Das Verlangen nach Liebe - Hanns-Josef Ortheil - E-Book
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Das Verlangen nach Liebe E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

„Ein lupenreiner Liebesroman.“ Brigitte

Über achtzehn Jahre lang haben sich die Kunsthistorikerin Judith und der Konzertpianist Johannes nicht mehr gesehen, als sie sich eher zufällig in Zürich treffen. Die unerwartete Begegnung versetzt sie zurück in die Zeit ihrer großen Liebe, in der sie noch ein junges und unzertrennliches Paar gewesen waren. Von da an sehen sie sich täglich, erzählen sich von ihrem Leben und fragen sich, was früher war und wieder möglich ist. Unmerklich geraten sie immer tiefer hinein in die erneut aufbrechende Magie der Anziehung.

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Copyright © 2007 by Luchterhand Literaturverlag, München
Einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: semper smile unter Verwendung eines Motivs von Umschlaggemälde: Vallotton, Felix, 1865–1925. »Nu a l’echarpe verte« (liegender Akt mit gruenem Seidenschal), 1914. Oel auf Leinwand, 112 × 145 cm. La Chaux-de-Fons, Musee des Beaux-Arts. © akg-images KS · Herstellung: SK
ISBN 978-3-641-10864-9V006
www.btb-verlag.de www.penguinrandomhouse.de

Buch Über achtzehn Jahre lang haben sich die Kunsthistorikerin Judith und der Konzertpianist Johannes nicht mehr gesehen. Eher zufällig treffen sie sich in Zürich, und diese unerwartete Begegnung versetzt sie zurück in die Zeit ihrer großen Liebe, in der sie noch ein junges und unzertrennliches Paar waren. Von dem Tag ihrer ersten Begegnung in Zürich sehen sie sich täglich, erzählen sich von ihrem Leben und fragen sich, was früher war und jetzt vielleicht von Neuem möglich ist. Unmerklich geraten sie dabei immer tiefer hinein in die erneut aufbrechende Magie der Anziehung.

Autor Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er lebt als Schriftsteller in Stuttgart, Wissen an der Sieg und Rom und ist Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart, sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Brandenburger Literaturpreis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Georg-K.-Glaser Preis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Copyright

Nicht du bist vorbereitet und nicht ich, einander zu begegnen.

Federico García Lorca

1

ICH SAH sie am frühen Nachmittag jenes Tages, an dem ich in Zürich angekommen war. Ich hatte mein Hotel gerade verlassen und war die schmale, schattige Straße hinüber zum See gegangen, auf dessen Anblick ich mich schon eine Weile gefreut hatte. Inmitten der an seinem Ufer entlang laufenden Kastanienallee war ich stehengeblieben und hatte den Anblick genossen: Die sanften, auf und ab schwingenden, schon leicht ins Dunkle gefärbten Hügel des gegenüberliegenden Ufers, das zu den Alpenketten der Ferne ausholende Graublau der stillen Wasserfläche, den Abdruck der auf ihr herumgeisternden Sonnenstreifen, die sich wie matte, breite Pinselstriche quer über diesen diffusen Grund legten. Ich hatte ausgeatmet, spürbar und erleichtert, diese Ankunft war noch schöner, als ich es erhofft hatte, die Szenerie, das Wetter und ein ruhiger Herbst spielten mit, im Normalfall wäre ich sofort zu einem langen Spaziergang am Seeufer entlang aufgebrochen, denn so hatte ich es ja geplant: gehen, weit gehen, langsam eindringen in dieses mir von vielen früheren Besuchen vertraute Terrain, nach einer oder zwei Stunden irgendwo am Ufer ein Glas Wein, und dann, vielleicht, mit einem Schiff wieder zurück.

Mein letzter Blick aber streifte die langen, parallel zum Ufer stehenden Holz-Bänke, auf deren Sonnenplätzen die jungen Paare saßen, Liebende, dicht aneinandergelehnt oder in den ältesten, zeitlosen Posen einander umschlingend, ich hatte diese Bilder nicht länger betrachten wollen, als mein Blick bei einer einzelnen Person hängenblieb, die zwischen all diesen Paaren langgestreckt und anscheinend schlafend auf dem harten Holz lag. Ich erkannte sie sofort, sie war es, sie lag da, als hätten wir uns vor wenigen Stunden nur kurz getrennt, um uns genau hier wieder zu begegnen. Ich spürte, wie mich dieser Anblick durchfuhr, ich erstarrte und fühlte mein Herz schlagen, es konnte doch nicht sein, daß sie sich so wenig verändert hatte, ich hatte sie seit beinahe achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Ihrem Kopf hatte sie den braunen Lederrucksack untergeschoben, den sie schon früher immer dabeigehabt hatte, ein Bein hatte sie über das andere geschlagen und die Hände unter dem Gesäß gefaltet, regungslos lag sie mit geschlossenen Augen da, die langen, blonden, leicht ins Rötliche changierenden Haare rahmten ihr schmales, strenges und oft so konzentriert wirkendes Gesicht. Achtzehn Jahre, rechnete ich noch einmal nach, beinahe achtzehn Jahre hast Du sie nicht mehr gesehen, nie hast Du die geringsten Anstalten gemacht, ihr erneut zu begegnen, und doch hast Du beinahe täglich einmal an sie gedacht, momentweise, wenn Dich irgendeine Kleinigkeit an das frühere, gemeinsame Dasein erinnerte.

Das gemeinsame Dasein ..., ja, so hatte sie es immer genannt, ihre Formulierung war mit der Zeit zu einer stehenden Wendung in den acht Jahren unserer Liebe geworden, ein Darein ..., gemeinsam, so unpathetisch und schlicht und eben gerade deshalb so wahr. Denn in der Tat, es war ein gemeinsames Dasein gewesen, das wir geführt hatten, wir hatten uns, ohne jedoch zusammen zu wohnen, beinahe täglich gesehen und alle Ferienzeiten miteinander verbracht, jeder von uns hatte immer genau gewußt, was der andere gerade tat und wo er sich befand. Seit wir uns durch einen Zufall zu Beginn unserer Studienzeiten getroffen hatten, hatten wir uns nicht mehr getrennt, wir waren, wie es in Kinderbüchern heißt, »unzertrennlich« gewesen, ein junges, von der Liebe berauschtes Paar, das nie auch im Entferntesten daran dachte, voneinander zu lassen. Daß es dann doch, ganz plötzlich und unvorhersehbar, zur Trennung gekommen war, hatte mich völlig aus der Bahn geworfen, ich hatte den schweren Schock lange Zeit nicht überwinden können, wie es ihr ergangen war, hatte mich nicht mehr interessiert, denn sie hatte diese Trennung verursacht, sie allein, ich werde davon später einmal erzählen.

An jenem Nachmittag aber, als ich sie wiedersah, dachte ich daran nicht, ich war viel zu sehr mit ihrem Anblick und meiner Erregung beschäftigt, erhitzt stand ich eine Weile still auf dem Fleck und machte dann, beinahe wie in Trance, ein paar Schritte zurück und seitwärts in die Allee, als müßte ich mich ins Dickicht schlagen oder ein Versteck finden, das mir erlaubte, mit diesem Anblick fertig zu werden. Zum Glück schlief sie, zum Glück hatte sie mich nicht bemerkt, ich hatte also ein wenig Zeit, mich auf diese unerwartete Begegnung einzustellen und zu überlegen, wie ich vorgehen wollte. Und so setzte ich mich auf eine der viel bequemeren und meist leeren Bänke, die sich etwas weiter vom Ufer entfernt in der Allee befanden. Ohne ihre Lehne zu berühren, nahm ich vorn auf der Kante Platz, als wollte ich gleich weiter und als handle es sich nur um einen flüchtigen Halt, der mir erlaubte, meine Taschen zu ordnen oder etwas zu rauchen.

