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Faith – Königin der Wanderer, Königin des Underground, eine mit allen Mächten gesegnete Minthesana – leitet die sagenhafte, magische Welt unter unserer Erde seit fast 2 Jahren mit einem fairen, friedvollen Regiment. Das gesamte Volk steht hinter ihr, vor allem ihr Lebensgefährte Gil. Was jedoch nur er weiß, ist, dass Faith seit einiger Zeit von seltsamen Träumen heimgesucht wird, dessen Bedeutung sich nur schwer erahnen lässt. Auch wenn alles danach aussieht, dass es unbegründet ist, bekommt sie immer mehr Angst. Als Gil und sie wieder in ihre obere Welt gehen, wie es fast alle Wanderer täglich tun, scheint sich der Underground zum ersten Mal nach 2 Jahren wieder zu verschließen. Gil geht offenbar verloren, und Faith macht sich mit einer eigenartigen Frau Namens Linnea auf die Suche. Sie landen dabei in einer ganz anderen, völlig fremden Welt, die aus unterirdischen Gängen, Höhlen und Labyrinthen besteht. Dort scheinen sie Gefangene von abartigen Kriegern zu sein, die sich selbst als Elite bezeichnen und einen perfiden Plan den Underground betreffend verfolgen. Doch als sei das nicht schon genug, verdreht ein Fremder Namens Harry Faith den Kopf und ihr droht, dass sie nicht nur ihre magischen Mächte, sondern auch ihren Freund Gil verliert. Um zu retten, was noch zu retten ist, nimmt Faith die Herausforderung an, und lässt sich auf ein seltsames Spiel auf Leben und Tod mit den Kriegern der Elite ein... DAS VERMÄCHTNIS DES COCOON ist der zweite Band der Urban-Fantasy-Serie THE UNDERGROUND WARS aus der Feder von Elias J. Connor und Bloody Rose und vereint Romantasy mit spannenden Dark-Fantasy-Elementen.
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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1 - Träume nicht dein Leben
Kapitel 2 - Mythologie oder ein wahres Zeichen?
Kapitel 3 - Verhängnisvolle fremde Leere
Kapitel 4 - Geschlossene Grenzen
Kapitel 5 - Die geheimen Minen
Kapitel 6 - Wer bin ich?
Kapitel 7 - Mögen die tödlichen Spiele beginnen
Kapitel 8 - Die geheime Stadt
Kapitel 9 - Ginnys Haus
Kapitel 10 - Die tödlichen Spiele gehen weiter
Kapitel 11 - Die Stadt der Ewoks
Kapitel 12 - Gil, der Retter
Kapitel 13 - Connor und Mary-Ann
Kapitel 14 - Flucht nach oben
Kapitel 15 - Die Ruinen von Los Angeles
Kapitel 16 - Navas Versteck
Kapitel 17 - Das Labor
Kapitel 18 - Lauras Seele
Kapitel 19 - Die wahre Linnea
Kapitel 20 - Endzeit
Kapitel 21 - Die Macht des Cocoon
Kapitel 22 - Rückkehr zu einer langen Suche
Über den Autor Elias J. Connor
Impressum
Für Jana.
Meine Prinzessin. Meine Muse. Meine Freundin und Fiancée.
Danke, dass du ein Teil meiner Geschichten bist und mit deiner Inspiration all meinen Geschichten Leben einhauchst.
Elias J. Connor
Was zur Hölle ist los? Ich weiß genau, dass ich diesen monotonen Gang bereits seit Stunden durchlaufe, ohne dass ich irgendeine Ahnung hätte, wohin ich gehe. Ich weiß genau, dass sich hier seit Stunden nichts verändert – die gleichen Wände, die gleichen in Stein gemeißelten Häuser und Fragmente, die aus den Felsen ragen und die gleichen kleinen Ewoks, wie ich diese eigenartigen hier lebenden Wesen immer nenne.
Und doch kommt es mir vor, dass in jeder Sekunde ein neues Bild entsteht. Ein neuer Ort, an dem ich gerade bin. Kaum, dass ich glaube, etwas verstanden zu haben, tut sich plötzlich ein neues Rätsel auf. Und immer habe ich diesen Drang, es lösen zu müssen.
Dieser schmale, unterirdische Gang begleitet mich schon seit Stunden. Es ist ein Weg mitten in einer Höhle, und links und rechts sind Fenster und Türen in Stein gemeißelt. Die Wände sind völlig aus Stein, wie eigentlich alles hier. Nasskalter Lehmboden und Lehmwände, formiert zu einem unterirdischen Labyrinth.
Ich bin gerade hier angekommen. Ich weiß nicht, wie. Aber ich spüre, dass ich schon seit Stunden hier bin.
Ungeduldig schaue ich zu den Fenstern. Es ist ziemlich dunkel hier, und der Nebel, der diese Höhle ausfüllt, ist das Einzige, das etwas Licht erzeugt. Sein Schimmer leuchtet matt. Aber trotzdem ist es in jedem dieser Fenster dunkel – keiner hier, den ich fragen könnte, was verdammt noch mal hier los ist.
Auf einmal höre ich dieses bekannte Quieken wieder. Ich weiß, was das ist. Ich weiß, wer die sind. Und sie beobachten mich.
„Hey, ihr Horn-Ochsen. Kommt raus und redet mit mir“, rufe ich in die Stille hinein, worauf dieses Quieken sich zugleich selbst unterbricht.
Ich halte die Luft an.
Still. Jetzt ist es ganz still.
„Hallo“, rufe ich.
Der Klang meiner Stimme hallt ein- oder zweimal wieder, dann verstummt er aber auch.
Plötzlich huscht ein Schatten an mir vorbei. Ha, jetzt bin ich schneller, denke ich bei mir.
Ich recke meinen Arm aus und bekomme etwas zu packen. Als ich sicher bin, es fest zu haben, reiße ich es zu Boden und schmeiße mich darauf, egal was es ist.
Ich höre ein Hecheln, ein schnelles Atmen.
Ich blicke das knapp 90 Zentimeter große Wesen an, das unter mir liegt. Seine Augen sind groß, sein Kopf gleicht dem einer Ratte oder eines Wolfshundes, aber das Wesen sieht gar nicht gefährlich aus.
