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Dieses eBook: "Das Schiff ohne Steuer (Historischer Roman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "...Bismarck ... Bismarck ... immer Bismarck ... Es macht einen schon ganz nervös, dies ewige: Bismarck! Ich gebe zu, es war eine Hundearbeit, Deutschland zu einen. Aber es nun weiter zu regieren, ist keine Kunst bei der beispiellosen und dauernden Gunst der Verhältnisse! Bismarck ist doch nun einmal ein Hinterpommer – ein genialer Hinterpommer ... ein übermenschlicher Hinterpommer, aber eben ein Hinterpommer! Wir müssen aus Hinterpommern heraus! Aus dieser göttlichen Einseitigkeit heraus! Hinaus in die Welt! Übers Meer! Es wird ein Sturm durch alle Winkel pfeifen. Man wird Steuerleute für das Reichsschiff brauchen, wenn die neue Zeit kommt! Na ... und da ... unter anderen ... ein gesetzter Jüngling wie ich ... bestens empfohlen ... Geld ... na ... spielt bekanntlich bei mir Gott sei Dank keine Rolle ... Verbindungen mit Gott und der Welt ... Nur ein einziges Manko ..." Rudolf Stratz (1864-1936) war ein erfolgreicher Romanschriftsteller, Theaterkritiker und Essayist.
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Seitenzahl: 639
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Unter dem Maienhimmel von 1882, der über Göttingens Giebeln blaute, im Sonnengold über dem holprigen Pflaster, sah man von dem heißen Tagesschein außen durch die offene Tür den Saal der »Alten Fink« nur im Dämmerschatten. Ein kühler Hauch von Bier, ein Strom von Zigarrendampf flutete heraus. In seinem Nebel leuchteten innen hundert und mehr bunte Korpsmützen. Der C. C. des Hohen Kösener an der Georgia Augusta saß beim Frühschoppen. Der junge Mann, der unentschlossen am Eingang stand, hielt einen vorbeieilenden Korpsfex fest. Zufällig war das gerade der dienstbare Geist der »Cimbria«, die jener suchte. Jawohl: – das Korps saß ganz dort hinten in der Ecke. Das mit den gelben Mützen ...
Der junge Fremde schaute in den Qualm des Vierhocks.
»Oh – ich sehe, es sind zu viel Leute da«, sagte er. »Geben Sie, bitte, dem Herrn Studenten von Pritzig unterdessen meine Karte. Ich will ihm lieber später in seinem Heim einen Besuch machen!«
Er war kaum zwanzig. Groß, frisch, blond, mit freimütigen blauen Augen und kaum erst sprossendem Bärtchen auf der Oberlippe. Er hatte noch etwas Knabenhaftes, das an einen treuherzigen jungen Neufundländer erinnerte. Der großkarierte Anzug, die hellzitronenfarbenen Schnürschuhe, der weißgraue, breitrandige Filzhut hoben ihn, in der prallen Sonne von einem fremdartigen Licht umflossen, aus dem gemütlichen Alltag der kleinen Musenstadt.
Der Fex lief zum Cimberntisch und brachte dem cand. jur. et cam. Malte von Pritzig die Karte. Der Dreibändermann mit den vielen Schmissen und, unter ihnen, dem gewaltigen Durchzieher vom linken Ohr zum Mundwinkel, war etwas älter als die um ihn und trug nur noch als Inaktiver die gelbe Mütze auf dem scharfen und bestimmten Kopf. Er las, die verharschten Schmisse auf der Stirn in schiefe Zwangsfalten runzelnd, den Namen
»Leo Nimis«
und darunter, mit Bleistift auf die Besuchskarte geschrieben: »hofft, gestern in Göttingen eingetroffen, bald mit Ihnen die Freundschaft unserer Väter zu erneuern.«
»Famos! Fuchs in Sicht!«
»Jetzt noch, im Mai, eine Renonce, Pritzig?«
»... ran mit ihm!«
»Leute ... Ehe er kommt, hört mal schnell: Also mein alter Herr, obwohl in höchsten Amt und Würden, hat doch von Jugend auf den Vogel, mit den tollsten Zeitgenossen zu verkehren! So hatte er Anno achtundvierzig – Ewigkeit her! – eine Art Freundschaft mit einem rabiaten, schwarzrotgoldenen Jüngling, dem er, obwohl damals selber preußischer Landwehroffizier, aus Heidelberg zur Flucht nach Amerika verholfen hat. Die Geschichte kam zum Glück niemals raus ...«
»Was hat das mit dem Spe-Fuchs draußen zu tun?«
»Dieser alte Achtundvierziger, den mein Vater vor dem Rastatter Standgericht gerettet hat, lebt noch drüben in Amerika. Anständiger Mensch. Kommt seit der Amnestie auch oft nach Deutschland herüber, und mein Alter und er sind nach wie vor dicke Freunde, und der hoffnungsvolle junge Mann, der draußen steht, ist der Lohn dieses Herrn Nimis aus Darmstadt. Also seid so gut und schimpft, wenn er jetzt anturnt, nicht auf die Demokraten! Wenn wir ihn erst im Korps haben, bringen wir ihm schon gereiftere Ansichten bei. So – und nun will ich ihn mal schleunigst herankitzeln. Was, Fex. der Herr ist wieder weggegangen? Donnerwetter!«
Der Dreibändermann sprang empor und sagte aufgeregt zu dem ersten Chargierten: »Bitte um Tempus, Buschbeck. Den Fuchs dürfen wir uns nicht vergrämen. Sonst keilen ihn uns die anderen vor der Nase weg.«
Die Weender Straße badete sich im Maienschein. Der große, blonde junge Mensch, der da mit der gewohnheitsmäßigen Gelassenheit eines Weltreisenden hinschlenderte, hörte von hinten seinen Namen: »Herr Nimis! Herr Nimis!« und drehte sich gleichmütig um. Sein Knabengesicht lächelte arglos freundlich. Er schlug freimütig in die gebotene Rechte ein. Er war größer als der Ältere vor ihm. Aber alles an ihm noch unentwickelt, vom Abfall der zu schmalen Schultern und den unbekümmert schlenkernden Bewegungen bis zu dem kindlichen Blau der Augen. Die beiden jungen Männer sahen sich an und schwiegen ein paar Sekunden. Sie waren beide etwas verlegen, weil das Schicksal sie einander genähert hatte, ohne daß sie sich noch kannten. Dann versetzte der inaktive Korpsbursche liebenswürdig: »Bitte, kommen Sie doch mit in die Alte Fink. Wir freuen uns natürlich kolossal.«
Der Gast saß zwischen ihm und dem ersten Chargierten. Max Buschbeck, einem hübschen jungen Menschen – Vater Großindustrieller vom Niederrhein... klotziges Geld ... wie Herr von Pritzig erklärend raunte. Gegenüber der zweite Chargierte. Graf Mettenberg, auch aus der Gegend ... wallonisches Dynastengeschlecht ... streng ultramontan ... Dort der dritte Chargierte... will Offizier werden! Wir andern hier, Herr Nimis? Alles jur. et cam. Durch die Bank Juristen. Natürlich künftig Verwaltung, nicht Gericht! Das einzig Anständige ... Darf ich Sie darauf aufmerksam machen: Unser C.K. Prinz Yburg kommt Ihnen aufs ganz. Spezielle ... Unten sitzen die Füchse, Herr Nimis, mit dem Fuchsmajor. Alles tadelloser Nachwuchs. Der einzige da, der nicht Couleur trägt, der Mitkneipant, ist mein Vetter Lüdingworth. Unsere Mütter sind Schwestern. Wie so die Hamburger sind: Er behauptet, draußen in der Welt fiele es auf, wenn man mit zerhauenem Gesicht herumliefe ...«
»Da hat er sehr recht«, sagte Leo Nimis unbefangen. Ein Schweigen um ihn. Dann hob sich wieder einer der mit hellgelbem, dünnem Bier gefüllten Deckelkrüge nach dem andern vor ihm verbindlich in die Luft: »Ich gestatte mir, Herr Nimis!« Er zeigte, jedesmal dankbar lächelnd, die gesunden, weißen Zähne, aber dabei meinte er, auf die leise Erinnerung des Nachbarn, doch auch nachzukommen: »Ich trinke keinen Alkohol.«
»Ja – was denn?«
»Wenn ich, ein Glas geeiste Milch haben könnte ...«
In dem Schauer stummen Entsetzens, der einen unsichtbaren leeren Luftraum um die Knabengestalt des Gastes zog, schüttelte der Kandidat von Pritzig abwehrend den Kopf.
»Nee – nee – das kann doch unmöglich gesund sein, Herr Nimis.« Dann lenkte er ab. »Sind Sie eigentlich jetzt das erstemal in Deutschland?«
»O nein! Meine Eltern wünschten, daß ich und meine einzige Schwester eine deutsche Erziehung genössen. Sie war in Wien, der Heimat meiner Mutter, ich selbst von meinem zwölften bis fünfzehnten Jahr in einem Pensionat in Thüringen. Dann bin ich zu meinen Eltern nach Amerika zurück, und jetzt, nachdem ich wieder fünf Jahre drüben war. wollte mein Vater, daß ich in Deutschland studieren sollte. Er ist ein so guter Deutscher. Bismarck liebt er so sehr. Wir sind gleich nach 1871 auch Reichsdeutsche geworden ...«
»hm ... ja ... da hatten Sie eine weite Fahrt von Amerika hierher?«
»Ja. Ich reiste auf der andern Seite um die Erde herum, weil ich diese Hälfte schon kannte. Von San Franzisko über Japan und China.«
Leo Nimis sagte das mit anspruchsloser Selbstverständlichkeit. Er schaute den andern so harmlos ins Gesicht wie einer, der gewohnt war, mit allen Sorten Menschen, Niggern in Pullman-Cars, Stewards an Bord, Rikscha-Kulis, Cookschen Agenten, indischen Geldwechslern, Kellnern, Kofferträgern, Kutschern, Angelsachsen aller Kaliber und jetzt ebenso mit den Cimbern hier gleichmütig und schon mit einer gewissen reifen Ruhe auszukommen. Er setzte hinzu: »Das japanische Problem beschäftigt alles drüben sehr. Der Chinamann ist sicher besser als der Jap. Man muß nur die Mynheers von Weltevreeden hören, wenn sie von Batavia in Singapore an Bord kommen ...«
Von einem der buntbemützten Nebentische wurde eine Besuchskarte herübergeschickt. Graf Mettenberg schrieb seinen Namen und den Korpszirkel mit Ausrufungszeichen darauf und lüftete mit einer Versteifung des ausgestreckten Arms die Mütze. Drüben wurde das ebenso förmlich erwidert. Die Zeremonie wiederholte sich alle Augenblicke mit gleicher Feierlichkeit im Saal.