Und wahrhaftig zog ich auch sofort die kleine Schachtel mit den kubanischen Zigarillos, von denen ich immer eine dabeihatte, hervor und legte sie neben mich auf die Bank, um dann in den Manteltaschen nach der flachen, kleinen Digitalkamera und dem winzigen Fernglas zu kramen, die mich ebenfalls bei vielen Spaziergängen begleiten. Auch sie legte ich neben mir auf der Bank ab, dann steckte ich mir ein Zigarillo an, was wäre, dachte ich, wenn der Wind den Rauch zu ihr herübertrüge und der Duft sie weckte?, wahrhaftig rauchte ich noch immer dieselben Zigarillos wie in den fernen Tagen unserer gemeinsamen Jahre, es war dieselbe Größe und Marke, manchmal hatte auch sie sich eines der kleinen, dunklen Dinger angesteckt, unsere Gemeinsamkeit war so weit gegangen, daß wir selbst die sonst unscheinbarsten Dinge miteinander geteilt hatten. Dann griff ich nach dem Fernglas und stellte es ein und betrachtete sie jetzt ganz aus der Nähe, in allen Details: Ja, sie hatte noch immer diese am oberen Bogen leicht geröteten, stark hervortretenden Backenknochen, ja, da war noch immer diese von der vielen Bewegung im Freien leicht gebräunte und straffe Haut, und gut zu erkennen waren auch die breiten, auffälligen Lippen, die ich niemals geschminkt gesehen hatte, niemals. Sie trug einen langen, fast bis zum Boden reichenden Mantel mit schwarzen, in dichter Reihe aufeinanderfolgenden Knöpfen, und feste, flache Schuhe, auch sie war anscheinend zu einem längeren Spaziergang unterwegs.

Ach, wie oft waren wir früher gemeinsam gegangen, das stundenlange, ziellose Streifen durch Städte und Landschaften war unsere große Passion gewesen, ein nicht enden wollendes, aufmerksames Gehen zu allen Tages- und Jahreszeiten, ein Bestaunen der Welt, ein Einkehren hier und dort und ein ebenfalls nicht enden wollendes Sprechen, Erzählen und Phantasieren. Als ich daran dachte, wurde mir plötzlich ganz leicht, es war doch so einfach, jetzt aufzustehen und zu ihr hinüberzugehen und sie zu berühren wie früher und ihr einen Kuß zu geben und mit ihr dann weiter und weiter an diesem herbstlichen See entlangzugehen, auf dem jetzt, am frühen Nachmittag, die Segelboote kreuzten, die großen Segel so stolz und für das Herabdämmern des Abends bereit, wenn das Sonnengold sich in ihre weißen Flächen flüchtete und dort verfing. Aber nein, dachte ich, auf keinen Fall, Du geduldest Dich jetzt, Du wartest, bis sie erwacht, vielleicht liegt sie hier, um auf ihre eigentliche Begleitung zu warten, vielleicht kommt einer daher, mit dem sie ihr Leben jetzt teilt, und dann läßt Du sie ziehen, ohne Dich ihr zu zeigen, Du läßt sie ziehen, hörst Du!, zu erkennen geben wirst Du Dich nicht, erst mußt Du genauer Bescheid wissen, Du mußt wissen, was sie hierherführt und was im einzelnen sie in dieser Stadt vorhat.

Ich legte das Fernglas wieder zur Seite und machte mehrere Fotos, indem ich den Zoom immer wieder veränderte, dann betrachtete ich die Bilder nacheinander auf dem Display, es sah aus, als habe sie ein Fotograf genau an dieser Stelle postiert, das Sonnenlicht lag wie ein Spot auf ihrer langgestreckten Gestalt und hinterließ einige markante Schatten, so daß die Bilder ganz stimmig erschienen. Auch fremde Betrachter, da war ich mir sicher, hätten diese Bilder als stimmig empfunden, denn seit ich Judith kannte, war sie von Männern wie Frauen mehr oder minder heimlich betrachtet und oft wohl auch bewundert worden, sie war eine Person, die bereits beim ersten Anblick auffiel, nicht durch ihre Kleidung oder andere Äußerlichkeiten , sondern einzig durch ihre schlichte, ja altertümlich schlicht wirkende schöne Gestalt, die sie mit nur sehr wenigen Attributen versah und betonte. Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir wie die weibliche Figur eines alten Bildes erschienen, sofort hatte ich damals Bilder und Zeichnungen mit ihr in Verbindung gebracht und war daher gar nicht erstaunt gewesen, als sie mir später erzählte, daß sie Kunstgeschichte studierte, Kunstgeschichte im ersten Semester.

Ich hatte sie in einem Frankfurter Konzertsaal, wo ich zufällig neben ihr gesessen hatte, kennengelernt, dorthin war ich gegangen, weil ein Star der pianistischen Szene Schumanns Klavierkonzert spielte und ich selbst Pianist werden wollte. Ich studierte im zweiten Semester an der Musikhochschule, für mich gab es damals nur das Klavier, morgens vier Stunden, am Nachmittag noch einmal zwei, damals hatte ich davon geträumt, einer der ganz Großen zu werden, einer der Meister, zu dessen Konzerten man sich Hunderte von Kilometern weit auf den Weg macht. Zufällig also war ich mit ihr ins Gespräch geraten, wir waren beide allein und vertieften uns in das Konzertprogramm, in der Musik hatte sie keine großen Kenntnisse, dafür aber, wie ich schnell bemerkte, in der bildenden Kunst sehr fundierte. Ich hatte mir nicht vorstellen können, wie ein Mensch ihres Alters bereits solche Kenntnisse haben konnte, Schulen vermitteln so etwas ja nicht, höchstens wirkliche und tiefer gehende Passionen bringen dergleichen hervor. Diese Passionen für die Kunst hatte ihr Vater, den ich erst einige Jahre nach Beginn unseres Zusammenseins kennengelernt hatte, sehr früh geweckt, ihr Vater war Althistoriker und sehr viel älter als sie, er lehrte als Professor an der Universität Frankfurt und hatte irgendwann seine erheblich jüngere Assistentin geheiratet, die zu den Zeiten, als ich ihr begegnete, als Sachbuch-Lektorin in einem Frankfurter Verlag angestellt war. Bereits in der Kindheit hatte er Judiths Talent gefördert, sie hatte rasch gut und sicher zeichnen gelernt und ein auffallend starkes Interesse an Bildern gezeigt, ihr Vater und sie verstanden sich gut, wie ich überhaupt in ihrem Elternhaus ein völlig einvernehmliches Leben des einzigen Kindes mit seinen Eltern erlebt hatte. Judith hatte mir diesen Eindruck später bestätigt, nein, es hatte die üblichen Auseinandersetzungen zwischen ihr und den Eltern wahrhaftig kaum gegeben, nein, sie hatte die gängigen pubertären Krisen nicht so stark wie ihre Freundinnen durchlebt, ich war einfach zu sehr beschäftigt, hatte sie damals gesagt, beschäftigt?, womit?, na, mit der Kunst und mit meinem Vater, in seinen Semesterferien haben wir oft weite Reisen zu zweit unternommen, Reisen zu Orten der Kunst, wie ihr Vater es immer genannt hatte, Reisen nach Frankreich, Italien, Griechenland oder Spanien.