„Jetzt entkommst du mir nicht mehr“, raune ich ihm wütend zu. „Du sagst mir auf der Stelle, wer du und deine Kumpanen sind und was ihr von mir wollt.“
Das Wesen zittert. Es scheint Angst zu haben. In seinen Augen bildet sich Flüssigkeit. Toll, jetzt fängt der Gnom zu weinen an. Mann, warum muss ich immer direkt Mitleid haben, wenn ich so etwas sehe.
„Also?“, versuche ich es eine Nummer ruhiger. „Wirst du mir jetzt sagen, wo ich hier bin und was ich hier soll?“
„Faith“, stottert das Wesen. „Faith Nawroth.“
Ich schnaufe genervt aus und gehe von dem Gnom herunter.
„Ich weiß, wer ich bin“, sage ich zu ihm. „Faith Nawroth aus Los Angeles, Kalifornien.“
Er rappelt sich hoch und sieht mich ängstlich an.
„So kommen wir nicht weiter“, erkenne ich. „Sage mir doch einfach, wie ich hier raus komme, okay? Dann ist es mir auch egal, was das hier für ein Ort ist und was ihr von mir wollt.“
„Faith“, sagt das Wesen ruhig.
Plötzlich kommen zwei weitere Gnome an. Sie gleichen diesem hier bis aufs Haar.
„Faith“, sagen sie immer wieder. „Faith. Faith.“
Auf einmal müssen zehn, zwölf von ihnen hier herum stehen und mich einkreisen.
„Faith! Faith! Faith!“, rufen sie.
„Ja, Mann“, schreie ich. „Ich weiß, wie ich heiße.“
„Lasst sie in Ruhe“, mischt sich plötzlich die Stimme eines jungen Mädchens in die Rufe dieser eigenartigen Wesen ein.
Plötzlich verstummen sie.
Ich drehe mich um.
Ich zittere am ganzen Körper. Auch wenn der matte Lichtschein des Nebels nur einen Schattenumriss zulässt – ich erkenne ganz genau, wer sie ist.
„Laura?“, sage ich leise.
Die Gnome huschen davon, verstreuen sich in alle Winde.
Ich blicke das etwa 14-jährige, dunkelblonde Mädchen an. Ihre Augen sehen mich freundlich an, und sie hat ein Lächeln auf den Lippen. Aber ich spüre, dass sie zittert, so wie ich.
„Es ist lange her, Faith“, sagt Laura zu mir.
„Ich weiß“, antworte ich, während ich ein paar Schritte auf sie zu mache.
„Laura... wie ist das möglich?“, möchte ich wissen.
Sie sieht mich nur an. Ohne ein Wort nimmt sie meine Hand und führt mich in einen kleinen Raum, der sich hier unten plötzlich auftut.
Ohne ein Wort setzt sie sich auf eine Bank, die sich hier befindet.
Ich setze mich still neben sie. Ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden. Es ist wahrscheinlich fast 2 Jahre her, aber sie sieht ganz genauso aus wie damals. Keinen Tag gealtert. Und fast kommt es mir vor, als dass sie auch die gleiche Kleidung trägt, die sie an hatte, als ich sie das letzte Mal sah.
„Das kann nicht sein“, stelle ich fest. „Du bist nicht hier.“
Laura sieht mich still an. Sie legt einen Finger auf ihren Mund, was mir bedeuten soll, dass ich nichts sagen soll.
Also bin ich leise und höre die Geräusche, die daraufhin an mein Ohr dringen.
Ich höre Musik. Ruhige Musik. Ich höre eine Stimme, die ein Lied singt. Hell und klar, aber so außerirdisch, dass ich nicht glauben kann, dass es eine wirkliche Stimme ist. Fast engelsgleich, will ich sagen.
Irgendwie nimmt mich diese Musik gefangen. Ich versinke ganz in ihr. Ich schließe die Augen und glaube, dass ich schwebe. Ich fühle mich, als würde ich davon getragen werden.
„Faith“, höre ich plötzlich durch den Klang der Musik eine dunkle Stimme sagen.
Ich versuche zu antworten, aber mein Mund scheint verschlossen und ich scheine des Sprechens nicht mächtig zu sein.
„Faith, mein Engelchen“, flüstert die Stimme sanft.
Mit aller Kraft öffne ich meine Augen und bemerke, dass ich in einem großen, runden Bett liege. Ein matter Lichtschein findet durch noch verschlossene Gardinen an den großen Fenstern seinen Weg. Ich erkenne ein sehr elegant und komfortabel eingerichtetes Schlafgemach, mit einem Schrank, einem großen Spiegel und jeder Menge Schnickschnack – eben alles, was dazu gehört.
„Bin ich in einem Schloss?“, sage ich leise.
„Natürlich“, sagt die Stimme.
Anschließend spüre ich nur noch, dass ich weich auf meine Lippen geküsst werde. Ich weiß nicht, warum, aber ohne zu zögern öffne ich dabei meinen Mund und gebe diesem Mann, wer immer es ist, einen innigen Zungenkuss.
Er streichelt mir sanft über die Schulter und meine Haare.
Daraufhin sehe ich in seine Augen und erkenne ihn.
„Gil“, sage ich zufrieden.
„Du musst seltsam geträumt haben, Engelchen“, sagt er. „Du bist ja jetzt noch am Zittern.“
Ich schnaufe genervt aus, aber ich wollte eigentlich nicht, dass er es mir ansieht.
„Ist es wieder der gleiche Traum, den du letztens häufiger träumst?“
„Ja“, antworte ich.
Gil setzt sich auf, und ich tu es ihm gleich.
„Diese seltsamen Höhlen oder Grotten, nicht wahr?“, fragt er.
Ich nicke.
Gil steht auf und bringt mir eine heiße Tasse Kaffee, die bereits auf dem Nachtschrank steht. Langsam schlürfe ich daran, während er die Gardinen zur Seite zieht.
„Sieh es dir an, Faith“, sagt er. „Die Morgenfeen sind aufgestiegen. Es ist ein herrlicher Tag hier im Underground.“
Ich schnaufe aus und atme die frische Luft ein, die hinein kommt, als Gil die Fenster öffnet.
Der Underground.
Eine Welt voller Mystik, Magie und Wunder, die sich unter unserer Welt erstreckt. Ich habe es nicht vergessen, wie ich vor knapp 2 Jahren zum ersten Mal hier gelandet bin. Ich habe nie vergessen, welche Prüfungen, Kämpfe und schwierige Situationen ich bestehen musste, um hierher ans Ziel zu gelangen – als Königin des Underground, hier im Palast der Wächter, dem Herzen des Underground.
