kurland ...«
»Man schrieb es mir. Er ist in Berlin!«
»... und Engelbert, sein Ältester, steht schon als Kriegsfreiwilliger jejen uns im Felde. Man hat ihn in Ostpreußen, bei der preußischen Armee jesehen.«
Waldemar Kerkhuß' Gedanken blieben bei dem Baron Alexander Metztak und seiner Frau. Er ging lautlos in seinen Gummigaloschen neben dem Rechtsanwalt her und frug:
»Jlauben Sie, daß die Metztaks schon wußten, daß der Krieg kam, oder schnitt ihnen der Krieg die Rückkehr ab?«
»Wer konnte wissen, wann der Krieg kam? Aber er lag in der Luft ... Wir alle fühlten ihn ja schon lange in den Knochen ... man hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, wer alles in Petrojrad daran arbeitete und alles vorbereitete. Nein – Alexander Metztak war sich klar darüber, was er tat! Das war ein entscheidender Schritt fürs Leben ... von vornherein ...«
»Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Oft. Denn ich besorgte das Jeschäftliche bei seinen Gutsverkäufen.«
»Und er wollte niemals wieder zurückkehren ... er und seine Frau?«
»Nein doch. Niemals. Aber nun erzählen Sie ... Sie kommen aus dem Ausland ... Wir leben hier in der ägyptischen Finsternis. Wer weiß denn, was geschieht? Unsere Zeitungen sind unterdrückt. Die Rejierung belügt uns. Ich brenne darauf, von Ihnen zu hören ...«
Waldemar Kerkhuß blieb stehen. Sie waren gerade vor dem Stadthaus seines eigenen Geschlechts angekommen. Die Haustüre stand jetzt offen. Drinnen kramte und räumte der Koiames und seine Frau.
»Sie müssen mich für heute entschuldigen!« sagte er schroff. »Die weite Reise jriff mich an. Ich habe das Bedürfnis nach etwas Ruhe. Ich werde mich in unser Haus zurückziehen und etwas rasten, bis mein Zug jeht.«
Innen in der weitläufigen Kerkhußschen Wohnung umfing ihn die alte, seit der Kindheit vertraute Luft des Elternhauses. Es war etwas Eigenes in ihr. Es war etwas von Staub darin, etwas von durch die Zeiten wurmstichigem und strohtrockenem Holz, etwas von einem Hauch altväterischer Tapeten, kostbarer, vermuffter Polstermöbel, etwas, durch das Hinterfenster der Treppe, von Pferdestall und groben Kitteln und Pelzen zahlreicher Hausdienerschaft. Weiße Überzüge bedeckten die Stühle und Kanapees der Empfangsräume. Der Kronleuchter in dem großen, ganz niederen, parkettierten Saal trug einen Schutz von Flor gegen die Fliegen. Die Vorhänge an den Fenstern waren abgenommen. Es war bitterkalt in den unbewohnten Räumen. Der Erbe des Hauses setzte sich im Rauchzimmer in einen Schaukelstuhl, in Pelz und Mütze, wie er war, und sah auf die Uhr.
»Geht noch um zwei Uhr der Zug?« frug er den Hauswächter.
»Er geht.«
Noch eine Stunde und mehr. Waldemar Kerkhuß starrte geistesabwesend vor sich hin. Er saß, ohne sich zu rühren. Dann hustete er. Der Qualm des rasch angezündeten Ofenfeuers ließ die Augen tränen.
»Lasse das!« sagte er zu dem Hauskerl. »Es wird doch nicht warm! Und höre auf, die Zimmer auszukramen! Dies alles ist unnütz!«
»Es wurde Tee gekocht. Soll ich bringen?«
»Ja. Gib Tee.«
Der ungeschlachte, flachsmähnige Esthe brachte den Tee, den seine Frau im Rückgebäude bereitet. Sein Gesicht mit dem struppigen Vollbart war breitknochig und fremdartig. Es war, als böte mit dem dampfenden Glas, das er in seinen schweren Fäusten hielt, der weite, der undeutsche Osten, die schon halb asiatische Unermeßlichkeit Rußlands dem Heimgekehrten den Willkommentrank. Waldemar Kerkhuß vergaß, wieder allein, zu trinken. Er sah durch den heißen Rauch des Tees, der sich in der kalten Stubenluft kräuselte, starr und noch halb ungläubig in die Weite. Tiefer Ernst, die Starrheit einer Überraschung änderte den kühlen Gleichmut seiner Züge in dieser stillen Stunde zu einer schmerzlichen Trauer. Dann hörte er draußen Stimmen. Die des Hausbesorgers und die einer alten Frau, die von der Straße hereingetreten sein mußte. Beide sprachen leise auf esthnisch.