Der schmale, hochgewachsene und sich immer sehr gerade haltende, beinahe kahlköpfige Mann hatte auch mir sehr gefallen, er strahlte eine durch nichts zu erschütternde Ruhe und Sicherheit aus und lebte in der weiträumigen Wohnung im Frankfurter Westend im Grunde doch nur in einem einzigen Zimmer, das wie ein Studentenzimmer aussah, winzig, dunkel, mit Regalen ringsum an den hohen Wänden und einer schmalen, im Kopfbereich leicht erhöhten Liege, auf der er liegend Vergil, Horaz oder Catull las. Er liebte die römischen Autoren mehr als die griechischen, er hielt sie für eleganter und virtuoser. Als er mich einmal darauf ansprach, geriet ich ins Stocken, weil ich bei solchen Vergleichen nicht mithalten konnte, er bemerkte es wohl, spielte es aber nicht gegen mich aus, sondern nahm mich einfach mit in sein Zimmer, wo er mir ein paar Zeilen vorlas, mit hoher, leicht bebender Stimme, wie ein Jüngling, der etwas Privates und ganz und gar zu Herzen Gehendes preisgibt. Judiths Mutter dagegen hatte ich nicht sehr häufig gesehen, sie lebte wohl mehr im Verlag als zu Hause, wo es vormittags ein junges Dienstmädchen gab, das den Haushalt versorgte und sich um all seine Details kümmerte.

Als ich Judith traf, hatten sich beide Elternteile bereits ihre ganze Kindheit und Jugend lang viel mit ihr beschäftigt, irgendwie merkte man ihr so etwas an, ich hätte aber nicht exakt sagen können, wodurch, vielleicht fiel es mir auch nur auf, weil ich selbst in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen war. Mein Vater war, als ich drei Jahre alt war, an einem Herzinfarkt gestorben, so daß ich keine Erinnerung an ihn hatte, statt dessen gab es nur all die Fotoalben, die meine Mutter angelegt hatte, Alben mit kleinen Schwarz-Weiß-Fotografien, penibel datiert und beschriftet, auf denen man den immer leicht verspannt und überanstrengt wirkenden Mann in allen nur erdenklichen Dirigentenposen sehen konnte, bei Proben im Rollkragenpullover, bei Konzerten im engen, ihm nicht besonders gut sitzenden Frack, er hatte einfach immer eine Spur zu leidend ausgesehen, zu vergrübelt, an der Musik eher zehrend, im Gegensatz zu so vielen anderen Dirigenten, die von der Musik gemästet, gepäppelt und mit lauter angenehmen Facetten des Lebensgenusses belohnt und von Jahr zu Jahr dicker und fülliger wurden. Zu diesem Genuß hatte mein Vater niemals gefunden, schon seine Konzertprogramme hatten mir das bewiesen, Brahms, Bruckner, Mahler – das waren seine Komponisten gewesen, die ganze Spätromantik loderte auf eine krankhafte Weise in seinem schmächtigen Körper, damit hatte er es zum Generalmusikdirektor in einigen mittelgroßen Städten gebracht, ganz hoch hinauf, bis München, Frankfurt oder Berlin, aber hatte es niemals gereicht.

Vater war einfach nicht extrovertiert genug ..., mit solchen Wendungen hatte meine Mutter den fehlenden letzten Karrieresprung entschuldigt, sie hatte Vater verehrt, unbedingt, hingebungsvoll und mit einer ewigen Jungmädchenbegeisterung, sie hatte ihn auf seinen Tourneen begleitet und in der sonstigen Zeit ihre Klavierschüler unterrichtet, denn sie war eine typische Klavierlehrerin, ganz so, wie man sie sich vorstellt, eine strenge, kompromißlose, wenig nachgebende Person, die sich nach Vaters Tod ganz dem einzigen Kind gewidmet hatte. So war ich allein, betreut und versorgt nur von meiner Mutter, aufgewachsen, Verwandte und Freunde hatten bei uns keine große Rolle gespielt, wir lebten bescheiden von Vaters Pension und Erbe, aber es fehlte uns nichts, wir waren zufrieden, und ich kam mit Mutter auf sehr unkomplizierte Weise zurecht, weil sie keinerlei Ehrgeiz kannte, sondern mich unterstützte und in jenen Jahren, als ich längst nicht mehr von ihr unterrichtet wurde, darauf verzichtete, sich einzumischen.

Meine vorherrschende Erinnerung an das Leben mit meiner Mutter ist denn auch die Stille, wie still ist es doch hier!, dachte ich immer wieder, wenn ich nach Reisen in unsere kleine Wohnung zurückkam, ausgeputzt von der Stille waren diese stets perfekt aufgeräumten Zimmer, in denen man immerzu auf Menschen zu warten schien, erwartungsvoll könnte man diese Stille auch nennen, letztlich aber handelte es sich wohl um ein Warten auf die Wiederkehr meines Vaters, dessen Tod meine Mutter ihr Leben lang nicht verwunden hatte. Da sie all die Jahre mehr mit ihm als mit mir beschäftigt war, war ich keineswegs ihr kleiner Prinz gewesen, nein, ich war ihr freundlicher Begleiter im still ertragenen Leid geworden, eine Nebenfigur, die etwas Trost und Freude bescherte, zum Glück aber nie im Mittelpunkt stand.

Als ich das Zigarillo ausdrücken wollte, sah ich plötzlich, daß Judith erwachte, sie richtete den Oberkörper auf und fuhr sich mit der Rechten durchs Haar, dann schaute sie auf die Uhr und streifte gleich darauf den Rucksack über, jetzt hatte sie es anscheinend eilig, denn sie stand sofort auf und ging los, zurück zur Quaibrücke und damit zurück zu den älteren Teilen der Stadt. Sie ging so rasch, als habe sie sich zuviel Zeit gelassen oder als habe sie noch einen dringenden Abendtermin, ihr unerwartet plötzlicher Aufbruch zwang mich daher zum Handeln, ich dachte nicht lange nach, sondern packte meine paar Sachen in die Seitentaschen des Mantels und lief hinter ihr her. Leicht gebückt und in mich gekrümmt, lief ich am äußersten Rand der Kastanienallee entlang, während sie einen Weg unten am See nahm, ich kam kaum hinter ihr her, so ein Tempo machte sie plötzlich, ihr langes Haar wippte auf ihren Schultern, auch hatte sie bereits kurz nach dem Aufstehen den langen Mantel vorne geöffnet, so daß er ihren Körper flatternd umwehte. Dieses leichte Flattern des Mantels, Judiths energisches gezieltes Gehen – das waren erneut Bilder, die mich an die früheren Jahre erinnerten und daher berührten, am liebsten hätte ich sie jetzt gefilmt, wie sie die Quaibrücke ansteuerte und dann ganz selbstverständlich einen Weg dicht an der Limmat entlang hinein in die Altstadtzonen der Stadt nahm. Sie hielt sich eine Weile in der Nähe des Ufers, dann aber bog sie ab, ohne sich einen Moment zu besinnen, noch eine kleine Steigung – und sie verschwand in einem Hotel, in dem ich kurioserweise selbst vor Jahren einmal übernachtet hatte.