Ja, es war wirklich kein einfacher Weg. Wir hatten große Opfer hinnehmen müssen und stießen mehr als einmal an unsere Grenzen. Aber am Ende habe ich es erkannt – ich bin eine Minthesana, ein Wesen mit allen Zaubermächten und aller Unsterblichkeit, die ihrem Status der Königin für diese phantastische Welt gerecht sein wird. Ja, das bin ich, Faith Nawroth.
Nicht nur die anderen Menschen – die Wanderer, die zwischen dieser und der oberen Welt wandern können – sehen zu mir auf. Der gesamte Underground tut es. All seine Wesen und Bewohner, seien sie auch noch so schräg und mystisch.
Wir, die Wanderer, und ich im Besonderen, können zwischen beiden Welten wandern. Einige von uns gehen tagsüber hinauf und gehen dort diversen Aufgaben nach, dann kommen sie abends wieder hierher hinab. So auch Gil und ich. Auch wir haben ein tägliches Leben in der oberen Welt – als Studenten der UCLA, eine der bekanntesten Universitäten von Los Angeles, Kalifornien.
Ganz ehrlich, ich liebe das Leben hier im Underground, vor allem jetzt, wo er so friedlich ist und der schwere Krieg vorbei zu sein scheint. Aber ich bin auch sehr froh, immer mal nach oben in die Welt zu gehen, aus der ich eigentlich komme.
Ich gehe zu Gil ans Fenster und sehe mit ihm in die weite, schöne Landschaft hinaus, die unseren Palast umrandet. Es ist wirklich eine wahnsinnig schöne Gegend, ein so schöner Ort.
Die Gärten, die Felder und die wunderschönen Häuser, die unseren fast Stadt zu nennenden Palast umzäunen – alles blüht friedvoll, sommerlich und traumhaft.
Und leise erklingt von draußen die Musik, die ich die ganze Zeit schon höre.
„Faith, ist alles in Ordnung?“, fragt Gil mich, als er merkt, dass ich noch immer ein wenig wanke und mich unsicher fühle.
„Ich weiß nicht“, sage ich zu ihm. „Manchmal denke ich, es ist zu schön, um wahr zu sein. Gil, ist der Krieg im Underground wirklich ganz beendet?“
„Na, das hoffe ich doch“, meint Gil. „Faith, wir sind seit fast 2 Jahren zusammen und wohnen hier. Du hast doch während der ganzen Zeit nicht eine solche Unsicherheit verspürt.“
„Das ist es ja gerade“, antworte ich. „Gil, ich habe Laura in meinem Traum gesehen. Du weißt noch, wer sie war?“
Gil nickt.
Ich blicke Gil hilflos an. „Ich habe kein gutes Gefühl. Fast kommt es mir vor, als dass sie Signale sendet.“
„Faith, Engelchen... Laura lebt nicht mehr. Ihr wurde das Leben genommen, und damit wurde der Krieg im Underground beendet. Ich weiß, es ist ein sehr hoher Preis, den wir dafür gezahlt haben. Aber Laura hätte es nicht anders gewollt. Es war so bestimmt, dass es geschieht.“
„Ich weiß“, entgegne ich. „Ich denke nur darüber nach, was es bedeuten könnte, dass ich sie gerade jetzt im Traum wieder sehe.“
Plötzlich ertönt ein Knarren, das ich nur zu gut kenne. Ich blicke auf das freie Feld links neben unserem Palast und sehe die riesige Wendeltreppe, die aus dem Nichts erscheint und sich scheinbar aus dem Himmel nach unten wendet, bis sie hier ankommt.
„Der Aufstieg“, flüstere ich.
„Die Treppe“, bestätigt Gil. „Der Zugang zwischen den Welten, den nur wir Wanderer sehen können. Faith, bist du soweit?“
Ich weiß, was das bedeutet. Die Treppe erscheint immer dann, wenn jemand im Begriff ist, zwischen der oberen Welt und dem Underground zu wandern. Nur wir Wanderer können sie sehen und erkennen. Und nur für uns öffnen sich diese Grenzen. Jetzt signalisiert sie uns, dass es an der Zeit für Gil und mich ist, hinaufzugehen.
„Gib mir noch ein paar Minuten“, sage ich zu Gil. „Ich komme sofort.“
Nachdem Gil bereits in den großen Thronsaal vorgegangen ist und ich mich angezogen habe, mache ich mich ebenfalls auf dem Weg, dem Volk die übliche morgendliche Ansprache zu halten.
Im Thronsaal steht der riesige Thron – eigentlich zwei. Um sie herum stehen die vielen Tische, wie immer festlich gedeckt. Viele der Bewohner des Palastes sitzen dort bereits und erwarten mich schon.
Als ich den Gang zum Thron entlang schreite, kommt die Hofdame an, die mir wie jeden Morgen das Zepter und das Schwert symbolisch in die Hand gibt.
„Danke“, sage ich zu ihr, während mich die Menge stumm betrachtet und meinen Weg zum Thron verfolgt.
Kaum, dass ich Platz genommen habe, kommen zwei kleine Mädchen herbei und setzen sich zu mir auf den Rand des Throns – eine links, die andere rechts. Kurz darauf kommt ein alter Mann zusammen mit Gil, der sich hinter mich stellt.
„Sasaney“, sage ich.
„Ich und meine Enkelinnen Loreen und Aysalia erfreuen uns jedes Mal aufs Neue deines prachtvollen Anblicks“, sagt Sasaney. „Lang lebe die Königin.“
Ich lächele.
Gil setzt sich daraufhin neben mich auf den Thron, und ich bedeute dem Volk mit einer Handbewegung, mir Gehör zu schenken.
Die Wesen – Bewohner des Palastes, Wanderer, Gnome, Zentauren, Fabelwesen aller Art – verstummen zugleich.
„Liebe Freunde“, beginne ich. „Wie ihr wisst, befindet sich der Underground seit fast 2 Jahren im Frieden, im Einklang mit sich selbst und für uns Wanderer sogar im Einklang mit der oberen Welt. Ich bin von größtem Respekt und voller Ehrfurcht darüber, wie ihr – der gesamte Underground – dazu beigetragen habt, dass dies so ist.“
„Faith! Faith!“, ruft die Menge aus.
