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Eine Liebe in Skagen.
Nordjütland im Jahr 1884. Ebba führt ein ruhiges Leben und geht ihrem Vater, dem Arzt von Skagen, zur Hand. Doch alles ändert sich, als der einzige Überlebende eines Schiffsunglücks geborgen wird. Arndt, offenbar ein Deutscher, ist halb tot, und nur dank Ebbas Pflege kehrt er ins Leben zurück. Als er verschwindet, begreift Ebba, dass sie sich verliebt hat. Doch wer ist dieser Fremde? Wenig später hört sie, dass Arndt sich am Strand eine Hütte gebaut hat und sich mit den Malern von Skagen trifft. Soll sie ihm ihre Liebe gestehen? Aber dann wird der Verdacht laut, dass er auf dem gesunkenen Schiff einen Mord begangen hat ...
Ein farbenprächtiger, brillant erzählter Roman über Dänemarks berühmte Künstlerkolonie Skagen – von einem Meister des Genres.
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Seitenzahl: 467
Ein Schiffsunglück sorgt in der Künstlerkolonie Skagen für Aufregung. Als das Schiff »Nordstern« sinkt, kann nur ein einziger Seemann gerettet werden: Arndt hat schwere Verletzungen und wird im Haus des Skagener Arztes Knud Brodersson aufgenommen. Seine Tochter Ebba, eine junge Frau von sanfter Schönheit, pflegt den Schiffsbrüchigen. Bald begreift Ebba, dass sie sich verliebt hat – und dass Arndt ein dunkles Geheimnis hütet, das er mit niemandem teilen will. Heimlich, obwohl noch lange nicht gesund, verlässt er das Haus des Arztes, um sich eine Hütte am Strand zu bauen. Offenbar will er nicht nach Deutschland zurück, obwohl die Polizei ihn verdächtigt, einen Mord an Bord der »Nordstern« begangen zu haben.
Ebba besucht ihn gelegentlich in seiner Hütte. Auf Spaziergängen genießen sie die lichtdurchfluteten Tage, um derentwillen Künstler wie Ancher und Krøyer sich in Skagen niedergelassen haben. Eine Zeit lang sieht es tatsächlich so aus, als könnten die beiden zueinander finden, misstrauisch beäugt von dem Fischer Gorm, der seit Jahren um Ebba wirbt.
Doch dann geschieht ein Mord – ausgerechnet in Arndts Hütte. Und sein dunkles Geheimnis kommt ans Tageslicht.
Bevor er erfolgreich Romane zu schreiben begann, war Wolf Serno viele Jahre als Werbetexter und Dozent tätig. Mit dem historischen Roman »Der Wanderchirurg« gelang ihm ein internationaler Bestseller. Er lebt mit seiner Frau und zwei Hunden in Hamburg und Nordjütland.
Im Aufbau Taschenbuch ist von ihm die dreiteilige Saga über eine Hamburger Arztfamilie »Große Elbstaße 7« lieferbar.
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Wolf Serno
Zeiten des Lichts – Die Begegnung am Meer
Historischer Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Zitat
Widmung
VORBEMERKUNG
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
DIE WICHTIGSTEN PERSONEN DER HANDLUNG
NACHBEMERKUNGEN
DANK
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
Komm herauf, lauf dir die Schuhe voll Sand, gib dich mit diesem abgehärteten, genügsamen, geprüften Menschenschlag ab, der aus dem Sande selber emporgewachsen erscheint … Höre dem Grollen des Meeres zu, trinke die Luft in langen, stärkenden Zügen – und du wirst dich von einer Bürde befreit fühlen … Denn Skagen ist das Unerklärliche, das Erstaunliche.
Holger Drachmann(Aus dem Werk »Lars Kruse«, 1879)
Wie immer meinem Rudel gewidmet: Micky, Olli und Magda
Und unvergessen: Fiedler, Buschmann, Sumo und Eddi, die schon auf der anderen Seite der Straße gehen
Auch wenn das dänische Alphabet dem deutschen sehr ähnelt, so sprechen sich doch manche Namen anders aus. Damit Sie, liebe Leserin und lieber Leser, von Anfang an nicht stolpern und die Namen im folgenden Roman richtig lesen, hier die wichtigsten Beispiele:
Der Name Degn spricht sich wie »Dain« aus. Locher wie »Locker«, Magnus wie »Maunus«, Lasse wie »Lässe«, Drachmann wie »Drackmann«.
Meine Frau und ich haben vorletztes Jahr im Rahmen des alljährlich stattfindenden Vendsyssel Festivals einen Vortrag über Bachʼsche Fugen gehört. Der dänische Experte sprach immerzu von Johann Sebastian »Back«. Ein wenig ungewohnt für unsere Ohren, aber nicht ohne Charme.
Anders als in Deutschland duzt man sich in Dänemark und nennt sich beim Vornamen – auch wenn man sein Gegenüber nicht kennt. Das trägt vermutlich dazu bei, dass bei unseren nördlichen Nachbarn die Standesunterschiede und der Standesdünkel keine so große Rolle spielen.
Mitglieder der Königsfamilie und andere hohe Persönlichkeiten bilden jedoch eine Ausnahme. Sie werden gesiezt.
Wie eine dunkle Wand schob sich der Nebel vom Meer heran, kroch über den Strand und schien sämtliche Häuser an der Küste zu verschlingen. Millionen winziger Wassertröpfchen machten alles in Minutenschnelle unsichtbar, doch Ebba fürchtete sich nicht. Sie wusste, es war nur Seenebel, der ihr an diesem Abend begegnete, nichts anderes als warme Luft, die auf die kalte Nordsee traf.
Vorsichtig ging Ebba weiter. Sie sah kaum noch die Hand vor Augen. Zum Glück kannte sie jede Ecke und jeden Winkel in Alt-Skagen, ihr konnte nichts passieren. Rechts tauchte schemenhaft die Schmiede von Henning Jensen auf, danach das Gebäude von Simonsens Netzmacherei, mehr erahnbar als sichtbar. Dafür war der intensive Geruch nach Dorsch, Schellfisch und Schollen fast allgegenwärtig. Er kam von den vielen Gestellen im Freien, an denen aufgereiht der tørfisk hing.
Nun waren es nur noch wenige Schritte bis nach Hause. Ebba atmete auf. Ein bisschen unheimlich war ihr schon in diesem windstillen, lautlosen Dunst gewesen. Nicht einmal das immerwährende Rauschen des Meeres war zu hören.
Oder doch? Nein, das Geräusch klang anders. Nicht gleichmäßig, eher abgehackt. Es hörte sich an wie Schritte. Schritte hinter ihr. Unwillkürlich ging Ebba schneller. Wer konnte das sein? Anna? Anna wohnte mit ihrem Mann Mikkel in Skagen, im Markvej 2, wo beide ein schönes Haus gemietet hatten und gern Freunde begrüßten. So wie Ebba heute Abend.
Ebba konnte sich nicht erinnern, etwas bei Anna vergessen zu haben.
Nein, Anna war es nicht. Anna war eine junge Künstlerin, vierundzwanzig Jahre alt, fünf Jahre älter als Ebba, und schlank. Diese Schritte jedoch klangen schwer. Und sie kamen schnell näher. Ebba begann zu laufen – und stolperte über einen herumstehenden Eimer.
Als sie sich aufrichten wollte, packte eine Hand sie von hinten und stieß sie in eine Hausecke. Ebba wollte schreien, aber die Hand presste sich auf ihren Mund. Ein Knie schob sich zwischen ihre Beine, zwängte sie auseinander. Eine zweite Hand zerrte an ihrer Leibwäsche, riss sie herunter. Wer war das? Wer konnte im friedlichen Alt-Skagen so brutal sein, eine Frau vergewaltigen zu wollen?
Ebba rang nach Luft, wehrte sich, wand sich, versuchte, den Unbekannten zu treten, doch der Mann war zu stark. Er drängte sein Becken gegen sie, schnaufte gierig, wollte in sie eindringen, schnaufte wieder und lockerte für einen kurzen Moment die Hand, die ihr den Mund verschloss. Ohne zu überlegen, biss Ebba zu. Sie biss zu mit der ganzen Angst, Wut und Verzweiflung, die sie verspürte – und der Biss war tief. Der Unbekannte stöhnte auf.
»Ist da wer?«, fragte jemand mit schwerer Zunge. »Hast du das auch gehört, Rasmus?«
»Nee, hast wohl ’n Floh im Ohr.«
»Quatsch, ich bin doch nicht besoffen …«
Der Unbekannte erstarrte. Eine endlose Sekunde zögerte er. Dann verschwand er wie eine Spukgestalt im Nebel. Ebba zitterte am ganzen Körper. Sie wollte um Hilfe rufen, denn sie kannte Rasmus und Sven, zwei junge Fischer, die wahrscheinlich ein paar Schnäpse zu viel gekippt hatten. Doch sie besann sich anders. Die Burschen sollten sie nicht so sehen – zerzaust und halb entkleidet. Sie würden nur auf falsche Gedanken kommen.