»Die Bestimmungsmensuren werden anhängig gemacht, Herr Nimis. Morgen ist großer Pauktag in der Landwehr.«
Bei den Füchsen unten schwirrte es: »Pips im Bierverruf? Kein Schimmer!«
»Er paukt sich doch morgen zum C. B. heraus!«
Der Brander Krause, genannt Pips, stand vor der Rezeptionsmensur. Graf Mettenberg fragte verbindlich: »Waren Sie auch in Indien, Herr Nimis?«
»Ich fuhr über Land von Kalkutta nach Bombay und traf dort wieder meinen Steamer. Wie wahr ist das Wort: Nur der kennt England, der Indien sah. Es ist wohl glaublich, daß zwanzig Jahre Schulung für den Vizekönig von Indien Vorbedingung sind, um Moslim und Hindu in der Wage zu halten.«
»In die Kanne die Füchse! Eins ist eins. Zwei ist zwei! Halt! Geschenkt!«
Der Fuchsmajor, der immer aussah, als ob er bitter lachte, weil ihm ein verheilter Schmiß den zerhauenen rechten Mundwinkel in die Höhe zog, belehrte den Brandfuchs Krause über Mensurtaktik: »Immer tief herunter mit dem Speer! Sonst fegt er dir sofort mit seiner verfluchten Doppel-Tiefquart von unten ins Lokal.«
»Krauses Gegner hat nämlich schon dreimal unberührt abgestochen, Herr Nimis!«
»Da tät' ich ihn lieber in Ruhe lassen«, sagte Leo Nimis und lachte.
»So ...?... Na ... und wenn Ihnen jemand zu nahe tritt, Herr Nimis?«
»Oh – ich kann gut boxen.«
Die Füchse starrten düster in ihre Bierkrüge. Malte von Pritzig ließ sich nichts merken. Der angehende Fuchs mußte bei guter Laune erhalten werden.
»Sie werden schon noch Freude am langen Messer finden«, sagte er leutselig. »Ob ich morgen auch fechte? Nein. Ich bin schon inaktiv. Außerdem macht morgen mein alter Herr Göttingen unsicher. Meine alte Dame ist auch mit von der Partie.«
»Ihre Eltern kommen, um Sie zu besuchen?«
»Nee – eigentlich holen sie sich aus Cassel 'ne Nichte nach Berlin. Auch 'ne Pritzig. Vater als Hauptmann z. D. vor einem Jahr gestorben. Die Mutter schon früher. Seitdem lebte sie bei der Großmama. Nun wollen sie sie nach Berlin zu sich ins Haus nehmen. Feixe nicht, Pips. Noch nichts Ernsthaftes. Kaum fünfzehn.«
Der Fuchsmajor trank Leo Nimis zu.
»Haben Sie sich auf Ihrer Reise nicht oft hundeeinsam gefühlt?«
»Ach nein! Ich hab unterwegs überall Landsleute getroffen. Großartig, wieviel Deutsche jetzt hinausgehen! In Yokohama. In Hongkong. Selbst in Siam. Die haben mir immer geholfen, wenn's nötig war.«
»Na – dazu ist doch eigentlich der deutsche Konsul da?«
Leo Nimis lachte herzlich. »Der deutsche Konsul? Da werden Sie nur vom Türsteher angeschnauzt und drinnen als Rekrut behandelt, wenn Sie überhaupt vorgelassen werden. Helfen tun einem die Konsuln doch nur, wenn man einen Titel hat oder Empfehlungen aus Berlin.«
»So? Und wenn man nun doch mal Hilfe braucht?«
»Ja, da geht man eben zum englischen Konsul«, sagte der junge Mann arglos und beinahe erstaunt über die Frage. »Der hilft jedem Europäer gleich.«
Wieder wehte mit dem Zug der Zigarrenschwaden ein Wölkchen von Mißstimmung über die Farbenfreude der Mützen und Bänder, die weißen Borden des Bierschaums, die Hundeköpfe am Boden Die Luft war jetzt so rauchschwer, daß man die Nebentische wie im Nebel sah. Überall lachten da die jungen Gesichter, blitzten helle Augen unter bunten Kappen, strafften sich schlanke Jünglingsgestalten in spielender Kraft. Ein Frühling Germaniens blühte da voll quellender Fülle. Der junge Mann von Übersee schaute freimütig und zutraulich auf die vielen Altersgenossen und meinte: »Nun liegen ja die Palmen und Pagoden hinter einem. Nun bin ich ganz unter uns Deutschen und will mich recht in Deutschland umschauen und vor allem jetzt erst in Göttingen. Ich denke, es ist nützlich, wenn ich hier mit recht vielen und recht verschiedenen Leuten zusammenkomme.«
»Zum Beispiel?«
»Außer auf euch freue ich mich auch so auf die Burschenschafter. Mein Vater war doch selber einer. Er hat jetzt noch das schwarzrotgoldene Band von 48 drüben an der Wand hängen.«
»Verkehr mit Büchsiers? Ausgeschlossen! Korps und Burschenschaften haben sich überall gegenseitig in Verruf erklärt und geben sich nur mit Säbel und Pistole Satisfaktion!«
»Mit den Landsmannschaften ist es das gleiche!«
Leo Nimis schwieg betreten. Dann sagte er: »Ja – und sonst eben! Mein Vater meinte, überall auf der Hochschule würde ich, wie er seinerzeit auch, hochgemute junge Männer finden, die ...«
»Na ja – das heißt Wilde!«
»Wieso sind sie wild?«
»Oder Bummler, weil sie keine Farben tragen!«
»Solch ein Verkehr lenkt zu sehr ab, Herr Nimis!«
»Gestern zum Beispiel traf ich einen ganz reizenden schwäbischen Theologen ... vom ›Wingolf‹ ... wie er sagte...«
Die Füchse unten platzten los.
»'s isch e Wingölfle«. sprach der Pips trocken. »Die geben keine Satisfaktion, Herr Nimis!«
»Und dann gibt es doch gewiß Sportvereine – ich spiele leidenschaftlich Fußball – und wissenschaftliche Vereine...«
»Das zersplittert alles nur. Sie gehören in Zukunft zu uns, Herr Nimis!«
»Zu den Fellows hier im Saal?«
»Ja – eigentlich zu uns hier von der ›Cimbria‹. Mit den anderen Korps stehen wir auch sehr verschieden. Mit ›Hassia‹ zum Beispiel in traditioneller Feindschaft. Mit der ›Palatia‹ haben wir uns neulich auch schwer verkracht ... Die P. P. Suite steigt nächstens ...«
»Da dürfte ich nur mit euch zusammen sein?«
»Ja – vor allem mit den drei anderen Füchsen unten am Tisch!«
Leo Nimis senkte betroffen den blonden Knabenkopf. »Da würde die Welt ja recht eng«, sagte er und verstummte ...
Der Frühschoppen war zu Ende. Ein Strom bunter Mützen quoll in den goldenen Sonnenschein hinaus und rieselte, immer streng nach den Farben geschieden, auseinander. Über ihnen zuckten spielerisch im Schlendern die Spazierstöckchen mit silbernem Dedikationsring in Lufthieben des Paukbodens. Die Hunde bellten und tanzten. Die Geschäftsleute grüßten untertänigst aus den Ladentüren. Es war die Zeit des großen Renommierbummels auf der Weender Straße.
»Was haben Sie denn heute nachmittag vor, Herr Nimis?«
»Da hab ich mich mit einem jungen Geschäftsreisenden verabredet, der auch in der ›Krone‹ wohnt.«
»Was – um Gottes willen?«
»Ja. Er besucht seine Kundschaft in Münden. Das Städtchen soll so reizend sein. Da fahr ich mit.«
»Da geben Sie nur acht, daß Sie dort nicht mit den Forstakademikern Händel kriegen! Aus Münden kommt man mit einem Dutzend Säbelskandalen auf'm Hals zurück – man weiß nicht wie ...«
»Ich will mich doch nur an der schönen Natur freuen und nicht Blut vergießen!« sagte Leo Nimis ganz bang. »Warum seid ihr denn hier alle gegeneinander so gereizt?«
Um ihn lachte es.
»Das werden Sie später schon einsehen, Herr Nimis.«
»Die Verhältnisse sind nicht so einfach.«
»Sie sind ja noch krasser Fuchs.«
»Haben Sie sich denn schon in Göttingen umgeschaut?«
»Ja. Alles, was an Bismarck erinnert. Das habe ich meinem Vater versprechen müssen. Das war mein erster Gang: die Karzertüre mit seinem eingeschnittenen Namen und sein Häuschen draußen am Leinekanal. Den alten Sattlermeister in der Weender Straße habe ich auch schon gesprochen, der ihn vor fünfzig Jahren noch persönlich gekannt hat. Der weiß freilich nur zu erzählen, daß Bismarck so grimmige Gesichter wie ein Affe habe schneiden können.«
»Aber seinen Speer haben Sie noch nicht gesehen? Den kriegen Sie morgen zu Gesicht.«
Der Schläger des einstigen Studiosus Otto von Bismarck-Schönhausen hing, den Korb mit den Farben der »Hannovera« bespannt, den Griff mit Haifischhaut überzogen, draußen vor der Stadt an der Wand im Pauksaal der Landwehr. Darunter rasselten die Klingen. Flimmerten im Kreis die hundert bunten Mützen. Gähnten sachverständige Hunderachen. Früh um neun war der C. C. in langem Wagenzug, im Donner der Räder auf dem Straßenpflaster, dem kriegerischen Gebell der Doggen und Pinscher, den untertänigen Bücklingen der Philister, zur Mensur gefahren. Jetzt sank schon die Sonne am Himmel. Die dreizehnte Partie stieg. Eine Bewegung. Der gefürchtete, mädchenhafte Brandfuchs der »Palatia« hatte dem Pips blitzschnell eine ungedeckte Quart auf die Schläfe gepflanzt. Die Temporalis durch! Das Blut spritzte im Takt des Herzschlags all dünner roter Springbrunnen drei Fuß weit aus der offenen Ader. Die Ärzte ... Silentium: Abfuhr ...
