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Alena tut alles, um Julius den Rücken für sein Studium freizuhalten: Sie verdingt sich als Klagefrau und muss dennoch erleben, wie ihr Mann mit Spott und Häme übergossen wird. Damit nicht genug, mehren sich die Anzeichen für Julius' Untreue. Tief verletzt zieht Alena sich zurück. Julius wiederum ist ebenso verzweifelt, denn in dem Hospiz, wo er als angehender Arzt arbeitet, sterben mehrere Patienten unter mysteriösen Umständen. Warum kann er die Kranken nicht retten? Und was hat es mit dem Kommilitonen Heinrich auf sich, der eigentlich Henrietta heißt und sich unsterblich in ihn verliebt? Im Mahlstrom aus Liebe und Hass, Treue und Intrige droht Alena unterzugehen…
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Wolf Serno
Das Lied der Klagefrau
Roman
Knaur e-books
Für mein Rudel:
Mickey, Sumo, Eddi und Olli
Und für Fiedler und Buschmann,
die schon auf der anderen Seite
der Straße gehen
So spricht der Herr Zebaoth:
Schaffet und bestellet Klageweiber, dass sie kommen,
und schicket nach denen, die es wohl können.
Jeremia 9,17
JULIUS ABRAHAM (vormals KLINGENTHAL)
Puppenspieler und Medizinstudent
ALENA
Klagefrau; Abrahams Ehefrau
LISTIG, PAUSBACK
Balsamträger
ULRICH*
Logis-Commissionair für Studenten
CATHARINA E. VONNEGUT
Zimmerwirtin
FRANZ MYLIUS
Philosophiestudent
HENRIETTA (HEINRICH) VON ZARENTHIN
heimliche Medizinstudentin
AUGUST GOTTLIEB RICHTER*
Professor für Medizin und Chirurgie
REINHARDT VON ZWICKOW
Medizinstudent und Pommeraner
LUDWIG HASSELBRINCK*
Krankenwärter in »Richters Hospital«
WARNERS
Zinngießer; Patient in »Richters Hospital«
FLESSNER, PENTZLIN, BURCK, GOTTWALD
Bergleute aus Bad Grund
GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG*
Professor für Mathematik und Experimentalphysik
JOHANN HEINRICH MYLIUS
Patrizier; Vater von Franz
TOBIAS FOCKELE
Secrétaire der Universität
JUSTUS FRIEDRICH RUNDE*
Prorektor der Göttinger Universität
CHRISTIAN GOTTLOB HEYNE*,AUGUST L. VON SCHLÖZER*, JOHANN STEPHAN PÜTTER*, ABRAHAM GOTTHELF KAESTNER*,GOTTLIEB CHRISTIAN SCHILDENFELD
Professoren der Göttinger Universität
ARMINIUS PESUS VULGO HERMANNUS TATZEL
ehemaliger Professor der Chirurgie
Die mit einem * gekennzeichneten Personen haben tatsächlich gelebt.
Es war an einem jener bitterkalten Morgen zu Beginn des Jahres 1786. Die Nacht war sternenklar gewesen, im ersten Licht des Tages schälten sich langsam die Konturen eines hohen Bauwerks heraus. Es war ein Turm, der da Gestalt annahm, ein steinerner Überrest, von dem manch einer behauptete, sein Alter betrage über achthundert Jahre und deshalb sei er nutzlos und überflüssig. Doch das stimmte nicht. Denn wer genau hinsah, erkannte, dass sein Mauerwerk noch immer festgefügt war und dass er viele weitere Jahrhunderte auf seinem Hügel aus Muschelkalk stehen würde.
Die weiße Farbe des Muschelkalks inmitten der dunkleren Landschaft erinnerte an die Blesse auf der Stirn eines Pferds, weshalb die Burg, deren Mittelpunkt der Turm bildete, Burg Plesse genannt wurde. Der Turm diente als Bergfried, er hatte den Herrschaften derer von Plesse oftmals in Zeiten höchster Not Zuflucht und Schutz geboten, denn sein Eingangstor befand sich in über dreißig Fuß Höhe. Niemand, der nicht willkommen war, hatte ihn betreten können, und wer sich ihm in feindlicher Absicht näherte, wurde mit einem Hagel von Pfeilen begrüßt und mit flüssigem Pech übergossen.
Von der Burg und ihren weitläufigen Befestigungen war im Jahr 1786 schon vieles durch Witterung und Winde eingeebnet worden, und die Bewohner aus den umliegenden Dörfern hatten ein Übriges getan, indem sie die Burganlagen als Steinbruch benutzten.
Doch der Turm stand unerschütterlich da, auch wenn der Zahn der Zeit selbst an ihm nicht ganz spurlos vorübergegangen war. Hoch oben, siebzig Fuß über dem Hügelgrund, waren Teile seiner Mauer herausgebrochen, und aus einer der dadurch entstandenen Lücken wuchsen zwei Lindenbäume in den Himmel empor. Ihre Wurzeln mussten viele Ellen tief in den Turm hinabreichen, vielleicht sogar so tief, dass sie Halt in dem verschütteten Brunnen fanden.
Der untere Teil des Turms jedoch war völlig unversehrt. Er bestand aus gewaltigen behauenen Steinen, die Unverrückbarkeit, Wehrhaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Diese Eigenschaften mochten auch der Grund dafür sein, warum an seinem Fuß eine seltsame Reisegruppe übernachtet hatte. Sie bestand aus einem Bauchredner und seiner Gefährtin, dazu aus sieben lebensgroßen Puppen, die abseits auf einem Karren Platz gefunden hatten. Der Name des Bauchredners lautete Julius Klingenthal.
Klingenthal war kein junger Mann mehr, denn im Frühsommer sollte er seinen fünfzigsten Geburtstag begehen. Gleichwohl galt er als einer der besten Ventriloquisten seiner Zeit. Die Menschen in Stadt und Land nannten ihn »Puppenkönig«, was er als große Auszeichnung empfand.
Seine Gefährtin hieß Alena. Sie war eine ehemalige Novizin vom Kölner Karmel Maria vom Frieden, die sich ihr tägliches Brot als Klagefrau verdiente. Alena war bedeutend jünger als Klingenthal, erst fünfundzwanzig Jahre alt, was ihrer Liebe zu ihm aber nicht im Wege stand. Wer sie ansah, sah zunächst nur ihre Augen. Sie hatte außergewöhnliche Augen, die in der Lage waren, alle Gefühle und Gedanken, deren ein Mensch fähig ist, auszudrücken. Sie waren schwarz wie Ebenholz und konnten lachen und weinen, lieben und hassen, streiten und schlichten, anklagen und verzeihen, je nachdem, wie ihrer Besitzerin zumute war. Nase und Mund dagegen waren weniger außergewöhnlich, doch durchaus wohlgeraten: die Nase war fein und gerade, der Mund weich und geschwungen. Alenas Figur war filigran, sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper, hübsche runde Schultern und lange schwarze Haare, die sie aus praktischen Gründen zu einem Dutt verknotet hatte. Alles in allem wirkte sie sehr zerbrechlich – was sie in Wirklichkeit nicht war. »Klingenthal«, sagte sie, denn sie nannte ihren Geliebten meistens beim Nachnamen, »bist du schon wach?«
»Nein«, sagte Klingenthal.
Alena lachte leise und strich ihm über die Wange. »Natürlich bist du wach, sonst würdest du mir ja nicht antworten. Oder willst du etwa behaupten, du redest im Schlaf?«
»Ja, das will ich.« Klingenthal schob seinen Arm unter Alenas Taille und zog sie auf sich. Als sie über ihm lag, ihr Gesicht ganz nahe dem seinen, sagte er: »Ich habe gerade geträumt, wir wären verheiratet. Es war ein schöner Traum, also lass mich weiterschlafen.«
»Ach, Klingenthal.« In Alenas Augen trat Trauer. »Wenn das mit dem Heiraten so einfach wäre. Du bist Jude, und ich bin Katholikin, wie soll das gehen?«
»Das hast du mich schon oft gefragt, und immer habe ich dir dieselbe Antwort gegeben: Es wird sich finden.« Er küsste sie sanft auf die Nase. »Es muss sich finden. Denn nur als Ehepaar können wir während meines Studiums in Göttingen zusammenbleiben.«
»Du und dein Studium.« Alena drehte den Kopf zur Seite. »Ich habe ja nichts dagegen, dass du es noch einmal versuchen willst, ein Doktor der Medizin zu werden, aber sind das nicht Luftschlösser, die du da baust?«
Klingenthal schüttelte ernst den Kopf. »Wir waren uns einig, dass wir heiraten wollen und ich danach studiere. Dafür habe ich in den letzten Monaten jeden Pfennig und jeden Guten Groschen beiseitegelegt. Du weißt, wie wichtig mir das Studium ist. Ich werde nicht jünger.«
»Du wirst der älteste Student sein, der jemals in Göttingen Vorlesungen hörte.«
»Nirgendwo steht geschrieben, dass man mit Ende vierzig nicht studieren darf.«
»Und ebenso steht nirgendwo geschrieben, dass man mit Ende vierzig noch studieren muss.«
»Doch, ich muss es. Du weißt, warum.«
Alena seufzte. Natürlich wusste sie es. Klingenthal hatte es ihr oft genug gesagt. Er stammte aus ehrbarer Familie, sein Vater, Abraham Klingenthal, war Pfandleiher in der Elbestadt Tangermünde gewesen und hatte mit Judith, seiner Frau, eine überaus harmonische Ehe geführt. Aus der Verbindung waren sieben Kinder hervorgegangen, von denen alle eine große Liebe zur Musik entwickelten. Einzig Klingenthal war aus der Art geschlagen. Er hatte sich von Kindesbeinen an der Medizin verschrieben. So war es nur folgerichtig gewesen, dass er als junger Mann an die Universität Göttingen ging, um eine Ausbildung als Arzt zu beginnen. Das Unglück wollte es, dass er dem Professor Hermannus Tatzel bei einer Tumor-Operation assistierte, die tödlich ausging. Dem berühmten Lehrer war das Skalpell ausgerutscht, der Patient verblutete, und Klingenthal wurde dafür verantwortlich gemacht. Es hatte ihm nichts genützt, dass er wieder und wieder seine Unschuld beteuerte, denn das Wort des Professors stand gegen das seine – das Wort eines hochgeachteten Ordinarius gegen das eines kleinen Branders, wie man die Studenten im zweiten Semester nannte. Klingenthal hatte die Universität verlassen müssen, verbittert bis ins Herz, und sich daraufhin in vielen Berufen versucht. Schließlich hatte er die Kunst des Bauchredens für sich entdeckt. Seitdem zog er mit seinen Puppen durch die Lande. Über ein Jahr lag es zurück, dass er Alena von seiner Absicht erzählt hatte, das Studium neu zu beginnen. Gewissermaßen aus einer späten Trotzreaktion, wie er sagte, aber auch, weil er der endlosen Tippelei auf den Chausseen überdrüssig war.
