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Es ist nie zu spät, einem toten Kind Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ...
Eine junge Frau ist spurlos verschwunden. Verzweifelt wenden sich ihre Großeltern an den pensionierten Kommissar Konráð, den sie von früher kennen. Sie wissen, dass ihre Enkelin Drogen geschmuggelt hat, und nun ist sie unauffindbar.
Eigentlich hat Konráð mit seiner beruflichen Vergangenheit abgeschlossen und widmet sich vor allem seiner eigenen Familiengeschichte. Doch als er bei seinen Recherchen auf ein kleines Mädchen stößt, das vor Jahrzehnten im Reykjavíker Stadtsee Tjörnin ertrunken ist, will er die Wahrheit unbedingt ans Licht zu bringen. War der Tod des Mädchens wirklich nur ein tragischer Unfall? Und gibt es eine Verbindung zum Verschwinden der jungen Frau?
Übersetzt von Anika Wolf
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Seitenzahl: 391
In den Tiefen des Langjökull-Gletschers wird die Leiche eines seit Jahrzehnten vermissten Geschäftsmanns entdeckt. Damals wurde die Suche nach ihm eingestellt. Zwar war ein Kollege des Mannes des Mordes verdächtigt worden, aber die Beweise fehlten. Kommissar Konráð blieb jedoch stets von dessen Schuld überzeugt. Inzwischen ist Konráð pensioniert, aber der Fund des Vermissten lässt die Erinnerungen wieder wach werden. Und Konráð beschließt, den Fall noch einmal aufzurollen. Mit dramatischen Folgen …
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.
Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.
1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
Arnaldur Indriðason
Das Mädchen an der Brücke
Island Krimi
Übersetzt aus dem Isländischenvon Anika Wolff
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Stúlkan hjá brúnni«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Arnaldur Indriðason
Published by arrangement with Forlagið, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
Unter Verwendung von Motiven von © Kay Wiegand / Alamy Stock Foto und © shutterstock: Max Topchii | Polarpx | Grunge Creator | Yevhenii Chulovskyi
Karten: Reinhard Borner
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-9444-3
luebbe.de
lesejury.de
Glaubst du an Engel, die sich im Großstadtnetz verwirren
und einsam durch Straßen und über Plätze irren …
Bubbi Morthens
Der junge Mann lief den Skothúsvegur gen Westen, blieb auf der Brücke über den Tjörnin stehen, und als er sich über das Geländer beugte, sah er die Puppe unten im Wasser.
Die Brücke befand sich an der schmalsten Stelle des Sees, der sich südlich davon in den Park Hljómskálagarðurinn erstreckte. Der Mann stand am höchsten Punkt der Brücke, und da es schon spät war, gab es kaum Verkehr. Ein einzelnes Auto zerriss die Stille, bremste vor der Brücke ab und rollte langsam darüber, um anschließend mit lautem Motorengeheul davonzubrausen. Er sah jemanden über die Sóleyjargata laufen, und ein Mann in Trenchcoat und mit Hut ging mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Der junge Mann stützte sich auf das Geländer und blickte über den See in Richtung des Kulturhauses Iðnaðarmannahús, zum Stadtzentrum und weiter zur Esja, die sich in der Abenddämmerung erhob, unerschütterlich und verlässlich. Über dem Berg leuchtete der Mond wie aus einer fernen Märchenwelt herüber, und als er nach unten blickte, sah er die Puppe im Wasser treiben.
Diese Puppe hatte etwas Poetisches, Inspirierendes für einen jungen Dichter wie ihn. Wenn er allein unterwegs war, hatte er immer einen Füllfederhalter und ein kleines Notizbuch dabei. Jetzt kritzelte er ein paar Stichworte über verlorene Unschuld hinein, über die Kürze der Kindheit und das Wasser, das der Ursprung des Lebens und zugleich eine zerstörerische Kraft war. Das Notizbuch war in edles Leder gebunden, die Jahreszahl 1961 in Gold geprägt, darin die Gedanken eines jungen Mannes, der die ersten Schritte in ein Schriftstellerleben machte und seine Aufgabe ernst nahm. Er hatte bereits einen Gedichtband in der Schublade, aber noch nicht den Mut gefunden, ihn einem Verleger zu zeigen. Vernichtende Kritik und Ablehnung waren seine größte Angst, und er feilte bis zur Perfektion an jedem einzelnen Text, außerdem kam immer wieder noch irgendetwas dazu, wie das Gedicht über die Vergänglichkeit des Lebens, das gerade geboren wurde.
Er ging davon aus, dass die Puppe einem kleinen Mädchen ins Wasser gefallen und dann außer Reichweite getrieben war. Auch diesen Gedanken schrieb er auf. Er versuchte, die Abendstille in Worte zu fassen. Die Lichter der Stadt, die sich im Wasser spiegelten. Er blickte zu der kleinen Insel im See, die im Frühjahr von Küstenseeschwalben belagert wurde. Jetzt waren die Vögel still wie die Nacht, die ihren Schleier über die Stadt legte, schrieb er in sein Buch. Strich die Nacht wieder durch. Ersetzte sie durch Dämmerung. Strich auch die Dämmerung wieder durch. Strich energisch den Schleier durch. Schrieb wieder Nacht hin. Versuchte es mit Zelt statt Schleier, doch auch das ging nicht.
Er schob Füller und Buch zurück in die Manteltasche und wollte seinen Weg fortsetzen, doch dann kam er auf den Gedanken, die Puppe aus dem Wasser zu fischen und auf das Brückengeländer zu legen, falls das Mädchen auf der Suche nach seiner Spielgefährtin zurückkam. Vorsichtig stieg er an der Brücke zum Ufer hinunter und versuchte, die Puppe zu erreichen, doch sie war zu weit weg. Er kletterte zurück auf die Straße und hielt nach etwas Ausschau, mit dem er die Puppe angeln konnte, nach einem Stock oder Ast, doch er fand nichts Geeignetes.
Schließlich gab er es auf und machte sich wieder auf den Weg, wollte zum Friedhof Hólavallakirkjugarður. Friedhöfe waren ihm oft Inspiration für seine Gedichte. Doch nach wenigen Metern sah er den Stock, nach dem er gesucht hatte. Er lief zurück zur Brücke und stieg zum Ufer hinunter. Mit dem Stock konnte er die Puppe erreichen, doch sie hing an irgendetwas fest. Er stieß sie mit dem Stock an, schlug nach ihr und wollte es gerade schon wieder aufgeben, als sie sich löste und unter die Brücke trieb. Einen Moment sah er ihr nach, dann sprang er zurück auf die Straße, lief über die Brücke, stieg auf der anderen Seite ans Ufer hinunter und fischte die Puppe in dem Moment aus dem Wasser, als sie an ihm vorbeitrieb.
Es war eine alte, abgenutzte Puppe in einem Fetzen von Kleid, mit Schlafaugen und halb offenem Mund. Wenn man auf den Bauch drückte, ertönte ein zartes Pfeifen. Das Haar war verfilzt und an einigen Stellen sah man Löcher, in denen Strähnen gesteckt hatten. Er drückte noch einmal auf den Bauch, und es quoll Wasser aus den Augen, als ob die Puppe weinte.