»Wer kommt denn jetzt?«
»Unser Waffenbeleger. Der Archäologe.«
Der Kandidat der frühchristlichen Kunst, ein langer, dünner, blonder Herr, unterdrückte den Ekel des Ästheten vor dem Schweißgeruch des vielgebrauchten Leders und den feuchtkalten, klebrigen Blutspuren des Vorgängers im Paukzeug, das ihm Graf Mettenberg eigenhändig anschnallte.
»Ich würde mich niemals mit derlei befassen«, erklärte er. »Aber das lasse ich mir nicht bieten, daß man sich in meiner Gegenwart im Bierlokal abfällig über Thron und Altar, Besitz und Bildung äußert!«
»Sehr richtig!«
»Darauf habe ich ihn allerdings einen dummen Jungen genannt. Einen ... dummen ... Jungen.«
Gegenüber auf dem Kanapee an der anderen Stirnwand des langen Saals der Landwehr sah ein kleiner, aber auffallend breitschultriger und strammer Mensch. Die Paukbrille, die er auch schon trug, verdeckte den oberen Teil des Gesichts. Um den Mund spielte ein verwegener und spöttischer Ausdruck. Der kleine Schnurrbart war ungepflegt. Hosen und Stiefel schienen abgetragen.
Graf Mettenberg zuckte die Achseln.
»Können können sie beide nichts«, sagte er halblaut zu dem Unparteiischen. »Also denn man 'rin in den bethlehemitischen Kindermord.«
»Los!«
Der Ehrengang klirrte. Die Mützen flogen vom Haupt. Die Terzen tanzten auf dem Stulp und die Quarten an dem Stahl. Eine Heiterkeit der kriegerischen Korona rauschte durch den Saal.
»Sie vermöbeln sich beide hartnäckig mit flacher Klinge, als ob sie's bezahlt bekämen«, sagte Graf Mettenberg. »Hören Sie nur, wie's klatscht! Das gibt morgen vergnügte Backen! Uebrigens, Herr Nimis ... Dieser Catilinarier auf der Gegenseite ist komischerweise ein Namensvetter von Ihnen.«
»Wahrscheinlich ein richtiger Vetter.«
Der Fuchsmajor hörte es und runzelte die frisch mit weißen Mullstreifen turbanartig umwickelte Stirn.
»Das wollen wir doch nicht hoffen.«
»Ich hab mich schon nach ihm erkundigt. Er stammt aus Darmstadt. Dort lebte ein Bruder meines Großvaters, ein stadtbekanntes, heruntergekommenes, vormärzliches Original und Kneipgenie. Das hieß ›d'r Louis‹. Wahrscheinlich ist er dessen Enkel. Ich muß ihn gleich nachher einmal fragen ...«
»Die beiden Stöpsler pauken richtig aus«, sagte Graf Mettenberg, vom bloßen Zusehen erschöpft, nach einer halben Stunde.
Als es hieß » Mensur ex!«, zeigten die Kämpfer wohl dicke blaue Striemen, aber nur spärliche rote Kratzer im Gesicht. Der Paukarzt griff mit einer gewissen mitleidigen Geringschätzung nach den Schüsseln mit Karbolwasser, nach Schwamm und Wattebausch. Krumme Nadeln und Katgut waren kaum nötig.
Leo Nimis trat in den Verbandraum, während Herr von Pritzig kopfschüttelnd hinter ihm murmelte: »Nette Verwandtschaft: – Schiefe Absätze ... Mißvergnügte Naslöcher ... Die Sorte kennt man« ... Drinnen saß der Vetter Nimis und wurde geflickt. Der stämmige kleine Mensch war dabei in Hemdsärmeln und trank durstig Brunnenwasser aus einem Bierglas, das sein eigenes, von oben hineintropfendes Blut schön rosa färbte.
»Himbeersaft mit Wasser«, sagte er breit lachend in Darmstädter Mundart zu dem jungen Deutsch-Amerikaner. »Hock dich nur unscheniert nebe mich! Wir sind wirklich Cousins!« Und es zeigte sich, daß ›d'r Louis‹, das schwarze Schaf der Familie Nimis, dem schon im Jahr 1851 im »Schnakeloch« zu Darmstadt bei einer Winkelkonsultation mit Odenwälder Bauern der Schlagfluß das Schöppchen aus der Hand gehauen hatte, daß d'r Louis sein Großvater gewesen. Er selbst studierte Philologie, um möglichst bald sein Brot als Schulmeister zu verdienen. Wenn man einen pensionierten Feldwebel und Stationsvorsteher a. D. zum Vater hatte, durfte man ihm nicht lange auf der Tasche liegen.
»Fertig, Doktor?« Er stand auf. »Sodele! Allehat ein End. Auch das Pläsiervergnüge. Nur als tapfer weiter Wurst gemacht – da drinne ...«
Im großen Saal wurde eben der Studiosus Müller abgeführt. Der Studiosus Müller war, in die Sprache des Gothaer Almanachs übersetzt, der Konkneipant der »Cimbria«, Prinz Yburg, der wieder einmal seine Kampflust nicht hatte zügeln können. Er triefte von Blut, zufrieden, daß der Gegner auch auf der Suche nach einem Stückchen Ohrläppchen war, und rief im Vorbeikommen ein paar anderen danebenstehenden Reichsunmittelbaren triumphierend »Ich spucke auf die Hausgesetze!« zu.
Im Garten hinter der Landwehr, in den Leo Nimis trat, schmetterte der Fink und schwirrte die Amsel mit dem Maikäfer zum Nest. Ein Kongreß von Korpshunden, dem es drinnen zu langstielig geworden war, rekelte sich blasiert, auf dem durchsonnten Boden. Auf der Landstraße stand blinzelnd ein barhäuptiger, betagter Kellner mit windbewegten Frackschößen Posten, um mit dem Warnungsruf: »Die Polypen!« einem etwaigen kindlichen Versuch der Polizei, die Mensur zu stören, zuvorzukommen. Frühlingsfriede flutete vom blauen Himmel über das grüne, leichtgewellte hannoversche Land, und Leo Nimis sagte zu Herrn von Pritzig. der ihm gefolgt war: »Ach ... ist das schön! Ganz Deutschland ist so schön. Ihr wißt gar nicht, wie schön es ist. Man weiß gar nicht, wo man in Deutschland zuerst anfangen soll. Ich bin meinem Vater ja so dankbar, daß er mich herübergeschickt hat!«
»... und hoffentlich in erster Linie zu uns Cimbern!«
»Er möchte, daß wir beide, Sie und ich, Freunde werden, weil unsere Väter es sind«, sagte der junge Mann einfach, »Und ich möchte es auch so gern! Und Sie?«
»Aber natürlich! Sie müssen mein Leibfuchs werden, lieber Nimis!«
Leo Nimis streckte zaghaft halb die Hand aus. Herzlichkeit und Unsicherheit zugleich warfen eine leichte Welle von Erröten über sein freimütiges, kaum mit dem ersten blonden Bartflaum auf der frischen Lippe den Mann kündendes Gesicht.
»Aber ich möchte Ihnen mehr sein, Herr von Pritzig!«
»Selbstverständlich! Im nächsten Semester sind Sie Korpsbursch! Da seien Sie unbesorgt! Meine Leibfüchse haben noch alle eingeschlagen!«
Auf Leo Nimis' Zügen malte sich ein kindlicher Kummer, daß er in Deutschland immer Menschen suchte und statt dessen auf eine Organisation stieß. Der Ältere sah das Wild schon im Garn.
»Sie kneipen heute abend mit uns im ›Deutschen Haus‹, Nimis! Wir rechnen sehr auf Sie! Wir brauchen im nächsten Semester tüchtige Fechter gegen ›Hassia‹ und ›Palatia‹! ... Donnerwetter, schon drei Uhr! Nun muß ich hier die interessanteste Partie schießen lassen und in das Biernest zurück, um meinen Alten von der Bahn abzuholen! Schauen Sie sich wenigstens den Linkser von ›Bremensia‹ an!«
Er drückte dem Jüngeren herzlich die Hand und rasselte in der Staubwolke eines Landauers davon. Die mit biergetränkten Brotstücken aufgemunterten Gäule liefen, was sie konnten. Der »Herr Baron«, der greise Korpsmops, saß ihm weltschmerzlich gegenüber auf dem Vordersitz. Die Amseln sangen. Der Himmel blaute. Die Erde grünte. Drinnen spien die wirbelnden Klingen Funken und schwirrte eine abgesprungene Schlägelspitze auf die auseinanderstiebenden Zuschauer, bis sie zitternd in den nußbraunen, uralten Blutflecken des Holzbodens steckenblieb. Das war zwei Stunden später. Leo Nimis benutzte den Wirrwarr. Er drückte sich verstohlen aus der Landwehr und ging mit langen Beinen auf den Turm der Jakobikirche los, der fern über Göttingens Wallgrün den Maienhimmel suchte.
