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Für Kira bricht eine Welt zusammen, als sie den bedeutsamsten Teil ihres Lebens verliert. Doch trotz der Hoffnungslosigkeit und der noch immer drohenden Gefahr gibt sie nicht auf. Gemeinsam mit ihrem Team und dem zwielichtigen Geschäftsmann Kyan wagt sie sich in den Untergrund Talbrems, wo keinerlei Gesetze mehr gelten. Denn ihre größte Hoffnung ist es, herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist, dass die Regentin ihnen stets einen Schritt voraus zu sein scheint …
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Seitenzahl: 612
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
1 – Das Treffen
2 – Der Verräter
3 – Was passiert ist, ist passiert
4 – Niemals die Hoffnung aufgeben
5 – Nichts als Probleme
6 – Hass und Rache
7 – Mein Cousin Lucas
8 – Der Plan nimmt Form an
9 – Josephines Schatten
10 – Der Kjell-Retter-Klub
11 – Was bisher geschah …
12 – Der Plan
13 – Pompös und geheim
14 – Schräger Tattoo-Trend
15 – Granny-Voodoo-Baba
16 – Alles geklärt
17 – Pläne schmieden
18 – Auf Eis gelegt
19 – Von der Ratte zum Schwan
20 – Nemesis’ Party
21 – Der Escort-Liebhaber
22 – Plan B wie: Plan geht in die Hose
23 – Die erste Spur
24 – Abwarten
25 – Unterschätzt
26 – Die Schnepfe kehrt zurück
27 – Geduld üben und Vertrauen haben
28 – Stück für Stück
29 – Der Ort der Erinnerungen
30 – Einen Schritt näher
31 – Wie Schuppen von den Augen
32 – Das Land der Zeitlosen
33 – Die Flucht
34 – Das Sigillen-Problem
35 – Ein seltsamer Kjell
36 – Duschpartys und Quietscheentchen
37 – Trinkspiele lassen erinnern
38 – Die gemeinsten Freunde, die man haben kann
39 – Die Ruhe vor dem Sturm
40 – Vera
41 – Kjell und Luca
42 – Der Talismon
43 – Trügerische Wahrheit
J. K. Bloom
Das Vermächtnis von Talbrem
Band 3: Trügerische Wahrheit
Fantasy
Das Vermächtnis von Talbrem (Band 3): Trügerische Wahrheit
Für Kira bricht eine Welt zusammen, als sie den bedeutsamsten Teil ihres Lebens verliert. Doch trotz der Hoffnungslosigkeit und der noch immer drohenden Gefahr gibt sie nicht auf.
Gemeinsam mit ihrem Team und dem zwielichtigen Geschäftsmann Kyan wagt sie sich in den Untergrund Talbrems, wo keinerlei Gesetze mehr gelten. Denn ihre größte Hoffnung ist es, herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist, dass die Regentin ihnen stets einen Schritt voraus zu sein scheint …
Die Autorin
J. K. Bloom schreibt schon, seit sie elf Jahre alt ist. Das Erschaffen neuer Welten ist ihre Leidenschaft, seitdem sie das erste Mal ein Gefühl für ihre Geschichten bekam. Sie ist selbst abenteuerlustig und reist sehr gern. Wenn sie ihre Nase nicht gerade zwischen die Seiten eines Buches steckt, schreibt sie, beschäftigt sich mit ihren zwei Katzen oder plant schon die nächste Reise an einen unbekannten Ort.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Februar 2023
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Denise Mallon
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-211-3
ISBN (epub): 978-3-03896-212-0
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Schnee bedeckt die Gehwege Talbrems und türmt sich zu einer knirschenden Schicht zusammen, in der meine Stiefel knöcheltief versinken. Ich ziehe meinen Schal über die Nase und bemerke, dass mein Atem durch die Lücken kleine Wölkchen hinterlässt. Es ist eiskalt, dunkel und ich hasse den brennenden Frost, besonders im Winter.
Ich zähle im Kopf meine Schritte, rede mir ein, dass ich es nicht mehr weit habe, bis ich das Café an der Ecke der Aspen Street erreiche.
Meine Hände stecke ich tief in die Manteltaschen und versuche, das Beißen auf meiner Haut zu ignorieren. Eigentlich hätte ich den Iren Arran dafür umbringen können, dass er mich nicht bis zum Café fahren konnte. Ein Kilometer mag in manchen Ohren nicht viel klingen, aber besonders mit Schnee unter den Sohlen kann er sich lange hinziehen. Doch für die Mission war es wichtig, dass mich niemand dabei beobachtet, wie ich aus einem Auto steige. Ich könnte natürlich einen Unsichtbarkeits-Tali benutzen, der Schnee würde aber meine Schritte verraten.
Schließlich erkenne ich endlich das unscheinbare kleine Eckhaus, welches durch die bloße Neonleuchtschrift »Taldus Leckerbissen« hervorsticht. Alles andere wirkt schlicht und wird in einem einfachen Weiß gehalten.
Meine Schritte werden schneller, da ich es kaum erwarten kann, mich in dem beheizten Gebäude aufzuwärmen. Als ich endlich die Tür erreiche, drücke ich diese auf und ein kleines Glöckchen begrüßt mein Eintreten mit einem Klingeln. Damit ziehe ich einige Blicke auf mich, die mich neugierig mustern.
Um dem unangenehmen Starren auszuweichen, steuere ich die hintere Ecke des Raumes an und setze mich auf ein knatschrotes Polsterkissen. Das Café wirkt mit seinen purpur-schwarzen Farbkombinationen ungewöhnlich, dennoch gemütlich.