Klingenthal strich Alena über das vom Schlaf zerzauste Haar. »Wir schaffen es schon. Irgendwie schaffen wir es schon. Wir müssen nur daran glauben.«
»Ja, Klingenthal.« Alena klang nicht sehr überzeugt. Sie küsste ihn auf den Mund und spürte seine kratzenden Bartstoppeln. »Mir ist kalt.«
»Ich wärme dich.« Er umfing sie noch stärker und drückte seinen Unterleib gegen ihren.
Sie kicherte. »So stark musst du mich nun auch wieder nicht wärmen.«
»Oh, doch. Unser altes Armeezelt hält doch kaum den Frost ab.«
»Am besten, ich stehe jetzt auf. Das Feuer draußen hat bestimmt keine Glut mehr.«
»Das Feuer vielleicht nicht, aber ich.«
»Alles zu seiner Zeit, Julius Klingenthal!« Energisch löste sich Alena aus seiner Umarmung und erhob sich halb, denn das alte preußische Infanteriezelt maß kaum fünf Fuß in der Höhe. »Ich werde mich mal nach trockenem Geäst umsehen. Ob Glut oder nicht, Feuerung brauchen wir in jedem Fall.«
Er grinste und versuchte, nach ihr zu greifen, doch Alena war schneller. Sie öffnete den Zelteingang einen Spaltbreit und stieß einen Laut des Entzückens aus. »Oh, wie wunderschön! Die ganze Umgebung ist mit Rauhreif bedeckt! Es sieht aus, als hätte der liebe Gott Zucker über die Landschaft gestreut.«
»Scheint die Sonne?«, fragte Klingenthal, der weniger gefühlvoll veranlagt war.
»Sie ist eben aufgegangen! Kein Wölkchen steht am Himmel, ein herrlicher Tag.«
»Dann werden wir heute die vier oder fünf Meilen nach Göttingen leicht schaffen.« Klingenthal ließ sich zurücksinken. »Wenn du schon nach Brennholz Ausschau hältst, Liebste, dann sieh auch gleich nach meinen Puppen. Ich hoffe, sie hatten eine erholsame Nacht.«
Alena nickte und schlüpfte mit einer anmutigen Bewegung aus dem Zelt. Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick schweifen. Von dem Hügel, auf dem der alte Turm stand, hatte man eine herrliche Aussicht. »Wie wunderschön!«, rief sie abermals, wobei sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Gesicht bildeten. Dann wandte sie sich dem Karren zu, einem stabilen, zweirädrigen Wagen, auf dem neben den Puppen auch Klingenthals und ihre Habe verstaut war. Ein Pferd gab es nicht. Klingenthal legte sich grundsätzlich selbst ins Geschirr und steuerte mit festen Schritten das nächste Ziel an – mochte es auch noch so weit entfernt sein. Diese Art der Fortbewegung hatte ihn gestählt. Anders als die meisten Männer seines Alters hatte er kein Gramm Fett am Körper, er verfügte über einen breiten Brustkorb, kräftige Oberarme und muskulöse Schenkel. Sein Gesicht hatte durch die vielen Jahre auf der Straße eine gesunde, immerwährende Bräune angenommen, die ihn jünger aussehen ließ, als er war.
Alena trat auf den Karren zu und schlug die Plane zurück. Ja, die Puppen waren vollzählig. Sie saßen da in ihrer typischen Haltung und in genau festgeschriebener Ordnung. Diese Ordnung war wichtig, wie Klingenthal wiederholt betont hatte, denn jede Puppe besaß nicht nur eine eigene Stimme, sondern auch einen eigenen Charakter, der sich nicht unbedingt mit dem der anderen vertrug.
Auf der Rückbank in der Mitte saß Friedrich der Große, eine Figur von ganz besonderem Reiz: knorrig, knurrig, krumm. Friedrich trug einen abgewetzten, mit Niesspuren übersäten Uniformrock, auf dem der Schwarze-Adler-Orden glänzte, dazu einen Dreispitz mit weißer Generalsfeder. Seine Froschaugen über der langen Nase blickten neugierig und grimmig zugleich, während sich seine gichtigen Hände um einen dünnen Spazierstock, ein sogenanntes spanisches Röhrchen, spannten.
Flankiert wurde der Alte Fritz, der eine scharfe Zunge führte und die Frauen verachtete, vom Schultheiß, der ein ausgleichendes Wesen besaß und zum Zeichen seiner Würde eine schwere goldene Amtskette trug, sowie von einem im Harnisch steckenden Söldner, der mit Friedrichs derber Sprache spielend mithalten konnte.
Das Burgfräulein, eine ältliche Jungfer mit blasiertem Blick, Spitzhut und einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, war möglichst weit entfernt von Friedrich plaziert worden, nämlich ganz vorn links, wodurch sie mehr oder weniger außer Reichweite seiner Beleidigungen war. Der Rest der Puppenschar verteilte sich auf dem Wagen. Er bestand aus dem Schiffer, der ähnlich wie der Söldner kein Kind von Traurigkeit war und die Dinge gern beim Namen nannte, dem Landmann, der eine Forke in der Faust hielt und, ganz gegen seine Profession, gerne und lange schlief, und nicht zuletzt der Magd. Sie war ein liebes, blondes Ding, das einen Kittel aus verblasstem Blautuch anhatte und eine gestärkte weiße Haube trug.
Alena nahm die Plane vollends ab und faltete sie zusammen. Dann schreckte sie auf, denn Friedrich der Große blaffte sie von hinten an: »Hat Sie nichts Besseres zu tun? Accellerire Sie Ihre Arbeit, ich will Frühstück!«
Alena schaute zum Zelt. Wie sie vermutet hatte, zeigte sich in der Öffnung der grinsende Klingenthal. Sie wollte ihm etwas Passendes antworten, doch plötzlich erwachten auch die anderen Puppen zum Leben. Sie sprachen, scherzten, fluchten jede auf ihre Art, und wie immer war Klingenthal dabei nicht die geringste Lippenbewegung anzusehen. Er hatte ihr einmal erklärt, dass ein guter Bauchredner bei der Ausübung seiner Kunst keinen Gesichtsmuskel verziehen dürfe, ein sehr guter Bauchredner es darüber hinaus verstünde, die Worte zu lenken, als kämen sie aus einem ganz bestimmten Mund, ein Meisterbauchredner aber die Worte mit individueller Stimme lenke und forme, ebenso wie er in der Lage sei, sämtliche Geräusche dieser Welt zu imitieren.
»Jawoll, Frühstück!«, brüllte der Söldner. »Antreten zum Essenfassen! Was gibt’s denn, Kameraden?«
Der Schiffer rief: »Qualle, Seetang, Heringsblut …« – »Mon Dieu, wie ordinär«, unterbrach das Burgfräulein – »… füllen Seemannsmägen gut!« Der Schiffer lachte und setzte gleich noch einen drauf: »Auf, auf, ihr müden Leiber, die Pier steht voller nackter Weiber!«
Das Burgfräulein schnappte nach Luft. »Impertinent, impertinent.«
»Silentium, alte Dörrpflaume!«, schnauzte Friedrich.
»Aber, aber, Majestät.« Der Schultheiß versuchte, die Wogen zu glätten. »Höflichkeit ist die Tugend der Könige, und dem wollen wir doch Genüge tun. Ich für meinen Teil hätte gegen eine gute Bouillon mit eingeschnittenem Weißbrot nichts einzuwenden, dazu vielleicht einen Kaffee mit Kardamom.«
Die Magd pflichtete ihm bei: »O ja, Kaffee! Aber heiß müsste er sein, direkt aus einer Kanne mit Kohlebecken.«
»Papperlapapp!« Schon wieder meckerte Friedrich. »Ihr solltet froh sein, wenn ihr Gänsewein kriegt. Den habe ich im Siebenjährigen Krieg auch immer getrunken.«
»Gänsewein, was für Gänsewein?« Der Landmann gähnte, er war gerade erst wach geworden.
»Gänsewein ist Wasser, du Döskopp.«
»Ach ja, richtig«, brummte der Landmann, »ach ja, richtig.«
Und während die Puppen all das sagten, lächelte Klingenthal scheinheilig, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Alena schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht lassen, Klingenthal, aber eines sage ich dir: Damit verblüffst du mich nicht mehr. Erteile deinen Puppen Sprechverbot, sonst kümmere ich mich nicht um das Feuer – und Frühstück gibt es dann schon gar nicht.«
»Verzeih mir, Liebste«, sagte Klingenthal mit seiner eigenen Stimme und tat zerknirscht.