„Aber ich will ehrlich sein“, bekunde ich nach einer Pause. „Niemand weiß, ob dies so bleiben wird. Niemand weiß wirklich, ob es nicht irgendwo tief im Verborgenen Gegner gibt, die unser jetziges friedliches Leben stören wollen. Das Gute hat gesiegt, aber das Düstere kann eines Tages wieder zurück kommen. Wir wissen es nicht.“
Ich blicke nach unten und sehe kurz darauf wieder auf.
„Seit einger Zeit plagen mich seltsame Träume“, berichte ich nun das, was ich heute zum ersten Mal öffentlich dem Volk des Underground mitteile. „Gil, mein Freund und Berater, sagt mir, dass es keinen Grund zur Sorge bedeutet, und ich glaube ihm. Jedoch sehe ich diese Sache mit Vorsicht – ja, fast mit Besorgnis. Ich werte meine Albträume als irgendein Zeichen, welches ich noch nicht richtig deuten kann. Als eure Königin erwartet ihr Loyalität und Ehrlichkeit von mir, so wie ich sie von euch erhalte. Und so möchte ich euch sagen: Habt keine Angst. Aber sollten euch ungewöhnliche Dinge auffallen, oder jemand von euch sollte etwas Ungewöhnliches hören oder sehen, so scheut euch nicht, bis in meine Gemächer vorzudringen, um es mir umgehend mitzuteilen. Wir alle wünschen uns, dass der Underground so friedlich bleibt, wie er jetzt ist. Der Krieg ist vorbei“, beende ich meine Rede, und spreche zeitgleich die Worte aus, die ich jedes Mal spreche: „U für Underground.“
„U für Underground“, erwidert das Volk.
Der Sprechchor hallt nach, als Gil und ich den Thronsaal verlassen, um hinaus zur Treppe zu gehen. Langsam schreiten wir der majestätischen, golden schimmernden Wendeltreppe entgegen. Schritt für Schritt gehen wir die Stufen hinauf, ohne ein Wort zu sagen.
Wirklich – jedes Mal bin ich noch völlig geblitzt von diesem immens schönen Anblick.
Als wir fast auf der obersten Stufe stehen, erkenne ich schon die Baumwurzeln aus der Decke ragen, die zu den Bäumen über uns in der oberen Welt gehören müssen.
Ich drehe mich noch einmal um und blicke auf das Dorf, welches das Schloss umgibt. Ich sehe das Schloss mitsamt seinen vielen Häusern, seinen umliegenden Feldern und vor allem dem majestätischen, hohen Turm von hier in seiner vollen Montur.
Mein Blick fällt auf den höchsten Turm und die großen Fenster an seiner Turmspitze. Dort ist mein Gemach.
„Faith, kommst du?“, höre ich Gil sagen.
„Ja“, sage ich.
Und als wir in die obere Welt hinein schreiten – heimlich und unsichtbar für jeden Menschen in der oberen Welt, dem der Underground nicht bekannt ist – ist es, als würde die Zeit still stehen.
Das Loch in der Mitte der Straße ist frei, als wir hinaus kommen. Wir schreiten hindurch. Und kaum, dass wir es verlassen haben, schließt es sich. So wie es das immer tut, wenn wir hindurch schreiten.
Niemand hier oben hat es gesehen. Niemand hier sieht das Loch, das in den Underground hinab führt. Niemand weiß, dass es existiert.
Ich blicke mich noch einmal um, um mich zu vergewissern.
Die Autos fahren, Fußgänger laufen. Geräusche der Stadt ertönen wieder.
Das geheimnisvolle Loch ist nicht mehr da.
Ich mag den Campus. Die UCLA ist eine der bekanntesten Universitäten der Vereinigten Staaten und genießt ein sehr hohes Ansehen. Gut, es ist nicht Harvard, aber es ist die Universität, an der Gil und ich studieren. Und mit unseren Fächern – Wissenschaft und Mythologie – haben wir hier die größten Chancen.
Ich habe oft darüber nachgedacht, wo mich dieses Studium hinführen wird. Der Job, in dem ich vorher arbeitete – die Marketingbranche – hat mich überhaupt nicht erfüllt, und ich möchte nicht gerne daran zurückdenken. Jetzt, vor allem, nachdem ich den Underground kenne, ist das Wissenschaftliche sehr viel interessanter für mich. Und verbunden mit dem richtigen Touch von Mythologie ist es genau das Richtige. Nur gut, dass Gil und ich relativ schnell einen Platz bekommen haben. Ich war seinerzeit schon aus meinem alten Job raus und praktisch arbeitslos, und Gil suchte nach Jahren im Underground sowieso wieder etwas, womit er hier in der oberen Welt Fuß fassen konnte. Ich bin 26, Gil ist 23, da ist es noch nicht zu spät.
Hier fühle ich mich auch wohl. Unsere Kommilitonen sind nett, und der Campus ist sehr weiträumig und bietet neben den Unterrichtsräumen auch jede Menge anderer Dinge – Sportzentren, Cafeterias, Geschäfte und sogar ein Kino und ein Theater. Fast ist das hier ja eine ganze Stadt. Und der zum Campus gehörende Park ist sensationell. Sehr akkurat angeordnet, genau wie ich es mag.
Natürlich weiß niemand unserer Kollegen etwas über den Underground. Das ist so eine Art Schwur, den wir Wanderer uns machen – wenn wir hier oben sind, reden wir nicht über den Underground und vermeiden tunlichst, Fremden irgendwelche Anhaltspunkte darüber zu geben, wo wir wohnen und wer wir sind.
Ich als Königin des Undergrounds und Minthesana halte mich sowieso ganz streng daran. Diejenigen aus der oberen Welt, die ihn kennen und in beiden Welten wandern können, entscheiden selbst, wo sie sein möchten und wohin sie gehen. Das ist unsere oberste Direktive.
Wir haben noch etwa eine Stunde Zeit bis zur heutigen Vorlesung, also setzen Gil und ich uns eine Weile in die Cafeteria im Park und trinken an diesem wunderschönen sommerlichen Morgen eine heiße Tasse Kaffee.
Ich sehe Gil an. Er wirkt den ganzen Morgen schon ein bisschen nachdenklich, finde ich. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die nachdenklich ist, denn noch immer lässt mich dieser Albtraum über Laura von vergangener Nacht nicht los.
