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Siegfried von Xanten ist aus der weltberühmten Nibelungensage als der tapfere Krieger bekannt, den ein dunkles Komplott in den Untergang stürzt. Jörg Kastner erzählt in seinem Roman eine ganz andere Geschichte: Siegfried, der Prinz von Xanten, erfährt von dem geheimnisvollen Runenschwert, um das sich Sagen und Legenden ranken. Einst trug es sein Vater Siegmund im Kampf gegen die Friesen bei sich. Seit diesem blutigen Gefecht gilt Siegmund als tot – und das magische Schwert ist spurlos verschwunden. Siegried macht sich auf, um das Schwert zu finden und das Geheimnis zu lüften, das auf dem Tod seines Vaters lastet. Doch auf seiner Suche wird er zum Spielball zerstörerischer Kräfte, die ein dunkles Ziel haben: Mit dem Zauber des Runenschwerts möchten sie eine andere, heidnische Zeit heraufbeschwören …
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Seitenzahl: 256
Jörg Kastner
Roman
Die Nacht der Rache, die Nacht der Zerstörung war gekommen …
Die stolze Königsstadt streckte sich unter einem finsteren, sternenlosen Himmel am Ufer des Rheins aus, und auch das Stift lag in Dunkelheit und Ruhe. Die Mönche hatten ihr Nachtgebet schon vor Stunden gesprochen und sich zur Ruhe begeben. Bis zur Mette, dem Nachtgottesdienst, blieb den frommen Brüdern noch über eine Stunde Schlaf – so glaubten sie.
Fromme Brüder?
»Verfluchtes Christengezücht!«, flüsterte fast unhörbar, aber mit vor Ingrimm bebenden Lippen die dunkle Gestalt, die an der kalten Außenmauer des Dormitoriums lehnte. Große, kräftige Hände verkrallten sich im groben Stein, als wollten sie die starke Mauer durchbrechen. Die Finger kratzten hasserfüllt über die Fugen und in winzigen Stücken rieselte der alte, ausgetrocknete Mörtel zu Boden.
Dicht über dem kapuzenverhüllten Kopf des Rächers gähnte eins der scheibenlosen Fenster, die in regelmäßigen Abständen die Wand des Schlafsaals durchbrachen. Er hörte den vielfachen Atem der schlummernden Mönche, ihr zufriedenes Schnarchen, dann auch im Schlaf hervorgebrachtes Gemurmel, das wie Latein klang – wie ein Gebet!
Die Worte schmerzten in seinen Ohren, ekelten ihn an wie der widerliche Geruch von Weihrauch, der in seine Nase stach und den er im Mund fühlte wie den bitteren Geschmack verdorbenen Gerstenbiers.
Voller Hass auf den Geschmack, den Geruch, die Gebete, die Mönche und das große Gebäude ihres Stifts stieß sich der Rächer von der Mauer ab und schlich zu dem niedrigen Anbau der Vorratskammer, die das Dormitorium mit dem Speisesaal verband. Das Dach der Kammer war im Gegensatz zu den anderen Gebäuden nicht abgeschrägt, sondern lag flach hinter niedriger Brüstung, etwa in doppelter Manneshöhe. Wieder griffen die Hände des Rächers in die Mörtelrillen, dann auch die Füße, die in dunklen Lederstiefeln steckten. Geschickt wie eine Eidechse erkletterte die Gestalt die Mauer, packte schließlich über die Steinbrüstung und schwang sich ohne große Mühe aufs Dach.
Zufrieden über den gelungenen ersten Teil seines Unternehmens starrte er auf den Klosterhof mit dem gepflegten Garten hinab. Der fahle, kaum wahrnehmbare Schein des hinter den Wolken verborgenen Vollmonds genügte dem Rächer. Seine Augen waren wie die einer Raubkatze oder eines Waldkauzes: Er war ein Jäger der Nacht.
Die Fensteröffnungen des rundum führenden Kreuzgangs waren genauso dunkel wie alle anderen im Monasterium. Das Stift lag unter dem düsteren Nachthimmel und wartete auf seinen Untergang – ahnungslos und wehrlos.
Der Rächer löste das Seil, das er um seine Hüften gebunden hatte. Geschickt knotete er ein Ende um eine der niedrigen Zinnen, die das Flachdach umgaben. Das andere Ende ließ er in den Klosterhof fallen und kletterte, schnell und leise, hinab.
Der Hof lag so still und leer, wie es vom Dach aus den Anschein gehabt hatte. Der Rächer warf nur einen kurzen Blick hinüber zur Kirche mit dem hohen Glockenturm, der die Welt der Menschen mit dem Reich des verhassten Gottes verbinden sollte. Beim Gedanken an diesen Gott spie der Rächer verächtlich aus.
Er lief zu den Stallungen, quer über den Hof. Es war Zeitverschwendung, sich im Schatten der Gebäude und Bäume zu halten, so dunkel und so verlassen, wie es hier war.