Und eigentlich war ja nichts passiert.
Ebba drückte sich in die Hausecke und ließ die Fischer vorübergehen. Als ihr Herzschlag sich halbwegs beruhigt hatte, richtete sie ihre Kleider und schlich vorsichtig weiter, immer in der Erwartung, der Unbekannte könne zurückkommen. Aber nichts geschah. Ohne Zwischenfälle gelangte sie zum Haus ihres Vaters. Sie stieß ein Dankgebet aus und eilte hinauf in ihre Kammer.
Später im Bett fand sie keine Ruhe. Die Bilder in ihrem Kopf drehten sich wie ein Karussell. Was sollte sie tun? Zur Polizeistation gehen? Mit Vater reden? Sich Anna anvertrauen? Erst gegen Morgen kam sie zu einem Entschluss. Sie wollte die Sache zunächst auf sich beruhen lassen. Der Gedanke, über die Tat sprechen zu müssen und zum Mittelpunkt des Tratsches in der kleinen Stadt zu werden, war einfach zu unangenehm.
Nein, sie würde nichts unternehmen, aber sehr vorsichtig sein. Und Augen und Ohren offen halten. Denn der Biss in die Hand würde eine Narbe hinterlassen, und das gierige Schnaufen des Unbekannten würde sie unter tausend Geräuschen wiedererkennen.
Doktor Knud Brodersson liebte die Nächte, in denen der Regen aufs Dach prasselte, der Wind um die Ecken heulte und die Nordsee zu einem brüllenden Ungeheuer wurde. Egal, wie das Wetter war, er fühlte sich stets geborgen in seinem Haus. Das Gebäude war alt, aber stark im Gebälk, und es würde auch diesem Unwetter trotzen.
Zwölf dunkle Schläge der Standuhr ließen Brodersson von seinem Schreibtisch aufblicken. Es war Mitternacht. Spät, doch nicht zu spät, um sich noch einige Zeit seinen Forschungen zu widmen. Viele seiner ärztlichen Kollegen arbeiteten in den letzten Jahren daran, die Rätsel der Bakterien zu lösen, wie Robert Koch, der die Milzbrandsporen nachgewiesen und vor zwei Jahren das Mycobacterium tuberculosis entdeckt hatte. Brodersson hingegen war fasziniert von jenem geheimnisvollen Saft, der im Körper kreiste und so viele erstaunliche Eigenschaften besaß: dem Blut.
In den vergangenen Stunden hatte er sich mit einem wichtigen Bestandteil, den roten Blutkörperchen, beschäftigt, um sie wissenschaftlich beschreiben zu können. Ähnliches hatte der Holländer Jan Swammerdam schon vor über zweihundert Jahren getan, aber die Entwicklung des Mikroskops hatte seitdem große Fortschritte gemacht, und Brodersson nahm zu Recht an, dass es bei den roten Blutkörperchen, den sogenannten Erythrozyten, noch vieles zu entdecken gab.
Er hatte die Erythrozyten eines Hundes mit jenen eines anderen Hundes verglichen, denn sein Ziel war die erfolgreiche Durchführung einer Bluttransfusion. Sie sollte zunächst bei Säugetieren, anschließend von Mensch zu Mensch vorgenommen werden. Doch bis dahin war es noch ein langer Weg.
Brodersson schob das Zeiss-Mikroskop beiseite und zog die Kladde mit den Aufzeichnungen seiner Untersuchungen heran. Freitag, 21. März … wollte er eintragen, als sein Blick wiederum zur Standuhr ging. Sie zeigte zehn nach zwölf. Der neue Tag war da. Der Sturm hatte mittlerweile Orkanstärke erreicht. Brodersson kümmerte das nicht. Er setzte die Feder abermals an und schrieb mit seiner akkuraten Schrift: Samstag, 22. März 1884.
Dann fuhr er fort:
Blutuntersuchung eines achtjährigen Mischlingshundes (Canis lupus familiaris) mit besonderem Augenmerk auf die Erythrozyten.
Form:Die Erythrozyten, auch rote Blutkörperchen, stellen sich als scheibenförmige, zu beiden Seiten konkave Zellen dar, deren rote Farbe von dem Hämoglobin herrührt (nach Hoppe-Seyler), welches einen hohen Eisenanteil besitzt.
Anzahl:Ihr Auftreten im Blute ist unter allen Zellen weitaus am häufigsten und dürfte in die Milliarden gehen.
Maße: …
Brodersson hielt jäh inne. Faustschläge donnerten gegen seine Haustür. Sie waren so laut, dass sie sogar das Dröhnen des Orkans übertönten. Er eilte auf den Flur und öffnete. Ein Schwall Wasser traf ihn wie ein Sturzbach. Vor ihm stand ein alter Fischer, triefend nass, eine flackernde Laterne in der Hand.
»Bist du das, Jonas?«
»Jo, Knud! Schiff in Seenot, du musst kommen!«
Brodersson unterdrückte einen Fluch, warf sich das Ölzeug über und ergriff seine Arzttasche. Für einen kurzen Moment war er versucht, Atlas, seinen siebenjährigen Wallach, aus Hæstorpʼs Stallung gegenüber zu holen, aber dafür blieb keine Zeit. Wenn es um Tod und Leben ging, zählte jede Minute. »Dann los!«
Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Naturgewalten, kämpften sich Schritt für Schritt den Højensvej entlang bis hinunter zum Strand, wo sich die Rettungsstation befand. Es herrschte Flut. Haushohe Brecher rollten auf die Station zu und kamen ihr gefährlich nahe. Die See kochte, Gischt flog ihnen ins Gesicht, machte sie fast blind. Brodersson zog Jonas in den Windschatten, wo er sich halbwegs verständlich machen konnte. »Wo sind die Rettungsmänner?«, rief er.
»Noch draußen.«
Brodersson spähte ins Dunkel und erkannte ein paar schwache Lichter in der Ferne. Das musste das havarierte Schiff sein. Wahrscheinlich war es auf eine der Sandbänke vor Alt-Skagen gelaufen. Es war nicht das erste Schiff, das dieses Schicksal ereilte, die Folgen waren fast immer gleich: Früher oder später würde der Mahlstrom den Rumpf zerbrechen und ein Wrack zurücklassen.
Doch was war mit der Besatzung?
Brodersson entdeckte ein weiteres Licht. Es tanzte auf den Wellen wie ein Jo-Jo-Spiel. Nur dass dies kein Spiel war, sondern bitterer Ernst, denn vermutlich handelte es sich um die Retter mit ihrem Boot. »Ich glaube, da sind sie!«
Der Alte nickte. Er hatte das Kunststück fertiggebracht, sich bei dem Wetter eine Pfeife anzuzünden, und schirmte die Glut mit der hohlen Hand ab. »Dauert nicht mehr lang, Knud, der Westwind treibt sie an Land.«
»Meinst du, sie hatten Erfolg?«
»Das weiß nur Gott.«
Aber es sollte noch mehr als eine halbe Stunde vergehen, bis sich der Bug des Rettungsbootes in den Ufersand bohrte. Brodersson war mittlerweile steif vor Kälte. Er bewunderte die Retter, die der tobenden See nur ihren Mut und ihre Muskelkraft entgegensetzen konnten, um unter Lebensgefahr hinauszurudern und die Schiffbrüchigen zu bergen. Nun waren sie zurück und zogen das Boot höher an Land. Sie trugen wasserdichtes Ölzeug, Korkwesten und hohe Lederstiefel. Und sie waren völlig erschöpft.
»Habt ihr jemanden retten können?«, rief Brodersson.
Thorvald Lundholm, der Vormann, zuckte mit den Achseln. Er war Fischer wie die anderen Männer, breitschultrig und bärenstark. »Sechs Geborgene sind’s, Knud, musst selber sehen, ob noch Leben in ihnen steckt.«
»Gut, schafft sie in die Werkstatt der Station.«
»Geht klar.«
Wenig später starrte Brodersson auf sechs Männer, die vor ihm am Boden lagen, und kam sich so hilflos vor, als hätte ihm jemand Handfesseln angelegt. »Tot … tot … tot«, stellte er grimmig fest. »Arme Kerle, abgesoffen wie die Ratten! Da nützt alle ärztliche Kunst nichts mehr.« Er fragte sich in diesem Augenblick, wozu er das lange Studium der Medizin auf sich genommen hatte, die vielen Vorlesungen gehört und bis in die Nächte hinein lateinische Namen von Knochen, Muskeln, Adern gepaukt hatte, wenn das alles nicht zu mehr nütze war, als den Tod dieser Männer festzustellen. Jeder andere wäre dazu in der Lage gewesen.