Dicht vor dem Musenstädtchen kam er an dem Deutschen Haus vorbei, besann sich, trat ein und stieß innen in der Gastwirtschaft auch gleich auf den Korpsfex der »Cimbria« und sagte ihm:
»Ach, bestellen Sie doch, bitte, den Herren, daß ich heute abend leider nicht kommen kann!« Aber im gleichen Augenblick widersprach aus dem nächsten offenen Kneipzimmer nebenan eine freundlich-entschiedene Stimme: »Akustische Täuschung, Fex! ... Der Herr kommt! ... 'Abend, lieber Nimis! Eben zeige ich meinen Eltern unser schlichtes Heim.«
Neben Malte stand sein Vater, der hohe Würdenträger und Mitarbeiter Bismarcks, der Staatsminister und Oberpräsident a. D. Dr. Graf Louis Ferdinand von Pritzig, Majoratsherr auf Zackenzin in Hinterpommern, aus Allerhöchstem Vertrauen auf Lebenszeit in das Herrenhaus berufen. Vorsitzender des von Pritzgschen Familienverbandes, Major der Landwehr a. D., Ritterschaftsdirektor und Rechtsritter des Johanniterordens. Er war für seine Verdienste um Preußen mit der neunzackigen Grafenkrone belohnt. Alle sieben im Drang der Jahrhunderte verlorengegangenen Pritzigschen Familiengüter hatte er im Laufe seines erfolgreichen einundsechzigjährigen Lebens zurückerworben. Ehrfurchtgebietend schlang sich ihm bei feierlichen Anlässen das breite Orangeband des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler von der linken Schulter zur rechten Hüfte. Jetzt trug seine straffe, hohe und hagere Gestalt einen bequemen grauen Reiseanzug. Schnee bleichte seine Schläfen unter dem weichen, grauen Filzhut. Der lange, strenge Schnurrbart war ergraut. Über der scharf gebogenen, charakteristisch vorspringenden Raubritternase schauten zwei große, kluge, graue Augen ruhig in die Welt. Die Hautfarbe der sein verwitterten Züge war bräunlich, durchsonnt und durchlüftet, nicht wie bei einem Stubengewaltigen vom grünen Tisch, sondern wie bei einem alten Landedelmann auf eigener Scholle. Er faßte den Jüngling rasch an beiden Händen, küßte ihn ohne weiteres auf den Mund und sagte: »Das gilt deinem Vater! Willkommen in Deutschland, lieber Junge!«, und Leo Nimis hatte das Gefühl, daß der vor ihm mit jedem Menschen mitzudenken verstand und das rechte Wort fand.
Die Gräfin war mehr große Dame, freundlich gemessen, als er ihr die Hand küßte. Sie war hoch und schlank wie ihr Mann, von einer Gestalt, die man von hinten für ein junges Mädchen halten konnte, auf der vornehmen Kühle der Züge noch die Linien einstiger Jugendschönheit. Selbst ihr weißes Haar machte sie nicht eigentlich alt. Es erinnerte mehr an den Puder aus der Perücke einer hohen Dame aus dem achtzehnten Jahrhundert, Ein ganz leiser Hauch von Vergangenheit umgab das Paar.
»Na – sieht man dich also mal wieder?«
»Wieder? Exzellenz erinnern sich doch gewiß nicht mehr an mich?«
»Was?« Graf Pritzig lachte über das preußisch scharfe Gesicht und faßte ihn am Ohrläppchen. »Wer hat dir denn damals einen Taler geschenkt, weil dir das Leben ohne zwei weiße Meerschweinchen nicht mehr lebenswert erschien? Und mir erzählt, der Klassenerste sei ein Luder, und man dürfe ihn immer nur heimlich im Dunkel verhauen, sonst petzte er es gleich dem Pauker?«
»Das wissen Exzellenz noch?«
»Na, so leicht vergeß ich nichts im Leben! Nun bist du also so weit, Kind! Nun nicht bloß die Ohren steif, sondern auch die Augen auf! Es gibt viel in Deutschland zu sehn!«
»Mein Vater hat mir ein so schönes Bild von Deutschland mit auf den Weg gegeben, so wie es in seiner Erinnerung, von seiner Jugend her, lebt. Als Bub im Pensionat hab ich das natürlich nicht so begriffen. Aber jetzt möchte ich Deutschland so recht mit seinen Augen kennenlernen. Er freut sich schon so auf meine Briefe!«
»Liebe Deutschland, dann wirst du's verstehn! Anders nicht. Es ist nicht so leicht zu verstehn. Die andern werden's nie können!«
»Ich geb mir alle Mühe, ich hab so viel guten Willen!«
»... und schaue es nicht nur mit den Augen deines Vaters an, sondern sperre auch deine eigenen Augen auf. Ich habe deinem Vater oft gesagt: ›Es war ein weiter Weg von der Paulskirche bis Potsdam. Den haben wir Alten gehen müssen, und den können wir den Jungen nicht ersparen!‹«
»Mein Vater liebt Bismarck so innig! Er beneidet Exzellenz so sehr, daß Sie in seiner Umgebung sein und mit ihm arbeiten dürfen!«
»Na ja!« sagte Graf Pritzig und lachte wieder. Dann schaute er sich um und fragte seine Frau: »Wo steckt denn eigentlich die Klothilde?«
»Nebenan ... mit Herrn von Spängler!«
Innen in dem leeren, großen Kneipraum stand ein schmächtiger, lang aufgeschossener Backfisch von fünfzehn Jahren in knöchelfreiem Reiseröckchen, eine einfache Brosche auf der weißen Sommerbluse unter der offenen Jacke, Sie trug das reiche, warme, rötlichbraune Haar in dicken Zöpfen um den kleinen, feinen Kopf gelegt und hatte hellbraune, glänzende Augen und ein blasses, weißes, auffallend hübsches Kindergesicht, das halb vergnügt, halb verlegen zu den Erklärungen des Herrn neben ihr lachte. Der konnte mit seinen beinahe Vierzig annähernd ihr Vater sein und behandelte sie auch mit einer väterlich blinzelnden, gutgespielten Würde halb als Kind und zwischendurch plötzlich zum Spaß als junge Dame. Das Monokel funkelte dabei in seinem verwöhnten Junggesellenantlitz, in dem das Schnurrbärtchen, ganz kurz nach englischem Brauch gestutzt, auf den genüßlich-dicken Lippen sproßte. Alles, Nase, Mund, Kinn, war ein wenig zu klein für die weichgepolsterten Wangen mit den seinen weißen Narbenstrichen ehemaliger Göttinger Mensuren. Kaum sichtbare Schweißtröpfchen perlten in der Maihitze auf seiner gleich einer Elfenbeinkugel spiegelnden Glatze, die ihn eigentlich nicht älter machte, sondern eher die mittelgroße, wohlbeleibte Gestalt in klassischem Londoner Klubschnitt der Kleidung, vom Krawattenknoten bis zur Bügelfalte, richtig ergänzte. Er wies mit der weißgepflegten Diplomatenhand, an der ein Wappenring, aber kein Trauring funkelte, dem hübschen Backfisch die Erinnerungsbilder des alten Korps an den Wänden, fast durch das ganze neunzehnte Jahrhundert rückwärts, von den Schattenrissen der Bismarckzeit und den Daguerreotypen bis zu den Photographien der Gegenwart. Er zeigte ihr die Stahlstiche des gesamten S.C. auf dem Mensurboden, die Bilder der in Pistolenduellen gefallenen Korpsburschen, das Eichenlaub um die Lichtbilder des Consenior, der fünf Aktiven und acht Inaktiven, die vor zwölf Jahren, 1870/71, in Frankreich geblieben waren. Er selbst war auch schon als Freiwilliger dabei gewesen. Er trug unauffällig das schwarzweiße Bändchen des Eisernen Kreuzes im Knopfloch.
»Dies hier ist der Kriegsjahrgang vom Sommersemester 66, ungefähr um die Zeit, als Sie uns die Ehre gaben, geboren zu werden, gnädiges Fräulein! ... Wie befehlen Exzellenz?«
»Sie sollen mir das Kind nicht verdreht machen. Herr Legationsrat!« rief die Gräfin von draußen. Er verschlang die Hände und schaute die Kleine ernsthaft und vertraulich an.