»Und rasiere dich mal. Du hast dich seit drei Tagen nicht rasiert, siehst ja aus wie ein Kaktus.«
»Jawohl, Liebste.«
Alena wandte sich um und ging hangabwärts, passierte die Öffnung in der Mauer, die den Fuß der Bergkuppe stützte, und strebte dem nahen Wald zu. Es hatte vor ein paar Tagen in der Gegend kräftig gestürmt, weshalb sie hoffte, eine Menge herabgefallener Zweige zu finden. Der Wald war groß, aber jetzt im Winter wirkte er licht, denn die Bäume waren kahl, und das Laub lag in dichten Haufen auf dem Boden. Es ging sich gut auf dem federnden Waldboden, angenehmer als auf den vielen Chausseen, die das Land durchzogen. Über ein Jahr waren Klingenthal und sie unterwegs gewesen, seit sie am Heiligen Abend 1784 Potsdam verlassen mussten. Klingenthal war der Stadt verwiesen worden, weil er der Obrigkeit verschwiegen hatte, dass er Jude war. Alena rümpfte die Nase. Das angeblich so liberale Preußen war wie alle anderen Länder: voller Vorurteile. Immerhin hatte Klingenthal in den vergangenen Monaten mit seinen Darbietungen gut verdient, sehr gut sogar. Sie musste es wissen, denn nach jeder Stegreifvorstellung, die er gegeben hatte, war sie mit dem Hut herumgegangen und hatte beobachtet, wie so mancher Pfennig und so manches Vier-Groschen-Stück hineinfielen. Ein paarmal war es sogar vorgekommen, dass sich ein besonders spendabler Zuschauer von einem Mariengulden trennte. So hatte sich im Laufe der Zeit Taler für Taler angesammelt, und Klingenthal machte sich Hoffnung, dass seine Barschaft, die hauptsächlich aus landeseigener Cassen-Münze bestand, fürs Erste zum Studium reichen möge.
Alena hielt inne, denn vor ihr erstreckte sich ein besonders hoher Laubhaufen. Sie fragte sich, ob sie ihn besser umgehen solle, entschloss sich aber dann, die Richtung beizubehalten. Die Kuppe des Hügels lockte, dort lag viel heruntergefallenes, totes Geäst.
Sie ging weiter und merkte, dass sie mit jedem Schritt tiefer einsank. Es raschelte und knisterte, aber sie war sicher, es würde sich lohnen. Sie würde ein schönes Feuer entfachen und ein schönes Frühstück zubereiten, während Klingenthal schon das Zelt abbaute und die Sachen zusammenpackte. Sie würde …
Und dann dachte Alena überhaupt nicht mehr daran, was sie alles machen würde, denn etwas wurde mit ihr gemacht: Irgendjemand packte sie an den Füßen und riss sie zu Boden. Es ging so schnell, dass ihr der Schreckensruf im Hals stecken blieb. Sie fiel der Länge nach hin, Laub wirbelte auf, und zwischen den herabfallenden Blättern erschien das Gesicht eines blonden Jünglings. Der Kerl musterte sie argwöhnisch. Dann aber, als er sah, dass von Alena keine Gefahr ausging, griente er über das ganze Gesicht. Mit heller Stimme rief er: »Gott zum Gruße, Gevatterin! Wohin des Wegs vor Tau und Tag?«
»W… woher kommst du denn so plötzlich?«, stotterte Alena.
»Ich lag gerade in Morpheus’ Armen, schöne Unbekannte.« Der Jüngling richtete sich halb auf und klopfte sich das Blattwerk von der Jacke. »Ich nächtigte im Bett des Waldes, wenn du das besser verstehst.«
Alena fand langsam ihre Sicherheit wieder, denn auch sie spürte, dass von ihrem Gegenüber keine Bedrohung ausging. »Wie kommst du dazu, eine wehrlose Frau zu überfallen?«
»Wie kommst du dazu, einen wehrlosen Schläfer mit Füßen zu treten?«
Alena musste lachen. Der Blonde schien nicht auf den Mund gefallen zu sein. Sie streckte die Hand aus, damit er ihr aufhelfe, aber er machte keinerlei Anstalten dazu. Er grinste sie nur fortwährend an. Alenas Augen tadelten ihn. »Ein Kavalier scheinst du nicht gerade zu sein.«
»Vielleicht bin ich einer, der’s gern wär, aber nicht sein kann.«
»Du sprichst in Rätseln.« Alena stand allein auf und schickte sich an weiterzugehen.
»Ich würd dir gern helfen, Gott ist mein Zeuge. Aber ich kann es nicht, Gott sei’s geklagt.« Jetzt grinste der Jüngling nicht mehr. Immer noch sitzend, stützte er sich mit den Armen nach hinten ab und hob langsam seine ausgestreckten Beine. Alena sah, dass er keine Füße hatte. Sie schluckte und sah noch einmal hin. Dann keimte ein Gedanke in ihr auf. »Sag mir deinen Namen.«
»Wenn ich ihn dir nenn, wirst du nicht glauben, dass es ein Name ist.«
»Vielleicht doch.«
»Ich bin Listig.«
Für eine Weile sagte Alena nichts. Sie betrachtete den spargeldünnen Jüngling und musste an die Erzählungen von Klingenthal denken, der oftmals von zwei ungewöhnlichen Freunden berichtet hatte. Der eine hieß Listig – genau so, wie der Jüngling hier vorgab zu heißen –, der andere Pausback. Beide waren ein Gespann, das sich trefflich ergänzte, denn Listig war ein heller Kopf, und Pausback war ein wenig schlicht. Er trug Listig stets auf seinen Schultern, und Listig schützte Pausback vor Betrügern, die ihn beim Verkauf seiner Balsame, Tinkturen und Pflaster übers Ohr hauen wollten. Alena beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, und sagte: »Mag sein, dass du listig bist, aber ich glaube nicht, dass du Listig heißt.«
»Dacht ich mir’s doch. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Weil der Listig, von dem ich gehört habe, niemals allein daherkommt.«
»Was du nicht sagst.« Der blonde Jüngling zog die Brauen hoch. »Und wer sagt dir, dass ich allein bin?«
»Nun … bist du etwa nicht der Einzige hier?«
Statt einer Antwort krabbelte der Blonde geräuschvoll durchs Laub und stieß an einer bestimmten Stelle den Arm bis zur Schulter hinab ins Blattwerk. »Holla, du Sohn des Enak, werde wach und richte dich auf!« Eine Weile verging, während der Jüngling mehrfach die Prozedur wiederholte. Endlich hörte man ein Brummen. Es war so tief, als käme es aus der Kehle eines Bären. Alena trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Jüngling lachte. »Keine Bange, das war nur Pausback. Er braucht morgens immer ein wenig länger, um sich der Unbill des Tages zu stellen.«
»Pausback …«, wiederholte Alena und schüttelte halb ungläubig, halb verwundert den Kopf. Ihre Vermutung war also richtig gewesen. Das Leben hielt manchmal Zufälle bereit, die niemand glauben konnte, bis er sie mit eigenen Augen sah.
»Ganz recht, so heißt der Mann! Erschrick nicht, wenn du ihn gleich siehst.«
Trotz Listigs Warnung stockte Alena wenig später der Atem, denn vor ihr aus dem Laub wuchs ein Mann empor, der sich als wahrer Riese entpuppte. Niemals zuvor hatte sie einen Menschen von solcher Körperlänge gesehen. Zwar hatte Klingenthal ihr von Pausbacks ungewöhnlichen Ausmaßen erzählt, aber dass er so groß war, hatte sie nicht für möglich gehalten.
»Darf ich vorstellen, das ist Pausback Schüppling!«, rief Listig.
Alenas Augen lächelten. Sie sah in das gutmütige, rosigrunde Gesicht des Riesen und stellte fest, dass er seinen Namen zu Recht trug. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Pausback. Einen guten Morgen wünsch ich dir, und einen wunderschönen Tag.«
Der Riese schnaufte, trat von einem Bein aufs andere und schaute auf seine Hände.
»Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
Der Riese lief rot an, fast so rot wie die Weste, die zu der besonderen Tracht der Balsamträger gehörte – ebenso wie der braune Rock, die ledernen Kniebundhosen und die weißen Gamaschen über den derben Schuhen. Noch immer brachte er keinen Ton heraus. Alenas weiblicher Instinkt regte sich. Er verriet ihr, dass der Riese schüchtern war, sehr schüchtern sogar. Sie wollte ihm helfen und sagte deshalb: »Nun, Pausback, du brauchst nicht zu sprechen, wenn du nicht magst. Vielleicht bist du noch müde. Ich habe dich hoffentlich nicht gestört?«
»Hmja. Doch, ja.«
Endlich eine Antwort! Allerdings nicht im erhofften Sinne. Alenas Augen verdunkelten sich. »Tut mir leid, das wollte ich nicht.«
Jetzt mischte sich Listig ein: »Hör mal, Gevatterin, du bist zu schnell fertig mit der Rede. Pausback braucht immer Zeit für eine Antwort, und wenn er eben ›Ja‹ gesagt hat, dann bezog sich das auf deine erste Frage, ob er gut geschlafen habe.«
»Oh, das wusste ich nicht.«
»Dann weißt du es jetzt. Und wo wir gerad von dir sprechen: Du sagtest vorhin, der Listig, den du kennen würdest, trät nie allein auf. Wer bist du, dass du mich kennen willst?«
»Ich habe von dir und Pausback gehört.«
»Das haben viele.« In Listigs Stimme schwang Stolz mit. »Unser Ruf eilt uns voraus.«
»Schüpplings Olitäten haben beste Qualitäten«, brummte Pausback und schnaufte erleichtert. Er hatte im Angesicht dieser atemberaubend hübschen jungen Frau seinen ersten Satz herausgebracht.