Unentschlossen stand der junge Mann am Ufer und blickte auf den See. Auf einmal sah er, dass da noch etwas im Wasser trieb. Im ersten Moment dachte er, er hätte sich geirrt, doch als ihm bewusst wurde, was da trieb, ließ er die Puppe fallen und stürzte sich ins Wasser. Es reichte ihm bis zu den Schultern, und er watete durch den schlammigen Grund, ohne die Kälte zu spüren, erreichte das Bündel, zog es zu sich heran und sah, dass er richtiggelegen hatte.
Völlig außer sich kehrte er zum Ufer zurück. Er hatte die Leiche eines Mädchens gefunden, das in den Tjörnin gestürzt und ertrunken war.
Aus irgendeinem Grund fühlte sich Eygló nicht wohl auf diesem Geburtstag, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, weshalb. Unzählige Kinder und Erwachsene tummelten sich in dem großen, zweigeschossigen Einfamilienhaus. Alle Mitschülerinnen aus der siebten Klasse waren gekommen und auch drei Jungs. Normalerweise waren die Jungs bei Mädchengeburtstagen nicht dabei. Die lustigen Cousinen des Geburtstagskinds warteten immer wieder mit etwas Neuem auf, leiteten Versteck- und Brettspiele an und veranstalteten eine Verfolgungsjagd durch den riesigen Garten. Limonade, Popcorn und zuckrige, mit Süßigkeiten verzierte Geburtstagstorten verschwanden in Kindermündern. Es gab sogar eine Kinovorführung, denn die Eltern des Geburtstagskinds hatten einen Projektor und amerikanische Zeichentrickfilme.
Eigentlich hätte Eygló sich wie die anderen Kinder amüsieren müssen, doch irgendetwas hemmte sie. Vielleicht lag es an der Umgebung. In einem so wohlhabenden Haus war sie noch nie gewesen, und sie stand staunend vor all den Kostbarkeiten. Große Gemälde hingen an den Wänden, und im Salon stand ein glänzend schwarzer Flügel. Die Möbel wirkten nigelnagelneu. Die weiße Couchecke sah aus, als stünde sie noch im Möbelgeschäft und wäre noch nie benutzt worden. Auch der Wohnzimmerteppich war weiß und so flauschig, dass ihre Füße Spuren darin hinterließen. Es gab auch einen Fernsehapparat, mit einer schönen gewölbten Glasscheibe und Knöpfen wie aus einer anderen Welt. Eygló hatte noch nie zuvor solch ein Gerät gesehen, und als sie mit den Fingern über das Glas fuhr, trat der Hausherr in die Tür und sagte ihr freundlich, dass man den Bildschirm nicht anfassen dürfe. Eygló war allein im Raum. Bis hierher reichte der Geburtstag nicht.
Sie dachte an ihr eigenes Zuhause, an die kleine, düstere Kellerwohnung mit dem tropfenden Wasserhahn in der Küche und dem Fenster, das sich so hoch oben befand, dass sie auf einen Stuhl steigen musste, wenn sie hinausschauen wollte. Bei ihnen lagen auch keine flauschigen Teppiche auf dem abgewetzten Linoleumboden. Die Mutter arbeitete von früh bis spät in der Fischfabrik, und es gab selten etwas anderes als Fisch. Was ihr Vater machte, wusste sie nicht genau. Manchmal war er betrunken, und die Mutter schimpfte mit ihm. Eygló hielt es nur schwer aus, das mit anzusehen, denn ihr Vater war ein guter Mensch, und meist gingen ihre Eltern liebevoll miteinander um. Zu seiner Tochter war er immer lieb, half ihr bei den Schularbeiten und las ihr Geschichten vor, bis er wieder für ein paar Tage verschwand und auch die Mutter nicht wusste, wo er war.
Das Geburtstagskind, das zwölf Jahre alt wurde, war keine enge Freundin von Eygló. Sie war nur hier, weil alle Mädchen aus der Klasse eingeladen waren. Eigentlich hätte sie gar nicht mit diesen Kindern in einer Klasse sein dürfen, die aus besseren Elternhäusern kamen und in andere Klassen gingen als die Kinder armer Leute. Doch der Lehrerin war Eyglós Talent schnell aufgefallen, und sie hatte dafür gesorgt, dass sie in die beste Klasse kam, wo mehr Zeit ins Lernen und in den Unterricht floss als in Disziplinarmaßnahmen. Die Kinder hatten sie gut aufgenommen. Nur zwei Jungs hatten sich die Nasen zugehalten und gefragt, wonach ihre Kleider denn so stänken. »Wahrscheinlich ist das der feuchte Kellermuff bei uns zu Hause«, hatte sie geantwortet.
Vielleicht hatte sie das Gefühl, zwischen so viel Reichtum fehl am Platz zu sein. Im Laufe der Feier zog sie sich immer mehr aus den Geburtstagsspielen heraus und lief stattdessen durchs Haus, durch Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Waschküche, und bewunderte alles, was sie sah. Ihre Mutter hatte ihr einen schönen Nachmittag gewünscht und die Hoffnung geäußert, dass sie die anderen Kinder besser kennenlerne. Eygló wusste, dass sie das sagte, weil sie oft und am liebsten allein war und die Mutter sich deswegen sorgte. Das habe sie von ihrem Vater. Dabei hatte Eygló nicht wenige Freunde. Sie war klüger als die meisten anderen in ihrem Alter, wusste, wie sie mit ihren neuen Klassenkameraden reden musste, und stand bei niemandem in der Kreide. Die anderen merkten, dass sie tiefgründig war, und suchten geradezu ihre Gesellschaft.
Nachdem Eygló eine Weile durch das Haus gestromert war, kam sie wieder in das schöne Wohnzimmer mit dem flauschigen Teppich und den weißen Möbeln und sah dort ein Mädchen, das sie bei der Geburtstagsfeier gar nicht wahrgenommen hatte. Sie war ungefähr gleich alt und noch ärmlicher gekleidet als Eygló.
»Hallo«, sagte Eygló und sah aus dem Augenwinkel ihr Spiegelbild auf dem Fernsehgerät.
Das Mädchen wirkte niedergeschlagen, als wäre ihm etwas zugestoßen. Sie trug ein schäbiges Kleid, Kniestrümpfe und Sommerschühchen mit Spange.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Eygló.
Das Mädchen antwortete nicht.
»Wie heißt du?«, fragte Eygló.
»Ich hab sie verloren …«, murmelte das Mädchen, kam auf Eygló zu, ging dann aber ohne anzuhalten an ihr vorbei und verließ den Raum. Eygló sah ihr nach, wie sie durch die Tür verschwand, und als sie den Blick senkte und auf den Teppich guckte, fiel ihr etwas auf, das sie nicht mehr vergessen sollte: Das Mädchen hatte sich im Vorbeigehen nicht im Fernseher gespiegelt und auch auf dem dicken Teppich keinerlei Spuren hinterlassen, als wäre es völlig schwerelos.