Als er zu einer Gruppe hochwuchernder Holundersträucher kam, erkannte er seinen Irrtum, seinen verfluchten Leichtsinn, geboren aus dem brennenden Verlangen nach Rache. Das leise Knacken von Zweigen in seinem Rücken warnte ihn. Er blieb stehen und fuhr herum.
Zwischen den Sträuchern stand eine Gestalt derart im Schatten, dass selbst die an Finsternis gewöhnten Augen des Rächers sie nicht zu erkennen vermochten.
»Wer bist du, Bruder?«, fragte eine raue Stimme.
Ein Mönch! – schoss es dem Rächer bei der Anrede »Bruder« durch den Kopf. Aber warum schlief der verwünschte Pfaffe nicht?
Der Rächer trat langsam auf die Holundersträucher zu, während seine Rechte nach der Lederscheide an seiner Hüfte tastete.
»Gib dich zu erkennen, Bruder!«, verlangte der Mann im Schatten des Holunders.
»Warum nennst nicht zuerst du deinen Namen?«, erwiderte der Rächer.
»Weil ich annehme, als Propst dieses Klosters über dir zu stehen, Bruder.«
Der Propst also!
Da erkannte der Rächer auch schon die hagere Gestalt und das längliche, jetzt verwirrt und verärgert wirkende Gesicht von Bruder Donatus. Was immer der hochgestellte Mönch um diese Zeit auch im Klostergarten wollte, es war eine unglückliche Fügung, die ihn hergeführt hatte.
Wirklich?
Die Hand des Rächers war über die Lederscheide zum Hirschhorngriff gelangt und plötzlich erfüllte ihn das unerwartete Auftauchen des Propstes mit tiefer Zufriedenheit.
»Weshalb antwortest du nicht?«, fragte Donatus verärgert. »Wie lange soll ich mich in Geduld üb…«
Mitten im Wort brach er ab. Die hohe Stirn kräuselte sich in Falten der Verwunderung.
»Du bist kein Bruder aus dem Stift!«
»Nein«, sagte der Rächer gleichmütig und schlug mit der Linken seine Kapuze zurück. Er stand nur noch eine halbe Armlänge von Donatus entfernt, nah genug, dass der Propst auch in dieser finsteren Nacht das Antlitz des Eindringlings erkennen konnte.
»Ihr seid es, Herr?«, krächzte der erstaunte Donatus. »Was sucht Ihr hier, um diese Stunde?«
»Buße«, antwortete der Rächer in düsterem Ton.
»Ihr wollt Buße tun, Herr?«
»Nein, du wirst büßen, Christenhund, du und deine frommen Brüder!«
Bei diesen Worten fuhr die rechte Hand des Rächers vor und jagte die schlanke, zweischneidige Dolchklinge in die Brust des Propstes. Aber der Stahl drang nicht durch, sondern rutschte an einer Rippe ab.
Röchelnd, mit entsetztem Gesichtsausdruck, taumelte Donatus zurück. Die starken Holunderzweige fingen ihn auf. Er presste die Hände gegen seine Kutte. Die Wunde konnte nur oberflächlich sein, der Schreck war wohl größer als der Schmerz.
Der Mund des Propstes öffnete sich, aber kein Wort kam über seine Lippen. Der Rächer war schneller, und diesmal fand seine Klinge sicher ihr Ziel.
Donatus sackte auf die Knie, während das Blut in wahren Strömen an seinem Leib hinunterrann und die dunkle Kutte tränkte. Bis zu dem Moment, als er bäuchlings vor die Füße des anderen fiel, lag Unverständnis in seinen aufgerissenen Augen.
»Das erste Opfer für die wahren Götter, viele werden noch folgen«, sprach der Rächer befriedigt und bückte sich, um seinen blutigen Stahl an der Mönchskutte zu reinigen. Doch eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ ihn erstarren.
Er blickte auf und sah in ein rundes, fleischiges Gesicht, das ebenso verwirrt dreinsah wie zuvor der Propst. Die von langen braunen Haarsträhnen umspielten Wangen waren gerötet. Vergebens versuchte das dralle Mädchen, seinen üppigen Körper mit dem einfachen Kleid zu bedecken. Sie hatte das Kleid nicht an, sondern drückte es nur gegen seinen splitternackten Leib. Jetzt wusste der Rächer, welches ganz und gar nicht fromme Verlangen den Propst aus dem Schlafsaal getrieben hatte.
»Das also ist eure tiefe Frömmigkeit, Christenpack!«, flüsterte er.
Der Blick des Mädchens kreuzte sich mit seinem. Eine Magd, wie es aussah, derb und willig. Der Rächer kannte das Geschöpf nicht. Aber das Mädchen mochte ihn kennen, so wie auch der Propst ihn erkannt hatte. Das zitternde Ding durfte nicht erzählen, was sich hier zugetragen hatte!
Der Rächer richtete sich zu seiner ganzen beeindruckenden Größe auf. Des Mädchens Blick glitt an ihm entlang und blieb an der Rechten mit der blutigen Klinge haften. Aus Verwirrung wurde Erkenntnis, was die Angst in ihrem rosigen Gesicht noch verstärkte.