»Alle tot? Haben wir befürchtet«, brummte Thorvald. »Aber ihr Knochenflicker habt ja manchmal so eure Tricks, um jemanden wieder lebendig zu kriegen.«
»Diesmal nicht.« Brodersson nahm Thorvald den »Knochenflicker« nicht übel, denn er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er in seiner Praxis selten mehr zu tun hatte, als Brüche zu schienen, Wunden zu nähen oder ein Fieber zu senken. Das hätte er auch als Arzt im Skagener Krankenhaus tun können, doch er war lieber sein eigener Herr. Und die Alt-Skagener Fischer kamen gern zu ihm. Nicht nur, weil er im Højensvej wohnte und sein Haus näher lag als das Hospital in der Stadt, sondern auch, weil die Fischer ihn schätzten. Was ganz auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Schafft die Toten weg«, befahl er. »Die Kollegen in Skagen haben einen Kühlraum. Und sagt ihnen, sie sollen, wenn möglich, die Personalien feststellen und die Totenscheine ausfüllen.«
»Machen wir«, sagte Thorvald. »Aber erst rudern wir noch mal raus.«
»Was? Meint ihr etwa, ihr könntet noch jemanden lebend rausfischen?«
»Das weiß man nie. Der Dampfer da draußen ist nicht der kleinste. Ich glaube, es ist die Nordstern. Die fährt regelmäßig von Hamborg nach Kristiania in Norwegen und zurück. Hat über zwanzig Mann Besatzung und Passagiere dazu. Da sind bestimmt noch mehr arme Teufel in Seenot.«
»Viel Glück.« Brodersson überlegte, ob er mit Jonas auf die Rückkehr der Retter warten sollte, doch das würde sicher Stunden dauern. »Ich gehe erst mal nach Hause. Wenn meine Hilfe nötig ist, wisst ihr ja, wo ihr mich findet. Vi ses.«
»I orden, Knud.«
Am Sonntagvormittag gegen elf verließ Brodersson die Skagen Kirke und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Normalerweise war er kein großer Kirchgänger, nicht zuletzt, weil die Krankheiten seiner Patienten keine Rücksicht auf den Wochentag nahmen. Doch diesmal lag der Fall anders. Pastor Lund hatte einen Trauergottesdienst für die Toten der Nordstern abgehalten, und Brodersson hatte sich verpflichtet gefühlt, daran teilzunehmen. Zumal die Zahl der Toten auf dreizehn angewachsen war. Thorvald, der Vormann der Retter, hatte von über zwanzig Besatzungsmitgliedern und weiteren Passagieren gesprochen. Das bedeutete, nicht wenige Menschen galten noch als vermisst. Entweder hatten sie im Rumpf der Nordstern ihr nasses Grab gefunden, oder sie würden im Laufe der nächsten Tage an Land gespült. Brodersson seufzte. Er war neunundvierzig Jahre alt, aber noch immer schmerzte ihn jeder Patient, bei dem seine Hilfe zu spät kam.
Wenigstens war das Wetter an diesem Tag schön. Die Sonne lachte und schickte ihre ersten wärmenden Strahlen herab. Kaum zu glauben, dass keine zwei Tage zuvor ein Orkan über die Spitze Nordjütlands hinweggefegt war. Doch wer Alt-Skagen und Skagen liebte, der lebte im Einklang mit der Natur und genoss es, dass hier oben kein Tag dem anderen glich. Die weite See, die reine Luft und der hohe Himmel erschufen immer wieder neue Farben, und das Licht, in dem sie erstrahlten, zog viele Kunstmaler an. Auch Brodersson hatte sich eine Zeit lang mit der Malerei versucht, am Ende aber eingesehen, dass es ihm an Begabung fehlte. Immerhin gehörte er einem illustren Kreis von Malern an, darunter Krøyer, Ancher und Locher, der sich regelmäßig in Brøndums Hotel traf, um bei kräftiger Kost und sehr viel Wein über Kunst, Kultur und Gott und die Welt zu diskutieren.
Unterdessen war er vom Frederikshavnvej kommend in den Højensvej eingebogen. Gleich würde er zu Hause sein. Er fragte sich, ob seine Tochter Ebba schon mit dem Postwagen aus Hjørring zurück war, wo sie ein paar Tage bei einer entfernten Tante verbracht hatte. Wenn ja, würde ein leckeres Mittagessen auf ihn warten, denn sie war eine gute Köchin, obwohl ihr das Feddi, seine verstorbene Frau, nie hatte beibringen können. Sie war viel zu früh von ihm gegangen.
Unwillkürlich beschleunigte Brodersson seine Schritte. Und hielt dann unvermittelt inne. Vor seiner Haustür stand eine Transportkarre, die ihm bekannt vorkam. Sie gehörte zur Ausstattung der Rettungsstation. Sollte vielleicht doch noch jemand von der Nordstern …? Brodersson riss die Haustür auf und stürzte in seinen Behandlungsraum. Jonas, der alte Fischer, stand da, an seiner Seite Ebba, und daneben, auf einer Pritsche lag ein schwer verletzter Mann.
»Ich fürchte, er stirbt«, sagte Ebba.
Das Erste, was Degn Brøndum durch die Tür kommen sah, war ein Kanarienvogel. Der kleine Sänger saß in einem Bauer und wurde von einem Arm gehalten, dessen Besitzer mit einem entschlossenen Schritt den Speisesaal betrat. »God dag«, sagte er mit vergnügter Stimme und setzte das Bauer mit dem Vogel auf der Anrichte ab. »Das ist Campanini.«
Degn, der Wirt von Brøndums Hotel, schaute überrascht. »Welch seltsamer Gast! Und wer bist du?«
»Theodor Manholte. Kunstmaler, frisch eingetroffen von der Königlichen Berliner Akademie der Künste. Meine Freunde nennen mich Theo.«
»Schön. Ich nehme an, Theo, du willst zu Mittag essen. Außer dem Pieper hast du ja kein Gepäck.« Degn öffnete mit gekonnten Griffen zwei Flaschen Lübecker Rotspon. Der dunkle Rote gehörte zu den Lieblingsgetränken der Skagener Künstler.
»Mein Gepäck steht draußen.«
Degn runzelte die Stirn. »Das heißt, du willst ein Zimmer?«
»Ja, aber essen würde ich auch gern was.«
Degn nahm ein Tablett, stellte die Flaschen darauf und brachte es zu einem Tisch, an dem vier Männer saßen. Sie redeten lebhaft miteinander, aßen tüchtig und tranken reichlich. Eine Batterie leerer Flaschen zeugte davon. Als Degn zurückkam, sagte er zu Theo: »Du hast Hunger, du hast Gepäck, und du willst ein Zimmer. Hast du auch Kronen?«
Theo grinste entwaffnend. »Offen gestanden, nicht viele. Bei mir herrscht gerade ziemliche Ebbe. Aber ich könnte dir ein Bild von mir geben. Sozusagen als Anzahlung.«
»Soso.« Degn schürzte die Lippen unter dem dichten Gestrüpp seines Bartes. Er war ein leidenschaftlicher Bewunderer der Skagener Kunst, und es war schon öfter vorgekommen, dass er ein Bild als Bezahlung annahm, wenn die Maler nicht gut bei Kasse waren. Sollte er das auch diesmal tun? Zumindest war dieser Theo nicht unsympathisch. Etwas forsch im Auftritt vielleicht, jedoch mit netten, offenen Gesichtszügen. »Hast du das Bild dabei?«
Theo hob bedauernd die Hände. »Es ist noch nicht ganz fertig. Das ist auch der Grund, warum Campanini und ich nach Skagen gekommen sind. Ich verspreche mir großartige Ergebnisse durch das einzigartige Licht hier.«
Degn zögerte. Das Hotel, das er vor ein paar Jahren von seinen Eltern übernommen hatte, lief zwar gut, aber es war kein Selbstläufer. Zu verschenken gab es nichts. Andererseits kam es auf ein Essen mehr oder weniger nicht an. Oder?
Campanini war es, der die Situation klärte, indem er plötzlich zu singen begann – fröhlich, munter und überaus laut. »Krrürüürrü … rororuru … doudoudou … krrürüürrü!« Alle Köpfe wandten sich ihm zu.
Einer der vier Männer, ein blonder Mann Mitte dreißig, kam herüber und rief: »Fantastisk! Dass aus einem so kleinen gelben Ball so ein Lärm kommen kann! Und das bei geschlossenem Schnabel. Wie heißt er denn?«
»Campanini«, antwortete Theo.
Der Künstler lächelte. »Nach dem italienischen Tenor?«
»Genau.«
»Und wie heißt du?«
»Ich bin Theo.«
»Und ich bin Michael Ancher, aber alle sagen Mikkel zu mir. Hat Campanini häufig solche Anfälle?«
Theo grinste schief. »Nur wenn er Hunger hat.«
»Aha.« Mikkel strich sich über seinen Schnäuzer. »Könnte es vielleicht sein, dass du es bist, der Hunger hat?«
»Ich würde lügen, wenn ich Nein sagte.«
»Dann komm.« Mikkel zog Theo mitsamt Campanini an den Künstlertisch und stellte ihn vor. Ein Stuhl wurde herbeigeschafft, Degn brachte einen Teller und einen Löffel, und Mikkel schöpfte aus der großen Terrine eine Kelle Fischsuppe. »God appetit!«
»Danke.« Theo begann ohne Umschweife zu essen. Die vielen Blicke, die ihn dabei beobachteten, schien er nicht zu bemerken. »Sehr lecker, die Suppe.«
Sein Nebenmann zur Rechten schob ihm ein Glas Wein hin. Er hieß Oscar Björck und war Mitte zwanzig, also in Theos Alter. »Der Fisch will schwimmen«, sagte er. »Skål!«
»Skål!« Theo trank mit großen Schlucken, setzte das Glas ab und aß weiter.