Die Sorge stand den Eheleuten ins Gesicht geschrieben. Das Handy des Mannes klingelte zweimal, während sie Konráð ihr Problem schilderten, doch er ging nicht ran, warf nur kurz einen Blick auf das Display und sprach weiter. Konráð konnte ihre Not gut nachvollziehen, doch er war nicht sicher, ob er ihnen weiterhelfen konnte. Er wusste, wer diese Leute waren, aber er kannte sie kaum. Die Frau war eine alte Bekannte von Erna gewesen, Konráðs Ehefrau, doch Konráð selbst hatte nie groß mit ihnen zu tun gehabt. Und jetzt hatte der Mann ihn auf einmal angerufen und um ein Treffen gebeten. Sie hätten Schwierigkeiten mit ihrer Enkeltochter und seien auf der Suche nach gutem Rat. Sie wussten, dass Konráð lange bei der Kriminalpolizei gewesen war, und obwohl er sich mittlerweile im Ruhestand befand, waren sie überzeugt, dass er sich mit den Dingen auskannte, in die ihre Enkeltochter sich verstrickt hatte und die für sie selber ein Buch mit sieben Siegeln waren. Nur weil der Mann nicht lockerließ, hatte Konráð sich auf das Treffen eingelassen. Erna hatte immer gut von der Frau gesprochen, sie sei so liebenswürdig, und er erinnerte sich dunkel daran, dass sie ihre Tochter durch einen Autounfall verloren und daraufhin ihre Enkeltochter großgezogen hatten.
Sie sagten gleich, sie wollten ehrlich sein. Sie hätten sich nicht an die Polizei, sondern an Konráð gewandt, um zu verhindern, dass die Medien Wind von der Sache bekämen. Die Frau war auf der politischen Bühne präsent gewesen, und auch wenn das jetzt schon eine Weile her war, befürchteten sie, die Klatschpresse auf den Plan zu rufen, wenn diese Sache bekannt würde. Sie hätten den Eindruck, dass von der Polizei häufiger mal Informationen durchsickerten. Aber Konráð dürfe sie nicht falsch verstehen. Wenn er der Ansicht sei, sie sollten sich an die Polizei wenden, würden sie das natürlich sofort tun.
»Es ist so«, begann der Mann, »dass wir schon mehrere Tage nichts mehr von ihr gehört haben. Entweder ist ihr Akku leer oder sie hat das Handy nicht bei sich, jedenfalls ist sie nicht zu erreichen. Das ist natürlich auch früher schon mal vorgekommen, aber noch nie so lange, und außerdem …«
»Wir haben kürzlich erfahren, dass sie eine Art Kurier ist, oder wie man das nennt«, schaltete sich die Frau ein und warf ihrem Mann einen Blick zu. »Sie wurde zwar nicht vom Zoll erwischt oder dergleichen und sie sagt auch, dass sie es nur dieses eine Mal für irgendwelche Leute getan hat, die sie nicht nennen wollte, aber auch das kann gelogen sein. Wir glauben ihr nichts mehr. Nur … das war etwas Neues, diese Sache mit dem Drogenschmuggel.«
Die Frau wirkte frustriert, aber ihr war anzusehen, dass sie sich ernsthaft Sorgen um das Mädchen machte. Vielleicht gab sie sich selbst die Schuld daran. Vielleicht hatte sie zum Höhepunkt ihrer politischen Karriere keine Zeit für das Mädchen gehabt. Vielleicht hatte sie nie den Platz der verlorenen Tochter einnehmen können.
»Könnte sie das Land verlassen haben?«, fragte Konráð.
»Möglicherweise hat sie ihren Pass dabei«, sagte die Frau. »In ihrem Zimmer finden wir ihn nicht. Das wollten wir dich auch bitten herauszufinden. Wenn du die Möglichkeit dazu hast. Wir erhalten von den Fluggesellschaften keine Auskunft.«
»Ich denke, ihr solltet euch tatsächlich an die Polizei wenden«, sagte Konráð. »Ich …«
»Aber wir wissen noch nicht einmal, an wen wir uns wenden sollten. Das Mädchen weiß nicht, was es da tut, schmuggelt Drogen ins Land und … Wir möchten nicht, dass sie verhaftet wird und ins Gefängnis kommt«, sagte die Frau. »Wir wissen, dass sie diese Sachen auch konsumiert. Zuerst war es der Alkohol. Jetzt ist es das. Wir kommen mit dem Mädchen einfach nicht zurecht. Sie ist so schwierig. Ein wahnsinnig schwieriger Charakter.«
»Reist sie viel?«
»Nein, nicht besonders. Sie hat ein paar Wochenendtrips mit ihrem Freund gemacht.«
»Wir dachten, dass du vielleicht mit ihm reden könntest«, meldete sich der Mann wieder zu Wort. »Er war noch nie hier, wir haben ihn noch nie gesehen, aber wir haben darüber nachgedacht, ob er vielleicht derjenige ist, der sie so ausnutzt.«
»Sind sie schon lange zusammen?«
»Wir haben vor ein paar Monaten von ihm erfahren«, sagte die Frau.
»Wohnt sie denn noch bei euch?«, wollte Konráð wissen.
»Nur theoretisch«, sagte die Frau. Sie holte ein Foto des Mädchens hervor und gab es Konráð. »Wir zahlen dir auch etwas für den Aufwand. Es ist so furchtbar, sie bei diesem Pack zu wissen und ihr nicht helfen zu können. Sie entscheidet natürlich selbst, was sie tut, sie ist zwanzig und wir haben ihr nichts mehr zu sagen, aber …«
»Selbst wenn ich sie finden sollte, läuft sie doch gleich wieder weg«, sagte Konráð und betrachtete das Foto.
»Ich weiß, aber wir wollen versuchen … Wir wollen wissen, ob es ihr gut geht. Ob wir etwas für sie tun können.«
Konráð konnte ihre Sorge gut nachvollziehen. Während seiner Zeit als Kriminalpolizist hatte er Eltern in derselben Situation kennengelernt. Eltern, die ihr Bestes gaben und trotzdem mit ansehen mussten, wie ihr Kind immer tiefer in den Sumpf aus Alkohol und Drogen sank, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten. So etwas belastete die Familien sehr. Viele gaben es nach etlichen gescheiterten Hilfsversuchen irgendwann auf. Aber manchmal gelang es auch, das Kind aus der Misere zu befreien und auf einen besseren Weg zu führen.
»Hat sie den Drogenschmuggel denn zugegeben?«, fragte Konráð und steckte das Foto ein.
»Das musste sie nicht«, antwortete der Mann.
»Genau deshalb machen wir uns ja solche Sorgen«, sagte die Frau. »Möglicherweise ist sie in etwas hineingeraten, das sie nicht mehr unter Kontrolle hat.« Verzweifelt sah sie Konráð an.
»Ich habe sie auf der Toilette überrascht. Vor drei Tagen. Sie war gerade aus Dänemark zurück und hatte offenbar vergessen, die Tür abzuschließen. Ich wusste ja gar nicht, dass sie auf der Toilette war, als ich reinkam und sie sich dieser Dinger in die Toilette entledigte. Präservative, die … die sie in ihrer Vagina versteckt hatte … Das war … es war furchtbar, das zu sehen.«
»Und seitdem ist sie verschwunden«, sagte der Mann.