»Ja, sagen wir uns nun ›Du‹? Das wäre wohl das beste! Aber dann gegenseitig! Darauf bestehe ich!«
»Klothilde!«
»Ja, Tante?«
»Laß die Kälbereien und komm hierher!«
»Ach, nicht doch. Frau Gräfin! Wir freunden uns gerade so hübsch miteinander an, Fräulein von Pritzig und ich, nicht wahr? Es passiert mir so selten, daß junge Damen nett zu mir sind!«
Der Backfisch lachte wieder und wurde rot, was sie noch hübscher erscheinen ließ, und reichte Leo Nimis die magere Kinderhand, mit dem Anflug eines Knickses, den sie sofort wieder unterdrückte, weil er ihr doch zu jung dazu erschien. Es kam nur eine verlegene Schulterbewegung heraus. Dann stellte ihn Vetter Malte weiter vor: »Unser angehender Fuchs Nimis! ... Unser alter Herr von Spängler-Colosimo. Legationsrat im Auswärtigen Amt!«
Unverhohlene Hochachtung lag bei der zweiten Hälfte des Satzes in seiner Stimme, und er ergänzte halblaut, während der Diplomat das kleine Fräulein von Pritzig plötzlich stehen ließ und sich mit ihren künftigen Pflegeeltern in ein ernsthaftes Gespräch über Berlin und Politik vertiefte: »Sie haben Dusel. Nimis, daß Sie Herrn von Spängler gerade auf der Durchreise kennenlernen... oder sagen wir uns beide gleich ›Du‹? ... Das Schmollis holen wir heute abend auf der Kneipe nach...« Sie schüttelten sich die Hände. »Ja, Spängler schaut alle Jahre mal ins Korps hinein und schaut sich den Nachwuchs an! Wer Glück hat, den bringt er später mal ins Auswärtige Amt!«
»Kann er denn das?«
»Gott, es hängt doch dort alles miteinander zusammen! Schließlich gerade so wie bei uns in der Verwaltung! Die Regierung hat ja zum Glück gesunde Anschauungen. Wer nicht bei einem anständigen Korps war, bringt es in Preußen zu nichts! Das ist auch ein Grund, lieber Nimis, daß Sie ... daß du in deinem eigenen Interesse ... Leute wie Spängler muß man sich warm halten! Er hat eine Bombenkarriere vor sich!«
»Ach – das hätt ich nicht gedacht!«
»Um dich zu orientieren: natürlich allerneuester Adel! Eigentlich lachbar für unsereinen! Aber klobige Moneten, kann ich dir sagen, wie alle diese Leute aus Frankfurt am Main. Er stammt aus zwei alten dortigen Patriziergeschlechtern. Väterlicherseits von den Spängler und mütterlicherseits von den kürzlich im Mannesstamm ausgestorbenen Colosimo. Wer von den Frankfurter Reichmeiern sich mit Sechsundsechzig aussöhnt und zu uns Preußen kommt, dem baut man ja in Berlin goldene Brücken, genau wie meinen mütterlichen Verwandten, den Welfen!«
Am Abend, auf der Korpskneipe, war der Kranz gelber Mützen um den Legationsrat von Spängler, das Rund tadellos durchgezogener Scheitel um seinen üppigen Nacken zu dicht, als daß Leo Nimis sich hätte zu ihm hindurchdrängen können, selbst wenn er gewollt hätte. Dr. von Spängler trug jetzt selbst das Band über der Brust und ein ganz kleines, kokett mit dem Korpszirkel goldgesticktes Zerevis über dem leuchtenden Eirund der Lebemannsglatze. Die naive Farbenfreude des bunten Tellerchens auf dem Haupt widersprach der Blasiertheit der gönnerhaft darunter lächelnden Züge. Aber die Mienen der Zuhörer atmeten andächtige Spannung. Die lässig von diesen satten Lippen träufelnde Weisheit eines Wissenden der Wilhelmstraße war für sie alle, die sich durch Väter, Vettern, Onkel, Korpsverbände und Familienversippung später zum Staatsdienst auserwählt wußten, ein Orakelspruch der Zukunft.
Etwas Burschikoses klang bei Herrn von Spängler durch das vornehme Knarren der Stimme mit. Der genius loci am Wilhelmplatz. Ein Hauch vom Geist des größten Korpsstudenten, den Deutschland je gesehen. Der Hüne von Friedrichsruh trank auch jetzt noch, beinahe ein Siebziger, wenn es darauf ankam, seine drei Pullen Rotspon zum Frühstück, zu seinen Füßen lagerten wie hier die riesigen grauen Doggen, er stand, wie einst Jung-Bismarck, mit buschigen Brauen und flammenden Augen gegen jedes Volk auf Mensur, das sich erdreisten sollte, Deutschland anzurempeln. Aber die Feinde hüteten sich wohl, Deutschland war gegen Inkommentmäßigkeiten des Auslands geschützt. Ein weiser, alter Kaiser, den die Liebe seines Volkes trug, ein greiser Schlachtendenker, der Niederlagen nur beim Gegner kannte, ein Staatsmann, der dem Jahrhundert seine Gestalt gegeben – alle schon in die Ewigkeit erhoben und doch noch unter den Lebenden weilend – gewaltig leuchtete das Dreigestirn über die Alte Welt. Kaiser Wilhelm, Bismarck, Moltke – es war eigentlich schon alles durch sie geschehen. Es gab nach ihnen so wenig mehr zu tun. Die Erben konnten lachen und trauern zugleich, und der Legationsrat von Spängler sprach mit einem bei ihm ungewohnten Ernst:
»Merkt ihr die Meisterhand da oben, ihr krassen Füchse aller Semester, mich kümmerliches Spiel der Natur nicht ausgenommen? Es ist wie ein Klappscherenmechanismus. Sobald einer von den Männerchen. die in Europa auf dem Gitter stehen, sich feindselig Deutschland nähert, rückt ihm von der anderen Seite ganz automatisch ein anderes Kerlchen entgegen. Was sich rührt, löst sofort die Gegenwirkung aus, und die ganze Chose hebt sich zwangsläufig gegenseitig auf. und in der Mitte sitzen wir und lachen wie die Schneekönige! Höllisch einfach! Aber mache das einmal einer S. D. nach!«
»Ich habe auch überall auf der Welt einen kolossalen Respekt vor Bismarck gefunden!« sagte Leo Nimis bescheiden in das Schweigen. Der neue Mann der Wilhelmstraße fixierte das junge Semester ohne Band und Mütze nachlässig über den Tisch hinüber, als wollte er fragen: Wo waren Sie denn schon? In der Sächsischen Schweiz oder an der Ostlee? Henry Lüdingworth, der wortkarge Hamburger, gab für den Gast Bescheid: »Er ist um die Welt gesegelt! Tja ... und das ist wohl immer gut!«
Der Legationsrat von Spängler nickte beifällig mit dem trotz seiner noch nicht vierzig Jahre sybaritisch gereiften Doppelkinn. Er selbst war noch niemals bemerkenswert weit über den Dunstkreis der Wilhelmstraße hinausgekommen. Man durfte die Fühlung mit dem diplomatischen Wetterwinkel in Berlin W nicht verlieren. Er erkundigte sich leise bei Malte von Pritzig nach dem Namen des jungen Mannes.
»Nimis? Ist er ›von‹?«
»Stirbt lieber! Vater alte achtundvierziger Rothaut! Toll – ja! Aber mein alter Herr begönnert ihn heftig. Ist ja euch ein ganz nettes Kerlchen! Wir brauchen Nachwuchs!«
Der Legationsrat war beruhigt. Er belehrte wohlwollend Leo Nimis: »Ja, Deutschland ist jetzt in der Welt voran!«
»Von Deutschland wissen die Leute draußen in der Welt eigentlich noch nicht viel!« sagte der junge Erdumsegler. »Sie sehen so wenig von uns, weil wir keine Kriegsflotte haben. Und solange Hamburg und Bremen Freihäfen bleiben, in denen der Engländer nach Belieben laden und löschen kann, werden sie draußen immer noch für eine Art englische Häfen gehalten!«
»Na – na ...«
Herr von Spängler hatte eine eigene Art, den grünen Besserwisser von oben her mit einem mißbilligenden Blick von Kopf bis zu Fuß zu durchkälten. Er sagte weiter nichts. Ein Hauch von Salz und See blies schneidend über die Kommersbücher, die mit hochgenagelten Einbänden, um nicht durch verschüttetes Bier naß zu werden, auf dem Kneiptisch lagen, und öffnete durch die Lücken der Pfeifenwolken den Blick in ferne, besonnte und stürmende Weiten und stille unendliche See. Der Legationsrat stand auf und empfahl sich. Die offizielle Kneipe war zu Ende. Die Exkneipe begann Silentium: Es steigt zum Beschluß das Lied: »Und wenn sich der Schwarm verlaufen hat zur mitternächtigen Stunde...«, und aus hellen, starken, jungen Kehlen schmetterte es:
»Drum leben, erhaben ob Raum und Zeit, Die Ritter von der Gemütlichkeit!«
Cantus ex! Ein Fiduzit den Sängern! Ein Stimmengewirr vom Senior bis zum krassen Fuchs: Der Mensurtag stieg wieder auf. Jede einzelne Partie. Jede Hakenquart, jeder Durchzieher, jede Terzfinte, die Zahl der Blutigen und dazwischen wieder: »Der brausende Sang – er durchtönt die Nacht! Die schäumenden Seidel – sie blinken!« Die Lust der Lieder und der Waffen. Germanien reckte sich in lachender Siegfriedskraft. Unbekümmerte Bärenstärke trieb ihr verschwenderisches Spiel. Herrenbewußtsein hob die jungen Seelen zu den Sternen. In flüchtigen Bildern schimmerte der tiefere Sinn des Lebens durch den Märchenglanz des Bierreichs und der Burschenherrlichkeit und verwehte in Gelächter und Lärm. Der C.B. von Postitz fuhr in Bierverruf, kam mit Kreide an die schwarze Tafel und paukte sich, obwohl er nicht mehr fest auf den Füßen stand, vor dem in der Ecke errichteten Biergericht mit zwei Ganzen wieder heraus. Die Kneipe dröhnte und stäubte. Die Köter flüchteten. Der Fuchsritt kam heran. Vorn der Fuchsmajor, dann die Renoncen, mit Ausnahme des Pips, der mit durchhauener Schläfenader in der Klappe lag, alle rittlings auf den Kneipstühlen, daß Bierglas in der Rechten, im Gänsemarsch und Chorus:
»So wird der lederne Fuchs ein Bursch!« »Ça – ça – Fuchs ein Bursch ...«
Der Brunnen vor dem Rathaus rauschte durch den mondübersilberten, sternbeglänzten Dämmertraum der Maiennacht.. Von den Wällen her trug ein leises Wehen den süßen Duft der blühenden Linden. Das Musenstädtchen schlief. Es war so still, daß Leo Nimis seine Schritte an den altertümlichen Giebeln und Erkern widerhallen hörte, als ginge hinter ihm ein anderer Mensch und wolle ihn in den Qualm der Kneipe zurückkomplimentieren, aus dem er sich unauffällig entfernt hatte. Noch draußen im Freien hatte er aus jubelnden, überzeugungsvollen Jünglingskehlen den Sang vernommen: »Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren?« und die erleuchteten Scheiben gesehen. Alle Fenster des Hauses waren hell. Ueberall kneipten die Korps.
Der junge Mann schritt langsam weiter, die Weender Straße entlang. Er war nahe an seinem Gasthaus. Dort sah er, gegenüber der Barfüßerstraße. einen hochgewachsenen, straffen älteren Herrn, der da im Mondschein spazierenging. Er rauchte dabei eine Zigarre, deren vornehmer Havannaduft als Wohlgeruch weit über die Straße wehte, und schaute sich gemächlich prüfend nach rechts und links um, überall in Deutschland so herrschgewohnt zu Hause, als sei er daheim in Pommern auf seinen Rittergütern. Die scharf vorspringende Nase und die kluge Strenge des Profils drehten sich als Schattenriß vor dem bläulichen Dämmern und wandten sich Leo Nimis zu.