»Bist du Deutscher?«
»Ja«, antwortete Theo mit vollem Mund. Der Seehecht in der Suppe schmeckte köstlich. »Hört man das?«
»Ziemlich.« Björck nahm noch Wein. »Aber mach dir nichts draus. Ich komme aus Schweden, und das hört man auch.«
Theo nahm sich ein Stück Brot aus dem Korb. »Die Mutter meiner Mutter war Dänin. Ich musste sie bedstemor nennen. Immer wenn sie uns in Berlin besuchte, bestand sie darauf, dass ich dänisch mit ihr sprach.«
Ein anderer Teilnehmer der Runde tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. Er trug eine Schiebermütze und meinte: »Ich bin Christian. Christian Krohg, komme aus Norwegen. Vorhin habe ich mitgekriegt, dass du in Berlin studiert hast. Das habe ich auch. Allerdings ein paar Semester vor dir. Bist ja noch ein junger Hüpfer!«
Heiterkeit am Tisch.
Theo lachte mit. »Ich werde mit jedem Tag älter.«
Ein schwerer Mann, der Theo gegenübersaß, zündete sich eine Zigarre an. Dicke Qualmwolken waberten über den Tisch. Der Mann hieß Carl Locher, hatte einen breiten Schädel, einen Walrossbart und einen grimmigen Blick. Er beugte sich hinunter und hob das Tischtuch an. Eine Bulldogge kam hervor, die ihrem Herrn wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Locher tätschelte sie und gab ihr ein Stück Fisch von seinem Teller. »Das ist meine Schöne. Sie heißt Venus.«
Björck neben Theo meinte: »Manche fragen sich, ob Carl wie Venus aussieht oder ob Venus wie Carl aussieht. Wir werden die Antwort wohl nie erfahren.«
Abermals Heiterkeit am Tisch.
Locher grunzte gutmütig und paffte weiter. Venus gähnte und verkroch sich wieder unter dem Tisch. Über dem Tisch stand mittlerweile eine dicke Rauchwolke. »Du warst ja auf der Kunstschule in Berlin«, sagte Locher zu Theo, »beherrschst du auch die Technik, einen Dunst wie diesen auf die Leinwand zu bringen?«
»Krrürüürrü … rororuru …!«, meldete sich Campanini. Sein Trillern klang irgendwie nach Protest.
»Was hat er denn?«, fragte Locher.
»Was wohl«, meinte Krohg. »Der Pieper erstickt gleich an deinem Qualm. Ich bringe ihn aus der Schusslinie.« Er stand auf und trug Campanini zur gegenüberliegenden Fensterbank. »Ich lüfte mal.«
»Lieber nicht«, warnte Theo. »Campanini ist ein Harzer Roller und sehr empfindlich. Seine Stimme würde in der Zugluft leiden.«
Krohg und die anderen lachten.
»Nein, wirklich! Er ist sehr sensibel. Früher war er Bergmann.«
»Was?«
»Er hat unter Tage gesungen, zusammen mit anderen seiner Art. Wenn einer von ihnen tot umfiel, wussten die Kumpel, dass Gas im Schacht war. Ich habe Campanini gerettet, indem ich ihn einem Steiger abkaufte. Das war letztes Jahr im Harz, in Sankt Andreasberg, wo ich mich in der Landschaftsmalerei geübt habe.«
»Landschaftsmalerei?« Krohg sprach das Wort aus, als hätte er Salz im Mund. »Hast du dich dabei nicht zu Tode gelangweilt?«
Theo zögerte. »Ehrlich gesagt, nein. Ich mag Bilder, die Harmonie und Idylle ausstrahlen. Eines meiner Lieblingsbilder heißt Männer aus Skagen, an einem Sommerabend bei gutem Wetter. Es ist von Martinus Rørbye.«
Locher produzierte einen Rauchring. »Rørbye war ein Meister des Goldenen Zeitalters, aber heutzutage malen die wenigsten noch so wie er. Harmonie und Idylle sind weltfremd. Wir Skagener Maler wollen lebensecht sein, atmosphärisch dicht, den Betrachter packen. Und wir wollen zeigen, wie die Dinge sind: ob es heimkehrende Fischer sind, die ihr Boot in der Brandung an Land ziehen, ob es eine Magd ist, die in der Küche Kräuter aufhängt, ein alter Mann, der an einem Stock schnitzt, oder eben ein voller Esstisch, über dem Rauchschwaden hängen. Kannst du so etwas nun malen oder nicht?«
Theo rang sich ein Grinsen ab. »Für einen Esstisch ohne Qualm würde es wohl reichen.«
»Den siehst du bereits da drüben«, sagte Mikkel und wies auf die große holzvertäfelte Wand. Daran hing ein hochformatiges Gemälde mit dem Titel Künstler beim Mittagessen in Brøndums Hotel. Es zeigte genau jenen Tisch, an dem Theo saß, mit Mikkel Ancher, Oscar Björck, Christian Krohg und noch ein paar anderen in geselliger Runde. Ihre Gesichter waren klar und deutlich erkennbar.
Theo staunte über die kräftigen, natürlichen Farben, die ungewöhnliche Perspektive, das meisterhaft gesetzte Licht. »Wer hat das gemalt?«, fragte er.
»Krøyer, im letzten Jahr«, antwortete Krohg. »Wenn du weiter nach oben siehst, erkennst du ein Bild darüber. Es hat ein kreisrundes Format und zeigt … na, wen wohl?«
»Degn!«, rief Theo. »Er ist fantastisch getroffen.«
»So ist es«, bekräftigte Locher. »Wie aus dem Leben.«
Degn winkte ab. Er stand nicht gern im Mittelpunkt. »Nun lasst mal gut sein. Jedenfalls ist es Krøyers Absicht, noch dieses Jahr außer meiner Wenigkeit weitere Porträts von euch zu malen und daneben aufzuhängen. Es soll eine Galerie werden.«
»Jawohl«, bestätigte Björck. »Als Zeichen dafür, dass dies unser Speisesaal ist.«
»Wo ist Krøyer überhaupt?«, fragte Theo. »Ich muss gestehen, ich bin auch seinetwegen nach Skagen gekommen.«
Locher drückte seine Zigarre aus. »Krøyer reist viel in der Weltgeschichte herum, genau wie wir alle. Momentan wohnt er in Kopenhagen.«
Krohg fügte hinzu: »Er wird im Mai oder Juni wieder nach Skagen kommen. Genau weiß man das bei ihm nie.«
Björck ergänzte: »Er führt ein unstetes Leben. Anders als Mikkel, der hier in Skagen festgemacht hat und mit Anna glücklich verheiratet ist. Stimmt’s, Mikkel?«
Bevor Ancher antworten konnte, öffnete sich die Tür ein zweites Mal, und eine junge Mutter schob ihren Kinderwagen in den Speisesaal. Sie war groß und schlank, ihr Mittelscheitel wirkte streng, konnte aber den freundlichen, weltoffenen Blick nicht mindern.
»Da ist sie ja«, brummte Locher. »Hej, Anna!«
»Hej, ihr Pinselakrobaten«, antwortete sie und musste sich gleichzeitig Venus’ Zudringlichkeiten erwehren. Die große Bulldogdame umkreiste den Kinderwagen. »Ich glaube, sie riecht, dass Helga eine neue Windel braucht.«
»Anna, mein Liebes!« Mikkel küsste sie. »Hast du etwa auf mich gewartet?«
Anna lachte. »Nein, ich habe gemalt, während du mit den Freunden zu Mittag gegessen hast. Aber nun ist es Zeit, nach Hause zu kommen.«
»Gewiss.« Mikkel nahm die kleine Helga aus dem Kinderwagen und hob sie hoch. »Na, mein Spatz, hast du Papa auch vermisst?«
Helga begann zu weinen.
Mikkel blickte erschrocken und begann, Grimassen zu schneiden, um sein Töchterchen aufzuheitern. Vergeblich.
Daraufhin versuchten es die anderen, sie standen wie eine Traube um das Kind herum und gestikulierten. »Hej, lille Helga!«
»Se her!«
Björck steckte den Daumen in den Mund und tat so, als sauge er daran. »Tommelfinger suger!«
Mikkel versuchte es mit einem dänischen Kinderlied: »Drømte mig en drøm i nat …!«
Helga plärrte weiter.
»Wartet mal, ich habe eine Idee.« Theo holte Campanini vom Fensterbrett und hielt ihn Helga vor die Nase. Zum Glück begann der Vogel in diesem Moment zu singen. Helgas Gesicht glättete sich. Sie begann zu strahlen, stieß fröhlich-glucksende Laute aus und versuchte mit ihren Patschhändchen, nach Campanini zu greifen.