»Bitte, Herr, nicht!«, flehte die Magd und stand wie gelähmt unter dem Holunder, während der Rächer auf sie zuschritt. »Ich habe nichts Böses getan!«
»Glaubst du an den Christengott?«, fragte der Rächer leise. »Glaubst du daran, dass du nach deinem Tod in den Himmel hinauffährst?«
Das Mädchen antwortete zögernd: »Ich … weiß nicht …«
»Gleich wirst du es wissen!«
Wieder zuckte der Stahl vor und fuhr mühelos durch die Kehle der Unbekannten. Tot sank sie vor die Füße des Rächers. Dann steckte er die Klinge zurück ins Leder, zog die Kapuze über und setzte seinen Weg zu den Stallungen fort, ohne die beiden Toten noch eines Blickes zu würdigen. Sie kümmerten ihn nicht. Der Propst als Anbeter des Christengottes war sein Feind gewesen und das Mädchen war ohne jede Bedeutung.
Der Viehstall war zwar verriegelt, aber nur gegen den Ausbruch der Tiere, nicht zum Schutz gegen Eindringlinge. Mühelos verschaffte der Rächer sich Einlass und blieb vor einem Strohkasten stehen. Aus einem Beutel an seinem Ledergürtel nahm er einen Feuerstein und einen handlangen Eisenstab, mit dem er über der Kiste auf den Flint schlug, immer und immer wieder.
Winzige Funken sprühten ins Stroh, endlich qualmte es, dann schlug Feuer hoch, leckte mit gierigen Zungen nach seinen Händen. Innerhalb weniger Augenblicke verwandelte sich der große Strohkasten in eine einzige Lohe.
»So ist es gut«, seufzte der Rächer.
Er packte brennende Strohbündel und warf sie in den Stall hinein.
Der Hunger der Flammen kannte keine Grenzen. Je stärker sie sich ausbreiteten, desto mehr verschlangen sie, bald nicht mehr nur Stroh und Holz, sondern auch lebendes Fleisch. Die Schreie der Kühe, Esel und Ziegen erweichten das Feuer ebenso wenig wie den Rächer, der keine Gnade kannte.
Er lief hinaus, an den beiden Leichen vorbei, und erkletterte am Seil die Vorratskammer. Auf dem Dach zog er das Seil ein, befestigte es an der anderen Seite und stieg hinunter.
Wieder blieb er vor den Fenstern des Dormitoriums stehen und lauschte auf die Schlafgeräusche der Christenmönche. Ihr friedlicher Schlummer würde nicht mehr lange währen …
*
In der folgenden Nacht hatten sich die Wolken verzogen. Mond und Sterne warfen ihr blassgelbes Licht auf das Land am Niederrhein, doch hier im Königswald herrschten die Schatten. Der Rächer lächelte, als er an das verzweifelte Läuten der Stiftskirche dachte und an das vergebliche Bemühen der Mönche, die Flammen zu löschen. Auch die zu Hilfe eilenden Kaufleute aus der nahen Siedlung brachten keine Rettung. Sie kamen viel zu spät. Die Flammen fraßen den Viehstall, die anliegenden Geräteschuppen, und griffen dann auch auf das Gebälk der steinernen Gebäude über. Mönche, Kaufleute und Knechte arbeiteten die ganze Nacht hindurch, schütteten Eimer auf Eimer ins Flammenmeer. Der Feuerschlund trank das Wasser voller Gier.
Der Rächer stand nicht weit entfernt unter dem Vordach eines Lagerhauses, lauschte dem Glockengeläut, den Schreien und dem Prasseln der Flammen, deren zuckender Schein die Nacht zum Tage werden ließ. Am Morgen standen nur noch verkohlte Mauern und der verfluchte Glockenturm. Es hieß, er sei nicht mehr zu benutzen und könne jeden Augenblick zusammenstürzen.
Sollte er doch einstürzen! Der Rächer würde ein Freudenlied darauf singen.
Er war längst abgestiegen und führte den Rapphengst am Zügel durchs dichte Unterholz. Die Waldgeister eroberten das einst vom Menschen gerodete Land schnell zurück. Warum auch nicht, die Menschen hatten es aufgegeben, als sie ihre Götter verrieten. Und die Burg, einst Stammsitz mächtiger Könige, war nur noch eine verfallene Ruine.
Im Mondlicht schimmerten die bröckelnden Mauern, Zinnen und Türme bleich wie die Knochen eines riesigen Tieres. Die eines jener Drachen vielleicht, die ebenso verschwunden schienen wie die alten Götter.
Der Rächer blieb am Rand der einst viel größeren Lichtung stehen und ließ den Anblick auf sich wirken.
Er erfüllte ihn mit Stolz auf die Vorfahren, die diese Burg errichtet hatten, im Glauben an die Götter.
Gleichzeitig überfiel ihn Trauer über die neue Zeit, die angebrochen war und die Herzen der Menschen verändert hatte. Sie glaubten jetzt an einen Gott der Liebe und Versöhnung. Doch sie führten noch immer Kriege gegeneinander. Spürten sie nicht, dass dieser angebliche Liebesgott sie nur benutzte, um seine Macht zu stärken und seinen falschen Ruhm in immer weitere Gefilde zu tragen?