»Na, Junge? Wo kommst du her? Aus der Kneipe? Und ganz als aufrechter Mann? Erzähl mal: wie war's?«
»Ach, Exzellenz ...«
»Warum machst du denn so ein trauriges Gesicht?«
»Ich bin traurig.«
Graf Pritzig faßte den Jüngling an den Schultern und stellte ihn vor sich hin, gerade in den Sehstrahl seiner großen grauen Augen hinein.
»Nun mal raus mit deinen Nöten! ... Flugs!«
»Ich möchte Ihre Güte nicht mißbrauchen, Exzellenz ...«
»Mißbrauche sie ruhig, Kind! Dazu ist die Güte auf der Welt!«
»... mir ist so wirr im Kopf und so weh im Herzen! Ich weiß gar nicht mehr, woran ich bin ...«
»Komm!«
Der Würdenträger schob seinen Arm unter den des Studenten, als hake er einen Sohn unter, und ging kameradschaftlich mit ihm weiter. Das gab Leo Nimis plötzlich Mut.
»So wie mein Vater mich Deutschland hat sehen gelehrt – ach, da war es doch ein Land voll Sonnenschein. Alles, was man in Amerika nicht hat: alte Burgen und liebe, alte Städtchen und treuherzige Menschen, die es mehr in sich haben, als sie's nach außen zeigen, aber wer sie kennt, muß sie liebgewinnen. Mein Vater hat mir oft gesagt: Jeder Deutsche ist ein heimlicher König. Schau, daß er dir sein Königreich auftut. Dann wirst du erst erkennen, wieviel unermeßlicher Reichtum in Deutschland steckt, und gerade da, wo man ihn am wenigsten vermutet.«
»Sei froh, Leo, daß du solch einen Vater hast!«
»Er hat gesagt: Hier in Amerika ist's kalt. Aber in Deutschland ist die Wärme. Die strahlt dort von allem aus und gibt den Dingen ihren ewigen Sinn. Der Deutsche, der nicht bei irgend etwas, das ihn nichts angeht, sich begeistern kann, der ist mir kein rechter Deutscher mehr. In Deutschland sind die Ärmsten die Reichsten, sagt er, und können dir viel geben. Klopfe nur an alle Türen an.«
»Ja ... ja ... du lieber Reinhold ... Da hör' ich dich selbst!«
»Nach hierher hat er mir gestern geschrieben: Bringe Wissen aus Deutschland mit, soviel du kannst und willst. Aber vor allem bring mir ein rechtes deutsches, tiefes Herz mit! Damit verstehst du alles aus der Welt, was gut und schön ist, und hast den heimlichen Vorrang von allen anderen Leuten auf der Welt. Wenn die dich auslachen, brauchst du dir nichts draus zu machen. Das verstehn sie nicht. Du bist deswegen doch klüger als sie.«
»Dein Vater war immer mit dem Herzen klug. Darum ist er jetzt mit grauen Haaren noch so jung.«
»Er schloß seinen Brief: hüte Dich vor dem Hochmut des Herzens, wenn Du deutsch sein willst! Die deutschen Ritter vom Geist reiten nicht auf hohen Rossen. Du wirst Dich oft bücken müssen, wenn Du durch ihre Türen trittst. Die Stuben im Pfarrhaus und beim Lehrer, in der Werkstatt und beim Bauern sind niedrig, aber drinnen leuchtet das innere Licht. Jeder Mensch hat seine Seele – vergiß das nie – dann wirst Du Deutschlands Seele sehen!«
»Folge nur deinem Vater, mein Junge! Der ist klüger als wir alle!«
»Um ihm zu folgen, muß ich Deutschland liebhaben, Und ich hab es so lieb. Ich bringe solch ein frisches, frohes Herz mit und hab so viel guten Willen und guten Mut. Aber der gestrige und heutige Tag hier haben mich erschreckt.«
»Erkläre mir das mal näher, Kind. Komm, wir bummeln noch eine Ecke weiter. Die Nacht ist ja so schön! Willst du eine Zigarre – mit Verstand zu rauchen? ...So...«
Leo Nimis dankte und sagte nach den ersten Zügen in einer plötzlichen angstvollen Ratlosigkeit: »Es ist so anders, als ich mir Deutschland dachte. Ich dachte. Deutschland geht es jetzt so gut, und es ist doch so sichtbar von Gott gesegnet, wie mein Vater mir immer eingeprägt hat, und besonders die jungen Leute in meinem Alter, die die schwere Vergangenheit nicht mehr durchgemacht haben, die schauen doch in solch eine herrliche Zukunft, daß sie alle froh und untereinander einig sein sollten.«
»Freilich, mein lieber Leo.«
»Aber statt dessen leben sie ja hier alle wie Hund und Katz in bitterer Feindschaft. Sie verweigern sich gegenseitig Gruß und Handschlag. Sie erklären einander in Verruf. Sie verachten sich gegenseitig, und alle zusammen verachten wieder die Bürger und nennen sie Spießer und Philister. Jeder will über den andern kommen und ihm seine Macht zu fühlen geben und ihm zeigen, daß er mehr ist als er!«
»Du siehst da Deutschland wie ein Wassertröpfchen im Mikroskop«, sagte Exzellenz Graf Pritzig, und seltsame Mondschatten wechselten über sein kluges, verwittertes Junkergesicht.
»Aber das ist doch nicht das Deutschland, dessen Bild mein Vater im Herzen trägt und mir von Kindesbeinen an eingeprägt hat.«
»Dein Vater ist ein alter Achtundvierziger. In seinem Herzen ist ewiger Frühling. Deutschland ist seine Jugendliebe, und er sieht es von drüben mit den Augen der Jugend. Wir haben inzwischen hier harte Arbeit leisten müssen. Wir brauchten Eisen ins Blut. Wir mußten kämpfen! Der Kriegerstand hat's gemacht! Mit geschwungenem Degen, in Uniform, Fahnen an den Wänden, haben wir in Versailles das Reich verkündet. Ich war selbst mit dabei!«
»Aber was soll ich jetzt dabei? Ich bin nicht von Adel. Ich bin kein Soldat. Ich ...«
»Mein lieber Sohn!« Graf Pritzig zog den Arm des jungen Mannes im Gehen an sich. »Deine Zeit wird kommen. Sie muß kommen. Kein Reich der Welt, auch das mächtige Deutsche Reich nicht, kann auf die Dauer ohne einen aufrechten, starken Bürgerstand bestehen. Auf die Aufgabe müßt ihr euch alle vorbereiten! Ablösung vor!«
»Jetzt verstehe ich, Exzellenz, daß Sie und mein Vater Freunde sein können.«
»Man wirft mir immer vor, daß ich anders sehe – ich sage: weiter sehe – als meine Standesgenossen. Ich bin ein unverbesserlicher alter Reaktionär. Ich hänge am aufgeklärten Despotismus, wenn ich auch allerdings die Hauptbetonung auf das Wort ›aufgeklärt‹ lege. Mein Ideal ist Sanssouci. Aber ich kann die Augen gegen die Wirklichkeit nicht zukneifen. Ich weiß zu genau, wieviel in Deutschland verlorengegangen ist und verlorengehen mußte, wenn wir durchkommen wollten. Und das sollt ihr uns wiederbringen, mein Junge!«
»Was denn, Exzellenz?«
Graf Pritzig blieb stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Tu, was dein Vater sagt: Suche die deutsche Seele. Lasse dir dein Deutschland nicht entseelen, weil gewisse Menschen bei uns nur noch Befehl und Gehorsam kennen. Ich weiß, wieviel bei uns verschüttet und verstummt ist. Du bist ein deutsches Sonntagskind. Du wirst die deutsche Vogelsprache schon verstehen. Du wirst das heimliche Deutschland schon finden! Ich bin ein alter Preuße. Ich kann dir nicht zu dem heimlichen Deutschland verhelfen. Wir Preußen haben den Schlüssel dazu verlegt. Leider – leider! Früher hatten wir ihn. Du mußt ihn dir selber suchen!«
»Aber dazu muß ich doch frei sein, Exzellenz.«
»Das sollst du auch! Du paßt gar nicht zu Malte und seinem Stamm auf dem Kriegspfad. Ich werde es ihm morgen noch vor der Abreise sagen, daß sie dich künftig mit der ›Cimbria‹ in Ruhe lassen!«
»Gott sei Dank!«
»Na – da lacht der Junge ja wieder.«
»Ach – ich bin so froh. Mir war so unheimlich zumut. Ich konnte gar nicht mitreden. Es ist gewiß nicht recht von mir. Aber ich war erschrocken, wie wenig sie alle von der Welt draußen wußten.«
»Ach ja.«
»... und wenn man sie reden hört, denkt man, sie sind dazu bestimmt, in Zukunft Deutschland mitzuregieren.«
»So ungefähr.«
»Exzellenz, ist denn das gut, wenn man so gar keine Ahnung hat, wie es bei anderen Menschen ausschaut?«
Sie waren umgedreht und schritten vom Weender Tor nach dem Gasthof zurück.
»Ihr habt zum Glück noch viel Zeit vor euch, ihr jungen Leute, ehe das Schicksal euch Verantwortung auferlegt. Ihr seid die dritte Generation. Noch leben Kaiser Wilhelm und seine Greise. Dann kommt Kronprinz Friedrich mit den Männern und dann erst Prinz Wilhelm mit euch Jünglingen. Bis er den Thron besteigt, kann noch ein Menschenalter vergehen. Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein hinab.«
Auf der Weender Straße stand, wie ein Gnom im Mondschein, ein glatzköpfiges, bebrilltes Männchen in Hemdsärmeln, hatte Hut und Stock an den Laternenpfahl gehängt und deutete in einer Gruppe lachender Studenten mit dem alkoholisch zitternden Zeigefinger nach dem weißlichen Schleier der Milchstraße am Himmel.