»Man sagt, der Kerreküllsche Baron sei zurück?«
»Er ist da.«
»Der alte Baron oder der junge?«
»Der Sohn.«
»Der älteste Sohn?«
»Der älteste.«
»Der Baron Waldemar Kerkhuß?«
»Waldemar.«
»Ist er hier im Hause?«
»Nebenan.«
»Dann gib ihm diesen Brief. Aber ihm in die Hand!«
»Warte auf Antwort!«
»Da kann keine Antwort sein. Gib ihm den Brief. Ihm in die Hand. Sofort!«
Waldemar Kerkhuß drehte gleichgültig den Kopf nach dem eintretenden Esthen. Er dachte sich: Kaum ist man da, so kommen schon all diese Dinge ... Er nahm das Schreiben. Überflog die Aufschrift. Er erkannte die Schriftzüge, die fest und doch von der Zartheit einer Frauenhand waren. Der Schaukelstuhl wippte ungestüm leer auf und ab, so hastig war er von ihm aufgesprungen, an das Fenster getreten, verglich noch einmal, blickte ungeduldig zurück:
»Bist du noch da? ... Es ist gut ... Geh!«
Er war allein. Er öffnete langsam den Brief und las.
»Reval, den 14./28. Mai 1914.
Lieber Freund!
Das Schiff liegt im Hafen. Unser Gepäck ist schon dort. Morgen früh gehen Alexander und die Kinder und ich an Bord. Ich sitze noch tief in der Nacht und schreibe in der letzten Nacht in der alten Heimat die letzten Briefe an viele, die mir nahestanden, und den allerletzten jetzt an Sie. Abschicken kann ich ihn nicht. Ich weiß ja gar nicht, wo Sie sich zurzeit in Amerika aufhalten. Meine alte Amme zog diesen Winter aus Kuil in die Stadt zu ihrer Tochter, die hier an einen Fuhrmann verheiratet ist. Die Iswoschtschiks wissen es ja immer gleich, wenn jemand von der Ritterschaft auf dem Domberg ankommt oder abreist. Die Alte versprach mir in die Hand, Ihnen diesen Brief gleich nach Ihrer Rückkehr zu bringen. Er wird freilich so manchen Monat liegen und auf Sie warten.
Warum ich nicht warte, bis Sie wieder daheim sind, und Ihnen dann von Deutschland aus schreibe? Alexander erwartet Möglichkeiten, die vielleicht noch in diesem Jahr den Verkehr zwischen den Ländern sperren. Sie wissen, daß mein Mann vieles hört und manches denkt und mehr voraussieht als andere. Seit der Schnee schmolz, sind dies Frühjahr aus dem fernsten Osten die Truppen im Anmarsch. Hermann Wolthusen kam eben als Kurier aus Japan durch Sibirien. Er bestätigt es. Er sieht sehr schwarz.
Es gibt Zeiten, wo man um so klarere Augen haben muß, je schwärzer die Welt wird. So geht es mir. Ich kriege dann gerade neuen Mut. Ich glaube, es kommen solche Zeiten. Sie schütteln natürlich den Kopf. Sie und ich, wir haben in dem einen Jahr, seit wir uns kennen, über vieles gesprochen oder vielmehr gestritten – denn mit Ihnen kann man ja nur streiten –, Sie haben oft über meinen Idealismus gelächelt, der mich über vieles im Leben hinwegträgt und der mein bester Freund ist – trotz Ihnen! – und ich habe mich noch öfter über Ihren kühlen Gleichmut geärgert, mit dem Sie von Ihrer olympischen Höhe auf das Leben herabsahen. Geeinigt haben wir uns nie. Wir sind zu verschieden von Natur. Vielleicht ist das der Grund unserer Freundschaft.