Jedes Mal wenn Konráð die Sæbraut entlangfuhr, warf er unwillkürlich einen Blick zur parallel verlaufenden Skúlagata hinüber, wo sich einst der Südisländische Schlachtverband befunden hatte, mit dem schwarzen Eisentor zum Hof. Das passierte ganz von selbst, war fast wie ein Tick, den er nicht mehr loswurde. Heute war die gesamte Straße mit hohen Wohnblocks bebaut, für Konráðs Geschmack hässliche Klötze, die sich auch noch das erste Stück den Skólavörðuholt hinaufdrängten. Für Konráð zerstörten diese modernen Hochhäuser den ursprünglichen Charme des Schattenviertels, das zum alten Reykjavík gehörte. Dort war Konráð aufgewachsen, lange bevor die Stadtplaner ihre Hochhäuser aus dem Boden gestampft hatten. Es schmerzte ihn, wie mit seinem alten Viertel umgegangen wurde, und er konnte die Dummheit der Menschen nicht begreifen, die ausgerechnet diesen Ort zum hässlichsten Flecken der Stadt verschandeln mussten.
Die misslungene Bebauung war aber nicht der Grund, warum er zum ehemaligen Schlachthofgelände hinüberblickte. An besagtem Tor war 1963 sein Vater gestorben, war dort von einem unbekannten Angreifer erstochen worden. In der letzten Zeit, seit Konráð sich zur Ruhe gesetzt hatte, kreisten seine Gedanken verstärkt um den Tod seines Vaters. Vor Kurzem noch war er abends losgefahren und hatte eine ganze Weile an der Stelle gestanden, wo man seinen Vater nach zwei tödlichen Messerstichen gefunden hatte. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan. Der Polizeibericht enthielt eine Schätzung über die Menge Blut, die auf den Gehweg geflossen war.
Konráð parkte hinter dem Hauptdezernat an der Hverfisgata und suchte einen Mann von der Drogenfahndung auf, den er von früher kannte. Er berichtete ihm von den Sorgen der Großeltern, ohne jedoch die Kondome in der Kloschüssel zu erwähnen. Sie hatten gesagt, die Enkelin nenne ihren Freund Lassi, doch weitere Informationen hätten sie ihr nicht entlocken können. »Er ist einfach mein Freund«, habe sie gesagt und das Gespräch beendet. Sie wüssten nicht, wie sie Kontakt zu ihm herstellen könnten. Wüssten nicht, was er machte. Hätten noch nicht einmal seinen richtigen Namen.
»Der Typ, mit dem sie zusammen ist, könnte Lars oder Lárus oder so heißen, sein Spitzname ist wohl Lassi«, sagte Konráð. »Ich dachte, vielleicht kennt ihr den. Das Mädchen heißt Daníela, Danní genannt.«
»Was hast du mit diesen Leuten zu tun?«, fragte der Polizist. Er war mittleren Alters, auffallend schmal, hatte einen fusseligen Vollbart und schulterlange Haare. Er interessierte sich für Heavy Metal, hatte sogar selbst mal in einer Metal-Band gespielt.
»Das sind Bekannte von mir«, antwortete Konráð. »Das Mädchen ist abgehauen. Hängt wohl an der Flasche. Sie haben mich gebeten, ihnen zu helfen.«
»Ja und, bist du jetzt eine Art Privatdetektiv?«
»Ganz genau«, sagte Konráð. Mit so einer Bemerkung hatte er gerechnet. »Würdest du das für mich kurz checken?«
Der Schreibtischstuhl quietschte, als der Mann zu seinem PC rollte und den Namen des Mädchens eintippte, wobei er murmelte, dass er das eigentlich nicht tun sollte und es auch gar nicht dürfte. Konráð stimmte ihm zu, sagte, dass er das wisse, und dankte ihm sehr. Die Suche ergab keine Treffer. Falls die Drogenfahndung oder der Zoll jemals mit ihr zu tun gehabt hatten, gab es zumindest keinen Eintrag in der Datenbank. Mögliche Lassis hingegen gab es drei, einer davon hieß Lárus und war im selben Alter wie das Mädchen. Er war mehrfach wegen Diebstahls auf Bewährung verurteilt worden und hatte wegen der Einfuhr von Drogen im Gefängnis gesessen.
»Wenn sie bei dem ist, sieht es schlecht für sie aus«, sagte der Rocker. »Der ist ein echter Vollidiot.«
»Wir werden sehen«, sagte Konráð und notierte sich die Namen. »Die Leute sorgen sich um ihre Enkeltochter. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Du gibst mir Bescheid, falls du auf irgendetwas Relevantes stößt«, sagte der Rocker der Form halber. Konráð wusste, dass er bis zum Hals in Arbeit steckte und nicht wirklich daran interessiert war.
»Selbstverständlich«, antwortete Konráð mit nicht minder großem Elan.
Er hatte nicht vor, sich lange mit dem Mädchen zu befassen, das sicher nicht verschwunden war, sondern schlicht seinen Großeltern aus dem Weg ging. Wenn es wirklich stimmte, was ihre Oma auf der Toilette beobachtet hatte, war Danní bereits ziemlich tief gesunken, und Konráð bezweifelte, dass sie so ohne Weiteres auf den rechten Weg zurückfinden würde, nur weil man sie einfach wieder zu Hause ablieferte. Nur der seligen Erna zuliebe ließ er sich auf die Suche nach dem Mädchen ein, denn diese Leute waren ihre Freunde gewesen. Aber wenn er das Mädchen beim ersten Versuch nicht fand, würde er mit den beiden sprechen und ihnen noch einmal raten, sich an die Polizei zu wenden, selbst wenn das den Ruf der Familie beflecken sollte. Die Sache mit den Drogen musste er in jedem Fall melden.
In diese Gedanken vertieft ging Konráð über den Parkplatz hinter dem Dezernat zu seinem Wagen, als ihm seine alte Kollegin und Freundin über den Weg lief. Sie hieß Marta, hielt zielstrebig auf ihn zu und wollte sofort wissen, warum er sich hier herumtrieb. Sie war die ungehobeltste Frau, der Konráð je begegnet war, groß, schwer und mit einem losen Mundwerk. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen mit Frauen, die alle irgendwann das Handtuch geschmissen hatten, lebte sie allein. Unter seiner Führung hatte sie bei der Kriminalpolizei angefangen und sie waren schnell gute Freunde geworden. Er kannte keine bessere Kommissarin als sie.
»Hallo, Marta«, sagte Konráð. »Mal wieder der reinste Sonnenschein.«
»Müsstest du nicht auf dem Golfplatz stehen oder irgendeiner anderen verrückten Tätigkeit nachgehen? Hat Leó Stress gemacht?«
»Nein. Was ist mit ihm?«
»Der nervt unglaublich. Hat irgendwas über dich gesagt. Über eure Zusammenarbeit damals. Durch die Blume. Du weißt ja, wie er ist. Hat wieder mit dem Trinken angefangen und denkt, keiner merkt es. Armes Schwein …«
»Aber er hatte doch einen Entzug gemacht?«
»Ja, letztes Jahr. Das wirkt bei ihm nicht. Und womit vertreibst du dir die Tage? Drehst du nicht durch vor Langeweile?«
»Darauf läuft es wohl hinaus«, sagte Konráð.