„Gil, ist alles okay?“, frage ich ihn schließlich.
Gil nickt mir zu.
„Ich merke nur, dass du heute irgendwie ruhig bist“, versuche ich nachzuhaken. „Du kannst es mir ruhig sagen, wenn irgendetwas ist.“
„Ja, Engelchen“, antwortet er. „Ich weiß.“
Ich blicke ihn fragend an, aber er redet nicht weiter. Daraufhin belasse ich es dabei und frage nicht weiter nach.
„Es ist schon gut“, sagt Gil nach Minuten. „Es ist nichts.“
„Mit uns Beiden ist aber alles in Ordnung, oder nicht?“, möchte ich dann doch wissen.
„Faith, Schatz“, sagt Gil zu mir. „Natürlich ist es das. Warum machst du dir darüber Gedanken, dass es anders sein könnte?“
„Das mache ich ja nicht“, entgegne ich. „Es ist mir nur aufgefallen, dass du heute sehr ruhig bist.“
Gil atmet leicht genervt aus, woraufhin sein Blick dann über den kleinen See wandert, der direkt an die Cafeteria grenzt. Er sieht einem Boot nach, welches dort fährt.
„Also, gut“, sagt Gil schließlich. „Du willst wissen, was mit mir los ist?“
Ich sehe ihn an und höre ihm stumm zu.
„Weißt du, ich verstehe, dass dieser Albtraum, den du hattest, für dich erschreckend sei mag. Aber hast du dich gefragt, was es für mich bedeutet? Weißt du, dass ich immer noch sehr große Schuldgefühle wegen Lauras Tod habe?“
Ich nehme seine Hand in meine und streichle ihn.
„Faith, ich hätte verhindern sollen, dass Laura stirbt. Ich hätte es verhindern können, aber in dieser Minute, als diese seltsame, fremde Frau plötzlich aus dem Nichts kam und sie tötete, war ich dazu nicht in der Lage.“
„Gil, ich weiß, wie du dich fühlst.“
„Nein, Faith, das weißt du nicht“, entgegnet er. „Ich denke, irgendwie wird das immer zwischen uns stehen.“
Ich sehe Gil ruhig in die Augen und blicke dann auf den See hinaus.
„Gil, vielleicht hätte ich dir damals nicht diese Vorwürfe machen sollen. Du warst besessen in deinem Geist, deine Gedanken wurden fremd geleitet. Es gab irgendwie zwei von dir – einen Gil, der mein Freund war, und einer, der mein Gegner war. Aber der Gil, der mein Gegner war, den gibt es jetzt nicht mehr. Okay?“
Gil macht eine Geste in meine Richtung, die ich nicht einordnen kann. Ich denke, ihn macht die Tatsache, dass ich noch immer nachtragend sein könnte, viel trauriger als die Tatsache, dass er Schuldgefühle wegen Lauras Tod hat.
„Es war nicht deine Schuld, okay, Schatz?“, versuche ich ihn zu beruhigen.
„Gehen wir los“, meint er daraufhin. „Die Lesung fängt gleich an.“
Wir stehen auf und machen uns auf den Weg zu dem Gebäude, wo wir heute eine spannende Lesung zu erwarten haben. Es ist eine neue Dozentin, die seit heute hier an der Universität unterrichtet. Ich weiß noch nicht, was auf uns zukommt, aber das Thema – Mythologie in der Wissenschaft anhand belegter Beispiele – scheint mir schon vom Titel her sehr einladend zu sein.
Als wir ankommen, sind die meisten Kommilitonen bereits auf ihrem Platz. Ich sehe es zuerst nicht, aber als ich mich setze – Gil nimmt neben mir Platz – bemerke ich, dass die Dozentin bereits vorne am Pult sitzt und scheinbar in ein Buch vertieft ist, welches vor ihr auf dem Tisch liegt.
Die blonde Frau ist eher unscheinbar, ein bisschen verschlossen. Dass sie wohl offenbar keine Notiz von uns Studenten nimmt, untermauert diesen Gedanken.
Nur langsam verstummen die einzelnen Gespräche. Und als es dann ganz still ist, blickt sie endlich auf.
Merkwürdig – ihre stahlblauen Augen sind mir eben nicht aufgefallen. Aber irgendetwas an ihnen macht diese Dozentin zu etwas Besonderem, in welcher Form auch immer. Der Blick, der mich daraufhin trifft, lässt mich vor Ehrfurcht erschaudern. Ich weiß nicht, warum.
„Eigenartige Frau“, bestätigt Gil, noch bevor die Dozentin zu reden beginnt.
Ich nicke Gil zu.
„Liebe Studienkolleginnen und Studienkollegen“, beginnt die Dozentin daraufhin. „Mein Name ist Linnea Andersson, und ich bin seit heute hier Dozentin an der UCLA. Sie wissen, für welche Lesung Sie sich hierbei entschieden haben?“
Bestätigende Rufe und Gesten der Kollegen sind zu hören und zu sehen.
„Mythologie sei keine Wissenschaft, sagen viele uns bekannte Personen aus Geschichte und Forschung. Stets werden diese beiden Fachgebiete strikt getrennt. Aber in dieser Lesung beweisen wir, dass es anders ist.“
Es ist eigenartig. Diese fremde Frau beginnt zu reden und scheint damit so gut wie jeden meiner Kollegen – inklusive Gil und mir – in den Bann zu ziehen. Das passt mir gerade gar nicht, stelle ich fest. Ich mag nicht gerne das Gefühl, unter der Kontrolle von jemandem zu sein.
„Ich werde euch nun eine Geschichte berichten. Wenn ich fertig bin, sollt ihr zunächst entscheiden, ob ihr es für den Teil eines Fantasy-Romans haltet, oder ob ich euch eine wahre Begebenheit geschildert habe. Seid ihr bereit?“
Mir fällt auf, dass die Dozentin in ihrer Anrede plötzlich persönlich wird. Eigenartig. Sollen wir sie nun mit dem Vornamen anreden, oder ist sie Mrs. Andersson?
Meinen Gedanken habe ich noch nicht zu Ende gedacht, da beginnt sie schon aus ihrem Buch zu lesen – offenbar das gleiche Buch, in das sie so vertieft war.