Ja, genau, ich erinnerte mich gut, in der Nähe der Rezeption gab es einen kleinen Teetisch, wo sich die Gäste einen Tee ihrer Wahl aufbrühen und mit aufs Zimmer nehmen konnten, durch das große alte Gebäude mit seinen verwinkelten Zimmern und schmalen Gängen wehte daher Tag und Nacht der leicht betäubende Duft verschiedenster Tee-Sorten, manchmal wurde man sogar mitten in der Nacht nicht von einem Geräusch, sondern von einem Tee-Duft wach, wenn gerade ein sehr später Gast eingetroffen war und der Versuchung nicht widerstanden hatte, sich noch einen Nachttee zuzubereiten. Unten, im Parterre, aber befand sich ein Restaurant, in dem die Gäste am Morgen frühstücken konnten, ich dachte nicht weiter nach, so schnell wollte ich mich nicht von Judith trennen, deshalb betrat ich den großen, weiten Raum durch die Restaurant-Tür und setzte mich dann in den hinteren, eher dunklen Bereich, vorerst bleibst Du auf jeden Fall in solchen Verstecken, dachte ich, im Versteck und doch in Verbindung, denn es gab keinen Zweifel, daß Judith sich jetzt nur wenige Meter und höchstens zwei, drei Etagen über mir aufhielt.

Ich bestellte ein Glas Fendant, ganz sacht begann es zu dämmern, die ersten Lichter strahlten draußen, vor der breiten Glasfront am Eingang, bereits auf, es war eine Tageszeit, die ich liebte, die Zeit einer kurzen Entspannung und eines Loslassens nach den Tätigkeiten des Tages, die Zeit des Übergangs und der Verwandlung, in der die Phantasien über den Abend und die bevorstehende Nacht bereits rege werden. Der kühle Wein tat mir gut, zu diesen Stunden gehörte ganz unbedingt das erste Glas Wein, ein Glas, das sehr langsam, Schluck für Schluck, getrunken werden wollte, im Wellen-Rhythmus der Gedanken und Träume, die sich jetzt einstellten, ganz von allein.

Sie würde die Tür ihres Zimmers vorsichtig hinter sich zuziehen, den Rucksack abstreifen und den Mantel aufs Bett werfen, sie würde hinübergehen zu den Fenstern, um sie zu schließen und beim Schließen einen kurzen Blick auf die Gasse hinunterzuwerfen, dann würde sie das lange Kleid über den Kopf streifen und ins Bad gehen. Sie würde ihre Haare hinten mit der linken Hand packen und sie mit einer Bürste in der Rechten immer wieder durchkämmen, in gleichmäßigen, kräftigen Zügen. Sie würde etwas Hautcreme auftragen und sie rasch verreiben, dann würde sie zurück in das Zimmer gehen, sich ein Glas Wasser einschenken und sich neben den Tisch setzen, auf dem die Zeitungen und Bücher liegen. Sie würde einen ersten großen und einen zweiten kleineren Schluck nehmen, sie würde versuchen, zur Ruhe zu kommen und sich einzustellen auf den Abend, dann würde sie sich zurücklehnen und noch einmal die Augen schließen, nur für ein paar Minuten.

Was phantasierst Du da?, dachte ich, was fällt Dir ein? ..., ich hatte begonnen, mich in unser früheres Leben zurückzuphantasieren, so nämlich, wie ich es mir jetzt ausgemalt hatte, war es doch meist gewesen, nur daß sich neben Judith noch ein Zweiter im Zimmer aufgehalten hatte, ich, der Geliebte, der jetzt auf dem Bett liegen würde, müde vom langen Gehen während des Tages, mit geschlossenen Augen ihren Gesten und Bewegungen nachlauschend. Der Aufbruch ins Theater oder zu einem Konzert – das war jetzt die Stunde, und gerade vor solchen Aufbrüchen war sie manchmal unbekleidet aus dem Bad zurückgekommen, sie hatte die Bettdecke mit einem Ruck zur Seite gestreift und sich in die weißen Laken geschmiegt, dann aber war eine Hand zu mir, dem Träumenden, hinübergewandert und hatte meinen lauernden Körper berührt und gelockt ...

Und wenn genau das jetzt ein paar Etagen über mir ablief? sie gar nicht allein dort oben war, sondern ihren Mann oder einen Geliebten dort oben vorfände? Einen Moment dachte ich, es wäre am besten, das Glas Fendant auszutrinken und den Raum sofort zu verlassen. Schluß!, Aus!, ich hatte an diesem Nachmittag einige schöne, überraschende Momente erlebt, das mußte genügen, denn das Weitere ging mich nichts an und brachte vielleicht nur neue Verletzungen mit sich. Alles, was mit ihr zu tun hatte, war ein großer Gefahrenbereich, das wußte ich, denn nachdem ich mich von ihr getrennt hatte, war ich sehr krank gewesen, lange Zeit, so krank, daß mir selbst das Klavierspiel nicht hatte helfen können.

Schluß!, sagte ich mir also, keine Psychosen mehr, nein danke!, wirklich nicht!, ich leerte das Glas auch wahrhaftig und drehte mich nach der Kellnerin um, um sofort zu bezahlen, als ich Judith draußen, vor der Glasfront, erkannte. Sie trug denselben Mantel wie am Seeufer, sie hatte die Haare gekämmt, sie trug weder eine Tasche noch sonst ein anderes Accessoire, sie hatte die Hände in die Seitentaschen des Mantels gesteckt und ging, jetzt viel langsamer, ja beinahe schlendernd, die kleine Gasse zur Limmat hinunter. Zahlen, bitte!, sofort zahlen!, rief ich, eindeutig zu laut, da ich mich aber nicht mehr gedulden konnte, zählte ich den Betrag ab, legte ihn neben mein Glas, gab der Kellnerin ein Zeichen und lief hinaus. Mein Gott!, wie es mich nach draußen zog, wie ich keinen Moment zögerte, und das alles nur, weil sie allein war, ja, allein, ganz allein!, mit einem kurzen Auftritt hatte sie all meine Befürchtungen und meine lächerliche Eifersucht zum Schweigen gebracht.

Sie ging den Weg an der Limmat entlang zurück, hielt sich aber an der Quaibrücke plötzlich nach rechts, wohin wollte sie? ..., was sage ich?, was tue ich so, als ob es mir nicht vom ersten Moment ihres Aufbruchs aus dem Hotel klar gewesen wäre? Natürlich, sie ging hinüber zur Tonhalle, sie hatte eine Karte für ein Konzert, ich hatte den Namen des Pianisten doch genau im Kopf, der an diesem Abend mit vier Mozart-Sonaten auf dem mir nur zu gut bekannten Podium erschien, in gewissem Sinn war dieser Mann ja ein Konkurrent, ich hätte ihn aber nicht so bezeichnet, denn ich verstand das Klavierspiel nicht als ein Konkurrenz-Unternehmen, an so etwas dachten Agenturen und Konzertveranstalter, die einem dann später meldeten, wie viele Besucher man selbst und wie viele ein anderer Pianist angelockt hatte.

Ich ging die wenigen Schritte hinüber zu dem alten Gebäude der Tonhalle noch hinter ihr her, ich schaute zu, wie sie in das Foyer mit seinen roten, schweren Säulen und der unvermeidlichen Bahnhofsuhr in der Mitte der Säulenbögen trat, dann blickte ich auf das große Plakat, das den Zyklus mit allen Mozart-Sonaten, die in den nächsten Wochen und Monaten von sechs verschiedenen Pianisten gespielt wurden, ankündigte. Ich flüsterte mir die Sonatenfolge des heutigen Abends vor, dann aber ging mein Blick noch etwas weiter nach unten. Dort unten stand mein Name, in kaum einer Woche gab ich im Konzertsaal der Tonhalle einen Klavierabend mit Mozart-Sonaten.