Alena beschloss, mit ihrem Namen nicht mehr hinter dem Berg zu halten. Sie war gespannt, ob Listig, der Gewitzte, damit etwas anfangen konnte. »Ich heiße Alena.«
»Soso. Aha. Wenn Namen Schall und Rauch sind, dann handelt es sich hier um einen besonders schönen Schall und einen besonders schönen Rauch!« Listig griente, zeigte ansonsten aber kein Erkennen. Er deutete auf eine Stelle im Laub, und Alena sah mit Staunen, dass Pausback dort ein mächtiges hölzernes Tragegestell hervorzog. Der Riese stellte es aufrecht hin, ergriff seinen Gefährten, als wäre dieser ein Spielzeug, setzte ihn in das Gestell und nahm es auf die Schultern. Listig schien das Spaß zu machen, er verkündete aus luftiger Höhe: »Ich bin Pausbacks Kopf, und Pausback leiht mir seine Füße. Zusammen sind wir eins, Gevatterin Alena!« Dann hielt er inne, kräuselte die Stirn und wiederholte nachdenklich: »Alena, Alena? Da fällt mir etwas ein! Anderthalb Jahre ist’s wohl her, dass mein Freund Klingenthal diesen Namen erwähnte. Er tat es mit großer Traurigkeit, weil er die dazugehörige Maid sehr vermisste. Im Thüringischen war’s, und er sagte, er hätt gehört, besagte Maid sei auf dem Weg nach Potsdam, und er müsse deshalb sofort dahin. Ich hätt gern noch ein Schwätzchen mit ihm gehalten, über dies und das und jenes, aber er war nicht zu bremsen. Noch in derselben Stunde zog er los. Sag, Gevatterin, du bist nicht zufällig diese Alena?«
»Genau die bin ich.« Alenas Augen leuchteten.
»Beim Barte meiner Mutter …« Eines der wenigen Male, bei denen Listig die Worte fehlten, war eingetreten. »Dann … dann weißt du womöglich auch, wo Klingenthal sich im Augenblick rumtreibt?«
»Ja, das weiß ich. Keine fünfhundert Schritt von hier.«
Jetzt verschlug es Listig endgültig die Sprache, sein Mund klappte tonlos auf und zu, und seltsamerweise war es Pausback, der ihm schließlich aushalf: »Klingenthal, hmja, Klingenthal. Ich mag ihn.«
»Es geht ihm gut«, sagte Alena. »Er will mit mir nach Göttingen, um dort Medizin zu studieren. Aber er macht sich Sorgen wegen seines Alters.«
»Das freut mich«, brummte Pausback. »Das freut mich.«
Listig riss die Unterhaltung wieder an sich. »Ja, worauf warten wir dann noch!«, rief er. »Nichts wie hin zu Klingenthal, meinem alten Freund und Kupferstecher! Los, Pausback, zieh den Arzneiwagen aus dem Laub!«
Pausback gehorchte, und alsbald kam ein Gefährt zum Vorschein, dessen Aufbauten aus vielen Schubladen bestanden. In den Fächern befanden sich die unterschiedlichsten Medikamente mit den seltsamsten Aufschriften: Drusenpulver, Engel-Balsam, Thüringer Cholera-Tropfen, Schwarzburger Theriak, Eisenkrauttinktur, Holzteer, Schlafmohn-Essenz und viele mehr. Der Riese nahm einige Kalbfelle und deckte damit sorgfältig die Schubladen ab. Alena fielen die Puppen ein, die ebenfalls stets vor Wind und Wetter geschützt werden mussten, und erschrak. Klingenthal hatte die Weiterreise für den Vormittag geplant, gewiss wartete er schon. »Bevor wir gehen, muss ich noch trockenes Holz fürs Feuer sammeln!«, rief sie.
»Trockenes Holz fürs Feuer?« Listig beugte sich aus dem Reff herab. »Eher werden Raben weiß, als dass du Holz sammeln musst, liebe Alena. Ich bin einer der letzten lebenden Kavaliere und nehm dir die Arbeit gern ab.«
Alena fragte sich, wie Listig das ohne Füße anstellen wollte, aber sie musste nicht lange auf die Antwort warten, denn Pausback bückte sich und bündelte dank der gewaltigen Spannweite seiner Arme im Nu eine große Menge Holz. Er packte das Eingesammelte auf den Wagen, verzurrte es und schnaufte. »Hm, hm, Alena, Raben werden nicht weiß. Sie werden’s nicht, glaub mir.«
»Danke, Pausback.« Alena setzte ihr schönstes Lächeln auf, obwohl sie es unpassend fand, dass der Riese etwas einhielt, was Listig versprochen hatte. Dann fiel ihr ein, dass die beiden ja eins waren.
»Hm, hm.« Pausback errötete schon wieder.
Alena tat, als bemerke sie es nicht. »Am besten, ihr folgt mir.«
Keine fünf Minuten später erreichten sie den Turm und blickten sich um. Das Lager der Nacht war verschwunden. Niemand war zu sehen – niemand außer den Puppen auf dem Karren.
Wo war Klingenthal? Alena rief ein paarmal laut seinen Namen. Er schien verschwunden.
»Mir scheint, liebe Alena, dein Gefährte hat vor deiner Schönheit Reißaus genommen!«, rief Listig und lachte.
»Absurdité! Was lacht Er so stupid?« Es war Friedrich, die Puppe, die plötzlich sprach. »Was ist Er überhaupt für ein Hänfling? Nehme Er sich an seinem Träger ein Beispiel, den hätte mein Vater, der Soldatenkönig, Gott hab ihn selig, mit Plaisir zu den langen Kerls gesteckt!«
Der Söldner hieb in dieselbe Kerbe: »Ja, was ist das überhaupt für ein Hänfling? Den sollte man mal Spießruten laufen lassen!«
»Oder ersäufen!«, brüllte der Schiffer. »Oder kielholen! Oder an den Mast nageln!«
»Infam!«, empörte sich das Burgfräulein. »Was ist das für eine Begrüßung! Mon Dieu, wie infam!«
»Aber, aber«, beschwichtigte der Schultheiß. »Wir wollen doch gastlich sein.«
Die Magd pflichtete ihm bei: »Es ist immerhin Besuch.«
Der Landmann gähnte. »Besuch? Wo? Wer?«
»Der Dünnmann, der da oben im Mastkorb sitzt«, erklärte der Schiffer.
»Ja, ein Dünnmann ist er«, bestätigte der Landmann.
»Vielleicht will er dicker werden?«, fragte der Söldner.
»An der Lippe vielleicht«, schlug der Schiffer vor.
»Ja, an der Lippe!«, krähte Friedrich.
»Zu Befehl, Fritz!«, rief der Söldner. »Ich mach sie ihm so dick, dass drei Hühner drauf sitzen können.«
»Gnade, Gnade, Gnade!«, rief Listig in gespielter Verzweiflung. »Hört auf, ihr Puppen!« Er hatte die Lage längst durchschaut und wusste, dass Klingenthal sich irgendwo verborgen hielt, um ihn und Pausback auf seine Art zu begrüßen. »Hör mal, Alter Fritz, wo hast du denn deinen Meister gelassen?«
»Hier!« Klingenthal tauchte mit freudiger Miene hinter einem Busch auf und kam mit schnellen Schritten heran. »Willkommen auf Burg Plesse, ihr zwei! Ich sehe, ihr habt euch mit Alena schon bekannt gemacht.«
»Haben wir, haben wir. Ich muss sagen, Julius, ich kann jetzt verstehen, warum du es damals so eilig hattest, nach Potsdam zu kommen, um dieser jungen Dame hinterherzulaufen. Wenn du dazu irgendwann mal keine Lust mehr haben solltest, sag nur Bescheid. Dann lauf ich für dich weiter.« Listig beugte sich vor und sprach in Pausbacks Ohr: »Nicht wahr, du mein braves Gehwerkzeug?«
Pausback antwortete nicht. Er starrte verlegen Löcher in die Luft.