»Und trotzdem beneide ich dich«, seufzte Marta und winkte im Gehen. »Was werde ich es mir nett machen, wenn ich mit diesem Blödsinn hier aufhöre …«
Konráð schmunzelte. So redete sie häufiger, doch Konráð wusste, dass sie es nicht ernst meinte. Nicht nur einmal hatte er Marta darauf hingewiesen, dass keine Beziehung eine Chance haben würde, solange sie mit der Polizei verheiratet war.
Mit den Adressen der drei Lassis machte er sich auf den Weg und begann mit dem, bei dem er das Mädchen am ehesten vermutete. Lárus Hinriksson hieß der Mann, offenbar ein alter Bekannter der Polizei mit einer typischen Karriere, Drogen und Kleinkriminalität von Jugend an, hatte bereits diverse Haftstrafen abgesessen und machte laufend Probleme. Er wohnte im Breiðholt-Bezirk, was für Konráð auf dem Heimweg lag. Es war ein Nachmittag im Spätherbst, und es dämmerte schon. Der kalte Nordwind war ein Vorbote des Winters, der bald Einzug halten würde.
Konráð parkte vor dem Wohnblock. Im Keller wurden einzelne Zimmer vermietet, und wenn es stimmte, was der Rocker gesagt hatte, wohnte Lassi in einem davon. Vor dem Haus reihten sich Garagen aneinander. Die Haustür ließ sich nicht öffnen, also drückte Konráð auf eine der Klingeln. Keine Reaktion. Er probierte es mit einer anderen, wieder nichts, doch als er die dritte Klingel gedrückt hatte, wurde der Türöffner betätigt, ohne dass jemand wissen wollte, wer da vor der Tür stand. Konráð betrat das Treppenhaus und nahm die Treppe nach unten. Irgendwo weiter oben trat ein Mann auf den Flur und rief hinunter, wer da geklingelt habe. Konráð antwortete nicht, sondern wartete ab, bis der Mann wieder in seine Wohnung verschwand.
Der Keller bestand aus einem dunklen Gang mit verschlossenen Abstellräumen, die zu den Wohnungen gehörten, und zwei separaten Zimmern. Konráð klopfte an die erste Tür und lauschte. Nichts rührte sich. Er drückte die Klinke hinunter, doch das Zimmer war abgeschlossen. Dasselbe Spiel beim zweiten Zimmer, doch diesmal ließ sich die Tür öffnen. Er trat in ein dreckiges, muffiges Nest und wusste sofort, dass er zu spät kam.
Ein schmuddeliges Bett stand an einer Wand, Essensreste und andere Dinge waren über den Boden verteilt, und mittendrin lag ein Mädchen um die zwanzig. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, das den Blick auf die nackten Arme freigab. In einer Armbeuge steckte eine Spritze. Konráð kniete sich neben sie und suchte nach ihrem Puls. Das Mädchen war tot. Und das nicht erst seit eben, wie es ihm schien. Sie lag auf der Seite, die Augen geschlossen, so friedlich, als ob sie schliefe.
Konráð stieß einen Fluch aus, stand auf und zog das Foto aus der Tasche, um sicherzugehen, dass es sich um das vermisste Mädchen handelte. Sein klingelndes Handy zerriss die Stille. Der Name Eygló stand auf dem Display, und obwohl er ihre Stimme eine Weile nicht gehört hatte, war sie ihm sofort vertraut.
»Wir müssen uns treffen«, sagte sie.
»Gibt’s was Besonderes?«
»Wir müssen reden.«
»Tja, ich bin gerade ziemlich be…«
»Am besten noch heute Abend, Konráð. Kannst du zu mir kommen?«
»Okay«, sagte er. »Aber es könnte spät werden.«
»Kein Problem, komm einfach, sobald du Zeit hast.«
Sie verabschiedeten sich, und Konráð suchte Martas Handynummer heraus. Nach ein paarmal Klingeln ging sie ran.
»Was?«, fragte sie frech.
»Du musst sofort nach Breiðholt kommen«, sagte er. »Und bring die Spurensicherung mit.«
Eine halbe Stunde später wimmelte es im und ums Haus von Polizisten. Die Spurensicherung sperrte den Eingangsbereich ab, die Treppe in den Keller, den Gang dort unten und den Raum, in dem das Mädchen lag. Niemand durfte mehr hinunter, außer dem Arzt, der das Mädchen für tot erklärte. Geduldig warteten Marta und ihr Team, während die Spurensicherung ihre Arbeit machte. Ein Krankenwagen stand bereit, um die Verstorbene ins Leichenschauhaus der Uniklinik zu bringen. Alles deutete auf einen Unfall hin – das Mädchen war wohl an einer Überdosis gestorben. Doch die Spurensicherung musste alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Konráð berichtete Marta von seinem Gespräch mit den Großeltern des Mädchens, die sich ihm wenige Stunden zuvor anvertraut und besorgt von den Ausschweifungen ihrer Enkelin erzählt hätten, die offenbar auch in den Schmuggel von Drogen involviert gewesen sei. Aus persönlichen Gründen hätten sie sich gescheut, die Polizei einzuschalten, wahrscheinlich hatten sie gehofft, sie doch noch zur Vernunft zu bringen. Und dann sei das Mädchen verschwunden. Von der Drogenfahndung habe Konráð die Adresse eines gewissen Lárus Hinriksson erhalten und beschlossen, sie auf dem Heimweg kurz zu checken – mit diesem Ergebnis.
»Freunde?«, fragte Marta. Sie standen im Treppenhaus und sahen der Spurensicherung zu. Die Bewohner des Hauses kamen nach und nach von der Arbeit zurück und durften schon bald in ihre Wohnungen, mit zum Bersten vollen Bónus-Supermarkt-Tüten in den Händen und Kindern im Schlepptau, die wie ihre Eltern mit offenen Mündern den Trubel begafften. Kriminalpolizisten arbeiteten sich durchs Treppenhaus und klopften an Türen, um die Mieter des Kellers ausfindig zu machen. Die Eigentümerin des fraglichen Kellerraums wohnte im ersten Stock, schien jedoch nicht zu Hause zu sein.
»Ja, sie war eine Freundin von Erna«, sagte Konráð. »Ich kenne diese Leute kaum. Eigentlich gar nicht.«
»Möchtest du vielleicht mit ihnen reden?«, fragte Marta. »Es ihnen sagen?«
»Nein«, antwortete Konráð nachdenklich, »das macht ihr besser auf dem offiziellen Weg.«
»Nicht schön, ihnen diese Nachricht zu überbringen.«
»Was das angeht, haben sie ihre Erfahrungen.«
»Ach ja?«
»Vor Jahren haben sie durch einen Autounfall ihre Tochter verloren«, sagte Konráð. »Die Mutter des Mädchens. Sei nett zu ihnen.«
»Himmel noch mal …«, stöhnte Marta.