Die vielen Jahre, während mein Mann und ich noch in Mitau wohnten, waren wir Deutschland noch näher. In Kurland weht doch eine andere, westlichere Luft. Erst als Alexanders Vater starb und wir vor Jahr und Tag nach Esthland auf die Güter zogen, wurde es uns eigentlich ganz klar, daß wir in der babylonischen Gefangenschaft lebten. Wir Deutschen alle in Rußland. Seitdem es in Rußland ein Verbrechen ist, deutsch zu sein.
Ich weiß, Sie empfinden das auch, daß wir in diesem Reich gleichzeitig bevorrechtet und ausgestoßen sind. Aber Sie hüllen sich dagegen wie unsere Vorfahren in den Panzer, in die Unnahbarkeit von Name und Besitz, der Sie und die meisten von uns es scheinbar verschmerzen läßt, daß wir kein Vaterland haben. Ich als Frau kann das nicht. Ich empfinde zu lebhaft und unmittelbar. Ich will das um mich haben, was ich bin. Ich will, daß meine Kinder ein Vaterland haben.
Es war nicht leicht, Alexander zu dem Entschlusse zu bringen, nach Deutschland überzusiedeln. Sie kennen ihn. Sie wissen: Er sieht so unendlich viel. Zu viel. Darum liegt bei ihm so oft zu viel zwischen dem Sehen und dem Handeln. Zehnmal schon sagte er spät abends nach langen Gesprächen Ja und widerrief es am nächsten Tag. Aber ich gab nicht nach. Nun ist es entschieden. Morgen um diese Zeit sind wir schon unterwegs auf der Ostsee nach der neuen Heimat, in deutsche Luft und deutsche Freiheit.
Glauben Sie nicht, daß ich leichten Herzens mich von der alten Heimat trenne! Ich lasse vieles hier zurück, woran mein Herz immer hängen wird. Ich sage lieben Menschen Lebewohl, von denen ich weiß, daß ich sie wohl nie im Leben wiedersehen werde. Aber ich bin guten Muts. Ich habe es gewollt. Ich trage die Verantwortung für mich und eigentlich auch für meinen Mann. Ich habe die freudige Zuversicht und die innere Stimme, die man haben muß, wann diese Welt einem etwas sein und sagen soll.
Sie werden das auch noch einmal begreifen lernen. Ich sehe jetzt, wenn Sie das lesen, Ihr Gesicht vor mir, wie so oft, wann wir uns stritten, ich mit meinem heißen Herzen, und Sie mit Ihrem kühlen Kopf. Nennen Sie mich nur eine Idealistin! Ich nehme das Wort gern an. Darum sage ich heut in diesen Briefen vielen Lebewohl, Ihnen aber nicht, sondern auf Wiedersehn! In Deutschland! Ich habe die innige Zuversicht: Schließlich wird es auch Sie noch nach Deutschland hinüberziehen. Halb sind Sie ja schon mit Ihrer Seele dort. Ich werde Ihnen aus Deutschland rufen, oder Deutschland wird aus mir nach Ihnen rufen – das ist ein Überschwang, ich weiß es – in unserem kühlen Land. Hier oben sind wir ja vor allem Verstandesmenschen. Wir haben oft zu viel Verstand. Aber mit dem Verstand allein ist es auch nicht getan. Bei mir wenigstens nicht. Ich bin nun einmal aus der Art geschlagen. Ich muß stürmisch erfassen und lieben, was ich begreifen soll. Ich glaube, wir werden alle noch einmal lernen müssen, feuchte Augen zu bekommen und einen heiligen Schauer und Herzklopfen vor etwas Großem. Sie auch.
So steht heute die Zukunft vor mir. Alexander kommt eben herein. Er ist sehr weich. Er hat noch lange für sich gebetet. Er fragt, ob ich nicht endlich schlafen gehen will. Ich habe ihm gesagt, daß ich eben an Sie schreibe. Er läßt Sie herzlich grüßen. Das tue auch ich. Will's Gott, so sehen wir beide Sie in Deutschland wieder.´
Ihre Freundin Elise Metztak.«
Waldemar Kerkhuß wandte den Brief um und las ihn ein zweites und ein drittes Mal. Dann steckte er ihn langsam in die Brusttasche und stand eine Zeit, ohne sich zu rühren. Sein Gesicht war tief ernst. Endlich kam er aus seinen Gedanken zu sich und griff, noch halb geistesabwesend, nach der Uhr. Es war hohe Zeit, den Zug zu erreichen. Er trat vor das Haus, winkte den wie rasend von der Straßenecke heranrasselnden Kutschern und setzte sich in den ersten Wagen. Und während er noch, das eine Bein halb aus dem winzigen Fuhrwerk heraushängen lassend, dem Pelzbündel von Iswoschtschik auf dem Vordersitz durch leichte Berührung des rechten oder linken Oberarms mit seinem Stock die Richtung nach dem Bahnhof wies, war er mit seiner Seele in der Ferne.