2

OHNE AN eine andere Möglichkeit, den Abend zu verbringen, überhaupt nur zu denken, war ich danach sofort zurück ins Hotel und auf mein Zimmer gegangen. Ich machte es mir bequem und legte mich dann eine Weile aufs Bett, mit offenen Augen starrte ich gegen die Decke, als könnte ich so all die Szenen und Bilder einfangen und ordnen, die mich seit wenigen Stunden bedrängten. Ich dachte an das sonst leere, nur mit dem schwarzen Flügel geschmückte Podium des Konzertsaals, an die großen Kronleuchter an seiner Decke, an die ringsum verlaufenden Galerien und die rot bezogenen Stuhlreihen unten im Parkett – trotz seiner Größe war es ein intimer Saal, auf dessen Podium man sich nie verloren, sondern aufgehoben fühlte, in jederzeit spürbarem Kontakt mit den Zuhörern, die man im abgedunkelten Goldlicht seiner Konzertbeleuchtung wie einen erstarrten, auf der Stelle treibenden Schwarm kleiner, hier und da aufblitzender Fische wahrnahm, ein diffuses Heer von blinkendem Metall, Silber und Gold, nach Luft schnappend, sich räuspernd, mit angehaltenem Atem, gespannt lauernd und lauschend. Ob Judith wußte, daß ich der nächste war, der dieses Podium betreten würde? Ob sie sich bereits eine Karte besorgt hatte, um mich vielleicht sogar zu sehen und zu hören? Sicher, ja, ganz gewiß hatte sie meinen Namen bemerkt, sie war so rege und in ihrer Wahrnehmung blitzschnell, daß ihr so etwas nicht entgangen sein konnte. Und wie weiter? Was wäre, wenn sie mich nach dem Konzert in der Garderobe aufsuchte wie so viele Zuhörer, die noch ein Wort sagen, Blumen überreichen oder ein Autogramm auf einer CD haben wollten? Plötzlich stünde sie vielleicht vor mir, sie würde mich kurz umarmen und darauf warten, daß ich sie näher an mich heranzöge, ganz selbstverständlich, so, wie es uns bei unseren Treffen zur Gewohnheit geworden war.

Ich griff nach dem MP3-Player, der auf meinem Nachttisch lag, ich drückte die Play-Taste und streifte mir die Kopfhörer über, ich schloß die Augen und hörte hinein in die Sonaten Scarlattis, die zu meinen Lieblingsstücken gehören. Es sind kurze, kaum länger als fünf Minuten dauernde Stücke, die Domenico Scarlatti im frühen achtzehnten Jahrhundert am Hof von Madrid komponiert hat, angeblich gibt es genau fünfhundertfünfundfünfzig davon. Scarlatti hat all diese für das Cembalo geschriebenen Stücke nicht veröffentlicht, sondern wohl nur für sich und den Cembalounterricht, den er Kindern des Hofes erteilte, geschrieben, genau diese Zurückhaltung aber merkt man den Stücken auch an, denn vor allem auf dem Klavier wirken sie heutzutage wie ein ins Abseits gesäuseltes Sprechen, wie ein Geflüster oder eine Heimlichkeit, ja wie ein Sinnieren eines schon in die Jahre gekommenen Mannes, der sich in sehr späten Abendstunden seinen Phantasien überläßt. Ich selbst habe diese geradezu unheimlichen und mir nicht ganz geheuren Stücke vor Publikum noch niemals gespielt. Seit Vladimir Horowitz sie dann und wann an den Anfang seiner Konzertprogramme gesetzt hat, sind sie zu Geheimtips geworden, genau das aber ließ mich zögern, sie öffentlich vorzutragen, vor allem aber hat mich zurückschrecken lassen, daß ein so manieristischer Pianist wie Ivo Pogorelich einige von ihnen dann mit großem Pomp und wahrscheinlich auch noch in den exquisitesten Schlössern an der Loire eingespielt hat. Mit einigen Pianisten möchte ich nicht verglichen oder in Zusammenhang gebracht werden, Ivo Pogorelich ist so ein Fall, es ist ein Typ, den man Klavier spielen sieht und nicht hört, so exakt sitzt jede Haarwelle und so penetrant dehnt und verlangsamt er die wirkungsvollsten Passagen.

Ich ließ mich eine Weile ins Abseits dieser Musik treiben, jedes Mal spüre ich förmlich, wie sie den Raum um einen herum einschwärzt und dann verdunkelt, die Gegenstände treten langsam zurück, es gibt nur noch den leeren Raum und diesen feinen, mal dahinperlenden, mal stehenbleibenden, die Stille ausmessenden Klang. Ich lauschte, ich lag einige Zeit unbeweglich auf meinem Bett und richtete mich erst wieder auf, als die Sonaten verklungen waren. Sofort war die Erinnerung an den Nachmittag wieder da, ich konnte meine Unruhe vor mir nicht mehr verheimlichen, wie idiotisch, dachte ich, daß wir in zwei verschiedenen Hotels übernachten, es wäre so einfach, wenn sie jetzt hier, neben mir, läge, gewiß würde sie etwas lesen und gewiß würde sie fragen, was hörst Du gerade?, erzähl mir etwas über die Stücke, die Du gerade hörst, bitte, erzähl! Ich spürte, wie mir die Erinnerung zusetzte, ich wollte sofort etwas tun, irgend etwas, bloß nicht weiter in Erinnerungen schwelgen, bloß das nicht!

Und so ließ ich mir die Nummer ihres Hotels geben und rief dann bei der Rezeption an, ich nannte ihren Mädchennamen und erkundigte mich scheinheilig, ob sie sich im Hotel aufhalte, nein, war die Antwort, Frau Selow ist am frühen Abend ausgegangen, es war eine Antwort, die mich im ersten Moment beflügelte, bestätigte sie mir doch, daß Judith noch immer ihren Mädchennamen führte, verheiratet war sie also wohl nicht, was für eine Erleichterung! Kaum hatte ich das gedacht, rief ich mich jedoch auch schon wieder zur Raison, was ging es mich denn an, ob sie verheiratet war oder nicht, was zauberte ich mir da bloß wieder im Kopf zusammen? Offensichtlich gab ich mich untergründig lauernden, dunklen Phantasien hin, dabei hatte ich doch in meiner Krankheitszeit gelernt, wie man gerade solche Phantasien bekämpfte und ausschaltete. Einen Fehler aber hatte ich schon dadurch begangen, daß ich nach ihrem Abreisetag gefragt hatte, dadurch nämlich hatte ich erfahren, daß es keinen exakten Abreisetag gab und deshalb zu vermuten war, daß sie noch eine Weile bleiben werde. Gerade die sehr plötzlich sich eröffnende Aussicht, in mehr oder minder großer Nähe zu ihr einige Tage in Zürich zu verbringen, hatte mich aber derart unruhig gemacht, daß mir das Zimmer zu eng geworden war und ich es sofort verlassen mußte. Ich hatte alles stehen und liegen gelassen, nur den Mantel übergestreift und wie in großer Eile die Zimmertür abgeschlossen, im Aufzug war es dann aber geschehen, denn bei einem kurzen, unvorsichtigen Blick in den Spiegel hatte ich plötzlich ihre Abwesenheit wie einen leiblichen Schmerz empfunden, ja, ich hatte mich ein wenig zusammengekrümmt, wie ein Verletzter oder Verwundeter. Hier, in diesem engen Aufzug, hätten sich unsere Körper sofort aneinandergelehnt und still verharrt, bis sich die Aufzugtür wieder geöffnet hätte, denn in solchen Situationen hatten unsere Körper ganz von allein die Nähe des andern gesucht. Mein Gott!, dachte ich, jetzt ist es passiert, jetzt beginnst Du, Dich wieder nach ihr zu sehnen, Du erträgst das Alleinsein nicht mehr, von nun an wirst Du alles daransetzen, wieder in ihrer Nähe zu sein!