Der Rächer würde dem ein Ende bereiten!
Er schritt auf das Tor zu und zerrte das unruhig werdende Pferd mit eiserner Hand hinter sich her. Die Zugbrücke war heruntergelassen, der Wassergraben längst ausgetrocknet. Die morschen Bohlen hallten dumpf unter den Schritten von Mann und Tier.
Er band den ängstlich schnaubenden Rappen an einer Brunnenumfriedung im Hof fest. Das Gestein schien stark genug, um dem nervösen Zerren des Hengstes standzuhalten.
Der Mann ging weiter und betrat den überdachten Gang, der zur Eichenhalle führte, dem Mittelpunkt der Königsburg. Staubwolken wirbelten unter seinen Stiefeln auf. Mehrmals musste er Spinnweben aus seinem Gesicht wischen.
Und hinter ihm wieherte kläglich das Pferd. Er blieb nicht stehen, drehte sich nicht um, kehrte nicht zurück. Fest entschlossen, wie er war, gab es keine Umkehr. Nicht für ihn – den Rächer der Götter!
Erst beim Anblick des Kinderbaums blieb er stehen. Wie gerade, stolz und mächtig sich der Stamm in den Himmel reckte!
Der Mann legte den Kopf in den Nacken und sah zu der riesigen Krone hinauf, die das Dach der Eichenhalle war. Schwindel packte ihn.
Daran war weniger die ungeheure Größe der Eiche schuld als der Gedanke, wie lange der Baum hier stand. Es hatte ihn schon gegeben, als die Urväter die Burg errichteten, rings um den Baum der Götter – den Kinderbaum.
Mit seinen Glück spendenden Früchten räucherte man bei Entbindungen. An seinem Stamm klammerten sich die Gebärenden fest, um die Kraft der Götter zu spüren. Auf diese Weise waren mächtige Recken zur Welt gekommen, Könige!
Es war längst vorbei.
So wie die Zeit, in der die Menschen an ihre wahren Götter glaubten und sie ehrten, wie es ihnen gebührte.
Ehrfürchtig schritt der Mann zwischen den halb zu Staub zerfallenen Tafeln und Bänken hindurch, bis er so dicht an dem mächtigen Stamm stand, dass er nichts anderes sah. Er atmete tief durch und presste seine Handflächen gegen die rissige Borke.
Der Stamm der alten Eiche fühlte sich kühl wie die Erde an, doch gleichzeitig ging ein Brennen durch seine Hände, die Arme, den ganzen Leib, und erfasste sein Herz. Er fühlte, dass hier seine Heimat war, nicht in den Kirchen des Christen.
Nur widerwillig ließ er den Baum los und nestelte mit zitternden Fingern den Lederbeutel auf, der an seinem Gürtel gehangen hatte. Er bückte sich und schüttete den Inhalt auf das feste Erdreich, zwischen die mehr als beinstarken Wurzeln des Kinderbaums. Es war grauschwarzer Staub.
»Dies ist Asche vom Haus des falschen Gottes«, sagte der Rächer feierlich. »In der letzten Nacht brachte ich ihm den Flammentod, dir zu Gefallen, mächtiger Feuergott. Du siehst, ich habe deine Rufe erhört.«
Er blickte an dem Stamm hinauf zur Baumkrone, die den Himmel fast gänzlich verdeckte.
Doch die erhoffte Antwort blieb aus.
Da zog er den Dolch und stieß ihn tief ins Erdreich, mitten in die Asche.
»Und dies ist die Klinge, die einem Christenpriester das Leben raubte, geführt von meiner Hand, mächtiger Gott der Flammen. Er soll nur der Erste sein von vielen, die ihren falschen Glauben und ihren Verrat an dir elend büßen!«
Die Augen des Rächers weiteten sich, als mit dem Dolchstahl eine seltsame Veränderung vor sich ging. Er begann zu glühen, erst nur schwach, schließlich so stark, dass die Hitze den Mann schwitzen machte. Und die Asche zerfloss, wurde zu einer roten Lache.
Zu Blut!
Langsam streckte der Mann seine Hand aus und berührte das Blut. Es war heiß, glühend heiß. Und doch verbrannte es seine Hand nicht. Es schien durch die Haut hindurchzugehen, geradewegs in seinen Leib, der den roten Saft aufsog, bis die Lache verschwunden war und nur noch der Dolch im Boden steckte.
Das Glühen war in dem Mann, ließ ihn eins werden mit dem Feuergott, dessen Namen er wieder und wieder in die Nacht hinausschrie. Die Schreie übertönten das hysterische Gewieher des Rappen, der wie von Sinnen an den Zügeln zerrte. Doch er kam nicht los von dem alten Brunnen und sprang in Todesangst hin und her, hin und her …
Sein Reiter beachtete das Tier nicht, hörte nicht einmal sein Wiehern. Für ihn zählte nur die Macht, die ihn erfüllte: die Macht des Feuergottes!