Konráð schilderte einem ihm unbekannten Polizisten, was er mit der ganzen Sache zu tun und wie es ihn in besagten Keller verschlagen hatte. Der Mann war ziemlich pedantisch, daher brauchte es seine Zeit, bis das Protokoll fertig war. Ungeduldig wartete Konráð darauf, endlich loszukönnen. Er wollte so schnell wie möglich aus der Sache raus sein, den Fall der Polizei überlassen, und er bereute es, dass er sich in das Leben der Leute und des toten Mädchens hatte hineinziehen lassen. Er hatte zwar tiefes Mitleid mit den beiden, doch es war nicht seine Aufgabe, ihnen jetzt beizustehen.
Als er sich endlich von Marta verabschiedet hatte und im Auto saß, fiel ihm das Telefonat mit Eygló wieder ein. Sie schien wirklich etwas auf dem Herzen zu haben, was gar nicht typisch für sie war. Sie kannten sich noch nicht lange, hatten sich bloß einige Male getroffen und über Konráðs Vater gesprochen, nachdem sein Interesse am Schicksal seines Vaters erwacht war. Konráðs und Eyglós Väter hatten sich während der Kriegsjahre kennengelernt und gemeinsam spiritistische Sitzungen veranstaltet, die nicht ganz koscher gewesen waren, bis der Betrug schließlich aufgeflogen war.
Engilbert, Eyglós Vater, nahm sich die Sache damals sehr zu Herzen und brach jeglichen Kontakt zu Konráðs Vater ab. Die Jahre vergingen. Wenige Monate nach dem Tod von Konráðs Vater stürzte Engilbert ins Meer. Seine Leiche wurde am Hafen Sundahöfn gefunden. Ob es sich um einen Unfall oder um Selbstmord gehandelt hatte, konnte nie geklärt werden. Vor Kurzem hatte Konráð erneut Kontakt zu Eygló aufgenommen, nachdem er im Nachlass seines Vaters einige wenige Unterlagen gefunden hatte, die ihn auf den Gedanken brachten, dass die beiden ihre betrügerischen Geschäfte damals wieder aufgenommen hatten. Eygló hielt diesen Verdacht für völlig ausgeschlossen.
Sie hatte Konráð noch nie zu sich nach Hause eingeladen, bisher hatten sie nur telefoniert oder sich in Cafés getroffen, meist auf seinen Wunsch hin. Anfangs war sie nicht gerade erpicht auf diese Treffen gewesen, wollte nicht über ihren Vater sprechen, und Konráðs Vater verabscheute sie regelrecht, denn sie gab ihm die Schuld am schlechten Befinden und dem schlimmen Schicksal ihres Vaters. Doch mit der Zeit war sie milder geworden, und Konráð merkte, dass sie sich auch ihm gegenüber anders verhielt, als täte es ihr gut, endlich mit jemandem über ihren Vater sprechen zu können.
Konráð hielt vor dem kleinen Reihenhaus in Fossvogur. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, und er sah einen Schatten am Fenster – wahrscheinlich Eygló, die ihn erwartete. Als er die wenigen Stufen zum Eingang hinaufstieg, öffnete sich bereits die Tür und Eygló bat ihn herein. Zarter Räucherstäbchenduft empfing ihn, und aus dem Wohnzimmer drang Musik, so leise, dass sie kaum zu hören war. Konráð hatte Eygló noch nie anders als schwarz gekleidet gesehen, und auch diesmal trug sie einen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und ein silbernes Kreuz um den Hals. Sie hatte schwarzes Haar und war hübsch, war in den Sechzigern, wirkte aber mindestens zehn Jahre jünger. Ihr Gesicht war fein, mit forschen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Konráð ging davon aus, dass sie ihr Haar färbte, und überlegte, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie es nicht mehr täte. Erna hatte sich nie die Haare gefärbt, sondern der Natur ihren Lauf gelassen.
»Entschuldige mein Drängen, aber ich muss unbedingt mit dir reden«, sagte Eygló und führte ihn ins Wohnzimmer. »Wo warst du denn?«, fragte sie dann und schnaubte leise. »Kommst du von der Müllkippe?«
Offenbar war ihr der Gestank aus dem Keller in die Nase gestiegen, der noch an seiner Kleidung hing. Er wusste, dass sie wie ihr Vater als Medium gearbeitet hatte, und überlegte, ob ein feiner Geruchssinn in diesem Metier wohl von Vorteil war. Aber wahrscheinlich waren dabei alle Sinnesorgane auf die eine oder andere Weise nützlich.
Konráð sah keinen Grund, ihr zu verheimlichen, woher er kam, und erzählte ihr von dem Ehepaar, dem Mädchen und dessen Schicksal, und dass Eygló ihn genau in dem Moment erwischt hatte, als er vor der Leiche stand.
»Das tut mir leid«, sagte sie erschrocken. »Ich habe in einem ungünstigen Moment angerufen.«
»Ja, nein, ist schon in Ordnung«, versuchte Konráð sie zu beruhigen.
»Hat das arme Ding eine Überdosis genommen?«
»Sieht so aus«, sagte Konráð. »Das wird noch genauer untersucht. Worüber wolltest du denn reden?«
Eygló berührte das Silberkreuz, das sie um den Hals trug, scheinbar ohne darüber nachzudenken, so als hätte es eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Eigentlich geht es um zweierlei«, sagte sie so leise, dass Konráð sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Das eine ist etwas, das ich gestern gehört habe und kaum glauben kann. Und dann ist da noch ein Mädchen, dem ich mit zwölf begegnet bin, an das ich mich wieder erinnert habe, und …«
Sie sah Konráð an.
»Ich habe eine Sitzung abgehalten – das habe ich ewig nicht mehr getan.«
Nach und nach verließen die Gäste das Reihenhaus in Fossvogur, bis nur noch Eygló und die alte Frau im Wohnzimmer saßen. Eygló war müde und ausgelaugt, genau wie früher, wenn sie Menschen geholfen hatte, einen Blick ins Jenseits zu werfen. Erschöpft sank sie auf ihren Platz an dem runden Tisch, an dem die Sitzung stattgefunden hatte. Die alte Frau war hochbetagt und würdevoll, schmal, fast blind und taub. Sie hatte das Haar zu zwei langen Zöpfen auf dem Rücken geflochten, trug Hörgeräte in beiden Ohren und zum Schutz der Augen eine Sonnenbrille. Sie wirkte wie ein Indianerhäuptling, der darauf wartete, dass man ihn zurück in sein Reservat brachte. Ihr Sohn hatte sich verspätet. Er wollte sie abholen und zurück ins Pflegeheim bringen.