Als ich den Aufzug verließ, bemerkte ich, daß ich mich mit der Rechten im unteren Bereich des linken Arms kratzte, dort hatte es zu jucken begonnen, das alles wunderte mich aber nicht einmal, nein, ich rechnete es vielmehr zu den Symptomen der wieder einsetzenden Annäherung . Am besten war es, sich abzulenken und den Körper zu beschäftigen, richtig, ich hatte seit den Morgenstunden nichts mehr gegessen, wenigstens eine Kleinigkeit wäre doch jetzt in der Nacht, nach so vielen Stunden, gar nicht schlecht. Langsam ging ich an der Oper vorbei Richtung Bellevue-Platz, ein Restaurant aufzusuchen kam jedoch nicht in Frage, ich wollte nicht allein an einem Tisch Platz nehmen und durch dieses Alleinsein wieder in heftige Grübeleien gestürzt werden, dabei hatte ich doch in den letzten Jahren fast täglich mit größtem Genuß und einer kindlich-großen Freude allein gegessen und diese Mahlzeiten sogar zu einem Ritual mit lauter lange erprobten und durchdachten Regeln gemacht.

Als ich den Platz erreichte, erkannte ich einen schmalen, zum Teil überdachten Grillstand, der in einer Häuserlücke untergebracht war, diesen Grillstand kannte ich, ja, genau, hier gab es diese unvergleichlichen Bratwürste, wie hießen sie doch gleich, diese leicht gedrungenen Würste mit einer hellen, porenlosen, milchig wirkenden Füllung von Kalb- und Schweinefleisch. Wegen ihres intensiven und für Bratwürste ganz raren Eigengeschmacks aß man sie niemals mit Senf, sondern mit dunkelbraunen, knusprigen Bürli, die ebenfalls eine Köstlichkeit waren und in nichts mehr an das erinnerten, was man im Deutschen als Brötchen bezeichnete. Bürli nämlich waren innen flockig, porös und weich wie gewisse Pilz-Schwämme, außen aber überzogen von einer hier und da aufgeplatzten Kruste mit einer ganz unmerklich dunklen Lasur. Eine solche Bratwurst und ein solches Bürli, dazu ein kaltes Glas Bier – das war genau richtig, ich konnte meine Bestellung mit hinüber an einen der kreisrunden Tische unter einen Schirm nehmen und alles im Freien verzehren.

Als ich dann aber dort auf einem der schlichten Plastikstühle Platz und den ersten Schluck Bier zu mir genommen hatte, brachen auch hier die Erinnerungen sich wieder Bahn. Es war, als beginne immer wieder ein innerer Film zu laufen, ich konnte mich dagegen nicht wehren, denn selbst wenn ich mit Gewalt versuchte, die Bildfolge abzubrechen, begann sie kurze Zeit später erneut mit anderen Szenen. In Zürich waren wir bereits wenige Wochen nach unserem Kennenlernen gewesen, die Fahrt hierher war unsere erste gemeinsame Reise und damit ein Versuch, ob es uns gelingen würde, tagelang und ohne Unterbrechung zusammenzusein. Auf solchen Reisen war uns dieses Zusammensein dann immer wieder ohne jede Irritation gelungen, während wir in Frankfurt, unserem damaligen Wohnort, keine gemeinsame Wohnung bezogen, sondern weiter allein gelebt hatten.

Zürich also – ja genau, plötzlich sah ich uns in der hohen Haupthalle des Kopfbahnhofs mit seinen großen Bogenfenstern ankommen, wie immer reagierst Du sofort auf den Eindruck, den ein Gebäude hinterläßt, Du bleibst stehen und hältst mich am Arm fest und machst mich auf etwas aufmerksam, etwa auf das Blau, was ist das?, fragst Du, überall dieses Blau, schaust Du, der halbe Bahnhof ist in diesen dunklen Blauton getaucht, es hat, ich weiß noch nicht warum, etwas Französisches, ja, es ist ein französisches Blau, das Blau auf französischen Zigaretten-Schachteln, ein Gauloises- oder Boyardr-Blau, nicht wahr? Und, schau, die Straßenbahnen da draußen, dasselbe Blau, vielleicht ergießt es sich vom Bahnhof aus in die Stadt und fließt dann durch ihre Kanäle und Straßen, komm, laß uns gleich losgehen, vielleicht ist Zürich die blaue Stadt, denn so sieht es aus. Ich selbst hatte das alles natürlich auch wahrgenommen, aber eher am Rande, ich reagierte auf visuelle Eindrücke nicht derart heftig wie sie, das Visuelle trat in meinem Fall zunächst einmal zurück, ja die genaue und intensive Beobachtung stand mir anfänglich sogar im Weg, weil ich mich in fremden Städten zunächst fallen und treiben ließ, um tief drinnen in mir jene Musik zu finden, die den neuen Eindrücken entsprach. So konnte es vorkommen, daß ich mich in der Fremde tagelang ziellos umherbewegte, bis sich langsam so etwas wie eine Musik herstellte, zunächst waren es nur Atmosphären und Klänge, dann aber konturierte sich alles und ich wußte zum Beispiel, daß ich jetzt ganz bestimmte Stücke hören oder unbedingt spielen wollte, im Falle Zürichs waren es zunächst Präludien und Fugen Schostakowitschs gewesen.

Ich nahm einen weiteren Schluck Bier, ich trank und aß, war aber vollkommen abwesend und blickte starr auf den runden Tisch. Ich sah Judith jetzt deutlich, wie sie voller Tatendrang den weiten Mantel vorn aufknöpfte, nach meiner Hand faßte, und wie wir zusammen dann ohne jedes Gepäck den Bahnhof verließen, die Bahnhofstraße aber nicht weiter beachteten, sondern am Ufer der Limmat entlang in die Stadt gingen, bis wir die Treppen zu einem kleinen Anstieg erreichten und schließlich auf dem Hochplateau des Lindenhofes, direkt über dem Fluß und hoch über den Dächern der Altstadt, den ersten Halt machten. Der Lindenhof erinnert Dich sofort wieder an Frankreich, es ist ein französischer Platz, sagst Du, durch und durch französisch ist das, schau doch, die Schach-und Boule-Spieler dort drüben, und die eng stehenden, schützenden Bäume mit dem beruhigenden Kies-Bett darunter, das hier ist eine französische Insel, laß uns doch eine Weile hierbleiben. Wir blieben, wir setzten uns auf eine Bank und schon nach kurzer Zeit strecktest Du Dich, wie Du es so gern tatst, ganz auf dieser Bank aus, den Kopf auf meinen Schoß gelehnt, die Augen geschlossen. Ich habe Dir etwas vorgelesen, was, weiß ich nicht mehr, ich hatte damals ja immer ein oder zwei Bücher dabei, es waren Zeiten, in denen wir uns täglich etwas vorlasen, ohne danach je länger darüber zu sprechen, es war so angenehm, die Stimme des anderen eine Weile ohne Unterbrechung zu hören, sich an ihren Singsang zu gewöhnen und sich zu wundern, wie dieser Singsang Anna Karenina oder den Grünen Heinrich gebar, solche Gestalten waren einem dann den ganzen Tag über sehr nah, denn man erinnerte sich genau an die Lesung, Satz für Satz war einem gegenwärtig und die Sätze lebten und schillerten dann in der fremden Umgebung und Anna Karenina und der Grüne Heinrich hielten sich mit all den Dingen und Räumen, die sie umgaben, ebenfalls darin auf. Meist war es der Hunger, der uns irgendwann aufstehen und wieder losziehen ließ, damals haben wir den Lindenhof verlassen und sind hinunter zum See gegangen und haben dort, mein Gott, ist das wahr?, in genau diesem Imbiß unsere erste Zürcher Mahlzeit zu uns genommen. Ja, genau, es könnte stimmen, schau mal, hast Du gesagt, St. Galler Bratwürste, und Bürli, die Worte merke ich mir. Später, nach unserer Mahlzeit, stehst Du auf und sagst plötzlich, ich weiß es ebenfalls noch ganz genau, ils ont mangé, ensuite ils sont partis, Dein Französisch klingt ganz selbstverständlich , hell, klar, wie aus dem Lehrbuch, und ein älterer Mann am Nebentisch schaut auf und lächelt und sagt zu Dir: si hänn gässe, denn sinn si gange. Von diesem Schwyzerdütsch bist Du sofort so begeistert, daß wir uns später in einer Buchhandlung auf die Suche nach einem kleinen Wörterbuch machen, ich suche ein Wörterbuch Schwyzerdütsch-Französisch sagst Du zu meinem Erstaunen, und dann sitzen wir später unten am Fluß und Du liest mir vor: un orage se prépare ... es isch e Gwitter im Aazug.