Die Stimme des Chors hallt leise durch die Nacht. Man kann nicht genau feststellen, wo der Gesang herkommt. So oder so passt er auch gar nicht richtig, denn es ist eine nasskalte Nacht. Schneeregen und dichter Nebel hüllt die einsame Seitenstraße ein, begleitet von einem unangenehmen, eisigen Wind.
Wie spät mag es sein? 23 Uhr, vielleicht schon nach Mitternacht?
Nach einer Weile verstummt der Chorgesang, wo immer er her kam, und an diesem seltsamen, abgeschiedenen Ort wird es ganz ruhig.
Sie schaut kurz auf und vergräbt daraufhin ihren Kopf wieder unter dem Kragen ihres dicken Wollpullovers. Sie zittert. Ihre Beine zucken rhythmisch, und ihr Atem bildet kleine Wolken vor ihrem Gesicht.
Für eine Sekunde sieht es so aus, als dass sie etwas gesagt hat, aber wahrscheinlich ist das nur der Schatten, der über ihre Lippen huscht.
Die Brücke, unter der sie sitzt, ist nicht groß und nicht sehr hoch, aber hier unten ist es wenigstens trocken.
Wieder sieht das Mädchen auf. Ihre dunkelblonden Haare hängen ihr ins Gesicht, ihre Frisur ist zerzaust, und immer wieder versucht sie, sich die Strähnen von den Augen zu wischen. Noch immer beben ihre Lippen vor Kälte.
Die Schritte kommen näher. Als sie sie hört, blickt sie auf. Schnell huscht sie hinter einen Pfeiler und versteckt sich. Noch tiefer vergräbt sie ihren Kopf in ihrem Wollpullover und schnürt ihre halb offene Jacke fest zu, unter der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.
Langsame Schritte. Sie hört jeden einzelnen.
Ist es die Kälte, oder ist es ihre Angst?
Sie lehnt sich ganz eng an den Brückenpfeiler und umklammert ihn fast mit ihren Armen. Es ist, als wolle sie eins werden mit ihm, damit sie unsichtbar bleibt.
Aber es ist zu spät. Der ältere Mann hat sie bereits erspäht. Langsam kommt er auf sie zu. Der Klang seiner Schritte hallt unter der Brücke wieder.
Sie drängt sich ganz dicht an den Pfeiler und schließt die Augen. Plötzlich spürt sie die Hand auf ihrer Schulter. Nicht fest, aber bestimmt, dreht der Mann sie um, so dass er in ihre Augen sehen kann.
„Wusste ich es doch, dass sich hier jemand versteckt hält“, grummelt der alte Mann sie an. „Was tust du hier, so spät nachts und ganz alleine?“
Das Mädchen zittert unverändert. Vorsichtig blickt sie ihn durch ihre fast geschlossenen Augen an und wendet schließlich ihren Kopf zur Seite, ohne etwas zu sagen.
„Ein Mädchen in deinem Alter sollte nicht nachts alleine herum laufen“, spricht der Mann mit seiner sonoren Stimme.
Das Mädchen betrachtet sein graues, schütteres Haar, wie es sich im Wind bewegt.
„Ich bin 21“, sagt sie schließlich fast flüsternd. „Es ist meine Sache, was ich nachts mache.“
„Du siehst aus wie 14 oder 15“, sagt der alte Mann ungläubig.
„Ich bin 21“, wiederholt das Mädchen leise.
Erst dann lässt sie den Brückenpfeiler los und setzt sich auf einen Mauervorsprung. Der ältere Mann nimmt neben ihr Platz und zündet sich eine Zigarette an.
Fast angeekelt wedelt das Mädchen mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht den Rauch weg und sieht den älteren Mann mit einem verachtenden Blick an.
„Was dagegen, wenn ich mich eine Weile zu dir setze?“, fragt der alte Mann unbeeindruckt.
Das Mädchen schüttelt den Kopf.
„Ich bin nicht mehr gut zu Fuß“, sagt der Mann. „Und bis zu mir nach Hause ist es noch weit. Da muss ich ab und an Pause machen.“
Das Mädchen nickt.
„Du bist nicht sehr gesprächig“, stellt der Mann mit einem fragenden Seitenblick fest. „Hast du einen Namen?“
Die Wolke ihres Atems hüllt ihr helles Gesicht fast ganz ein.
„Ginny“, wispert sie daraufhin leise.
„In Ordnung, Ginny“, sagt der alte Mann. „Du musst keine Angst haben. Ich tu dir nichts, okay? Ich sitze nur eine Weile hier, und sobald meine Beine können, werde ich weitergehen.“
Ginny blickt den alten Mann von der Seite an. Ihre Augen scheinen mitfühlend zu sein, aber sieht man genauer hin, kann man etwas ganz anderes in ihrem Blick erkennen.
Was immer es ist, der alte Mann erkennt es nicht.
„Wohnst du alleine?“, fragt die junge Frau den Mann.
Er atmet tief aus und wendet sich ihr dann zu. „Meine Frau ist lange schon tot“, sagt er. „Wir hatten keine Kinder. Ich habe keine Familie mehr. Ja, ich lebe alleine.“
Ginny zittert. Der Mann merkt das nicht, und wenn, denkt er vielleicht, sie zittert vor Kälte. Er ahnt nicht, dass dies nicht so ist.
„Du hast niemanden mehr?“, will Ginny sichergehen.
Der Mann nickt.
„Und niemand wird dich vermissen?“, stellt Ginny ihm die Frage jetzt ganz direkt.
„Warum fragst du so etwas?“, entgegnet der Mann. „Hast du vor, mich zu töten? Nur zu. Ich habe nichts mehr vom Leben zu erwarten.“
Ginny atmet heftig. Sie bebt innerlich. Ihr Körper vibriert. Sie weiß, wie sehr sie es hasst. Sie weiß, dass sie gezwungen ist, es zu tun, da sie sonst selbst stirbt. Und so sehr Ginny ihr Leben selbst hasst – so wie der alte Mann vermutlich seines – so sehr möchte sie nicht sterben. Es ist der nackte Überlebenstrieb, der sie am Leben erhält, und der sie Dinge tun lässt, die sie unter normalen Umständen niemals tun würde.
Ein letzter Blick. Ein letzter Blitz aus seinen Augen, der Ginny mitten ins Herz zu treffen scheint.
Und schon in der nächsten Sekunde liegt der alte Mann tot auf dem Boden.