»Silentium für Professor Siebenlift!«
»Meine Herren! Ich ziehe eine Parallaxe von dem planlosen Gebilde am Himmel nach unserem kümmerlichen Planeten! Der Äquatorialwinkel, unter dessen Schutz ich hier hause, gibt mir die beruhigende Gewißheit, daß ich auf dem Kopf stehe! Meine Herren! Ich wünsche Ihnen das gleiche ...«
»Weiter mit der Bierrede!«
»Ist M der Mond, B das Bier und G gleich Göttingen, so ist die Verhängung der Polizeistunde ein von mir schon oft gerügter astronomischer Fehler! Zum Glück begünstigt eine milde Nacht unsere geozentrischen Bestrebungen! Meine Herren! Ich schlage vor, unsere wissenschaftlichen Instrumente auf der Wallpromenade aufzupflanzen!«
Zwei Studenten trugen ein Bierfäßchen, die anderen die Gläser, einer Hut und Stock des kleinen Professors. Der schusselte ihnen voraus, unsicher in seiner Trunkseligkeit auf den Beinen, aber merkwürdig schnell, und erlosch wie ein Gebilde der Nacht um die Ecke. Aus einem offenen Fenster des Gasthofes lachte es hellauf. Graf Pritzig schaute empor:
»Klothilde, was hast denn du da um die Geisterstunde herauszugucken?«
»Ich wollte schauen, was los war, Onkel!«
Die Kleine trug ein weißes Morgenjäckchen. Das bläuliche Mondlicht umfloß in einem sonderbaren, unwirklichen Dämmerschein den vom Dunkel des Zimmers dahinter eingerahmten warmen Kupferglanz ihres reichen braunen Haars und gab ihren schmalen Zügen etwas Bleiches, Geheimnisvolles, wie eine kleine weiße Dame im Ahnenschloß. Sie sah jetzt, im Spiel von Mond und Schatten, viel älter aus als ihre fünfzehn Jahre, wie ein erwachsenes Mädchen, fast wie eine blasse, schöne junge Frau. Es war, als schaffe sich vorahnend ihr kommendes Leben sein Zukunftsbild.
»Marsch, in die Federn, Mariell! Genachtwandelt wird hier nicht! Morgen mußt du mit den Hühnern heraus!«
»Gute Nacht, Onkel!«
Das Fenster schloß sich. Der weiße Schein löste sich in den schwarzen Schatten der Stube auf. Exzellenz von Pritzig sagte zu seinem Begleiter: »Das arme Dingchen ist aufgeregt. Vor einem Jahr die Eltern verloren und nun aus der Stille bei der Großmama mit uns hinaus nach Berlin und ins Leben ... Du wohnst auch hier? Komm! Und schreib dir unser Gespräch hinter die Ohren! Ich rede nicht gern umsonst vernünftig zu einem Menschen: Lasse dich nicht irremachen an deinem Deutschland, mein Junge, wenn es auch nicht unseres ist!«
Unter den Linden in Berlin zuckte der Tamdourstock der aufziehenden Schloßwache, wehten die roten Roßschweife über den Schwalbennestern der Hoboisten, klingelten die Glöckchen am Schellenbaum, schmetterte die Trompete, donnerte die Pauke. Steinerne Rüstungen und Helme standen auf den Zinnen des Zeughauses vor dem blaßblauen Herbsthimmel, eroberte französische Geschütze unten im Kastanienwäldchen. Der Alte Fritz ritt ragend auf seinem ehernen Roß, umschildert von seinen Generalen. Der Große Kurfürst lenkte drüben auf der Brücke seinen Bronzehengst über gefesselte Feinde. In weißem Marmor gleißten die Kämpfergruppen auf der Schloßbrücke. Vier Pferde bäumten sich aus dem Brandenburger Tor vor dem Streitwagen der Viktoria. Aus hoher, aus dem Erz feindlicher Kanonen gegossener Säule breitete weithin die Siegesgöttin die goldenen Flügel vor dem Herbstbunt des Tiergartens. Die Denkmäler von Feldherren überschatteten den Schloßplatz. Ein Wehen von Siegen war über der breiten Triumphstraße der Linden, der Ruhm ritt unsichtbar vor den weißbebuschten Helmen der heranmarschierenden Gardegrenadiere im Sparta an der Spree.
Zwei Paukenschläge bollerten in das Rasseln der Kalbsfelle. Das schrille Zwitschern der Pikkolos lockte. Der Knauf des Stabshoboisten flog flimmernd in die Luft. Die Musik setzte vor dem Alten Palais brausend und feierlich ein: »Heil dir im Siegerkranz ...«
Hunderte von Menschen standen da. Sie hatten schon seit einer Stunde gewartet. Die Herren schwenkten die Hüte, die Damen wehten mit Tüchern, die Kinder hoben die Hände. Begeisterte Augen schauten zu dem linken Eckfenster zur ebenen Erde empor.
Ein greiser General, ein General in Purpur, war hinter der hohen Scheibe erschienen. Kaiser Wilhelm der Siegreiche stand jetzt, 1887, im einundneunzigsten Lebensjahr. Menschen und Völker waren hinter ihm verweht. Die einst an seiner Seite in den Freiheitskriegen gestritten, die ihm im tollen Jahr 48 zur Flucht nach England verholfen, die hinter ihm in Eichenlaub und Jubel als Sieger von Düppel, Königgrätz und Sedan durch das Fahnenmeer von Berlin eingezogen, sie blickten fast alle schon von oben, von der großen Armee her auf die neue Reichshauptstadt nieder. Vor seinem weißen Haupte war die Zeit stillgestanden, als sei er ihr Gleichnis und ihr Ausdruck. Es war nicht der einzelne, gebeugte Greis im offenen, blauen Überrock mit den scharlachroten Generalsklappen, dem weißen Stehkragen und der unvorschriftsmäßigen weißen Weste darunter, den man dort sah – es war das alte Preußen selber, das auf sein Volk hinabschaute. Seine Augen waren freundlich und blau und immer noch klar. Eine unbeirrbare, hellsehende Nüchternheit umfloß das farbige Bild des alten Herrn im dunklen Rahmen des Fensters. Ein ausgeglichenes, nicht von Sieg, sondern von Pflicht erfülltes Menschenleben leuchtete im letzten Gipfelrot.
»... fühl in des Thrones Glanz Die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein ...«
Die Menge sang zur Musik mit. »Zurück!« brüllten die berittenen Schutzleute und lenkten die Pferdebrust gegen die heranschwellende Begeisterungsflut. »Zurück!«
»Heil, Kaiser, dir«
Drüben verschwand der alte General gleich einer zeitlosen, mahnenden Vision. Kaiser Wilhelm hatte sich, wie alltäglich um die Mittagsstunde, seinem Volke gezeigt und sich wieder zurückgezogen. Das Eckfenster war leer. »Auseinandergehen!« heulten die Schutzleute in Tönen, die man nur in Berlin und sonst nirgend auf der gesitteten Erde vernahm. Die Menge, in der alle deutschen Mundarten sich freudig mischten, strömte gehorsam wie eine Herde Schafe in schwarzem Gerinnsel über die Linden und den Opernplatz davon und löste sich im herbstlich übersonnten Alltag auf.
Der Geheime Legationsrat Doktor Alfons von Spängler-Colosimo hatte in Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten Herrn die Elfenbeinglatze entblößt und das bandlose Einglas mit einem geübten Ruck der Stirnmuskeln in die hohle rechte Hand und von da in die Westentasche fallen lassen. Jetzt ging sein von einem kurzgeschnittenen Schnurrbärtchen überblühtes Lebemannsgesicht aus der feierlichen Erstarrung wieder in die Blasiertheit eines vergnüglichen älteren Junggesellen über, der für seine fünfundvierzig Jahre recht gut erhalten war. Die dicken Backen waren rot getönt, die kleinen Augen hell; um die Flügel der zu kleinen Nase schäkerte ein genüßlicher Zug. Er hatte unauffällig im Gedränge seinen englischen Überzieher zurückgeschlagen, damit man bei dieser Gelegenheit das schwarzweiße Bändchen des Eisernen Kreuzes im Knopfloch des Rockes sah. Jetzt knüpfte er ihn wieder zu und sagte behaglich: »Uff! Das Volk hat ja was Rührendes...«
Klothilde von Pritzig antwortete ihm nicht. Sie stand in ihrer tannenschlank aufgeschossenen zwanzigjährigen Länge, beinahe so groß wie er selber, vor ihm, so daß er nur ihren weißen mädchenhaften Nacken und das aus ihm hoch emporfrisierte Haar sah. In Herbstwolken und Sonnenschein am Himmel wechselten Licht und Schatten auf diesem reichen, rötlichen Braun in kupfergoldigen warmen Tönen unter dem braunsamtnen, leicht umgekrempten Topfhut mit hellblauer Straußenfeder. Sie trug nach der Mode der Damenwelt im Herbst des Jahres 1887 eine enge, braunsamtne Jacke, deren glatt anliegender Schnitt straff die jugendlich herbe Büste heraushob, und einen weiten, links in Falten gerafften Rock von gleicher Farbe.
»Herrlich – unser Volk! Besonders par distance... Ohne Sie, gnädiges Fräulein, hätten mich keine zehn Pferde in dies frohe Gewühl gebracht.«
Das Fräulein von Pritzig drehte sich um. Ihr lebhaftes Gesicht war jung und schön. Die haselnußbraunen Augen überglänzten seine weiße Hautfarbe, die ein paar kaum sichtbare Sommersprossen um Stirn und Nase wie launische Schönheitspflästerchen sprenkelten.
»Wenn das das größte Opfer ist, das Sie dem Vaterland bringen, Herr von Spängler, dann möchte ich wissen, was Sie den ganzen Tag in der Wilhelmstraße treiben!«
Die spärlichen Augenbrauen des jugendlichen Geheimrates runzelten sich tadelnd zur Stirn. Die Falten kräuselten sich bis in den Ansatz der Glatze unter der Zylinderkrempe. Mit der Wilhelmstraße spaßte man nicht. Dort waltete immer noch Bismarck. War die hohe Schule europäischer Staatskunst.