Du meine Heimat ... der schwere Brandungsschlag der Ostsee klang in feierlichem, gleichmäßigem Rollen an Waldemar Kerkhuß' Ohren und an sein unruhiges Herz, dies Wiegenlied des grauen Meeres, das schon den Knaben in den Schlaf gesungen, dieser Sang der Schwermut, der zu der tiefen Einsamkeit dieses Landes gehörte. Du meine Heimat, seit Jahr und Tag nicht geschaut, in fremden Städten, unter fremden Menschen halb vergessen – du äußerstes Thule, du letzter deutscher Strand, in Deutschland selbst so unbekannt, so weltenfern in deiner Weltabgeschiedenheit ... Waldemar Kerkhuß vernahm durch das Brausen des Windes den klagenden Schrei der Möwen unter sich, das dumpfe Rollen der Wagenräder und hatte das plötzliche, beruhigte Herrengefühl der Heimkehr: diese Einsamkeit hier ist mein. Dieser Boden da unten bin ich. Diese karge, steinige Erde gehört schon seit einer Stunde Wegs zu der Herrschaft Kerreküll und zu meinem Geschlecht.
Er hatte sich, nach seiner Art, den Dingen ihren Lauf zu lassen, nicht erst angemeldet und auf der kleinen hölzernen Station, inmitten des Waldes, in dem er den Zug verließ, den ersten besten Esthen anspannen heißen. Die drei zottigen Bauerngäule trotteten dahin, ein scharfer, bitterer Herdrauch stieg aus dem im Schafpelz gekrümmten Rücken des Undeutschen auf dem Bock. Der Baron Kerkhuß verscheuchte den Dunst durch das bläuliche Wehen der Papyrossen und ließ, unter der schwarzen Lammfellmütze, die seinen blonden Schopf deckte, die großen blauen Augen mit dem Gleichmut des Besitzenden über das esthnische Land schweifen, über dies stille Gewimmel weißer Birkenstämme, die unabsehbar unter dem niederen, grauen Himmel in den schwarzen Wasserlachen der Sümpfe standen.
Es war ein Frieden für den, der von draußen wieder in das Reich seiner Väter kam. Die donnernde, blutende, stöhnende Wirklichkeit der Zeit schien wie ein Traum. Hier war alles so, wie es gestern und wie es vor Jahrhunderten gewesen. Selbst der große Bauernaufruhr vor zehn Jahren hatte äußerlich keine Spuren mehr hinterlassen. Wie immer dehnten sich die weiten Weidesteppen, säumten die niederen Steinmauern den Weg, zwischen denen man jetzt im Winter nicht wie sonst alle Augenblicke jemanden aus dem Wagen steigen lassen mußte, um ein Viehgatter zu öffnen, lagen die großen Findlingsblöcke aus schwedischem Granit inmitten der verschneiten Felder. Leichte Flocken stäubten hernieder. Waldemar Kerkhuß wickelte sich fester in seinen Pelz. Der Wagen fuhr jetzt dicht am Meer. Hart neben dem Weg stürzte sich der Glint, die esthnische Küstenmauer, senkrecht hinunter in die Tiefe. Eisschollen lagen da am Strande und trieben weißlich auf dem weißen Gischt der Wellen, der um die Klippen strudelte. Weiter hinaus war die See bleifarben, grau wie die kalte Luft, grau wie die fliegenden Wolken an dem niederen Himmel, grau wie das ganze Esthland, die nördlichste, die kleinste, die fernste der drei baltischen Provinzen.