Ich trank das Glas leer und stand auf, der Wind rüttelte an der Dachplane des Imbisses, komm!, sagte ich da plötzlich und zu allem Überfluß sagte ich es sogar recht laut, komm!, sagte ich, und die anderen Gäste in meiner Reichweite starrten mich an, so daß ich die Peinlichkeit spürte. Ich suche meinen Hund!, sagte ich zur Entschuldigung, haben Sie vielleicht gesehen, wohin der Teufelskerl wieder verschwunden ist? Niemand antwortete mir, nur eine einzige Person schüttelte zumindest den Kopf, wahrscheinlich hielten sie mich für einen Provokateur oder für einen armen Irren, der laute Selbstgespräche führte und die Nacht auf einer Parkbank in der Nähe des Sees verbringen würde. Enchanté ..., seer erfreut, sagte ich noch, um sie in ihrem Glauben zu bestärken, dann machte ich mich auf den Weg, die wenigen Meter über den Platz, hinüber zu den Parkbänken am See. Niemand war hier noch unterwegs, der See lag jetzt da wie eine schwarze Behausung, in der die letzten Lichter kurz nacheinander erstarben, ich ging noch die paar Schritte bis zu der Stelle, von der aus ich sie am Nachmittag gesehen hatte. Ich liebe Dich, sagte ich, wie zur Probe, ich habe Dich die ganzen achtzehn Jahre weiter und weiter geliebt.

3

DIE NACHT war sehr unruhig, denn ich erwachte immer wieder aus einem leichten, diffus bleibenden Schlaf, ich stand auf, öffnete ein Fenster und lag dann beinahe unbekleidet auf den weichen Decken, während ein warmer Luftzug nach dem andern in das Zimmer hineinfuhr und die dünnen Gardinen bewegte und wölbte, daß sie manchmal sogar bis zu mir ans Bett wehten. Ich versuchte, meine Gedanken mit aller Gewalt in eine andere Richtung zu lenken, ich klammerte mich an die leichte Vorfreude, die mich in der Nacht vor der ersten Konzertprobe an einem neuen Ort meist befällt, ja, durchaus, auch diesmal war diese Vorfreude da, es war die Vorfreude darauf, den großen Konzertsaal am nächsten Morgen allein betreten und ihn dann mit jedem Akkord langsam in Besitz nehmen zu können. Die Weite und Leere des Podiums macht vielen meiner Kollegen Angst, mich aber hat sie von meinen ersten öffentlichen Auftritten an eher beflügelt, ich genieße es, mit dem schwarzen Instrumenten-Tier dort wie in einer Manege zu sitzen, gerade das Gefühl, vollkommen abgeschieden zu sein und doch gleichzeitig unter gespannter Beobachtung zu stehen, läßt mich zu meinem eigenen Spiel und der höchsten Konzentration finden. Wie aber würden die Proben und vielleicht sogar das Konzert verlaufen, wenn ich all die in Bewegung geratenen Bilder nicht unter Kontrolle hatte? Ich schloß das Fenster wieder, streifte die Gardinen zurück und schaute hinunter auf die stille Straße, ich trank ein Glas Wasser und wenig später ein zweites, ich füllte den ganzen Raum mit der Geheimnis-Musik Scarlattis, indem ich zwei kleine Lautsprecher an den MP3-Player anschloß und sie an den beiden Enden des Schreibtischs postierte, ich versuchte, etwas zu lesen und las schließlich sogar laut, doch erst als draußen die ersten Helligkeitsstreifen hinter den dunklen Dachfeldern auftauchten, schlief ich plötzlich ein.

Zum Frühstück am nächsten Morgen erschien ich viel später als sonst. Der große Raum, der kurz nach Elf in einen Restaurant-Raum verwandelt wird, war beinahe leer, nur ein älteres Ehepaar konnte sich noch nicht von dem mit bunten Herbstblättern drapierten Büffet trennen und wanderte mit leeren Tellern in der Hand unschlüssig an all den belegten Platten, Brotkörben und Karaffen entlang. Ein Croissant, einen Milchkaffee, etwas Obst – mehr brauche ich am Morgen nicht, die Manie, reichhaltig und ausdauernd zu frühstücken, habe ich nie begriffen, vor allem aber mag ich die penetrante Langsamkeit und Schwere nicht, die sich nach solchen Ritualen der Zeitdehnung meistens einstellt. Gerade der Schwung des Morgens ist aber doch kostbar, was gibt es Schöneres, als mit einem solchen Schwung hinaus auf die morgendliche Straße zu eilen, fiebrig vor Aufbruchs-Lust? Ein starker Milchkaffee ist gerade richtig, um dieses Fieber anzustacheln, ein Croissant mit einer leichten Butterlasur ersetzt den ganzen Firlefanz von bestrichenen Brötchen und Broten, und die kleine Portion Weintrauben, Birnen und Äpfel ist wie ein buntes, verspieltes Zitat der Früchte des Paradieses, mit denen man im Grunde seine ganze Ernährung bestreiten könnte. Am schönsten ist danach aber der Genuß des ersten Zigarillos draußen im Freien, die Berührung der leicht bitteren Tabakblätter mit Lippen und Zunge, das Aufleuchten der Glut und der aufsteigende, sich davonkräuselnde Rauch, von dem die Nase nur eine sehr kleine Brise abbekommt – erst dieser herbe Genuß bringt das Frühstück zum Abschluß und ist so etwas wie ein letztes Signal, sich nun endgültig, mit Haut und Haar, in den Tag zu stürzen.

Ich hatte die weiße Schale mit Milchkaffee gerade geleert und wollte rasch hinaus ins Freie, als ich wegen eines Telefonats an die Rezeption gerufen wurde. Hätte mich der Anruf in meinem Zimmer erreicht, wäre ich vor dem aufdringlichen Klingelton sofort geflohen, vor den Augen des Hotelpersonals aber wollte ich mich nicht verleugnen lassen und nahm deshalb etwas unwillig das schlanke Gerät in die Hand.