»Wer ist das denn?«, fragte Anna.
»Das ist Campanini«, erklärte Theo.
»Der Piepmatz scheint eine beruhigende Wirkung auf unsere Kleine auszuüben. Vielleicht solltet ihr beide uns mal besuchen?«
»Gern.« Theo freute sich.
»Nun müssen wir aber los. Mikkel, kommst du?«
»Natürlich, mein Liebes.« Mikkel lächelte und blickte augenzwinkernd zu den Freunden. »Wie könnte ich etwas ablehnen, wenn die Chefin es befiehlt …?«
Augenblicke später waren alle drei verschwunden.
»Tja«, meinte Locher. »Ich gehe dann mal rauf in mein Zimmer.«
»Ich auch«, sagten Björck und Krohg fast gleichzeitig. »Vi ses, Theo.«
»Vi ses«, antwortete Theo und blickte auf den verwaisten Tisch. Er stellte Campaninis Bauer zwischen die leeren Flaschen und hielt plötzlich erschrocken inne.
»Was hast du?«, fragte Degn.
»Ich habe ganz vergessen, dass mein Gepäck noch draußen steht.«
»Das tut es nicht. Es befindet sich bereits oben in deiner Kammer.«
»Äh, wie?«
Degn lächelte unter seinem Bartgestrüpp. »Mir ist eingefallen, dass die Saison vor der Tür steht und ich einen Kellner gut brauchen könnte.«
»Aber, Degn, ich …«
»Du bist ab sofort eingestellt.«
»Degn, ich bin kein …«
»Du kannst schon mal den Tisch abräumen und neu eindecken.«
Ich war heute Vormittag angeln, ’ne halbe Meile südlich von der Rettungsstation. Weißt ja, an der Stelle beißen sie am besten. Da hab ich ihn gefunden«, sagte Jonas.
»Aha.« Brodersson hielt zwei Finger an die Halsschlagader des Schwerverletzten. Der Puls war schwach, aber spürbar. »Er ist nur bewusstlos«, stellte er erleichtert fest.
»Auf ’ner kaputten Holzkiste lag er. Alles voller rostiger Nägel. Hab ihn die ganze Strecke bis zur Station über der Schulter geschleppt. Da lief reichlich Wasser aus ihm raus.«
»Und er ist kein einziges Mal zu sich gekommen?«
»Nee. Auch nicht, als ich ihn später auf der Karre hatte. Nur manchmal hat er gestöhnt, mehr nicht. Ich schätze, er war Schiffsheizer auf der Nordstern. Guck dir seine Sachen an. Alles voller Ruß und Schiet, und die Fingernägel sind schwarz.«
»Ja, sieht ganz so aus.« Brodersson betrachtete den Mann näher. Sein Gesicht war bleich, bartlos, mit überraschend markanten Zügen, die nicht zu einem Schiffsheizer passen wollten. An der Schläfe rechts saß eine bedrohlich große Beule. Sie mochte der Grund für eine Gehirnerschütterung und die daraus folgende Ohnmacht sein. »Ebba, mein Mädchen«, sagte Brodersson zu seiner Tochter, während er das Stethoskop hervorholte, »breite ein paar Wolldecken über seine Beine, er ist völlig unterkühlt.«
»Soll ich ihm vorher die Hose ausziehen, far?«
»Natürlich. Genier dich nur nicht.« Brodersson öffnete die Jacke des Verletzten, um den Brustkorb abzuhören, doch dazu kam es nicht, denn aus einer tiefen Risswunde im linken Oberarm sickerte Blut. Der Jackenärmel aus schwerem Köperstoff hatte es bisher aufgesogen und so die Verletzung verborgen. Brodersson unterdrückte einen Fluch. »Gebe Gott, dass die Arteria brachialis unversehrt ist«, murmelte er und atmete auf, als er Sekunden später sah, dass die Ader nicht getroffen war.
»Far, ich krieg den Gürtel nicht auf!«, rief Ebba.
»Lass dir von Jonas helfen.«
Brodersson reinigte die Verletzung mit Alkohol und griff zu Nadel und Catgut. Während er mit wenigen Stichen die Wunde schloss, fragte er sich, wie viel Blut sein Patient wohl verloren hatte. Er hoffte, dass es nicht zu viel war, und musste an seine Forschungen zur Bluttransfusion denken. Wenn er auf dem Gebiet doch nur schon weiter wäre!
In der Zwischenzeit hatte Ebba mit Jonas’ Unterstützung den breiten Ledergürtel gelöst und zerrte nun an den Enden der Hosenbeine. »Es geht nicht, der Stoff ist so klamm!«
»Warte«, brummte der Alte. »Das haben wir gleich.« Mit einem kräftigen Ruck zog er das Beinkleid über die Füße. Der Verletzte stöhnte auf. Seine Augenlider flatterten.
»Ich glaube, er wird wach!«, rief Brodersson erleichtert. Er schlug dem Mann mit der flachen Hand ein paar Mal gegen die Wange. »Hej, willkommen in Alt-Skagen. Kannst du mich erkennen?«
Ein schwaches Nicken war die Antwort.
»Du bist in Sicherheit. Hast du starke Schmerzen?«
Wieder ein Nicken.
»Ebba, gib unserem Patienten ein Quantum Laudanum in etwas Wasser.«
»Mach ich, far.«
Ebba holte die Arznei und flößte sie dem Mann vorsichtig ein. »Wie heißt du?«
»Arndt.«
»Deine Schmerzen werden gleich nachlassen, Arndt.«
»Da… Danke.«
Brodersson sagte: »Du hast vermutlich das, was wir Ärzte eine Commotio cerebri nennen, eine Gehirnerschütterung. Du warst die ganze Zeit ohnmächtig, doch nun bist du wach, und alles wird gut.«
»Danke, Herr Doktor.«
»Kommst du aus Deutschland?«
»Ja, Herr Doktor.«
»Das dachte ich mir. Du kannst Knud zu mir sagen. In Dänemark nennen wir uns beim Vornamen. Wir sind nicht so förmlich wie bei euch im Reich.«
»Danke.«
»Ich lege dir jetzt eine Kompresse am Oberarm an und untersuche dich auf weitere Verletzungen.«
Arndt nickte und schloss erschöpft die Augen. Das kurze Gespräch hatte ihn sehr angestrengt.
Brodersson erkannte weitere Blessuren. Arndts rechter Ringfinger war gebrochen und sein linker Fuß stark angeschwollen. Womöglich ein weiterer Bruch, vielleicht auch nur eine Verstauchung. In jedem Fall der Grund, warum Arndt beim Ausziehen der Hose so aufgestöhnt hatte. Daneben wies sein Körper zahlreiche Schürf- und Quetschwunden auf. »Ebba, sei so gut und hole frisches Brunnenwasser, damit wir den Finger kühlen können, während ich mich um den Fuß kümmere.«
»Ja, far.«
»Jonas, wenn du schon deinen Knösel anmachst, blas den Qualm in eine andere Richtung. Und zieh den Strumpf ganz vorsichtig von dem lädierten Fuß. Ja, so ist es recht. Arndt, hörst du mich?«
»Ja …?«
»Versuche, die Zehen zu bewegen.«
Arndt gehorchte.
»Gut, sehr gut, Junge.« Brodersson ergriff mit einer Hand die Ferse und bewegte mit der anderen den Mittelfuß vorsichtig in jede Richtung.
Arndt stöhnte vor Schmerz, trotz des Laudanums.
»Wir haben Glück. Es ist nur eine Verstauchung. Ich werde dir einen Stützverband anlegen. Jonas, gib mir mal einen der gewickelten Leinenstreifen aus dem Schapp.«
»So was hier?«
»Ja, danke.« Geschickt legte Brodersson den Verband an und lagerte den Fuß hoch. Dann wandte er sich an Ebba, die den gebrochenen Finger mit einem ausgewrungenen kalten Lappen kühlte. »Danke, mein Mädchen.«
Ebba machte Platz für ihren Vater.