Ginny kauert neben ihm. Ihr Blick ist tieftraurig. Ihre Augen sind mit Wasser gefüllt. Ihre Lippen sind rot, wahrscheinlich blutverschmiert.
Sie sieht ihn noch einmal an. Dann steht sie leise auf. Sie läuft einige Schritte von diesem düsteren, gruseligen Ort unter dieser Brücke davon. Als sie weit genug entfernt ist, beginnt sie, zu rennen.
Auf der Landstraße angekommen, rennt Ginny noch schneller. Fast wie der Blitz und schneller als die vorbeifahrenden Autos rennt sie durch die dunkle Nacht. Ab und an wird sie von einem Scheinwerfer gestreift, aber das interessiert sie nicht. Sie kann ja nichts dafür, sagt sie zu sich selbst. Wenn jemand fragen sollte – sie kann ja nichts dafür.
Ja, sie hasst es. Sie hasste es schon immer. Aber ihr bleibt keine Wahl. Das weiß sie. Es ist so, und es wird immer so sein.
Der Ortsteil, den Ginny nach einiger Zeit erreicht, liegt etwa 20 Kilometer von der Innenstadt entfernt. Er ist nicht groß. Eigentlich besteht er nur aus einigen Häusern, und diese sehen so aus, als dass sie von eher wohlhabenden Menschen bewohnt werden. Offenbar ist es eine gute Gegend.
Als Ginny den Ort durchschreitet, ist längst alles still, niemand mehr ist auf der Straße. Ginny verlangsamt ihre Schritte und betrachtet eine Straßenlaterne. An dieser sieht sie den Nebel sanft vorbei ziehen und bemerkt auch die kleinen Regentropfen, die den Lichtschein durchwandern.
Ginny wischt sich den Schweiß von der Stirn. Weil ihr warm ist, öffnet sie ihre Jacke wieder.
Langsam läuft sie über die Hauptstraße, bis sie den Ortsausgang erreicht. Daraufhin biegt sie an der letzten Ampel rechts ab, in einen Nahe gelegenen Waldweg.
Die Lichter des Orts scheinen langsam zu erlöschen. Ginny dreht sich noch einmal um. Als sie wieder nach vorne sieht, steht sie vor einer großen Mauer – dunkel, fast nicht sichtbar im nächtlichen Schein. Nur das Licht des Mondes wirft ihre Schatten auf den Boden.
„Es ist das Mondlicht da draußen“, singt Ginny leise. „Bringe mich weg von hier und lasse mich sterben.“
Sie stockt einige Sekunden.
„Ich wünschte, ich wäre tot“, flüstert sie fast unhörbar. „Aber ich kann nicht sterben.“
Plötzlich tut sich ein Tor in der Mauer auf. Ginny sieht eine Weile durch diese geheimnisvolle Türe. Sie wartet einige Sekunden, dann schreitet sie hindurch.
Betretene Gesichter und rätselnde Blicke unter den Studienkollegen machen sich breit.
„Nun, was ist euer Eindruck?“, fragt die Dozentin nach.
Keiner traut sich etwas zu sagen.
„Also, bis zur nächsten Lesung bitte ich euch, euch Gedanken darüber zu machen, ob diese Geschichte wahr ist, oder Teil eines Romans, den irgendjemand geschrieben hat.“
Ganz gefesselt von den Worten der Dozentin gehen die meisten Kolleginnen und Kollegen schließlich aus dem Saal.
„Faith, ist alles okay?“, fragt Gil mich.
Ich schüttele den Kopf.
„Ich habe ein ganz ungutes Gefühl“, sage ich zu ihm. „Ein total ungutes Gefühl.“
„Komm, gehen wir zur Bahn in Richtung Innenstadt. Es wird Zeit, in den Underground zurück zu gehen“, schlägt Gil vor.
Ich werfe ihm anhand unserer Abmachung, den Underground hier oben nicht zu erwähnen, einen ernsten Blick zu. Daraufhin gehen wir.
An der Bahn angekommen, sage ich immer noch kein Wort. Gil genauso wenig.
Plötzlich – die Bahn ist schon auf halbem Weg in die Innenstadt – sehe ich diese fremde Frau zwei Sitzplätze weiter sitzen. Unsere neue Dozentin. Und wieder ist sie in ihr eigenartiges Buch vertieft. Ich erkenne es genau. Es ist das gleiche Buch, welches sie bei der Lesung auf ihrem Pult liegen hatte. Das, aus dem sie gelesen hatte.
Ich stoße Gil wortlos an und zeige unbemerkt in ihre Richtung.
„Sie wird wohl einfach den gleichen Weg haben“, versucht Gil mich zu beruhigen.
„Ich fühle mich beobachtet“, stelle ich jedoch fest.
Die Dozentin blickt kurz auf und liest daraufhin weiter in ihrem Buch. Ob sie uns bemerkt hat? Ob sie uns verfolgt?
Was ist, wenn sie sieht, wie wir in den Underground zurück gehen? Das kann sie eigentlich nicht, denn nur die Wanderer sehen seinen Zugang. Das ist doch so, oder?
Den Kopf noch immer voller Gedanken steigen Gil und ich am Hollywood Boulevard aus. Wir warten, bis die Bahn weg ist und sich daraufhin der Zugang inmitten der Straße öffnen soll, der uns in den Underground zurück bringt. Nur für uns sichtbar.
Daraufhin bleibt die Zeit stehen. Die Autos halten, die Fußgänger frieren ein, die gesamte Szenerie wird zu einem Foto, bewegungslos, tonlos. Alles ist still.
Und in der Mitte der Straße erscheint auf einmal das Loch – etwa drei mal drei Meter breit. Stufen führen hinab. Gil geht voran, und ich folge ihm.
Die Mondfeen sind längst aufgestiegen und zaubern im Underground ein sachtes Abendrot, welches sich ganz schwach über den Horizont erstreckt.
Noch immer bin ich mit meinen Gedanken bei dieser eigenartigen Lesung. Ich weiß auch nicht, warum. Aber Gil scheint es nicht anders zu gehen. Seit wir zurück sind, hat er kein Wort mehr gesagt.