»Nicht wahr, du mein braves Gehwerkzeug?«
»Hm, hm.«
Alena rettete die Situation, indem sie sagte: »Ich mache erst einmal Feuer, damit wir etwas zu essen bekommen.«
»Essen, sagtest du essen?« Listig klang begeistert. »Was gibt’s denn?«
»Nun …« Alena zögerte. »Offen gesagt, waren Klingenthal und ich nicht auf Gäste eingestellt. Es wird wohl ein sehr einfaches Mahl werden.«
»Das macht nichts. Wie pflege ich immer zu sagen: Hunger macht rohe Bohnen süß.«
Alena lächelte. »Wenn ihr statt Bohnen mit einer Rübensuppe vorliebnehmen würdet, wäre mir schon sehr geholfen.«
»Rübensuppe ist mein Leibgericht! Ich liebe Rübensuppe!«
»Es gibt außerdem Eier und eine halbe Göttinger Mettwurst.«
»Das ist nicht viel für uns alle, aber für mich wird es grad reichen.«
»Hm, hm.« Pausback schnaufte. »Haben selbst auch was dabei. Kartoffeln vom Bauern haben wir und Zwiebeln auch.«
Listig schlug sich an den Kopf. »Natürlich, Pausback! Gerade wollt ich’s sagen, da kommst du mir zuvor. Wenn wir alles zusammentun, mag noch der eine oder andere außer mir essen.«
Klingenthal trat vor, stellte sich auf die Zehenspitzen und hob Listig mit einiger Mühe aus dem Reff. Listig nutzte die Gelegenheit und drückte Klingenthal ungeniert einen Kuss auf die Stirn. »Alena scheint einen glättenden Einfluss auf deine Falten auszuüben, lieber Freund, du siehst jünger aus denn je!«
»Und du bist noch immer frech wie Fliegen und mit dem Mund vorneweg«, erwiderte Klingenthal fröhlich. Er setzte Listig vorsichtig neben der Feuerstelle ab. »Sag, wie ist es euch ergangen?«
Listig schielte auf die Flämmchen, die sich unter Alenas kundiger Hand rasch zu einem Feuer entwickelten, dazu auf das Dreibein, das den Topf mit der Suppe hielt, und sagte: »Da gibt’s nicht viel zu berichten. Ein Tag ist wie der andere. Die Menschen werden immer gesünder, Gott sei’s geklagt, keiner scheint Balsame zu brauchen. Im Winter, wenn’s kalt ist, nicht, und im Sommer, wenn’s warm ist, auch nicht. Niemandem läuft eine Laus über die Leber, niemandem kommt die Galle hoch, niemandem geht was an die Nieren. Und von Oberweißbach in Thüringen bis nach Hamburg an der Elbe sind’s tausend mal tausend Meilen. So kommt’s einem jedenfalls vor, wenn der Strich, den man geht, Jahr für Jahr derselbe ist. Nicht wahr, Pausback, du Sohn des Enak?«
»Hmja.« Pausback schnaufte. »In Hamburg waren wir, in der Schwan-Apotheke waren wir.«
»Ich weiß, wie es ist, wenn die Straßen nicht enden wollen«, sagte Klingenthal.
»Haben in der Apotheke Otho-Balsam gegen Ohrensausen verkauft«, brummte Pausback.
Klingenthal nickte, ging zu seinem Karren und holte Geschirr und Besteck und weitere Utensilien hervor. Alles war schon für den Abmarsch verstaut, aber nun wurde es wieder gebraucht. Er gab Alena eine große Majolika-Schüssel für die Suppe und teilte anschließend Löffel aus. Als er sah, dass Pausback etwas verloren herumstand, sagte er freundlich: »Komm, Pausback, setz dich zu uns. Du magst doch Rübensuppe? Oder sollen wir dir lieber ein paar Kartoffeln im Feuer rösten?«
»Hm, hm. Ja.« Pausbacks Blick ging hilfesuchend zu Listig. Klingenthal hatte vergessen, dass »Oder-Fragen« für den Riesen zu kompliziert waren.
Während Pausback sich im Gras niederließ, sagte Listig: »Gebt ihm, was ihr wollt, aber nicht zu viel. Er isst nur wie ein Vögelchen.« Was ausnahmsweise stimmte. So groß der Riese war, so klein war sein Appetit. Angesichts der geringen Mengen, die er aß, fragte sich jeder, wie sein Körper jemals solche Dimensionen hatte erreichen können.
»Die Suppe braucht nicht mehr lange«, sagte Alena und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen.
»Nanu, liebe Alena, warum weinst du denn?«, erkundigte sich Listig.
Alena schniefte. »Ich weine nicht.«
»Vielleicht weinst du nicht, aber es rinnt Wasser aus deinen Augen.«
»Das sind nur eure Zwiebeln. Ich habe sie geschält und in die Suppe getan.«
Listig strahlte. »Rübenzwiebelsuppe! Welch lukullischer Genuss! Julius, du bist ein Glückspilz, hast eine Gefährtin, die kochen kann. Du solltest sie heiraten.«
»Das will ich auch«, rutschte es Klingenthal heraus.
»Wie bitte, höre ich recht?«
»Er will es, aber es geht nicht«, sagte Alena, die von der Suppe probierte.
Sie schien zufrieden, denn sie füllte das Ergebnis ihrer Bemühungen in die Schüssel.
»Ei, warum soll das nicht gehen?«
Alena stellte die dampfende Schüssel auf eine Decke im Gras. »Die Suppe ist nichts Besonderes, aber ich habe noch die Wurst hineingeschnitten und ein paar Eier hineingerührt. Nun ist sie schön dick.«
»Und wird mir zweifellos munden, liebe Alena! Warum soll das nicht gehen?«
»Du meinst die Heirat mit Klingenthal?«
»Die meine ich.«
In Alenas Augen trat Trauer. »Der Glaube steht zwischen uns. Ich bin Katholikin, und Klingenthal ist Jude.«
Listig, gerade im Begriff, als Erster seinen Löffel in die Suppe zu tauchen, hielt inne. »Was, du bist Jude, Julius? Das wusste ich ja gar nicht.«
Klingenthal verzog das Gesicht. Es war ihm nicht angenehm, dass die Unterhaltung diese Entwicklung genommen hatte. »Es gibt Dinge, mit denen ich nicht unbedingt hausieren gehe. Aber es stimmt. Ja, ich bin Jude.«
Listig nahm erst einmal ein paar Löffel Suppe, stieß dezent auf – immerhin war er in Gesellschaft einer Dame – und sagte: »Dann wirst du eben Katholik.«
»Das kommt nicht in Frage. Ich halte es mit der Kaschrut zwar nicht so genau, und meine Gebete verrichte ich auch nicht gerade regelmäßig, aber schon immer waren alle Mitglieder meiner Familie jüdisch, und ich werde da keine Ausnahme machen. Aber vielleicht würde Alena ja konvertieren?«
»Kann ich ’ne Kartoffel?«, fragte Pausback.
»Noch nicht«, sagte Alena, nachdem sie eine aus dem Feuer geholt und geprüft hatte. »Die Dinger sind noch nicht gar.«
Listig schien das nicht zu scheren. Er biss in einen der Erdäpfel und sagte zu Alena: »Würdest du denn Jüdin werden?«
»Das möchte ich auf keinen Fall. Ich liebe meinen Glauben. Ich käme mir wie eine Verräterin vor, wenn ich ihn aufgeben würde. Warum kann Klingenthal es nicht tun?«
»Sapperment, ihr seid aber hartnäckig! Was machen wir denn da?« Listig zog die Stirn in Falten. »Ich hab’s: Wenn der eine nicht will, was der andere will, und der andere nicht will, was der eine will, dann müssen eben beide etwas wollen, das sie nicht wollen.«
»Was soll das denn heißen?« Klingenthal schüttelte unmutig den Kopf, und auch Alena blickte skeptisch.
Listig strahlte. »Ihr werdet beide protestantisch!«
»Unsinn!«, sagte Klingenthal.
»Nein!«, sagte Alena.
»Kann ich ’ne Kartoffel?«, fragte Pausback.
Keiner ging auf den Riesen ein. Stattdessen sagte Listig: »Dann liebst du Alena also nicht, Julius?«
»Natürlich liebe ich sie.«
Listig wandte sich an Alena: »Aber du liebst Julius nicht, oder?«
»Doch, selbstverständlich! Wie kannst du so etwas nur sagen!« Alenas Augen schossen Blitze.
Listig griente. »Dann müsst ihr eben weiter in Sünde leben. Aber ich sage euch: Der liebe Gott ist so groß, dass ihm die unterschiedlichen Bekenntnisse schnurzegal sind. Er würd es euch nicht übelnehmen, wenn ihr den Glauben wechselt, denn wo ihr auch hinkommt, er ist schon da.«
»Kann ich ’ne Kartoffel?«, fragte Pausback.
Alena gab ihm eine.
Klingenthal steckte seinen Löffel weg. Er hatte keinen Hunger mehr. Die Gedanken drehten sich in seinem Hirn wie in einem Karussell. Es dauerte eine Zeitlang, bis er sie wieder unter Kontrolle hatte. Dann räusperte er sich. »Wie ich bereits sagte, Listig: Du bist frech wie Fliegen und immer mit dem Mund vorneweg, aber in diesem Fall …«
»Was ist in diesem Fall?«
»Nun, in diesem Fall hast du vielleicht recht.«
»Jetzt nimmst du Vernunft an!«
»Eine Vernunft, die mir nichts nützt. Und Alena auch nicht, sollte sie dir ebenfalls recht geben.«
»Wie meinst du das, mein Freund?«
»Selbst wenn Alena und ich protestantisch werden wollten, dürfte es keinen Pfarrer auf dieser Welt geben, der uns so mir nichts, dir nichts dazu erklärt.«
Listig griente. »Wer redet denn von einem Pfarrer? Was ihr braucht, ist ein Fleppenfackler.«
»Was soll das denn nun wieder heißen?«
»Ein Fleppenfackler ist ein Fälscher. Das Wort kommt von ›Flepp‹ wie Pass und ›Fackeln‹ wie Schreiben. Der Fälscher macht euch die schönsten neuen Papiere – schwuppdiwupp. Und schon seid ihr gleichen Glaubens. Und verheiratet obendrein.«
Klingenthal holte seinen Löffel wieder hervor und aß mechanisch weiter. »An diese Möglichkeit habe ich noch nicht gedacht. Ich habe mir immer wieder den Kopf zerbrochen, ohne dass mir eine Lösung für unser Problem eingefallen wäre, und nun kommst du daher, und alles ist ganz einfach. Aber ist es das wirklich? Falsche Papiere sind ungesetzlich, und ich möchte den Bund der Ehe nicht mit einer Betrügerei beginnen.«
»Was ist heutzutage schon gesetzlich, mein Freund.«
»Andererseits«, überlegte Klingenthal, »hätten gefälschte Papiere einen zusätzlichen Vorteil. Sie würden mir aus einer Klemme helfen, für die ich bislang ebenfalls keine Lösung hatte. Immer wieder habe ich gegrübelt, wie ich es vermeiden könnte, mich unter meinem Namen in Göttingen zu immatrikulieren, denn der Name Klingenthal ist mit einem schweren Makel behaftet.«
»Einem Makel?«
Klingenthal erzählte ausführlich von dem Professor Hermannus Tatzel, dessen missglückter Operation und dem Unrecht, das ihm seinerzeit an der Georgia-Augusta-Universität widerfahren war. Listig hörte wie gebannt zu. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Nichts erinnerte in diesem Augenblick an den Luftikus, der er sonst so gern war.