Dann richtete sich Waldemar Kerkhuß in dem klapperigen Fuhrwerk auf und schirmte die Augen gegen das Schneegestöber mit der Hand. Auf windumpfiffenem, möwenumflattertem Hügel hart am Meer hob sich das Gespenst einer Kirche. Die kahlen Mauern, die längst kein Dach mehr trugen, schienen in dem Sturm zu schwanken, der durch die offenen Spitzbogenfenster brauste, und standen doch so schon seit Hunderten von Jahren. Iwan der Schreckliche hatte bereits das Gotteshaus St. Annen mit seinen Moskowiterhorden eingeäschert. Die drei dampfenden Pferdchen schwenkten ein. Plötzlich verlor sich der eisige Salzhauch der See. Der Wagen rollte zwischen einer Doppelreihe alter Ulmen einem mächtigen Gebäudeklotz zu, der ganz hinten im Park, rings von stillen, dunklen Seespiegeln umschlossen, auftauchte. Er hatte die zahlreichen kleinen Fensterreihen eines alten Klosters, aber ein kriegerischer, mächtiger Wehrturm säumte rechts die vielstöckige Wasserburg ein. Die Kerkhuß hatten sich den einstigen Mönchssitz ritterlich ausgebaut. Ställe und Höfe, Brauerei und Brennerei der riesigen Herrschaft lagen weit entfernt, dem Blick entzogen, jenseits der Wasserflächen. Der Esthe trieb seine Gäule über die Brücke und hielt vor dem Schloßeingang.
Ein junger russischer Offizier stand auf der Freitreppe. Er war blaß. In der einen Hand trug er ein Jagdgewehr. Der linke Arm lag in einer Schlinge. Waldemar Kerkhuß stieg aus. Die Brüder küßten sich.
»Robin! Du hier?«
»Wie denn nicht? Du siehst ja...«
»Du bist verwundet.«
Hier, in der esthnischen Einsamkeit, sprachen sie laut Deutsch. Der Petersburger Gardekavallerist warf seine Zigarette in den Schnee.
»Viel blieb von unseren Kürassieren in Ostpreußen nicht übrig!« sagte er. »Die Deutschen sind fixe Kerle. Sie verstehen ihr Handwerk.«
»Und was machst du hier?«
»Was soll ich tun?... Ich wollte auf die Jagd jehn ... Ich versuche mit meiner Hand zu schießen...«
»Sind Elche da?«
»Es sind da. Man sah einen starken Schaufler, unten am Moor. Man kann nicht hin. Es sollte Kälte jeben, daß die Sümpfe frieren.«
»Bären?«
»Der alte Wiffenhausen will einen Bären haben. Er lud mich ein. Es ist noch zu früh. Man wird sehen!«
»Auch Wölfe?«
»Wölfe jenug! Sie bellen die janze Nacht in der Heide. Mama klagte jestern. Niemand wußte, daß du kommst! Die Eltern schlafen!«
»Was ist mit den Brüdern?«
»Was soll sein? Michael ist in Kronstadt. Da liegen sie mit der Flotte. Man hat es da näher nach Petrograd als gegen die Deutschen. Axel ist in Wladiwostok! Nun... zahle den Kerl und tritt ein!«
Mächtige Elchschaufeln spreizten sich, gleich aufgereckten gelbbraunen Riesenhänden, an der Wand der Schloßhalle zu beiden Seiten des acht Fuß hohen, hundertfach im bunten Gewimmel der Wappen auf vergilbtem Pergament verästelten Stammbaums, der Ahnenreihe der Kerkhuß, von dem Tage ab, da der Meister der »Swert Brudern« dem Theodoricus miles de Kukenoys den Ordensmantel mit einer Schnur um den Hals befestigt: »dis Schwert entfange von miner Handt, zu schützen Gotts- und Marienlandt!« – Durch die Zeiten der ersten Schlacht von Tannenberg bis jetzt zur zweiten, an die Robin von Kerkhuß, der Kavallerist, unwillig dachte, während er den verwundeten Arm prüfend in der Schlinge wiegte.