Er war eins mit dem mächtigen Gott. Oder war er nur sein Werkzeug?
Machte das überhaupt einen Unterschied? Wichtig war nur, dass durch seine Hände – die Hände des Rächers – die Macht der alten Götter zurückkehren würde.
Die Zeit der Rache, die Zeit der Zerstörung war gekommen!
»Ja, das Eisen muss glühen, heiß sein wie der Tod im letzten Augenblick des Menschenlebens!«
Graf Reinhold von Glander, Schmied mit Leib und Seele, stieß die Worte mit Inbrunst hervor, während er sein hageres, grobknochiges Gesicht ungeachtet der aufstiebenden Funken über die Esse beugte, in der die große Klinge glühte. Auch der hochgewachsene Jüngling, dessen in ledernen Handschuhen steckende Hände den Knauf des neuen Schwertes hielten, trotzte der atemraubenden Hitze und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die rotgelbe Glut. Wieland hatte die Hände um die beiden Griffe des großen, zweifachen Blasebalgs gelegt und entfachte den Brand der Kohlen mit jedem Druck seiner muskelbepackten Arme aufs Neue.
Noch roter als die Kohlen glühte das Eisen, das Siegfried hielt. Fast schien es, als wolle es schmelzen und im großen Becken der Esse zerlaufen.
»Jetzt, Meister?«, fragte der junge Schmiedebursche mit vor Erregung zitternder Stimme. Es war beileibe nicht das erste Schwert, das er schmiedete, aber bei Weitem das wichtigste.
»Noch nicht«, erwiderte Reinhold mit einer Ruhe, die Siegfried unbegreiflich war.
»Aber das Eisen glüht dunkelrot, genau in der richtigen Färbung, um es abzuschrecken!«
»Noch nicht«, wiederholte der erfahrene Schmied, dessen Augen starr auf die heiße Klinge gerichtet waren.
Mit jedem Druck Wielands flogen neue Funken auf. Gerade öffnete Siegfried den Mund, um seinen Meister zu fragen, wie lange die Klinge noch glühen müsse, da befahl Reinhold: »Abschrecken, jetzt!«
Siegfried zog das Schwert aus dem Feuer und tauchte es in den Bottich, der auf den ersten Blick klares Wasser enthielt. Doch es war mit Zutaten angereichert, die nur die Schmiede kannten und die dem Stahl besondere Härte verliehen. Dampf quoll unter lautem Zischen auf und vermischte sich mit dem Qualm, der von der Esse aufstieg, zu einer grauen Fahne, die zum Abzugsloch im Schrägdach wehte.
»Heraus mit dem Eisen!«, rief Reinhold und legte seine Hand auf Siegfrieds Schulter.
Der junge Xantener riss augenblicklich die Klinge aus dem Bottich und legte sie auf den Stahlblock. Aus dem glühenden Dunkelrot war ein helles Gelb geworden.
»Du kannst das Schwert ruhig loslassen, Siegfried«, bemerkte Reinhold mit mildem Spott. »Wie du es umklammerst, kriegst du noch einen Krampf in den Armen.«
Siegfrieds ganze Aufmerksamkeit galt dem Eisen, dessen Gelb langsam eine dunklere Färbung annahm. Nur zögernd löste er seine Hände vom Schwertgriff. Er wollte nichts falsch machen, nichts verderben an seinem Königsschwert.
Schon einmal hatte er geglaubt, die richtige Klinge für seine bevorstehende Schwertleite in Händen zu halten. Reinhold hatte sie geschmiedet und Siegfried mit der Bemerkung überreicht, er solle sie ruhig nach Herzenslust prüfen. Das hatte der Königssohn getan und auf einer nahen Waldlichtung die Klinge geführt, immer wieder auf Bäume eingeschlagen – bis der Stahl zerbrach.
Reinhold hatte sein ergrauendes Haupt geschüttelt. »Du bist der kräftigste Schmiedebursche, den meine Augen jemals sahen«, hatte er zu Siegfried gesagt und hinzugefügt: »Ich glaube, nur du selbst kannst ein Schwert schmieden, das deinen Kräften standhält. Ich werde dir dabei helfen!«
Dieses Schwert lag nun auf dem Stahlblock und wechselte die Farbe seiner Klinge vom Dunkelgelben ins Blaue. Würde es das Schwert eines jungen Königs sein? Die Schwertleite sollte Siegfried zum Mann machen, und dann würde er an der Seite seiner Mutter Sieglind über die Niederlande herrschen, bis er eines Tages ganz allein das Erbe des toten Vaters antrat.
»Das Öl, Otter!«, rief Reinhold. »Du musst es eingießen!«
Der schlanke, dunkelhäutige Junge nickte und goss den Inhalt zweier Tonkrüge in einen hohen Eiseneimer. Als sich die beiden Flüssigkeiten trafen, schäumten sie kurz auf. Reinholds Härteöl war weithin berühmt. Otter trug schwer an dem Eimer, und Wieland half ihm, damit er nichts verschüttete. Sie stellten das Öl neben den Stahlblock.