Eygló kannte die alte Frau noch von früher, doch sie hatten sich viele Jahre nicht gesehen. Obwohl die letzte Zeremonie so lange her war, merkte Eygló schnell, dass alles wie früher war. Auch die Gäste waren dieselben wie damals. Manche waren fast jedes Mal dabei gewesen, als Eygló noch regelmäßig zu solchen Sitzungen eingeladen oder auch Hausbesuche gemacht hatte, wenn jemand schwer erkrankt war und sie helfen konnte, das Leid zu verringern. Bis sie damit aufgehört und ihre hellseherischen Fähigkeiten hatte ruhen lassen.
Eygló hatte jeden Gast einzeln angerufen und zu der Sitzung eingeladen, woraufhin sechs Personen nach Fossvogur kamen, vier Frauen und zwei Männer. Keiner hatte das Angebot ausgeschlagen. Sie setzten sich um den Tisch, und es war wirklich genau wie früher, nur dass sie älter geworden waren. Die Sitzung lief ohne bemerkenswerte Zwischenfälle ab. Einer der Männer war inzwischen Witwer und auf der Suche nach Antworten von seiner Frau. Aber sie sprach nicht zu ihm. Dafür meldete sich die Mutter einer der Frauen aus der Runde. Eygló spürte ihre Anwesenheit im Wohnzimmer und dass es um eine schwere Krankheit ging.
»Ist es dein Ehemann?«, fragte Eygló die Frau am Tisch, ohne zu wissen, warum.
Die Frau nickte.
»Die Krankheit ist weit fortgeschritten«, sagte Eygló.
»Er ist im Hospiz«, bestätigte die Frau. »Kann man noch etwas für ihn tun?«
Die Verbindung zu der Mutter wurde schwächer.
»Sie möchte, dass du den Ärzten vertraust«, sagte Eygló.
So verging eine halbe Stunde mit Fragen und Antworten, bis Eygló sich entschuldigte, sie habe das lange nicht mehr gemacht und sei erschöpft. Dafür hatten alle Verständnis, und man unterhielt sich noch eine Weile, bevor die Gäste langsam aufbrachen. Alle bis auf die alte Frau, die noch auf ihren Sohn wartete.
Sie hieß Málfríður und war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Parapsychologischen Vereinigung aktiv gewesen. Sie war mit einem bekannten Heiler verheiratet und hatte als seine Assistentin spiritistische Sitzungen und Hausbesuche bei Menschen organisiert, die sich die Kräfte ihres Mannes zunutze machen wollten und daran glaubten, dass er Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen konnte. Sie selbst zweifelte nicht an der Existenz des Jenseits und sprach oft von der Ätherwelt, wo sich die Seelen der Menschen versammelten, nachdem sie den Körper verlassen hatten. Viele Menschen suchten ihren Mann mit Fragen nach dem Jenseits auf und die alte Frau hatte Dinge erlebt, die man niemandem erklären konnte, der nicht an das Übernatürliche glaubte. Eygló erinnerte sich an lange Gespräche mit ihr in jungen Jahren, als sie ihre besonderen Fähigkeiten gerade entdeckte und noch nicht verstand, aber sie durchdringen und nutzen wollte. Aus diesem Grund hatte sie sich an die Parapsychologische Vereinigung gewandt und von Málfríður gelernt, sich nicht davor zu fürchten, sondern damit zu leben, als wäre es etwas ganz Normales, und sich damit abzufinden, dass sie anders war als andere Menschen.
»Wann kommt er denn endlich, der Junge?«, sagte die alte Frau und meinte damit ihren Sohn, der selbst schon nicht mehr der Jüngste war.
»Er ist sicher davon ausgegangen, dass es länger dauern würde«, sagte Eygló entschuldigend. »Vielleicht hätte ich das besser hinkriegen können.«
»Kein Sorge«, sagte Málfríður. »Du hast das gut gemacht. Wie immer. Du hast eine heilende Präsenz. Wie dein Vater.«
Die alte Frau beugte sich vor.
»Warum hast du diese Versammlung einberufen?«
»Was meinst du damit?«
»Warum hast du uns zusammengetrommelt?«, fragte Málfríður. »Warum interessierst du dich auf einmal wieder für solche Sitzungen?«
»Ich wollte wissen, wie es mir nach all den Jahren gelingt«, erklärte Eygló zögernd. Sie hatte mit dieser Frage gerechnet, aber noch nicht mit sich ausgemacht, wie sie darauf antworten sollte.
»Sonst nichts?«
Eygló schüttelte den Kopf, doch so leicht ließ Málfríður sie nicht davonkommen.
»Wonach suchst du?«, fragte sie.
»Nach nichts Besonderem, glaube ich«, sagte Eygló.
»Dachtest du, du könntest es durch uns hervorrufen? Durch die Energie, die in einer solchen Runde freigesetzt wird?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Eygló.
»Manchmal erinnerst du mich so an Berti …«, sagte die alte Frau. So hatte sie Engilbert immer genannt. »Es war nicht schön, mit anzusehen, wie er vergeudet hat, was ihm gegeben war. Ständig hat er uns etwas verheimlicht. Wäre er nicht ertrunken, hätte er seine Gabe zum Guten nutzen können.«
»Ich glaube, er war nie ganz glücklich mit dieser Gabe.«
»Nein, sicher nicht. Und du? Traurig, wie es deinem Vater ergangen ist. Er war ein guter Mensch, das darfst du nicht vergessen. Aber labil, und hochsensibel. Trank gern. Das ist sicher nicht die beste Mischung. Hat es irgendetwas mit Berti zu tun, diese Sitzung?«
»Nein«, sagte Eygló.
»Hat er sich jemals bei dir bemerkbar gemacht, seit er von uns gegangen ist?«
»Nein.«
»Er hatte sich komplett aus der Vereinigung rausgezogen«, sagte Málfríður und richtete sich auf. »Wir wissen nicht, was er trieb und ob er noch als Medium tätig war, als er starb. Es war schlimm anzusehen, wie er mit sich umgegangen ist und wie er die alten Freundschaften abgebrochen hat. Mein Mann hat versucht, auf ihn einzuwirken, bis er es irgendwann aufgab. Er sagte, in seinem Zustand könne es ihm nicht gut gehen.«
»Das hat meine Mutter auch gesagt, in den letzten Monaten ging es ihm nicht gut.«
»Ja, die Gute. Für sie war das natürlich auch schwer. Für euch beide. Wahnsinnig schwer, kann ich mir vorstellen.«
Durch das verdunkelte Glas ihrer Brille sah die alte Frau Eygló an.
»Später erfuhren wir, dass Berti sich wieder in schlechte Gesellschaft begeben hatte«, sagte sie. »Er schien diese zwielichtigen Gestalten richtiggehend aufgesucht zu haben, wahrscheinlich, weil er von ihnen Schnaps bekam. Irgendjemand hatte ihn wieder mit diesem Mann gesehen, der ihm so übel mitgespielt hatte.«
»Mit wem? Mit welchem Mann?«
Die alte Frau setzte ihre Brille ab. Ihre Augen waren beinahe weiß und dementsprechend empfindlich gegenüber Licht und Helligkeit. Sie nahm Bewegungen nur noch verschwommen wahr.
»Dieser Mann, der ihn während der Kriegsjahre benutzt hat, um die Leute zu betrügen, der später beim Schlachtverband erstochen wurde.«
Konráð schaute auf, als Eygló die Worte der alten Frau wiederholte.