Brodersson setzte sich auf einen Schemel neben Arndt und sagte: »Ein Glied von deinem Ringfinger ist gebrochen. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, wie das passiert ist, aber es ist auch nicht wichtig. Bei einem gebrochenen Finger gilt die alte Regel: Einer hilft dem anderen. Das heißt, wir werden den verletzten Ringfinger mit einem Verbandstreifen fest an seinem Nebenmann, dem Mittelfinger, fixieren. Ich werde sehr vorsichtig sein. So, ein Mal herum, zwei Mal, drei Mal … Gleich haben wir’s. Ein Knoten, nicht zu fest, gibt dem Verband abschließenden Halt. Nun kann die Fraktur in Ruhe zusammenwachsen. In vier bis sechs Wochen wird die Sache ausgestanden sein.«
»Danke … Knud. Mange tak.«
»Ebba wird dir noch ein Sedativ geben, damit du gut schläfst. Ich werde die Zeit nutzen und die kleineren Kratzer versorgen. Morgen kannst du uns, wenn du willst, deine Geschichte erzählen.«
Kurze Zeit später war Arndt eingeschlafen. Jonas hatte das Haus verlassen, und Ebba fragte ihren Vater: »Sollen wir Arndt morgen ins Krankenhaus schaffen lassen?«
Brodersson kratzte sich am Kopf. »Eigentlich ja. Aber er ist sehr schwach. Und ich habe Sorge, dass die tiefe Risswunde eine Blutvergiftung verursachen könnte. Es ist besser, wenn er erst mal hierbleibt. Könntest du ihn für ein paar Tage pflegen?«
Ebba zögerte kurz. »Ich glaube schon, far.«
Brodersson schaute seine Tochter an. Sie war mittlerweile neunzehn und ließ ihn zuweilen daran denken, wie schnell die Zeit verging. Er erinnerte sich noch genau an den Tag ihrer Geburt. Sie war mit einem goldblonden Flaum auf dem Kopf und tiefblauen Augen auf die Welt gekommen, und Feddi hatte sie in ihren Armen gewiegt und gesagt: »Sie ist ein kleines Wikingermädchen.« Daran hatte sich nichts geändert, auch wenn Ebba keineswegs wild oder draufgängerisch war, sondern eher von zurückhaltendem, freundlichem Wesen. Doch wenn sie mit blitzenden Zähnen lachte, ging für Brodersson jedes Mal die Sonne auf. »Wenn du ihn pflegst, könntest du dich nicht mehr so oft mit Anna treffen. Wäre das schlimm?«
»Nein, nein!« Fast hätte Ebba gesagt, es sei ihr nur recht, in nächster Zeit im Haus zu bleiben. Sie blickte hinüber zu dem schlafenden Arndt. »Ich mache es gern.«
Zwei Tage waren vergangen. Brodersson hatte Arndt strenge Bettruhe verordnet. Der Kranke lag in der ehemaligen Knechtstube, einem spartanisch eingerichteten Raum, dessen eines Fenster nach Osten wies. Es war ein wolkiger Vormittag, nur manchmal zerteilte eine frische Brise den Himmel und sorgte für ein paar Sonnenstrahlen. Vor dem Fenster zeigten die Holundersträucher erstes Grün. »Wie fühlst du dich?« Ebba löste behutsam den Verband an Arndts Oberarm.
»Es geht.« Arndt hustete.
»Die Wunde sieht gut aus. Was meinst du, far?«
Brodersson, der seine Tochter beobachtete, nickte. »Gott sei Dank, ja.« Er dachte an die Kiste mit den rostigen Nägeln, auf der Arndt an Land getrieben worden war. Dennoch sah es nicht nach einer Blutvergiftung aus. Auch die anderen Verletzungen schienen gut zu verheilen. Nur der Husten machte ihm Sorgen. Er legte die Hand an die Stirn seines Patienten. Sie war heiß. »Seit wann hast du den Husten?«
»Ich weiß nicht …«
Ebba antwortete: »Gestern am späten Abend fing’s an. Ich werde einen neuen Verband anlegen und Fieber messen.«
Brodersson wartete, bis Ebba fertig war. Das Thermometer zeigte 38,9 Grad. »Viel zu hoch«, murmelte er. »Notiere den Wert, Ebba.«
»Ja, far.«
Anschließend setzte er das Stethoskop auf dem Brustkorb des Kranken an. »Atme tief ein und aus. Ein … und aus … und wieder ein …« Während Arndt die Anweisungen befolgte, ließ Brodersson den Schalltrichter des Gerätes hin und her wandern. Was er hörte, gefiel ihm nicht. »Ich fürchte, du kriegst eine Lungenentzündung. Kein Wunder, nachdem du stundenlang der Kälte im Meer ausgesetzt warst. Wir müssen Maßnahmen ergreifen.«
Arndt hustete.
»Was können wir tun?« Ebbas Stimme klang entschlossen. Sie hatte gestern mit Arndt ein paar Worte gewechselt, aber nichts über die schrecklichen Geschehnisse in der Orkannacht erfahren. Wahrscheinlich war er noch zu schwach für ein Gespräch gewesen.
»Oh, wir können einiges tun«, antwortete Brodersson, wobei er sich zuversichtlicher gab, als er war, denn gegen eine Pneumonie halfen nur altbekannte Hausmittel. Mal wirkten sie – und häufig auch nicht. Das Wichtigste war seiner Meinung nach der Wille des Patienten zur Genesung. Bei Arndt jedoch hatte er seine Zweifel. Der junge Mann wirkte fast so, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen. »Zunächst einmal muss das Fieber runter. Und gegen den Husten müssen wir auch etwas unternehmen. Mach Arndt lauwarme Wadenwickel. Sie sollen alle halbe Stunde erneuert werden. Ich werde ihm zusätzlich ein Salicylat verabreichen. Und er muss schwitzen. Gib ihm die dicke Decke mit den Gänsedaunen. Gegen den Husten soll er Honig in heißem Wasser bekommen. Er muss viel trinken und das Fieber ausschwitzen.«
»Ja, ist gut, far.«
»Wäre doch gelacht, wenn wir die Lungenentzündung nicht in den Griff bekämen.«
Trotz aller Bemühungen hatte sich das Fieber am Abend dieses Tages verstärkt. 39,6 Grad zeigte die Skala des Thermometers an. Arndt glühte. Er hustete viel. Ebba versuchte, ihn abzulenken. Sie redete öfter mit ihm, sprach über Skagen und seine Menschen, die Fischer und ihre Arbeit und die Maler, die in Brøndums Hotel ein und aus gingen, während sie regelmäßig die Wadenwickel wechselte.
Arndt ließ alles schweigend über sich ergehen, nur einmal flüsterte er: »Du … bist ein Engel.«
Darauf fiel Ebba nichts ein. Aber es berührte sie stark.
Gegen sieben kam Brodersson dazu und legte Arndt die Hand auf die Stirn. »Abends ist das Fieber immer etwas höher«, sagte er. Es sollte beruhigend klingen, doch Ebba kannte ihren Vater. Sie wusste, dass er sich Sorgen machte. »Ich werde noch etwas Salicylatpulver in einem Glas Wasser auflösen«, sagte er.
Ebba nahm den fiebersenkenden Trank entgegen, hob Arndts Kopf an und flößte ihm die Arznei ein. Er verschluckte sich und hustete qualvoll. »Tut mir leid«, krächzte er, als der Anfall vorüber war.
»Meine Schuld«, flüsterte sie. »Komm, trink den letzten Schluck.«
Nachdem Arndt fertig war, nahm Brodersson seine Tochter beiseite und sprach leise auf sie ein. »Du hast ihm den ganzen Tag die Waden gewickelt und zu trinken gegeben. Du hast ihn gefüttert und ihm immer wieder die Stirn gekühlt. Ich fürchte, das Ganze wird auf die Dauer zu viel für dich. Es ist wohl besser, wenn wir ihn ins Krankenhaus schaffen lassen. Was hältst du davon?«
»Nichts.«
»Nichts?« Mit dieser Antwort hatte Brodersson nicht gerechnet. »Aber du hast doch selbst schon daran gedacht?«
»Im Krankenhaus gibt es nur drei Schwestern. Die müssen sich mindestens um zwei Dutzend Patienten kümmern. Arndt hätte dort nicht die Pflege, die er bei uns hat. Er bleibt hier.«
Brodersson zögerte. »Meinst du wirklich …?«
»Ja, far, das meine ich.«
Am Tag darauf kletterte Arndts Fieber auf 41,1 Grad. Ebba verstärkte nochmals ihre Bemühungen. Sie sorgte dafür, dass Arndt trotz seiner Schwäche mit Kamille inhalierte, um die entzündete Lunge zu besänftigen, und gab ihm darüber hinaus Natron, um einer Magenreizung durch das häufig verabreichte Salicylat vorzubeugen. Brodersson machte in der Zeit Krankenbesuche, doch wann immer er konnte, unterstützte er Ebba. Gegen Abend, als das Fieber abermals stieg, sagte er zu ihr: »Es ist der reine Hohn: Alle anderen Verletzungen verheilen gut, nur die vermaledeite Pneumonie bringt Arndt an den Rand des Todes. Wir können nur hoffen, dass die Temperatur nicht weit über zweiundvierzig Grad steigt, denn sonst …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, doch Ebba wusste auch so, was er meinte.
In der Nacht wich Ebba nicht von Arndts Seite. Sie machte ihm Wickel, kühlte die Stirn, flößte ihm heißes Wasser mit Honig ein, reinigte immer wieder die Schüssel mit seiner Notdurft, notierte die Höhe des Fiebers. Sie kam sich vor wie ein Automat. Mehrmals drohte der Schlaf sie zu übermannen, aber sie dachte: Wenn ich einschlafe, stirbt er. So kämpfte sie weiter. Am Morgen, als die Hähne in der Nachbarschaft krähten, maß sie erneut Fieber. 42,1 Grad!