Siegfried nahm das nur aus den Augenwinkeln wahr. Seine volle Aufmerksamkeit galt der noch immer heißen Klinge, die braun geworden war und sich allmählich erhellte, bis sie die Farbe von Honig annahm.
»Ins Öl, Meister?«, fragte Siegfried, und Reinhold nickte. Der Königssohn ergriff das Schwert und steckte die Klinge ins Härteöl. Diesmal stiegen schwarze Schwaden auf, die aussahen – und stanken – wie Höllendämpfe.
»Rühren«, sagte der Schmied. »Beweg dein Schwert!«
Und Siegfried führte mit gleichmäßigen Bewegungen die erkaltende Klinge im Öl, um den Stahl gleichmäßig zu härten, wie er es bei Reinhold gelernt hatte. Der Schmied und die beiden Gehilfen standen dicht neben ihm. Ihre Augen folgten jeder Bewegung Siegfrieds, als er die Klinge langsam aus dem Eimer zog und hochhielt, bis die Glut der Esse sich in dem blauen Stahl spiegelte.
»Ah, das ist harter Stahl«, stellte Reinhold nach prüfendem Blick fest. »Sind die Schneiden erst geschärft, wirst du das beste Schwert im ganzen Land führen, Siegfried.«
»Wirklich?«, fragte Siegfried leise und dachte an die andere Klinge, die er zerbrochen hatte.
»Du glaubst mir nicht?« Reinhold klang empört. »Dann erprobe die Härte. Schlag zu, auf was du willst!«
Siegfried betrachtete die Klinge und dann den Stahlblock, auf dem sie nach dem Abschrecken gelegen hatte. Plötzlich kam Bewegung in seinen sehnigen Körper und er ließ Stahl auf Stahl niederfahren.
Wäre Otter nicht von übermenschlicher Gewandtheit gewesen, hätte die Schwertspitze das Findelkind durchbohrt. Sie brach ab, wie ein dünner Ast unter dem Druck einer kräftigen Hand zerbrach, und flog durch den Raum. So schnell, dass ein menschliches Auge ihr kaum folgen konnte. Doch der wendige Otter tauchte zur Seite und der Stahl bohrte sich mit der Spitze in den eichenen Rasterblock, auf dem der schwere Amboss ruhte, und blieb dort federnd stecken. Vier Augenpaare starrten ungläubig auf den großen Holzblock und dann auf das halbe Schwert, das noch in Siegfrieds Händen lag.
»Ich dachte, wir sind gute Kameraden, Siegfried«, durchbrach Otter in seiner launigen Art die beklommene Stille. »Bis heute wusste ich nicht, dass du mich auf solch drastische Art töten willst.«
Als niemand lachte, musste Otter einsehen, dass seine Scherze diesmal nicht halfen. Die Mienen von Siegfried und Reinhold wirkten vor Grimm versteinert, während der klobige Wieland einfach nur grenzenlos verblüfft dreinschaute. Endlich löste der Schmied seine Augen von dem zerstörten Schwert.
»Ich hatte in all den vielen Jahren noch keinen Schmiedeburschen mit solchen Muskeln wie Wieland«, sprach Reinhold nachdenklich. »Aber deine Kraft, Siegfried, übertrifft die seine noch!« Anerkennung schwang in dieser Feststellung mit.
»Was nutzt es mir, wenn ich jedes Schwert zerbreche, statt es zu führen?«
Achtlos ließ Siegfried die Schwerthälfte fallen und verließ die Schmiede. Er ging hinunter zum Fluss, dessen Fluten im hellen Licht der Sommersonne silbrig schimmerten, und setzte sich auf einen Felsblock.
Die Werkstätten lagen in seinem Rücken und das Hämmern und Zischen war wie der Klang aus einer anderen Welt. Die Schwertburg beherbergte die größte Waffenschmiede am Rhein und die hier gefertigten Schwerter, Lanzen und Äxte waren weithin berühmt. So berühmt, dass der Waffenschmied Reinhold von Glander längst zum allseits geachteten Fürsten aufgestiegen war.
Zur großen Schwertleite kamen viele Ritter nach Xanten. Reinholds Männer arbeiteten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, um eine möglichst große Zahl der begehrten Waffen absetzen zu können. Das förderte Reinholds Ruhm und nicht weniger seinen Reichtum.
»Betrachte das zerbrochene Schwert nicht als Unglück, Siegfried, sondern als Beweis deiner Stärke!«
Reinhold stand neben ihm und blickte mit der Anteilnahme auf ihn herab, wie sie ein Vater für den Sohn verspüren mochte. Tatsächlich war der Graf von Glander für Siegfried, dessen Vater auf dem Feldzug gegen die Friesen gefallen war, ein väterlicher Freund. Siegfried, damals keine zehn Jahre alt, hatte seine Trauer und Wut an allem und jedem ausgelassen, ungestraft, wie es nur ein Königssohn tun konnte. Als seine Mutter sich nicht mehr zu helfen wusste, hatte sie Reinhold zum Zuchtmeister ihres einzigen Sohnes erkoren. An Esse und Amboss sollte der Zorn des jungen Prinzen verrauchen; von Reinhold sollte er alles lernen, was ein Vater dem Sohn beibringen konnte: die Kunst der Jagd und des Krieges, den Umgang mit Pferden und vor allem den mit Menschen.