»Jräßlich ist die Langeweile hier!« sagte er. »In acht Tagen jehe ich zur Truppe! Ich kann die Zügel in der rechten Hand halten!«
»Erbarme dich! Womit willst du den Säbel führen?«
»Wozu ein Säbel? Ich kann auch so mitreiten. Man wird mich als Galopin verwenden!«
»Warum eilst du so?«
»... weil ich nicht zu spät kommen möchte! Haseldorp hatte noch, ehe er fiel, mit Manuchin jewettet, daß wir spätestens zu Weihnachten alten Stils in Königsberg sein werden! Es jab ja Mißjeschick... jewiß doch... aber jetzt zieht der Großfürst hinter Sievers' Truppen eine neue Einfallarmee zusammen. Drei Millionen haben wir in Polen jejen Schlesien... Was willst du?«
Auf den hübschen Zügen des Barons Robin lag der Hochmut der auserlesenen Petersburger Gardetruppe zu Pferd, in der neben jungen Großfürsten des Kaiserhauses und den Sprossen altrussischer Fürstengeschlechter auch baltischer Adel diente. Seit Menschenaltern gedient hatte. Viele der Ahnenbilder an den Wänden trugen russische Uniform. Waldemar Kerkhuß faßte die gesunde Hand des Bruders mit einem rauhen Griff und zog ihn vor den Stammbaum.
»Ist das nicht eine Narrheit, Robin?« sagte er. »Hier, von den ersten Vorfahren da oben, von uns und Ode Oberdieck und Anna von Bekkerwerde bis heute, sind da nur deutsche Namen! Und du jaloppierst mit den Asiaten jejen Deutschland?«
»Wie denn? Ich bin Offizier. Man befahl es. Ich tue meine Pflicht!«
»Das mußt du. Aber was denkst du dir dabei?«
»... daß ich das tue, was wir immer taten! Wir haben immer jedient. Unser Ururjroßvater war Feldmarschall unter der alten Katharina.«
Was die Ahnen getan hatten, war wohlgetan. Die Ahnen lebten in diesen Räumen. Sie gaben den Seienden Maß und Sinn des Seins. Der junge russische Offizier nutzte seinen Vorteil.
»Dich wird man auch holen!« sagte er lässig. »Vorige Woche erst haben die örtlichen Behörden nach dir jefragt!«
»Mein Knie ist lahm. Das weiß man!«
»Man kann auch auf einem Bein stehen. Irgendwie wird man dich schon verwenden. Wer jetzt nicht mitmacht, ist auf Lebenszeit unmöglich jeworden ... Willst du hier sitzen und mit Maman und der dwatschen Muhme Whist spielen, während wir kämpfen?«
Waldemar Kerkhuß fühlte sich von hinten umschlungen und rasch rechts und links auf die Wangen geküßt. Sein Vater, der Majoratsherr Konstantin von Kerkhuß, war, die hohe und schlanke Gestalt trotz seiner siebzig Jahre noch elastisch aufgerichtet, unhörbar mit dem leichten und wiegenden Gang des alten Weltmanns die teppichbelegten Treppenstufen hinabgeeilt. Seine langen grauen, parfümierten Favoris, die mit ausrasiertem Kinn das längliche, lebhafte Gesicht mit den großen grauen Augen umrahmten, umwehten den Sohn. Ein ganz feiner Duft der Vornehmheit, von Kölnischwasser, von edelsten Zigaretten, ging von ihm aus. Er nahm den Kopf des Jüngeren zwischen seine langen, weißen, gepflegten Hände und betrachtete ihn lächelnd.
»So hat dich Gott zurückjebracht!« sagte er. »Komm zu Mama und dann hinauf zu mir!«
Baron Konstantin Kerkhuß' Arbeitskabinett lag in dem großen Turm. Helle Fenster waren, wie um der Gegenwart Licht und Luft hereinzulassen, in die sechs Schuh dicken Wehrmauern gebrochen. Auf dem mächtigen Diplomatenschreibtisch dahinter standen die mit slawischen Namenszügen versehenen Photographien der drei Zaren, denen der alte baltische Aristokrat in wichtigen Sendungen und Ämtern, in Petersburg und Tiflis, in Irkutsk und Samarkand gedient hatte. Erinnerungen daran, tscherkessisches Silbergerät, sartische Teppiche, sibirische Mammutschnitzereien füllten das Zimmer. Unzählige Papyrossenstummel deckten das mächtige Bärenfell am Boden.
»Beliebe, Platz zu nehmen!« sagte Baron Konstantin. Er hatte eine leichte und vornehme Höflichkeit gegen seinen Sohn wie gegen alle Menschen oder was er als Menschen ansah. Russische Muschiks und Hebräer fielen allerdings nicht mehr ganz darunter. Er schob einen Stoß aufgeschnittener deutscher, französischer, englischer, russischer Broschüren beiseite und strich sich leise seufzend die langen Favoris. Er sah einen Augenblick alt aus.
»Was wird nun mit dir?«