Klingenthal fuhr fort: »Mit falschen Papieren aufzutreten ist ein verlockender Gedanke. Vieles könnte dadurch einfacher werden. Aber ich will und kann nicht allein entscheiden, ob dies der richtige Weg ist. Was meinst du dazu, Liebste?«
Alena sagte nichts. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit dem Feuer, obwohl das gar nicht nötig war, und schob Pausback ein halbes Dutzend dampfende Kartoffeln hin.
»Liebste?«
Alena seufzte. »Du stellst schwere Fragen, Klingenthal. Aber in diesem Fall habe ich das Gefühl, es kann kein Unrecht sein, wenn man etwas tut, das ein früher erlittenes Unrecht wiedergutmacht.«
Listig rief: »Es wäre eine Art Notwehr, mehr nicht!«
Klingenthals Gesichtszüge entspannten sich. »Heißt das, du …?«
»Ja.« Alenas Augen lächelten. »Ich heirate dich und behalte meinen Gott, und du heiratest mich und behältst deinen Gott, denn beide sind identisch – egal, wie die Herren Religionsführer ihn nennen. Der Eine, der Große, der Allmächtige ist unteilbar.«
»Fehlt nur noch ein Nachname für euch beide«, meinte der praktisch denkende Listig. »Dann kannst du bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag studieren, Klingenthal, ohne dass jemand etwas von deiner Vergangenheit ahnt. Denn eines dürfte feststehen: Du siehst heute ganz anders aus als damals.«
Nachdem nun alles geklärt war, erwies sich die Namensfindung als unerwartet schwierig, denn Alena sprach sich für einen Nachnamen aus, der an ihre Vergangenheit anknüpfte, nämlich Karmelus, und Klingenthal bevorzugte Neuberger, entsprechend jenem Zacharias Neuberger, der ihm so meisterhaft das Anfertigen von lebensgroßen Puppen beigebracht hatte. Die Rede ging hin und her, bis man sich – wie zuvor – auf eine dritte Lösung einigte. Es war der Vorname von Klingenthals Vater: Abraham.
»Julius Abraham, ei, das klingt hübsch!«, rief Listig.
»Bin satt«, brummte Pausback. Er hatte alle Kartoffeln aufgegessen. Doch keiner fand Zeit, auf ihn einzugehen.
Alena richtete sich die Haare und blickte kokett in die Runde. »Gestatten: Alena Abraham!«
»Guten Morgen, Frau Abraham!« In Klingenthals Stimme schwang Zärtlichkeit mit. Er küsste Alena, was Listig zu Beifallsrufen veranlasste und Pausback leicht erröten ließ, besonders, als Alena den Kuss erwiderte.
»Los, Pausback, du mein Gehwerkzeug, worauf wartest du noch?«, rief Listig. »Heb mich hoch, auf zum Fleppenfackler! Drei Meilen westlich von Eddigehausen sitzt einer im Wald, der ist mir noch was schuldig. Bestimmt wird er mir den kleinen Gefallen tun!«
»Wir kommen mit«, sagte Klingenthal und wollte sich erheben, aber er wurde von Listig zurückgehalten. »Besser, ihr wartet hier, ihr zwei Turteltäubchen. Der Mann ist misstrauisch, er heißt Pfister, kommt aus dem Land der Eidgenossen und ist die fleischgewordene Vorsicht. Ich kenn ihn noch aus meiner Zeit als Räuber.«
Klingenthal fügte sich widerstrebend.
»In ein paar Tagen sind wir zurück und machen euch zu neuen Menschen.«
Aber so schnell, wie das seltsame Gespann fortwollte, ging es doch nicht, denn es galt, noch einiges vorher zu klären, als da waren: Geburtsdatum der Eheleute, Ort der Geburt, Datum der Eheschließung, Ort der Eheschließung und so weiter. Aber irgendwann war auch das geregelt, und Pausback und Listig zogen winkend von dannen.
Wenige Schritte später allerdings blieb Pausback noch einmal stehen. Er drehte sich um und brummte scheu: »Hm, hm, Alena, Raben werden nicht weiß, sie werden’s nicht, aber du und Klingenthal, ihr sollt heiraten.«
Tränen der Rührung traten in Alenas Augen. »Ja«, sagte sie leise. »Ja.« Sie hakte sich bei Klingenthal unter, und dieser sagte nachdenklich: »Pausback ist etwas langsam von Begriff, aber er hat mehr Gemüt und Verstand, als viele glauben.«
»Bestimmt hat er das. Und er ist so sanft, dass man ihn immerzu beschützen möchte.«
»Dafür sorgt Listig schon. Auch wenn er den Riesen wie ein Dragoner herumkommandiert.« Klingenthal blickte dem ungleichen Paar mit ernstem Gesicht nach. »Ich hoffe, wir machen alles richtig, Liebste.«
»Das hoffe ich auch, Klingenthal.«
Klingenthal, der sich nun Abraham nannte, und Alena marschierten mit stetem Schritt nach Süden. Der Weg war anstrengend gewesen, doch die Hannoversche Heerstraße, auf der sie die letzte Stunde gegangen waren, wurde allmählich besser. Sie wurde fester und breiter und führte, von Norden kommend, durch das Wehnder Tor direkt nach Göttingen hinein. »Lass uns einen Augenblick verschnaufen, Liebste«, sagte Abraham und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Mittagsstunde ist eben vorbei und die Stadt schon fast erreicht. Wir werden uns am Nachmittag ohne Hast nach einer Bleibe umsehen können.«
Alena blieb stehen und ließ ihren Blick über die ausgedehnte Silhouette schweifen. Hohe Kirchtürme bestimmten das Bild, dazu ein Meer von Dächern und im Vordergrund ein Wall, der schon vor vielen Jahren entfestigt und mit Linden bepflanzt worden war. »Die Stadt ist hübsch«, sagte sie, »und irgendwie einladend. Nicht so groß wie Potsdam.«
Abraham legte Alena den Arm um die Schultern. »Ich freue mich, dass du das sagst, Liebste. Sie soll für die nächsten drei Jahre unsere Heimat sein. Der Erhabene, dessen Name und Barmherzigkeit gepriesen sei, möge uns beschützen.«
Alena lächelte und hob den Zeigefinger. »Vergiss nicht, dass du jetzt Protestant bist, Klingenthal, äh, ich meine Abraham! Ein Protestant würde unseren Herrn wohl kaum ›der Erhabene‹ nennen. Er würde einfach sagen: ›Gott möge uns beschützen.‹«
Abraham nickte und schaute für einen Moment grimmig drein. Nicht so sehr wegen der Anrede, die er wählen musste, wenn er seinen neuen, alten Gott anrief, sondern weil es ihn volle drei Wochen Wartezeit gekostet hatte, Protestant zu werden. So lange nämlich hatte Listig sich mit den versprochenen Papieren Zeit gelassen. Man schrieb bereits den vierundzwanzigsten März, und Abraham hatte Sorge, sich nicht mehr rechtzeitig für das Sommersemester einschreiben zu können.
»Tausendsackerment!«, hatte Listig gerufen und mit den Pässen gewedelt, als er gestern endlich auf Pausbacks Schultern zum Turm zurückkehrte. »Es hat ein bisschen länger gedauert, ihr zwei! Aber dafür sind es die echtesten Papiere, die jemals gefälscht wurden.«
Abraham und Alena hatten zugeben müssen, dass ihre neuen Identitäten wirklich perfekt waren. Kein noch so pingeliger Beamter und kein noch so aufmerksamer Posten, so hatte Listig wortreich versichert, würde einen Unterschied zwischen den neuen und echten Papieren entdecken können. Ein beruhigender Gedanke. Und ein besänftigender dazu. Deshalb hatte Abraham, der in den vergangenen Tagen immer rastloser geworden war und immer häufiger die Umgebung von Eddigehausen abgesucht hatte, um die Vermissten aufzuspüren, auch auf jeden Vorwurf verzichtet. Listig war nun einmal unberechenbar, damit musste man sich abfinden.
Stattdessen hatten er und Alena sich herzlich bedankt und ein schmackhaftes Abschiedsessen zubereitet. Allen hatte es vorzüglich gemundet, zumal Listig und Pausback neben den gefälschten Papieren auch wahre Gaumenfreuden mitgebracht hatten: einen halben gekochten Schinken, dazu duftendes Mittelbrot, ein paar Unzen Butter, einen würzigen Käse und mehrere Bouteillen eines Rotspons, der die letzten Jahre im Fass verbracht hatte. Wo sie die Köstlichkeiten aufgetrieben hatten, verrieten sie nicht, und es fragte auch niemand danach. Trotzdem hatte Abraham gezögert, sich dem Schmaus hinzugeben, denn die Kaschrut verwehrte ihm, Schweinernes zu essen, ebenso wie sie ihm verbot, Fleisch und Milchprodukte gleichzeitig zu sich zu nehmen.
Listig hatte gelacht und gesagt: »Da siehst du mal, welche Vorteile es hat, Protestant zu sein, lieber Freund! Vergiss die jüdischen Speisegesetze, und halte es mit Doktor Luther, der die Gebote für die Freuden der Tafel viel großzügiger auslegte!«
Es war ein langer Abend geworden, der das Aufstehen am heutigen Morgen nicht leicht gemacht hatte, dennoch hatte Abraham auf einen frühen Aufbruch gedrängt und Pausback und Listig, die noch schliefen, einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er sich noch einmal für ihre Dienste bedankte und ihnen alles Gute für ihren weiteren Strich wünschte.