Reinhold hatte weder Sieglind noch ihren Sohn enttäuscht. Fast bereute Siegfried, dass seine Zeit auf der Schwertburg in wenigen Tagen vorbei sein sollte.
»Die Schwertleite«, sagte der Jüngling leise und blickte auf den Rhein, auf dem in diesen Tagen noch mehr Boote als sonst verkehrten; die meisten wollten zur Königsstadt Xanten. »Ich hätte es gern gesehen, wenn Ihr mich mit einem ganz besonderen Schwert umgürtet, Reinhold. Mit einem, das dem Sohn Siegmunds würdig ist.«
»Es gibt viele prachtvolle Schwerter, Siegfried«, antwortete der berühmte Waffenschmied und ließ sich neben seinem Ziehsohn nieder. Mit einem heiseren Lachen fügte er hinzu: »Niemand weiß das besser als ich, denn die meisten kommen aus meiner Schmiede.« Er räusperte sich. »Jedenfalls wirst du dich des Schwertes nicht zu schämen brauchen, das ich dir am Tag deiner Mannbarkeit überreiche. Und du wirst auch noch lernen, die Klinge zu führen, ohne sie beim ersten Schlag zu zertrümmern.«
Siegfried spürte Wärme und Zuneigung in Reinholds Worten. Aber es vertrieb nicht die Schatten, die auf seinem Gemüt lagen. »Das weiß ich, Reinhold, und dafür danke ich Euch. Trotzdem hätte ich gern ein einzigartiges Schwert gehabt, eins, das dem Prinz von Xanten nicht weniger gut zu Gesicht steht als meinem Vater das …«
»Das Runenschwert?«, beendete Reinhold den Satz des verstummten Jünglings.
»Ja«, bestätigte Siegfried leise und dachte an das legendäre Schwert seines Vaters, das Siegmund zum unbesiegten Recken gemacht hatte. Wodan selbst sollte es geschmiedet haben, und es trug magische Runen. So erzählte man, wenn die Christenpriester nicht hinhörten.
»Du weißt, dass Siegmund selbst es zerbrochen hat, bevor er starb.«
Siegfried nickte nur und blickte seinen Ziehvater fragend an.
»Der Krieg gegen die Friesen war grausam, unwürdig eines Ritters«, erzählte Reinhold, der als viel gerühmter Recke selbst an jenem großen Feldzug teilgenommen hatte. »Erspare mir die Einzelheiten. Was man sich in Schenken und an Lagerfeuern darüber erzählt, ist bestimmt nicht übertrieben. Als dein Vater die tödliche Verwundung empfing, begriff er, dass er die Macht des Runenschwertes missbraucht und Wodan deshalb seine schützende Hand von ihm genommen hatte. Deshalb zerbrach er die Waffe und befahl, die beiden Hälften an unzugänglichen Orten zu verstecken.«
»Warum ließ er es nicht ganz zerstören?«
»So darf man nicht mit einem Geschenk des Göttervaters umgehen, der zugleich Stammvater des eigenen Geschlechts ist. Kann es nicht sein, dass er dereinst befiehlt, das Runenschwert wieder gegen den Feind zu führen?«
Siegfried sah ungläubig drein und meinte nach einigem Überlegen: »Ich dachte, die alten Götter hätten sich von uns zurückgezogen. Bischof Severin sagt, es hat sie nie gegeben, sie seien bloß ein Aberglaube.«
»Aberglaube ist nur das, was von den Mächtigen dazu erklärt wird«, erwiderte Reinhold düster. »Das Runenschwert ist Vergangenheit und wird bald nur noch Legende sein. Gewiss, es wäre ein angemessenes Schwert für den Prinzen von Xanten, aber da es unerreichbar ist, nutzt dir diese Erkenntnis nichts.«
»Unerreichbar?«, wiederholte Siegfried. »Jemand muss doch wissen, wo es versteckt wurde.«
»Die beiden Männer, die es versteckten.«
»Der eine ist wohl Grimbert«, meinte Siegfried und dachte an seinen wunderlichen Oheim.
»Ganz recht.«
»Und wer ist der andere?«
»Das bin ich«, sagte Reinhold.
»Ihr?«
»Warum so erstaunt?«, fragte der Schmied. »Schließlich habe ich im vordersten Treffen gegen die Friesen gefochten, Seite an Seite mit deinem Vater. Wir waren gute Waffengefährten und in uns beiden fließt das Blut der alten Götter.«
Siegfried fühlte sich bei diesen Worten von neuer Lebenskraft beseelt. Wie hatte der Graf doch zu ihm gesagt: Das Runenschwert wäre ein angemessenes Schwert für den Prinzen von Xanten!