Ich möchte ihn eigentlich nicht fragen, aber es beschäftigt mich zu sehr, dieses mulmige Gefühl, das ich verspüre. Noch dazu stelle ich fest, dass es nicht erst seit heute morgen so ist. Ich habe es eigentlich ehrlich gesagt schon seit ein paar Tagen, wenn nicht sogar seit ein paar Wochen. Und was ich jetzt ganz deutlich merke, ist, dass es parallel zu meinen Albträumen aufgetreten ist.
„Ich gehe noch eine Weile an das Feld“, sage ich zu Gil, während er mir zunickt und sich in unsere Gemächer zurückzieht.
Gedanken verloren stapfe ich den sandigen Weg entlang zu dem großen, endlos erscheinenden Feld, das unser Schloss umgibt. Ich denke nach, will aber nicht nachdenken.
Da ist eine einsame Bank. Im Schatten des Mondfeen-Lichts setze ich mich und blicke hinauf zu dem Licht der Sterne über mir.
Die Sterne.
Ich denke nach, dass sie eigentlich auch nur eine von den Mondfeen gezauberte Simulation sind. Hier im Himmel der Welt unter unserer Welt gibt es ja keine Sterne. Es gibt auch keinen Himmel. All das wird von den Lichtfeen gezaubert. Morgens steigen die Frühfeen auf und bereiten uns einen schönen Sonnenaufgang. Am Tag sind die Sonnenfeen aktiv. Abends zaubern die Mondfeen das nächtliche Licht des Mondes und der Sterne. Und wenn gegen 10 Uhr die Nachtfeen aufsteigen, leuchtet alles in einem friedlichen Schwarz.
Ich erinnere mich noch sehr gut, als der geheimnisvolle Junge der Willenlosen es mir damals erklärt hat.
Die Willenlosen.
Auch sie gibt es nicht mehr. Sie haben nach dem gewonnenen Krieg gegen die Abtrünnigen, von denen sie unterjocht wurden, ihren Willen zurück erhalten und leben jetzt verteilt im gesamten Underground.
Für eine Minute stelle ich mir vor, was wohl geschehen wäre, wenn ich damals nicht diese Treppe hinabgestiegen wäre. Was wäre wohl, hätte ich das Loch, das hierher hinunter führt, nicht gefunden, oder es hätte mich nicht gefunden?
„Es wird kalt heute Nacht“, höre ich plötzlich ein sanftes Wispern neben mir.
Im Dunkeln versuche ich zu erkennen, ob jemand hier ist. Aber ich sehe niemanden.
„Wer bist du? Wo bist du?“, frage ich in die Dunkelheit hinein. Auf der Bank neben mir sitzt offenbar niemand. Aber diese weibliche Stimme klingt so nah.
„Faith, ziehe dir lieber eine Jacke an. Es wird sehr kalt heute Nacht“, höre ich die Stimme sagen.
Ich stehe auf und sehe noch immer niemanden.
„Okay“, sage ich schließlich. „Wer immer du bist, du musst keine Angst haben. Ich sehe dich nicht, aber ich weiß, dass du da bist. Du kannst ruhig raus kommen. Trau dich ruhig.“
„Nein“, sagt die Stimme, die offenbar zu einer jungen Frau gehört.
„Bist du ein Wesen, das man nicht sehen kann?“, will ich wissen.
„Ja.“
„Gut.“ Ich setze mich wieder. „Aber ich höre dich.“
Plötzlich zittere ich, weil ich nicht weiß, ob das real ist, was hier gerade geschieht.
„Du wirst mich auch sehen können“, sagt das Mädchen. „Aber es ist zu gefährlich, mich zu zeigen.“
„Bist du ein Geist oder so etwas Ähnliches?“
Auf einmal kommt ein kleiner matter Lichtschein an meine Augen. Und dann sehe ich neben mir eine dunkelblonde, junge Frau sitzen. Sie trägt eine Jacke, die sie sich fest zuhält, und scheint ihren Kopf in ihrem Kragen zu verstecken.
„Ich bin Faith“, sage ich nach Minuten.
„Ich weiß, wer du bist. Sie alle hier wissen, wer du bist.“
„Bist du schon immer hier?“, versuche ich in Erfahrung zu bringen. „Du siehst aus wie ein Mensch, aber ich glaube, ein Wesen wie dich habe ich noch nicht hier im Underground gesehen.“
Fast ängstlich blickt das Mädchen mich an. Sie mag Anfang 20 sein, aber sie sieht aus wie ein Kind, angsterfüllt und schwach.
„Hör mal“, sage ich zu ihr, „du musst mir nicht sagen, wer du bist oder wo du herkommst. Ich sage dir aber, hier bist du sicher. Dieser Ort ist der Palast der Wächter. Alle umliegenden Felder gehören dazu. Dieser Ort ist im gesamten Underground unfehlbar. Jeder, der hier ist, unterliegt dem Schutz der Königin des Underground, der Minthesana.“
Die junge Frau blickt mich ehrfürchtig an.
„Du bist die Königin des Underground, Faith Nawroth“, sagt sie leise.
„Ja“, antworte ich.
„Gehe nicht wieder in die obere Welt zurück“, wirft sie nach. „Es ist zu gefährlich.“
Ich wundere mich über die Worte der verängstigten, jungen Frau. Aber ich möchte ihr nicht noch mehr Angst machen.
„Wir gehen jeden Tag nach oben und kommen jeden Abend wieder“, erkläre ich ihr. „Es ist noch niemals etwas Schlimmes geschehen, seit der Underground in Frieden lebt.“
Das Mädchen schüttelt heftig ihren Kopf.
„Trugschluss“, sagt sie stotternd und fast flehend. „Der Underground lebt nicht im Frieden.“
Ernst blicke ich das Mädchen an.
„Ich hatte es im Gefühl“, denke ich laut.
„Ich weiß“, sagt sie. „Ich habe versucht, es dir zu sagen.“
„Was?“, frage ich. „Was willst du mir sagen?“
Ich merke, dass das Mädchen durchsichtig wird. Wenig später wird sie wieder unsichtbar. Aber den Nachhall ihrer Stimme kann ich noch hören.
„Gehe nicht wieder hinauf“, höre ich sie rufen, ehe sie ganz verstummt.
„Bist du noch hier?“, frage ich und blicke mich um.
Aber es ist genauso dunkel und ruhig wie zuvor. Und mit einem Mal spüre ich wirklich, dass ich für eine Zeit lang zweifle, dass dies gerade wirklich geschehen ist.