»S. D., meine Gnädigste, scheint mit meiner bescheidenen Tätigkeit zufrieden! Vielleicht sind Sie es, trotz Ihrer hohen Ansprüche, dann auch!«
»Mein Onkel sagt oft – natürlich ohne etwa Sie zu meinen! –, bei manchen Leuten in der Wilhelmstraße müßte man an den lieben Gott schreiben und um die verlorengegangene Gebrauchsanweisung bitten!«
»Hähä! Graf Pritzig war leider immer eine bedenklich rötlich angelaufene Exzellenz!«
»... und man sähe dort den Wald vor lauter Stammbäumen nicht! Und besonders nicht vor jungen Stammbäumen!«
»Bei allem Respekt für die eigenartige Persönlichkeit Ihres Onkels – S. D, nannte ihn selbst einmal in einer grimmigen Mischung von Unwillen und Anerkennung einen hinterpommerschen Jakobiner –, aber Graf Pritzig hat sich seit zwei Jahren, seit seinem letzten Zusammenstoß mit dem Fürsten, von den Staatsgeschäften zurückgezogen. Er lebt im Ruhestand ...«
»Er sagt, es hätte sich seitdem nichts geändert! Es änderte sich bei uns überhaupt nichts, und das sei eben das Unglück!«
Sie waren aus dem Gedränge heraus und betraten den breiten Bürgersteig der Linden. Sie lächelten sich verbindlich an. Ein Weltmann und eine junge Dame von Welt. Aber ihre Worte stichelten wie spielende Florettspitzen.
»Schönen Dank. Herr Geheimrat, daß Sie mir zuliebe Ihren Abscheu gegen das Volk überwunden und mich beschützt haben. Es war sehr nett, daß wir uns zufällig vor dem Palais trafen!«
»Es macht mir diesen Tag zum Fest, gnädiges Fräulein.«
»Aber nun schleunigst Adieu! Sie kennen doch Berlin.«
»Nur zwei Worte!«
»Meine Tante steht Kopf, wenn sie hört, daß wir am hellen Mittag unter den Linden hundert Schritte miteinander gegangen sind! Ich selber finde es ja nicht so furchtbar ...«
Herr von Spängler verzog schmerzlich das dicke, von alten Göttinger Schmissen weißgeäderte, linke Wangenpolster. Er witterte da wieder eine boshafte Andeutung: ein Vierteljahrhundert Unterschied der Jahre. Er seit fünf Jahren über das Schwabenalter hinaus. Sie vor kurzem noch ein kurzröckiger Backfisch. Jetzt noch kaum zwanzig. Er galt schon halbwegs für ungefährlich? Gut! Er wappnete sich mit Geheimratswürde und sagte: »Exzellenz von Pritzig meint, es ändert sich nichts, meine Gnädigste? Es wird sich alles in Preußen ändern, und das in kürzester Frist! Es wird nicht nur unser alter Herr, der Kaiser Wilhelm, der Zeit seinen Zoll entrichten, sondern auch...«
Er dämpfte plötzlich geheimnisvoll seine Stimme: »Man kann mit Ihnen vernünftiger reden, mein gnädiges Fräulein, als sonst mit einer jungen Dame. Das weiß ich. Denn ich weiß, daß Sie seit Jahr und Tag als Nichte gleichzeitig die Privatsekretärin, sozusagen der politische Famulus Seiner Exzellenz sind ...«
»Ja.«
» ... ein untrügliches Anzeichen dafür, daß bei Ihnen die Natur bei aller liebevollen Vorsorge für das Äußere auch die Gaben des Geistes nicht vernachlässigt hat!«
»Diese Abschweifungen wollen wir lieber lassen, Herr Geheimrat.«
Das Einglas hatte längst wieder seinen Stammplatz in dem satten und selbstbewußten Gesichtsrund des Geheimrats von Spängler eingenommen. Er funkelte damit das junge Mädchen durchdringend an. Das kleine Auge hinter der Scheibe war starr, wirkte hypnotisierend, wie das einer Schlange.
»Mein gnädiges Fräulein. Sie sind als die Sekretärin des Grafen Pritzig schon eine kleine Macht in Preußen und, wenn Sie sich den richtigen Mann aussuchen, einmal eine große ...«
»Ach, bitte – bleiben Sie doch bei der Sache, Herr Geheimrat!«
»Sie haben natürlich von Ihrem Oheim den Befehl zu schweigen. Aber Sie wissen so gut wie ich und jeder Eingeweihte, daß auch die Tage des Kronprinzen Friedrich gezählt sind. Ich halte sonst viel, sehr viel von den Engländern. Ich bin, wie jeder vernünftige Mensch, ein tüchtiges Stück von einem Anglomanen. Aber mit Mackenzie geh' ich nicht mit. Der schottische Medizinmann lügt uns die Hucke voll«
Der Geheimrat neigte sich vertrauensvoll zu der frischen, windgeröteten Wange des jungen Mädchens. Seine Stimme knarrte vielsagend, als ahme sie das geschäftige Raunen der Wilhelmstraße nach, die gedämpften Tritte auf weichen Teppichen, die leise sich schließenden Hintertüren.
»Unter uns: Man hört seit ein paar Tagen das Schlimmste aus Toblach! Die Gerüchte schwirren wie die Fledermäuse durch Berlin. Und falls sich diese Hiobsposten bestätigen ... ich fürchte: über kurz oder lang ... nee ... über kurz ... sehr kurz ... solche fatalen Halsgeschichten verlaufen oft höllisch schnell ... wissen Sie, was dann geschieht, Fräulein von Pritzig?«
Herr von Spängler schüttelte mit ungewohntem Ernst das weltkundige Haupt. Er konnte, wenn er wollte, bis zur Täuschung bedeutsam aussehen.
»Dann fällt mit dem Kronprinzen ein ganzes Zeitalter im öffentlichen Leben Deutschlands unter den Tisch, meine Gnädigste! Unmittelbar hinter den Greisen des alten Kaisers folgen die Altersgenossen des Prinzen Wilhelm, die jungen Männer. Zu Prinz Wilhelm und seinen Leuten zähle auch ich mich! Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ich bin ja allerdings schon ein Vierziger. Lockenpracht mäßig. Geb ich zu. Aber sonst ... Also ich rechne mich eben noch zur Jugend ... glatt zur Jugend ... gelte auch allgemein als dazugehörig ... Vorzug des Junggesellen ... ist ja ... sonst kein Vorzug ... I bewahre ... möchte es je eher, je lieber ändern.«
Herr von Spängler hüstelte, lächelte in einer verführerischen und vertraulichen Art, sammelte Sonne in den Augen und auf den Lippen.
»Ich hab mich immer zur jungen Generation gehalten ... war immer ein Freund der Jugend ... war auch jedes Jahr in Göttingen bei den jungen Leuten vom Korps ... Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen dort bei unserer ersten Begegnung im Leben die Bilder auf der Korpskneipe zeigte? Damals, vor fünf Jahren, waren Sie noch ein Backfisch ... der viel versprach, aber bedeutend mehr gehalten hat.«
»Gott, Herr Geheimrat, muß denn immer geschäkert sein?«
»Ne – ne ... Pardon ... Also: Ich habe dadurch viele Verbindungen mit der kommenden Generation ... bis hoch hinauf ... sehr hoch ... ganz hoch ... Wirklich!«
»Ich weiß! Ich hab bei meinem Onkel oft genug davon reden hören!«
»Ich stehe sozusagen auf der Ausgangsschwelle des kommenden Geschlechts. Ich gehöre zu ihm und habe doch vor ihm die Reife und die Erfahrung voraus, die die jungen Männer, die sich von heute auf morgen plötzlich vor die höchsten Aufgaben gestellt sehen, unmöglich schon besitzen können! Es wird ohne Leute wie mich nicht gehen! Man wird nach mir schreien, gnädiges Fräulein, positiv schreien! Ich blühe jetzt noch wie ein Veilchen im verborgenen. Aber ich sehe manche, die in Bälde eine große Zukunft hinter sich haben werden. Ich habe sie, in aller Bescheidenheit, vor mir! Wie der Dichter singt: Nun muß sich alles, alles wenden!«
»Und Bismarck, denken Sie, raucht seine lange Pfeife und sieht zu?«
»Bismarck ... Bismarck ... immer Bismarck ... Es macht einen schon ganz nervös, dies ewige: Bismarck! Ich gebe zu, es war eine Hundearbeit, Deutschland zu einen. Aber es nun weiter zu regieren, ist keine Kunst bei der beispiellosen und dauernden Gunst der Verhältnisse! Bismarck ist doch nun einmal ein Hinterpommer – ein genialer Hinterpommer ... ein übermenschlicher Hinterpommer, aber eben ein Hinterpommer! Wir müssen aus Hinterpommern heraus! Aus dieser göttlichen Einseitigkeit heraus! Hinaus in die Welt! Übers Meer! Es wird ein Sturm durch alle Winkel pfeifen. Man wird Steuerleute für das Reichsschiff brauchen, wenn die neue Zeit kommt! Na ... und da ... unter anderen ... ein gesetzter Jüngling wie ich ... bestens empfohlen ... Geld ... na ... spielt bekanntlich bei mir Gott sei Dank keine Rolle ... Verbindungen mit Gott und der Welt ... Nur ein einziges Manko ...«
»Ach ...«
»Wundert Sie das?«
»Ich dachte, Sie wären ganz vollkommen, Herr Geheimrat.«
»Noch nicht. Es ist ein Fehlton in dieser Zukunftsmusik: Où est la femme? ... Où est ma femme? Da hab ich leider ein wenig in der Zerstreutheit den Anschluß verfehlt. Aber immerhin: einen leidlich jugendlichen Eindruck mache ich ja noch ...«
»Ach ja ... es geht!«