»Wo ist das Runenschwert?«, brach es aus Siegfried hervor.
Reinhold musterte ihn zweifelnd. »Es ist an Orten aufbewahrt, die jedem Sterblichen den Tod bringen.«
»Warum lebt Ihr und Grimbert dann noch?«
»Weil die Orte damals noch nicht so unzugänglich waren.«
Siegfried besann sich auf etwas, das Reinhold ihm beigebracht hatte: Wenn du den Gegner nicht durch Kraft besiegen kannst, dann versuch es mit einer List!
Also sagte er: »Wenn sie so unzugänglich sind, könnt Ihr sie doch ruhig nennen!«
Aber Reinhold durchschaute ihn und lächelte. »Die Gerissenheit musst du von deinem Vater geerbt haben.«
»Vielleicht war es Vaters Wunsch, dass sein Sohn auch das Runenschwert erbt.«
Reinhold blickte lange auf den Fluss, wo ein Lastkahn arg mit einem Strudel zu kämpfen hatte. Nur mit Mühe kamen die Schiffer nach dem Einsatz langer Staken wieder frei. Der Schmied sprang mit einer Behändigkeit auf, die erstaunlich war für einen Mann, dessen Jugend schon lange zurücklag.
»Lassen wir die düsteren Gedanken und das Gerede über Götter und Runenmagie. Die Zeiten sind vorüber. Komm mit, mein Sohn, ich werde dir ein Geschenk machen, das du nicht so einfach zerbrichst!«
»Ein Geschenk?«, fragte Siegfried hellhörig. Sein jungenhafter Geist hatte die Gedanken an das Runenschwert rasch verdrängt. Ein Geschenk war immer ein Grund zur Freude und, wenn es von Reinhold kam, gewiss nicht von geringem Wert. »Was ist es?«
»Etwas, das ich dir eigentlich am Tag der Schwertleite geben wollte. Aber heute ist eine ebenso gute Gelegenheit.«
Reinhold führte ihn nicht zurück zur Schmiede, sondern zu den Weiden am Fluss. Edle Pferde grasten hier, Götterpferde. So wurden sie genannt, weil der alte Glaube auch ihre Existenz auf die Götter zurückführte. Dunkel erinnerte sich Siegfried an die Sage, nach der Loki sich, als Stute verwandelt, mit dem Hengst des Riesenbaumeisters gepaart hatte, um das Tier von der Arbeit abzuhalten. Dieser Verbindung war der Dahingleitende entsprungen, Wodans berühmtes achtbeiniges Ross.
»Auf dieser Weide findest du nur hervorragende Pferde«, sagte Reinhold und zeigte auf die sanft abfallende Wiese, die geradewegs zum Rhein führte. »Such dir das beste aus!«
Siegfried überlegte nur kurz, dann lief er mit lautem Geschrei und ausgebreiteten Armen auf die Weide und trieb die Pferde in den Fluss, der an dieser Stelle von nicht geringer Strömung war. Unter lautem Gewieher sprangen die meisten Tiere sofort wieder aus den Fluten, schlugen einen weiten Bogen um den Störenfried und kehrten auf die Wiese zurück. Nur ein großer grauer Hengst stemmte sich gegen die Fluten, blieb ruhig stehen und erwiderte Siegfrieds Blick mit stolz erhobenem Kopf.
»Das ist mein Pferd!«, sagte Siegfried.
»Graufell?«, fragte Reinhold. »Weshalb er?«
»Weil er der Gefahr nicht weicht, sondern ihr mutig trotzt. Wer sich vor dem mächtigen Rhein nicht fürchtet, wird mich auch in der Schlacht nicht im Stich lassen.«
»Eine gute Wahl«, befand Reinhold mit anerkennendem Lächeln.
*
Warm war die Nacht, fast schwül, und die sich ausbreitenden Wolkenschleier boten gute Aussicht auf ein Sommergewitter. Donar, der Donnergott, jagt durch die Nacht, hätten die Menschen früher gesagt.
Mond und Sterne verschwanden immer wieder hinter den dunklen Schlieren. Dann verlor der große Strom seinen Silberglanz und floss in unheimlicher, bedrohlicher Schwärze dahin. Auf Siegfried wirkte er wie die riesige Schlange, die sich nach altem Glauben um die ganze Welt wand. Er saß fast an derselben Stelle wie am Tage, als er hier mit Meister Reinhold gesprochen hatte. Aber jetzt war er allein. Er kam oft hierher, wenn er seine Gedanken ordnen wollte. Der Fluss schien ihm dabei zu helfen, vielleicht weil er Siegfried mit denen verband, die ihm nahestanden und doch so fern waren. Mit seiner Mutter Sieglind in Xanten. Und vielleicht auch mit seinem toten Vater Siegmund, dessen Leichnam im Land der Friesen geblieben war. Siegfried war traurig, dass Reinhold ihm die Orte verschwiegen hatte, an denen die Hälften des Runenschwertes lagen. Mit dem magischen Schwert in seinen Händen hätte er wenigstens mehr als eine Erinnerung von seinem Vater gehabt.