– Guten Morgen, mein Lieber, wie geht es Dir?

Ich hörte sofort, daß es Tanja war, Tanja Gerke, meine Agentin, ich ging mit dem Telefon einige Schritte beiseite zu einem niedrigen Tisch mit zwei Stühlen, ich nahm Platz und schloß für einen Moment die Augen. Ich stellte mir vor, daß Tanja sich aus Köln meldete, sicher saß sie an dem langen Eichentisch in ihrem Dachstudio, sie hatte ihre Unterlagen auf der ganzen Fläche ausgebreitet und nahm sich jetzt einen ihrer Schützlinge nach dem anderen vor.

– Guten Morgen, Tanja, ich bin gerade im Aufbruch.

Ich sah sie genau, wie sie jetzt mit ihrem Bleistift ein großes, weißes Blatt mit winzigen Kreisen und Strichen bedeckte, sie saß vornübergebeugt am Tisch und fuhr sich nachlässig immer wieder mit der Rechten durchs Haar, den ganzen Vormittag trank sie Tee, unermüdlich, ohne sonst etwas zu sich zu nehmen. Ich lauschte ihrer Stimme, die nun um mich zu werben begann, fast immer schlägt sie in Gesprächen mit mir diesen unglaublich samtweichen und dunklen Ton an, sie spricht gedämpft und leise, als befinde sie sich in einem Versteck, sie flüstert mir ihre Sätze zu, es ist fast genau das, was man mit einem altmodischen Wort als »Umgarnung« bezeichnen könnte. Meist ruft sie mich, kaum daß ich in einer Stadt eingetroffen bin, an, sie tut oft so, als sorge sie sich wahrhaftig um mich und als sei sie geradezu leidenschaftlich daran interessiert, daß es mir gutgehe. Manchmal meldet sie dann auch ihren Besuch an, sie nimmt sich zwei oder drei Tage Zeit und quartiert sich in demselben Hotel ein, das sie auch für mich reserviert hat. Sie kommt, um wenigstens bei einer meiner Proben anwesend zu sein, sie setzt sich in die Mitte des leeren Konzertsaals und hört mir zu, ich möchte Dich für mich allein, ganz für mich allein ..., Sätze solchen Kalibers sagt sie sehr leise und mit einer gewissen Feierlichkeit, als wäre ich ein naiver Jüngling, den man mit diesem Gesäusel noch betören kann.

Bis heute weiß ich nicht genau, was ich davon halten soll, ich verstehe mich mit Tanja sehr gut, sie trifft sich alle paar Wochen mit mir und kümmert sich sonst sehr unauffällig und vollkommen diskret um all meine Belange, verliert ihre finanziellen Interessen dabei aber keine einzige Sekunde aus den Augen. Das emotionale Spiel, das sie mit mir treibt, ist aber trotz dieser unverkennbaren Interessen nicht ohne Reiz, im Grunde wissen wir beide, was wir am anderen haben, Du bist mein bestes Pferd im Stall, sagt sie in barocken Momenten, während ich ihr dann und wann zuflüstere, daß alle ihre anderen Schützlinge mich wahrscheinlich um die besondere Nähe zu ihr beneiden. Diese Nähe, ja, genau, diese Nähe ist es, die wir bei unseren Begegnungen und Telefonaten unaufhörlich ausloten und umkreisen, seit drei, vier Jahren kommt es sogar vor, daß wir uns nach einem gemeinsam verbrachten Abend für einige nächtliche Stunden im Zimmer des andern wiederfinden, das wir im frühen Morgengrauen jedoch wieder verlassen, um am Frühstückstisch auf jeden Fall allein zu erscheinen. Gerade diese flüchtigen nächtlichen Zusammenkünfte sind ein gutes Beispiel für das Spezielle unserer Beziehung, wir sehen uns, wir verbringen die halbe Nacht miteinander, und wir sitzen dann, ohne ein einziges Wort über diese Nachtstunden zu verlieren, am Frühstückstisch wie zwei befreundete Geschäftspartner einander gegenüber.

Unsere Beziehung ist also eine Beziehung voller gegenseitiger, durchaus tiefer Sympathie, gehalten von einem harten, pragmatischen Kern, den wir nie aus den Augen verlieren. Vielleicht macht gerade diese ungewöhnliche Kombination unser Zusammensein derart anregend und stimulierend, so daß wir keinen Grund sehen, es zu ändern oder darüber lange zu sprechen. Es ist ja nicht Liebe, die uns zusammenführt, nein, wir lieben höchstens das stabile und schöne Bild, das wir abgeben, wenn wir Arm in Arm durch eine Stadt schlendern oder uns zum Essen in einem italienischen Restaurant treffen. All unsere gemeinsamen Mittag- oder Abendessen finden in italienischen Restaurants statt, auch das hat sich so ergeben und ist dann zu einem festen Ritual geworden, Tanja erkundigt sich nach einer guten Adresse und läßt ihre Beziehungen spielen, und schon finden wir uns am besten Tisch eines Restaurants wieder und werden wie Stammgäste bedient. Natürlich schmeichelt mir so etwas, ich gebe es zu, natürlich gleicht die Behandlung, die ich durch Tanja erfahre, einer großen Verwöhnung. Alles irgendwie Widrige bis hin zu den Finanzen nimmt sie mir, ohne daß wir darüber viele Worte wechseln, seit Jahren ab, genau das ist andererseits die Voraussetzung dafür, daß wir bei unseren Treffen die Rituale eines sorglosen, glücklichen Paars zelebrieren, das auf souveräne Weise miteinander umgeht und die Geheimnisse des anderen respektiert oder sie in der Unterhaltung höchstens einmal kurz streift.

Zu diesen uns beiden bekannten Geheimnissen gehört, daß ich nicht nur Tanja, sondern ab und zu auch eine ihrer vielen Freundinnen treffe. Heute könnte ich nicht mehr genau sagen, wie sich diese Zusammenkünfte ergeben haben, es begann einfach irgendwann damit, daß Tanja mir von einer guten Bekannten erzählte, die daran interessiert sei, mich nach einem Konzert zu treffen und mit mir noch ein Glas zu trinken. »Sie ist an Dir interessiert«, genau so hatte Tanja gesagt, und schon bei der ersten dieser Zusammenkünfte hatte ich begriffen, worum es ging. Tanjas Freundinnen sind meist allein lebende, häufig auch geschiedene, ja nicht selten sogar mehrfach geschiedene Frauen mit einem beruflichen oder privaten starken Interesse an Musik, Kunst oder Literatur, sie verbringen ihre Freizeit damit, »interessante« Menschen zu treffen, sich hingebungsvoll mit ihnen zu unterhalten und so ein kleines, lebendiges Netz an Kontakten aufzubauen, dessen Pflege sie unaufhörlich beschäftigt. Zur Besonderheit dieser Netze gehört eine oft große räumliche Distanz der einzelnen Mitglieder, man trifft sich alle paar Wochen an jeweils wechselnden Orten, besucht Ausstellungen und Konzerte, telefoniert in regelmäßigen Abständen miteinander und hält so den Freundeskreis aufrecht. Da ich selbst nicht gern telefoniere, habe ich mir angewöhnt, in diesen Kreisen als fleißiger Schreiber zu fungieren, ich schreibe Postkarten und Briefe, und ich schreibe alles mit der Hand, in einer, wie viele behaupten, hinreißenden, ja beinahe artifiziellen Handschrift, die meine Erzählungen, Geschichten und Nachrichten auch graphisch zu einem Ereignis macht.