Ebba biss die Zähne zusammen. Fand ein paar aufmunternde Worte für Arndt, doch sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt verstand. Gegen Mittag versuchte sie, ihm ein paar Löffel Hühnersuppe einzuflößen, denn irgendjemand hatte ihr gesagt, nichts helfe besser gegen zu hohe Körpertemperaturen. Arndt jedoch dämmerte weiter mit trüben Augen vor sich hin und begann sogar zu fantasieren. Es war, wie es schien, zusammenhangloses Zeug, was er redete, nur zwei Wörter kamen immer wieder vor: »Blut« und »Kampf«. Ebba konnte nichts damit anfangen, und sie fragte auch nicht. Sie hätte ohnehin keine Antwort bekommen.
So ging der Tag dahin.
Am Abend lag die Temperatur bei 42,2 Grad. Ebba hätte heulen mögen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Das Fieber kam ihr vor wie ein Feuer, das man nicht austreten konnte. Sollten alle ihre Bemühungen umsonst gewesen sein?
»Da bin ich.« Brodersson kehrte von einem Patienten zurück, stellte den Arztkoffer ab und untersuchte Arndt. Dann nahm er Ebba mit in seinen Behandlungsraum, wo sie ungehört reden konnten. »Arndt ist zäh«, begann er mit sorgenvoller Miene. »Ich fürchte aber, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. In der kommenden Nacht wird es sich entscheiden. Überlebt er sie, wird er gesund, wenn nicht, werden wir ihn verlieren.«
Ebba kämpfte mit den Tränen. »Ja, far. Aber solange er noch atmet, gebe ich nicht auf.«
Brodersson lächelte schmerzlich. »Ich wünschte, deine Mutter könnte dich so sehen. Sie wäre stolz auf dich.«
Gegen zehn Uhr nahm Ebba eine Laterne und trat hinaus in die Nacht. Es kostete sie große Überwindung, das zu tun, doch es gab keine andere Möglichkeit. Sie lenkte ihre Schritte zur Skagen Kirke, die ungefähr eine Dreiviertelstunde Weges entfernt lag. Unbehelligt kam sie dort an und öffnete knarrend die schwere Holztür. Sie schlüpfte hinein. Drinnen war es stockdunkel. Ebba wanderte mit der Laterne durch die Bankreihen nach vorn und entzündete eine Kerze. Sie stellte das Licht auf den Altar. Dann faltete sie die Hände. Ihr Blick ging hinauf zu dem Kruzifix mit der Dornenkrone. »Lieber Herr Jesus«, sagte sie leise. »Bitte hilf, dass er am Leben bleibt.«
Im Großen und Ganzen war Degn zufrieden mit Theos Arbeit. Deshalb sagte er an diesem Samstagmorgen zu ihm: »Du kommst gut an bei meinen Gästen, auch wenn ich glaube, dass dieser Umstand mehr Campaninis Gesang zu verdanken ist als deinem schnoddrigen Mundwerk. Immerhin: Mach ein paar Stunden frei und genieße den Tag. Am Nachmittag will ich dich hier wieder sehen.«
»Danke, Degn.« Theo war überrascht. Mit Freizeit hatte er nicht gerechnet.
»Vi ses.« Degn verschwand in Richtung Küche.
Stattdessen erschien Locher auf der Bildfläche. Er war in Begleitung von Venus und trug eine Staffelei über der Schulter. »Ich will rüber nach Alt-Skagen und das Wrack malen. Das Licht ist heute gut dafür«, brummte er. »Kannst mitkommen, wenn du willst. Bist ja auch Maler, oder?«
»Bin ich.« Theo überlegte. »Ich müsste nur noch schnell Campanini seine Körnchen und etwas Wasser geben. Und meine Staffelei holen.«
»Ich warte.«
Wenig später waren die drei unterwegs. Locher links, Theo rechts, Venus in der Mitte. Auf halbem Wege, an der Kreuzung zum Højensvej, begegneten sie einem Händler, der seine Waren auf einem Wagen ausgebreitet hatte. Um ihn herum standen mehrere Frauen, die seine Angebote prüften.
»Das ist der Prediger«, erklärte Locher. »Er verkauft hauptsächlich Posamenten, also jede Menge Zeug, mit dem die Weibsleute sich und ihre Umgebung schmücken. Meiner Meinung nach völlig überflüssig, wenn man von den Malerartikeln, die er für uns Künstler bereithält, einmal absieht.«
In diesem Moment richtete der Prediger sich zu voller Größe auf. Um den Hals hatte er sich bunte Schnüre geschlungen, schmückende Geflechte für mancherlei Zweck, die er nacheinander in die Höhe hielt. »Seht her, ihr guten Frauen! Kordeln, Litzen, Quasten jeglicher Art! Knöpfe, Fransen, Spitzen! Meisterleistungen der Galanterieware, die in jeder von euch die Verführerin wecken sollen. Werdet wieder zu Eva, kehrt heim ins Paradies zu euren Männern – aber nicht mit einem schnöden Apfel, sondern mit einem meiner unwiderstehlichen Glanzstücke!«
Die Frauen kicherten und scharten sich dichter um den stattlichen Mann.
Mit großer Geste streifte er sich ein Paar weiße Handschuhe über, steckte sich mehrere buntschillernde Ringe auf die Finger und präsentierte sie stolz. »Ringe!«, rief er. »Symbole der Liebe und der Treue, geheimnisvolle, runde Objekte, die keinen Anfang und kein Ende haben, Garanten der Unendlichkeit, der unendlichen Liebe, der ewigen Treue! Oh, ihr guten Frauen, macht euch für eure Männer schön, tut ein gottgefälliges Werk, denn wie heißt es schon in der Heiligen Schrift: Die Frau sei des Mannes Zier! Erwerbt eine dieser prachtvollen Raritäten …«
»Da hörst du, warum der Mann Prediger genannt wird«, sagte Locher. »Der verhökert dem Teufel noch das Weihwasser. Alle drei, vier Wochen kommt er nach Skagen und versucht, seinen Krimskrams loszuwerden.«
Theo lachte. »Der liebe Gott als Verkaufsmasche, keine schlechte Idee!«
Sie gingen weiter, den Højensvej hinunter, und Theo fragte: »Wieso heißt dieser Weg eigentlich Højensvej?«
Locher stutzte. »Weißt du das wirklich nicht?«
»Sonst würde ich nicht fragen.«
»Die Alt-Skagener nennen ihren Ort seit jeher Højens.«
»Aha. Mir soll’s recht sein.«
Die drei setzten sich wieder in Bewegung. Venus ging voran. Plötzlich begann sie zu knurren. Die Katze von Henning Jensen saß auf dem Zaun vor seiner Schmiede und machte einen Buckel.
Locher beruhigte Venus und erklärte: »Sie mag keine Katzen. Magst du Katzen?«
»Ich? Gott bewahre!« Theo gab sich entrüstet. »Campaninis Feinde sind auch meine Feinde!«
Locher grunzte zufrieden. »Da rechts ist Simonsens Netzmacherei. Ich habe den Alten letztes Jahr gemalt, knorriger Mann, arthritische Hände, aber beim Netzflicken immer noch der Geschickteste. Hej, Lars, hvordan går det?«
»Det går godt!«
Locher winkte, sie zogen weiter. Vor ihnen wehten ein paar große Betttücher auf der Leine. Ebba hatte sie aufgehängt und sicherte sie mit hölzernen Klammern.
»God morgen, Ebba!«
»God morgen.« Ebba sah blass und übernächtigt aus.
»Wie geht’s dem Schiffbrüchigen?« Es hatte sich herumgesprochen, dass Brodersson einen Seemann der Nordstern behandelte.
»Er lebt.« Über Ebbas Gesicht huschte ein Lächeln.
»Das hört man gern. Grüße Knud von mir.«
»Mach ich.«
Während sie dem Strand zustrebten, sagte Theo: »Sie ist bildhübsch, wenn sie lächelt.«
Locher brummte: »Sie lächelt selten. In letzter Zeit hat sie sich kaum sehen lassen. Sehr zum Leidwesen der jungen Fischer im Ort. Manch einer würde sie wohl vom Fleck weg heiraten, aber Ebba scheint kein Interesse an ihnen zu haben. Knud hat mal in der Künstlerrunde erzählt, sie habe in Kopenhagen als Krankenschwester gearbeitet und sei zurückgekommen, um ihm den Haushalt zu führen. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja eine unglückliche Liebe in der Hauptstadt. Da vorn ist übrigens schon die Rettungsstation. Wir wenden uns nach links. Immer am Strand entlang.«
Nach mehreren hundert Schritten machte Locher zwischen zwei Dünen halt. »Hier ist ein windstilles Plätzchen. Da malt es sich ungestört.« Er baute seine Staffelei auf und rammte den Stiel eines aufgespannten gelben Schirms in den Sand. »Mein Parasol«, erklärte er. »Das gute Stück stammt noch aus meiner Pariser Zeit, als ich bei Léon Bonnat studierte. Ein perfekter Sonnenschutz für meine Venus. Sie hat doch so empfindliche Haut.«
Als hätte sie die Worte ihres Herrn verstanden, kroch die Bulldogge prompt unter den schützenden Schirm.