Und nun waren er und Alena nur noch wenige hundert Schritt von ihrem Ziel entfernt. Hier und da tauchten schon ein Haus oder ein Gebäude auf, die Felder wurden kleiner, die Luft roch nach Frühling und Geschäftigkeit. Unternehmungslustig klopfte Abraham sich den Staub von seinem schwarzen Gehrock und tat das Gleiche bei Alena, die ebenfalls ganz in Schwarz gewandet war – eine Angewohnheit, die noch aus ihren Tagen als Karmelitin stammte.
»Auf, auf, Frau Abraham!«, rief er und zog den Karren wieder an. »Gleich sind wir da.«
Doch es sollte noch einige Zeit vergehen, bis sie das Wehnder Tor erreicht hatten, und als sie hindurch waren und die gleichnamige Straße unter ihre Füße nahmen, belebte es sich zusehends. Immer mehr Passanten und Kutschen begegneten ihnen und zwangen sie, langsamer zu werden und mitunter sogar anzuhalten. Würdige Herren stolzierten vorbei, die, ihrem Stand entsprechend, Rock und Kniehose trugen und unter dem Dreispitz die gepuderte Allongeperücke. Marktfrauen in einfachen Kittelkleidern, beladen mit Körben oder Käfigen, strebten hierhin und dorthin, Mägde mit gestärkten bunten Hauben und zierlichen Wämsern standen zu zweit oder zu dritt an den Ecken und schwatzten, spielende Kinder rannten hin und her, niemanden beachtend und alle behindernd, und zwischen all dem Treiben und all dem Trubel tauchte immer wieder einer der vielen Studenten auf, von denen die halbe Stadt lebte – manche schon im sommerlichen Kamelott, der beliebten Jacke aus Angora oder anderer Wolle, manche stattlich in Uniform mit dem Hieber an der Seite, manche auch hoch zu Ross.
Abraham und Alena bahnten sich weiter ihren Weg, sahen linker Hand den Botanischen Garten und das Anatomische Theater, später die Reformierte Kirche und die Jacobi-Kirche und rechts voraus schon den Rathausturm, dazwischen Dutzende mehrstöckige Fachwerkhäuser mit Geschäften, Handwerksbetrieben und Gaststätten. Bei der Hausnummer 42, vor einem Schild mit der Aufschrift Zur Krone, machte Abraham halt. »Ich glaube, eine kleine Stärkung würde uns guttun«, sagte er. »Hast du Hunger, Liebste?«
Alena nahm sich die Gurte von den Schultern. »Und ob, Abraham! Zu mehr als einem Kanten Brot war heute Morgen ja keine Zeit, wenn du dich erinnerst.«
»Tja, nun.« Abrahams Gewissen regte sich. »Du weißt, wie mir die Zeit unter den Nägeln brennt. Aber jetzt sind wir da und holen das nach. Ich verspreche dir ein fürstliches Mittagessen!« Er verkeilte die Räder des Karrens und warf einen prüfenden Blick unter die Abdeckplane.
Alena beobachtete ihn und musste lächeln. Abraham und seine Lieblinge! Wenn er ihr nicht immer wieder versichert hätte, sie sei für ihn das Kostbarste auf der Welt, hätte sie glauben mögen, die lebensgroßen Figuren seien ihm wichtiger. Aber dem war nicht so, und die Zeiten, da sie Eifersucht gefühlt hatte, lagen lange zurück. Mehr zum Scherz fragte sie: »Na, fehlt auch keine?«
»Alle Mann an Bord, mien Deern«, antwortete der Schiffer. Seine Stimme klang etwas hohl, weil er unter der Plane steckte.
»Mon Dieu, wie gern wäre ich auf der Burg geblieben«, näselte das Burgfräulein. »Stattdessen ist man nun wieder unter Krethi und Plethi!«
»Silentium, alte Dörrpflaume!«, schimpfte Friedrich der Große.
»Aber, aber Majestät …«, mahnte der Schultheiß.
»Reg dich nicht auf, Fritz!«, rief der Schiffer. »Die alte Fregatte will doch nur beachtet werden. Klappern gehört zum Geschäft.«
»Und trommeln auch!«, fiel der Söldner ein. »Du weißt doch, was unser Adelsfräulein nachts am liebsten tut?«
»Nein, weiß ich nicht, aber du wirst es mir gleich communitziren.«
»Das Adelsfräulein trommelt laut des Nachts auf seiner Jungfernhaut.«
»Hähähä!« Das gefiel Friedrich.
»Impertinent!«, empörte sich das Burgfräulein.
»Vertragt euch«, sagte die Magd.
Abraham zog die Plane wieder zu.
Alena trat auf das schmale Trottoir. »Da fehlte doch eben noch jemand?«
»Wirklich, Liebste?« Abraham öffnete die Plane erneut. Ein herzhaftes Gähnen wurde hörbar. »Meintest du ihn?«
»Ja, ihn meinte ich.«
»Du weißt doch, er schläft gern ein bisschen länger.« Abraham nahm Alena beim Arm. Den Neugierigen, die wegen der seltsamen, unerklärlichen Stimmen stehengeblieben waren und Maulaffen feilhielten, rief er grinsend zu: »Das war nur der Landmann, Leute!« Dann betrat er mit seiner Frau die Gastwirtschaft.
Drinnen herrschte ein ziemlicher Hecht, was von den qualmenden Tonpfeifen der zahlreichen Gäste herrührte. Die Krone war wie jeden Mittag gut besucht, denn der Wirt bot vier verschiedene schmackhafte Gerichte an, jede Portion zu zwölf Groschen. Das war nicht billig, aber die Krone lag im Zentrum Göttingens, an der belebtesten Straße überhaupt, und das musste in Rechnung gestellt werden. Abraham suchte und fand zwei leere Stühle neben dem Schanktisch. Sie nahmen Platz. Ihnen gegenüber saß ein schwerer Mann mit rotem Gesicht und zahlreichen geplatzten Äderchen auf den Wangen. Er rauchte ebenfalls Pfeife und verbreitete Schwaden von Qualm, die Alena die Tränen in die Augen trieben.
Abraham wollte den Mann bitten, er möge seinen Rauch woandershin blasen, doch in diesem Moment nahm der Rotgesichtige die Pfeife aus dem Mund und sprach ihn an: »Fremd hier?«
»Ja«, sagte Abraham.
»Auf der Durchreise?«
»Nein.«
»Aha, dann bleibt Ihr also.«
»So ist es.« Abraham blickte sich nach der Schankmagd um.
»Ist das Eure Frau?«
»Ihr habt es erraten.« Abraham fand, dass der Rotgesichtige ziemlich viele Fragen stellte.
»Dann seid Ihr sicher ein Handwerker?«
Abraham blieb die Antwort schuldig.
»Oder Ihr wollt als Unteroffiziant irgendwo anfangen. Als ob wir in der Stadt nicht schon genug Boten, Diener und Aufwärter hätten. Na, nichts für ungut« – der Rotgesichtige paffte abermals dicke Wolken –, »jeder muss sehen, wie er zurechtkommt.«
»Was darf’s sein?«, unterbrach die Schankmagd.
»Was gibt es denn?«, fragte Abraham.
Die Schankmagd leierte den Speiseplan herunter: »Bouillon-Suppe mit eingeschlagenen Eiern und Perlgraupen, Gesottenes mit Reis und Bohnen, eingelegtes Gemüse mit Weißbrot, Schwarzbrot oder Mittelbrot, Brotplatte mit Mettwurst, Rotwurst, Schinken, dazu Rahmbutter, außerdem Salat aus Gurken und gekochten Früchten.«
»Gibt es auch halbe Portionen?«, fragte Alena.
»Da muss ich nachfragen.« Die Schankmagd verschwand.
Abraham wollte sie aufhalten, aber sie war schon fort.
Der Rotgesichtige trank den letzten Schluck seines Göttinger Biers. »Ihr seid nicht gut bei Kasse, scheint mir. Müsst gleich am ersten Tag schon sparen. Äh, nichts für ungut, es geht mich ja nichts an.«
»Da habt Ihr zweifellos recht.«
»Na, ich will dann mal.« Der Rotgesichtige klopfte die Pfeife in einer irdenen Schale aus. »Die Pflicht ruft. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Arbeit die Burschen mir dieses Jahr wieder machen. Jeder will eine Stube, und die möglichst groß und umsonst.« Er stand auf und zückte seine Geldkatze, um am Schanktisch zu zahlen.
»Einen Augenblick noch«, bat Abraham. »Verstehe ich Euch recht, dass Ihr den Studenten Unterkünfte zuteilt?«
»Genau das ist meine Arbeit.« Der Rotgesichtige ließ zwei Münzen auf den Schanktisch fallen. »Ich bin Ulrich, wenn’s beliebt, der Logis-Commissionair. Aber eines sage ich Euch gleich: Ich bin von Amts wegen nur für Studenten zuständig. Wenn Ihr ein Zimmer sucht, müsst Ihr Euch schon selbst bemühen.«
»Aber ich bin Student.«
»Was sagt Ihr da?« Ulrich war so perplex, dass er sich wieder setzte.
»Genauer gesagt: Ich muss mich noch für das Sommersemester immatrikulieren. Ich möchte Medizin studieren. Mein Name ist übrigens Kl…, äh, Abraham, Julius Abraham, und das ist meine Frau.«
Alena grüßte freundlich.