»Meinte sie meinen Vater?« Er konnte seine Verwunderung kaum verbergen.
Eygló nickte.
»Glaubt sie, unsere Väter haben wieder zwielichtige Dinge getrieben?«
Eygló nickte erneut.
»Wir dachten … für dich war dieser Gedanke doch immer abwegig.«
»Ja.«
»Die beiden?«
»Ja.«
»Was haben sie gemacht?«
»Das weiß Gott allein. Málfríður hatte das irgendwo aufgeschnappt, mehr wusste sie nicht.«
Konráð blickte zu dem runden Tisch und stellte sich vor, wie Eyglós Gäste daran saßen und sich an den Händen hielten. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein altes Klavier, ein Erbstück aus Dänemark, hatte Eygló gesagt.
»Warum hast du dieses Treffen initiiert?«, fragte er. »Diese Séance. Was wolltest du der alten Frau nicht sagen? Ist es etwas, das dir nahegeht?«
»Ich habe es ihr gesagt, bevor sie ging.«
»Was war es?«
»Du glaubst eh nicht an solche Dinge«, sagte Eygló, die Konráðs Einstellung zum Leben nach dem Tod und dem Übernatürlichen kannte. »Es bringt nichts, mit dir darüber zu reden.«
»Sag es mir einfach.«
Eygló zögerte.
»Ich habe sie wiedergesehen«, sagte sie schließlich.
»Wen?«
»Ein kleines Mädchen, das mir mit zwölf erschienen ist. Sie wirkte noch genauso hilflos wie damals. Mir scheint, sie hat ihre Puppe verloren. Sie glaubt wohl, ich kann ihr helfen, sie zu finden.«
Marta selbst fuhr mit einem uniformierten Polizisten zu Dannís Großeltern, um sie über den Tod ihrer Enkelin zu informieren. Konráð hatte ihr die Adresse in Vesturbær genannt. Sie hatte auch einen Seelsorger dorthin schicken lassen, einen Pfarrer aus der Gemeinde. Er war vor den Polizisten vor Ort gewesen und wartete draußen in seinem Wagen. Der junge Polizist, der den Streifenwagen fuhr, hatte noch nie jemandem eine solche Nachricht überbringen müssen. Marta setzte den Pfarrer kurz über das junge Mädchen und die Spritze in ihrem Arm ins Bild.
»Die Ärmsten«, sagte der Pfarrer.
»Ja, nicht schön, solche Dinge«, sagte Marta.
Es war bereits relativ spät am Abend, doch sie sahen, dass einer der Wohnräume noch vom Licht eines großen Flachbildschirms erhellt war, auf dem eine Naturdoku lief. Das Klingelgeräusch hallte durchs Haus, und Marta dachte daran, dass ein solcher Besuch schon einmal das Leben dieser Menschen zerstört hatte. War es abends gewesen, wie jetzt? Oder in der Nacht?
Die Frau kam an die Tür und blickte fragend die drei Besucher an. Marta wartete einen Augenblick, ehe sie ihr den Grund für ihr Kommen schilderte. Sie bemühte sich um schonende Worte.
»Gott, nein, das darf nicht wahr sein!«, schrie die Frau.
Der Pfarrer reagierte als Erster, als sie blass wurde und in Tränen ausbrach, und führte sie ins Haus. Dort stand wie versteinert ihr Ehemann, der das Gespräch mitgehört hatte.
»Ist das wahr?«, fragte er leise an Marta gewandt.
»Leider ja«, bestätigte sie. »Mein Beileid. Es tut mir leid, euch diese Nachricht überbringen zu müssen.«
Der Mann ging zu seiner Frau, legte einen Arm um sie, führte sie ins Wohnzimmer und redete beruhigend auf sie ein, obwohl er selbst um Fassung rang. Der Pfarrer folgte den beiden und setzte sich zu ihnen. Marta hielt etwas Abstand. Der junge Polizist blieb am Eingang stehen.
Nachdem der Pfarrer eine Weile mit den Leuten gesprochen hatte, wagte Marta es, sie zu unterbrechen. Sie bräuchte leider einige Informationen und müsse einen von ihnen oder eine Vertrauensperson bitten, die Leiche zu identifizieren.
»Identifizieren?«, wiederholte der Mann. »Ist es denn gar nicht sicher, dass …? Woher wisst ihr, dass sie es ist?«
»Der Mann, den ihr gebeten habt, sie zu suchen, Konráð, hatte dieses Foto dabei«, sagte Marta und zeigte ihnen das Foto von dem Mädchen. »Ich gehe davon aus, das hat er von euch bekommen.«
»Hat Konráð sie gefunden?«, fragte der Mann.
»Ja.«
»Wo ist er? Ist er nicht mitgekommen?«
»Er arbeitet nicht mehr bei der Polizei«, sagte Marta. »Ich bin sicher, er meldet sich, sobald er Gelegenheit dazu hat.«
»Was ist passiert?«, fragte die Frau. »Was ist ihr zugestoßen?«
»Im Moment sieht es so aus, als wäre sie unvorsichtig mit Drogen umgegangen«, sagte Marta. »Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie an einer Überdosis gestorben, aber wir wissen noch nicht, ob es ein Versehen war oder Selbstmord.«
»Selbstmord? Mein Gott …«
»Habt ihr mitbekommen, dass sie davon gesprochen oder solche Gedanken gehegt hat? War sie schwermütig? Hatte sie Ängste?«
Beide schüttelten den Kopf, als wären Martas Fragen völlig absurd.
»Wisst ihr, ob sie in letzter Zeit vermehrt Drogen konsumiert hat?«
»Wir wissen so wenig«, gestand der Mann.
»Ja, natürlich. Alles deutet darauf hin, dass es ein Unfall war«, sagte Marta. »Das passiert leider viel zu oft. Ich habe gehört, sie war mit einem Mann zusammen, der Lassi genannt wird. Könnt ihr das bestätigen? Entschuldigt diese Fragen, aber es ist wichtig, so schnell wie möglich Informationen zu sammeln.«
»Wir wissen nicht, wie er wirklich heißt, aber sie hat ihn Lassi genannt.«
»Ein Mann namens Lárus Hinriksson ist der Mieter des Zimmers, in dem sie gefunden wurde«, sagte Marta. »Könnte das besagter Lassi sein?«
»Müssen wir nicht davon ausgehen?«, sagte der Mann. »War er bei ihr, als es passiert ist?«
»Wir haben ihn noch nicht finden können«, sagte Marta. »Aber das sollte kein Problem sein. Wisst ihr, wo er sich aufhalten könnte?«
»Wir? Nein. Wir haben diesen Mann nie gesehen.«
»Als ihr mit Konráð über eure Enkelin gesprochen habt, ging es auch um das Thema Drogenschmuggel. Dass sie Kurierin war.«
»Sie hat zugegeben, Drogen ins Land gebracht zu haben«, sagte die Frau. »Das konnte sie nicht abstreiten. Ich habe gesehen, wie sie sich der Drogen entledigt hat.«