»So ist es brav.« Während Locher einen Klappstuhl entfaltete und seine Segeltuchtasche mit den Malutensilien öffnete, wanderte sein Blick hinaus aufs Meer. Die Nordstern lag wie ein gestrandeter Wal in der Ferne. Sie war in der Mitte zerbrochen, Bug und Heck ragten hilflos aus dem Wasser. »Welch schönes Motiv!«
Theo kniff die Augen zusammen und betrachtete das Wrack. »Warum willst du ausgerechnet ein zerstörtes Schiff malen? Es könnte doch auch ein vorüberfahrender Dampfer sein?«, fragte er.
Locher sah ihn abschätzend an. »So etwas kann nur einer fragen, der kein Marinemaler ist. Ein fahrendes Schiff ist langweilig. Es dampft von A nach B und erzählt keine Geschichte. Ganz anders ein Wrack. Es birgt ein Schicksal. Es kündet von der Gefahr, der es ausgesetzt war, von dem Ringen der Matrosen ums Überleben, von Sturm, Kampf, letzten Gebeten. Ein Wrack ist ein zerstörter Organismus, umgeben von heiler Natur. Ein Gegensatz zwischen Tod und Leben. Jedes gute Bild zeigt einen Gegensatz, ob farblich, inhaltlich, perspektivisch. Oder es stellt eine Frage wie in dem preisgekrönten Bild von Mikkel Ancher. Vielleicht kennst du es. Es heißt Wird er es schaffen, die Landspitze zu umrunden? und zeigt mehrere Fischer, die aufs Meer schauen und darauf hoffen, dass ihr Kollege mit seinem Boot den gefährlichen Punkt umschiffen kann.«
»Ich glaube, ich kenne es. Es ist recht berühmt, weil König Christian es vor ein paar Jahren für seine Kunstsammlung erworben hat.« Theo schickte sich an, seine Staffelei neben dem Parasol und der darunter dösenden Venus aufzustellen, wurde von Locher allerdings unterbrochen.
»Nichts gegen dich, aber rück mir nicht so dicht auf die Pelle. Das stört mich.«
»Kein Problem.« Theo lächelte mühsam.
»Wenn ich arbeite, dulde ich nur Venus in meiner Nähe. Sie sagt nichts und fragt nichts, versteh das bitte.«
»Schon gut.« Theo klappte sein Gestell wieder zusammen und verschwand hinter der nächsten Düne.
Locher atmete auf. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht, die Sicht war gut, die Konturen des Wracks hoben sich scharf von seiner Umgebung ab. Er begann, das Grünblau des Meeres auf seiner Palette anzumischen, und hielt plötzlich inne. Ein Schiff näherte sich dem Wrack. Locher holte ein Fernglas hervor und sah hindurch. Es war eines der Boote von der Rettungsstation. Vier Ruderer saßen darin. Er erkannte Thorvald, den Vormann. Dazu Rasmus und Sven. Und Gorm, der noch bei seiner alten Mutter lebte. Was wollten die Männer bei dem Wrack? Dann fiel es Locher ein. Sie wollten Verwertbares bergen. Die Innereien eines Wracks waren wie Strandgut. Wer es fand, konnte es behalten, sofern der Eigentümer keinen Anspruch darauf erhob. Doch wer fragte schon danach.
Locher beobachtete, wie die Fischer am Heck die Bordwand emporkletterten, über die Reling stiegen und im Brückenaufbau verschwanden. Vielleicht hatten sie es auf das Steuerrad, die Schiffsglocke oder ein paar Rettungsringe abgesehen. Derlei Gegenstände waren dekorativ und mitunter gut zu verkaufen.
Er wollte sich gerade wieder seiner Malerei zuwenden, als die Männer plötzlich abermals auftauchten. Sie hatten keinerlei lohnende Funde dabei, sondern einen leblosen Körper, dessen Kopf blutüberströmt war. Vorsichtig seilten sie den Mann ab und verstauten ihn in ihrem Boot. Thorvald gab das Zeichen zum Aufbruch. Sie ruderten zurück.
Lochers Neugier war geweckt. Was war da passiert? Die Frage ließ ihm keine Ruhe. Mit dem Malen würde es heute nichts mehr werden. Er packte seine Utensilien zusammen und gab Venus einen aufmunternden Klaps. »Komm, meine Schöne, wir brechen auf.«
Unterwegs trafen sie auf Theo, der im Gras gelegen hatte und hastig ein Tuch über seine Leinwand warf, als er die beiden erblickte. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er.
»Hast du das nicht mitgekriegt?«, brummte Locher. »Man hat soeben einen Toten vom Wrack geborgen. Komm mit zur Rettungsstation.«
»Der Mann ist an einem Stich in den Hals gestorben«, erklärte Thorvald zwanzig Minuten später. Er deutete auf die tiefe, hässliche Wunde. »Die Waffe haben wir auch gefunden. Hier, diesen Bootshaken.«
Locher wurde bleich. »Dann ist er nicht ein Opfer des Schiffsunglücks?«
»Nein«, sagte Thorvald knapp.
Theo besah sich den blutigen Haken und den gut gekleideten Mann, bei dem es sich offensichtlich um einen Passagier handelte. »Er ist ermordet worden!«, stellte er schaudernd fest.
Thorvald nickte. »Der Mörder muss mit an Bord gewesen sein. Die Frage ist nur, ob er zu den Ertrunkenen oder zu den Vermissten gehört.«
Locher dachte nach. »Oder aber«, sagte er, »der Mörder ist weder ertrunken noch vermisst.«
Ebba konnte sich nicht erinnern, jemals so froh an einem Morgen gewesen zu sein. Als sie nach langer Nacht gegen sieben aus einem kurzen Erschöpfungsschlaf erwachte, hatte ihr erster Blick Arndt gegolten. Und Arndt hatte ihren Blick erwidert – aus müden, aber klaren Augen. Der fiebrige Glanz war weitgehend gewichen. Ein gutes Zeichen!
Sie hatte ihm zu trinken gegeben und etwas Suppe, und die ganze Zeit hatte ihr Herz gejubelt. Etwas später war far dazugekommen. Er hatte ihren Eindruck bestätigt und gesagt: »Ich glaube, du hast ihn über den Berg gebracht. Wenn du nicht gewesen wärst …« Sie hatten einander umarmt, und Ebba waren die Tränen gekommen.
Jetzt war es zehn. Arndt schlief. Es war ein guter, ruhiger Schlaf. Ebba hätte sich hinlegen und ebenfalls etwas Kraft schöpfen können, doch sie war viel zu aufgeregt. Sie lenkte sich ab durch Putzen und Wäscheaufhängen. Tätigkeiten, die nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörten, aber heute war alles anders.
Während sie die Betttücher über die Leine warf, dachte sie daran, wie praktisch es wäre, einen großen Garten zu besitzen, ein schönes Stück grüner Fläche wie hinter Brøndums Hotel, auf dem sich die Wäsche einzeln zum Trocknen ausbreiten ließ. Nichts war für frisches Bettzeug besser als die Rasenbleiche.
»God morgen, Ebba!«
Sie blickte auf und erkannte Carl Locher. Er war also auch in diesem Jahr wieder in Brøndums Hotel abgestiegen. In seiner Begleitung befand sich Venus, die bedrohlich aussehende Bulldogge. Ebba mochte beide, denn sie hatten einen gutmütigen Kern. Den jungen Mann daneben kannte sie nicht. Er war groß und schlaksig und hatte einen spitzbübischen Ausdruck im Gesicht. Wahrscheinlich ein Maler wie Locher, denn er trug eine Staffelei. »God morgen.«
Locher fragte, wie es dem Schiffbrüchigen gehe. Ebba zögerte kurz. Eigentlich war sie nicht abergläubisch, doch wenn sie jetzt laut aussprach, dass Arndt es überstanden hatte, würde sie womöglich bitter enttäuscht. Aber dann wischte sie den Gedanken beiseite. »Er lebt.«
Locher zeigte sich zufrieden und zog weiter.
Ebba nahm den großen Wäschekorb und ging wieder ins Haus.
Sie wollte nach Arndt sehen und Fieber messen.
Am Nachmittag war Arndts Temperatur auf 38,2 Grad gesunken. Auch der Husten hatte etwas nachgelassen. Ebba machte ihm heißen Fliederbeersaft mit Honig und flößte ihm Schluck für Schluck den heilenden Trank ein. »Die Orkannacht muss wie ein Albtraum für dich gewesen sein«, sagte sie voller Mitgefühl. »Magst du darüber sprechen?«
Arndt sah sie an. »Noch etwas Saft … bitte.«
Ebba erfüllte seinen Wunsch. »Ich verstehe, du kannst noch nicht darüber reden. Es bewegt dich zu sehr. Werde erst mal gesund, das ist das Wichtigste. Danach sehen wir weiter.«