Ulrich hatte sich wieder erholt. »Ein verheirateter Student also, das haben wir nicht alle Tage. Wenn ich’s mir recht überlege, hatten wir das noch nie. Sehr ungewöhnlich. Auch Euer Alter will nicht recht passen. Äh, nichts für ungut, aber Ihr könntet eher der Vater eines Burschen sein.«
»Halbe Portionen kosten sieben Groschen«, meldete die Magd.
Abraham brauchte einen Augenblick, um sich auf sie zu konzentrieren. »Wieso sieben?«, fragte er dann und wies auf eine Kreidetafel. »Da steht Gerichte à Portion 12 Groschen. Demnach müsste die Hälfte nur sechs kosten.«
»Kann sein, ich sag nur, was der Wirt sagt.«
»Dann nehme ich eine ganze Portion Gesottenes.«
»Eine ganze Portion Gesottenes. Und was bestellt die Dame?«
»Nichts.« Alenas Augen amüsierten sich. »Die Dame isst bei dem Herrn mit. Verteile also das Gesottene auf zwei Teller und bringe zwei Bestecke.«
Ungerührt sagte die Magd: »Und zu trinken? Wollt Ihr auch bei dem Herrn mittrinken?«
»Ich nehme einen Tee.«
»Und ich ein Bier.« Abraham kam eine Idee. »Für den Herrn Logis-Commissionair ebenfalls eins.« Und bevor Ulrich dagegen protestieren konnte, sagte er: »Ihr macht mir doch die Freude und stoßt mit mir an?«
Ulrich lächelte dünn. »Ich verstehe schon, ich soll Euch ein convenables Zimmer zuweisen, und das für möglichst kleine Münze.«
Abraham lächelte entwaffnend. »Ihr seid ein kluger Mann.«
»Der aber nicht zaubern kann.«
»Zwei Bier die Herren. Der Tee dauert, das Gesottene auch.« Die Schankmagd verschwand wieder.
»Erst einmal prosit!« Abraham hob sein Glas.
»Prosit!«
Beide tranken.
Ulrich wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Um auf Euren Zimmerwunsch zurückzukommen, Herr Studiosus in spe: Ihr macht mir die Sache nicht leicht. Die Wirtinnen sind auf junge Herren eingerichtet, nicht auf Ehepaare.«
»Ich brauche nicht viel Platz«, sagte Alena.
»Nun, nun.« Ulrich trank einen weiteren Schluck. »Habt Ihr denn viel Gepäck?«
»Draußen steht ein Karren. Darauf befindet sich unsere Habe.« Abraham fand es besser, seine Puppen unerwähnt zu lassen.
»Einen Karren habt Ihr auch noch! Das ist schlecht.«
»Warum?«
Ulrich begann, sich eine neue Pfeife zu stopfen. Abraham und Alena sahen es mit Schrecken, mochten aber nichts dagegen sagen. Ulrich zündete den Knösel an, neues Qualmgewölk verbreitete sich. »Weil für Euch nur eine Wirtin in Frage kommt, die einen großen Hof hat oder eine Remise zur Verfügung stellen kann. Und davon gibt es nicht viele, jedenfalls nicht viele, die ihre Zimmer für einen Apfel und ein Ei vermieten.«
Abraham dachte daran, dass er seine Lieblinge über Nacht ohnehin nicht auf dem Karren lassen würde, und sagte: »Warum kann ich den Wagen nicht am Straßenrand abstellen?«
»Weil es verboten ist. Zur Bequemlichkeit der Passage darf kein Wagen vor der Tür oder auf der Straße stehen. So heißt es wörtlich in der Verfügung von Bürgermeister und Rat.«
»Wie viel wird denn das Logis für ein Semester kosten?«, mischte sich Alena ein.
»Die Stubenmiete hängt ganz von der Art und der Beschaffenheit des Zimmers sowie der Möblierung ab. Es geht von acht Reichstalern aufwärts. Eine sehr gute Unterkunft kann sogar mehr als fünfzig Taler kosten.«
Abraham dachte daran, dass alles, was er sich mühsam erspart hatte, nicht mehr als siebenundachtzig Taler und ein paar Groschen betrug. Wenig genug, wenn er damit das kommende Triennium bestreiten wollte. »Vielleicht wisst Ihr eine Adresse, an die meine Frau und ich uns wenden können?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Die weiß ich nicht. Jedenfalls nicht aus dem Kopf.« Ulrich ließ die Pfeife von einer Mundecke in die andere wandern, was ein schmatzendes Geräusch verursachte. Er tat ein paar Züge, bemerkte, dass sie ausgegangen war, und steckte sie in die Tasche. »Meine Amtsstube befindet sich in der Burgstraße, dort führe ich eine alphabetische Liste darüber, welcher Bursche wo wohnt. Über hundert sind bereits ausgezogen oder werden es noch tun, weil das Wintersemester zu Ende geht, neue Burschen werden eintreffen. Im Moment ist es ein rechtes Durcheinander. Wenn Ihr genaue Auskunft wollt, auch darüber, wie viel Euch das Leben in Göttingen kostet, dann kommt morgen früh in die Burgstraße. Aber nicht vor acht Uhr, wenn ich bitten darf. Danke für das Bier.«
Ulrich wollte sich erheben, wurde aber wieder von Abraham zurückgehalten. »Eine Frage noch, wenn Ihr erlaubt: Da es nicht möglich scheint, heute Eure Dienste in Anspruch zu nehmen, würde ich gern die Zeit nutzen und mich immatrikulieren – schließlich ist am ersten April Semesterbeginn. Steht aus Eurer Sicht etwas dagegen?«
Ulrich ging zum Garderobenständer und setzte seinen Dreispitz auf. Abraham dachte schon, er käme nicht zurück, aber er täuschte sich. Der Rotgesichtige drehte sich noch einmal um. »Wenn Ihr Euer Studium so hartnäckig verfolgt, wie Ihr mich mit Fragen löchert, werdet Ihr der beste Student sein, den Göttingen jemals hatte. Die Antwort ist: Ich würde es lassen. Ihr seht nun mal nicht aus wie ein Krösus, und in solchen Fällen sieht der Prorektor es lieber, wenn der Kandidat eine ordentliche Bleibe vorweisen kann. Bei Euch wird er es besonders gern sehen, weil Ihr verheiratet seid und in unserer schönen Stadt Zucht und Ordnung herrschen sollen.«
»Der Tee und das Gesottene.« Die Schankmagd knallte das Bestellte auf den Tisch. »Noch ein Bier?«
»Nein, äh, danke«, sagte Abraham hastig, denn Ulrich schickte sich abermals an zu gehen. »Hört, Herr Logis-Commissionair, heißt das, ich habe noch etwas Zeit mit der Immatrikulation?«
Ulrich überlegte kurz. »Das habt Ihr. Heute ist Donnerstag, wenn Ihr es im Laufe der nächsten Woche erledigt, ist es noch früh genug. Karfreitag fällt in diesem Jahr auf den vierzehnten April, wenn ich mich nicht irre, und vorher sind zwei Wochen Osterferien angesetzt. Es eilt also tatsächlich nicht.«
»Ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet.«
»Dankt nicht mir, dankt der Stadt, die mich bezahlt.« Ulrich tippte sich an den Dreispitz und strebte dem Ausgang zu.
Abraham schaute Ulrich nach und empfand zwiespältige Gefühle. Einerseits war er froh, dass es mit der Immatrikulation nicht so pressierte, andererseits machte er sich Sorgen wegen der Unterkunft. Alena riss ihn aus seinen Gedanken. »Guten Appetit, Julius Abraham, lass das Gesottene nicht kalt werden.«
»Äh, guten Appetit, Liebste.«
Beide aßen. Alena trank zwischen den Bissen ihren Tee und stellte anschließend die Frage, die Abraham schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: »Und was machen wir jetzt?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Liebste, ich …«
»Der Scherenschleifer ist da, schnippschnapp!« Eine schmale Gestalt stand in der Tür, schwenkte eine übergroße Holzschere in der Luft und rief lautstark einen Reim in den Raum:
»Scheren, Messer, Klingen
und jeglicher Bedarf,
ihr müsst ihn mir nur bringen,
Pilatus macht ihn scharf!«
»Wir haben keine Scheren!«, rief der Wirt, ein schmerbäuchiger Mann mit lederner Schürze. »Kannst dich rausscheren!«
Einige Männer im Lokal lachten. Pilatus, der stadtbekannte Scherenschleifer, verschwand mit einer Verbeugung.
»Macht euch keine Sorgen,
ich komme wieder morgen!«
»Liebste, ich …«, hob Abraham abermals an, wurde jedoch wie zuvor unterbrochen. »Wem gehört der Karren mit der Abdeckplane?«, ertönte eine andere Stimme von der Tür. Ein streng aussehender Soldat der Stadtwache blickte fragend in die Runde.
»Äh, mir!« Abraham erhob sich zögernd. Aller Augen ruhten auf ihm.
»Der Name?«
»Abraham, Julius Abraham, ich …«
»Schon gut. Der Wagen ist unverzüglich beiseitezuschaffen, er behindert den Verkehr. Anderenfalls lasse ich ihn confisciren.«
»Jawohl.«
Die Stadtwache grüßte militärisch knapp und verschwand. Die Tür fiel krachend ins Schloss.
Abraham setzte sich, um sofort danach wieder aufzustehen. »Der Karren muss fort, besser jetzt als gleich.«
»Und wohin?«, fragte Alena.
»Da wir keine Bleibe haben und den Wagen wegfahren müssen, wird es am besten sein, die Stadt zu verlassen. Wir können vor den Toren im Freien nächtigen. Morgen früh gehen wir dann zum Logis-Commissionair Ulrich, der uns ein Quartier zuweisen wird.«