Da ich noch ein wenig Zeit habe, bevor ich mich auf das Wesentliche konzentrieren muss, greife ich zu einem Zeitungsständer, der sich direkt neben meinem Tisch befindet, und schnappe mir ein aktuelles Magazin.
Auf der ersten Seite entdecke ich ein Porträt von Kjell Evensen. Das Bild ist bereits etwas älter, da er auf dem Foto mit seiner verschwundenen Schwester Vera zu sehen ist. Der Anblick verpasst mir einen schmerzhaften Stich ins Herz und lässt Sehnsucht in mir aufkeimen. Neugierig überfliege ich die Überschrift: »Ist er das zweite Opfer?«
Ich schnaube verächtlich. Das fällt euch aber früh auf.
Meine Augen gleiten über die Zeilen des Klatsch-Artikels.
Die älteste Tochter von Michelle und Henrik Evensen wurde nach aktuellem Kenntnisstand vor vier Jahren am späten Abend entführt und seitdem nie wieder gesehen. Nur ein verlassener Wagen mit ihrer Tasche und dem Autoschlüssel sollen zurückgelassen worden sein. Nach zwei Jahren erklärte die Regierung sie schließlich für tot.
Vor sechs Monaten spielte sich nun ein ähnliches Ereignis erneut ab. Kjell Evensen soll in einer Wohnung, in der er offensichtlich ein heimliches Privatleben führte, von einem oder sogar mehreren Angreifern attackiert worden sein.
Ich schließe die Lider und versuche, die grauenvollen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Allerdings kehren sie jedes Mal zu mir zurück, selbst in meinen Träumen. Ich kann mich in aller Deutlichkeit daran erinnern, wie ich in dieser Wohnung stand, auf das Blutbad blickte und die Vorstellung, Kjell sei tot, über mich hereinbrach. Es spielt sich wie ein endloses Band in meinen Gedanken ab. Wieder und wieder.
Tränen bahnen sich einen Weg in meine Augen, doch ich blinzle sie weg.
Ich habe in den letzten Monaten genug geweint und beschlossen, damit aufzuhören. Meine Trauer wird ihn nicht zurückbringen, aber ich werde dafür sorgen, dass die neue Regentin Josephine, dieses falsche Biest, zur Strecke gebracht wird. Sie muss bluten. Leiden. Sterben.
Ist es also möglich, dass es sich hierbei um denselben Täter handelt? Wer hat es auf die Evensen-Familie abgesehen? Ein langjähriger Feind? Jemand aus den Reihen der Gesandten? Und wir fragen uns, wieso? Ist es Neid? Ist es ein alter Hass?
Ihr Name ist Josephine Morrell. Verräterin. Schlange. Mörderin, schreie ich in meinen Gedanken. Warum wollt ihr das nicht verstehen?
Am liebsten würde ich es über den ganzen Artikel in Großbuchstaben schreiben und mit einem Kugelschreiber einen so deutlichen Abdruck hinterlassen, dass dieser sich bis zur letzten Seite der Zeitschrift abzeichnet. Ich hasse diese Frau. So sehr.
Laut den Ermittlern gebe es bislang keine Erfolge, da die Elite keine eindeutigen Spuren finde, denen sie folgen könne. Eines sei aber sicher: Der Täter habe die Sache genau geplant und wisse, wie er vorzugehen hat.
Haben wir es hier demnach mit einem Profi zu tun?
Einem Vollprofi. Wer weiß schon, wie viele Leichen sie noch im Keller hat? Und dann regiert sie auch noch Talbrem. Eine Mörderin auf einem Thron. Große Klasse. Wie tief kann dieses Land noch sinken?
Zu hoffen bleibt für die Familie und Freunde von Kjell Evensen, dass die Elite bald auf einen Hinweis stößt und der Täter gefasst wird.
Im Journalismus bedeutet dieser Satz meistens, dass die Mehrheit ohnehin denkt, dass das Opfer – in dem Fall also Kjell – nicht mehr wiederkehrt.
Ich muss mich wirklich beherrschen, nicht spottend aufzulachen. Was stimmt mit diesen Journalisten nicht? Haben sie keine anderen Hobbys, als die Hoffnung der anderen vollkommen zu zerstören? Bisher hat niemand seine Leiche gefunden, und solange ich keine sehe, ist Kjell für mich nicht tot.
Er ist irgendwo da draußen. Das weiß ich.
Ich stecke die Zeitschrift zurück in den Ständer und verschränke die Finger vor mir auf dem Tisch. Nur wenige Sekunden danach ertönt die Melodie von LunchMoney Lewis mit dem Song Bills in meinem Kopf.
Ich verdrehe die Augen. Dieses Lied ist eine solche Ironie für Kyan, da es so gar nichts mit dem reichen Geschäftsmann gemein hat, der vermutlich noch nie in seinem Leben eine Rechnung sah. Denn darum kümmert sich sein privater Finanzberater.
Mit einem Seufzen nehme ich den Telepathie-Anruf an. An meinen Rücken kribbelt es leicht. ›Dieser Song … wann änderst du ihn endlich ab?‹
Ein amüsiertes Lachen ertönt in meinem Kopf. ›Ich mag ihn. Er macht Laune.‹
Wow, das hat er jetzt nicht wirklich gesagt. Hat er sich den Song eigentlich mal richtig angehört? Oder die Bedeutung davon verstanden?
Ich gehe nicht weiter auf das Thema ein, da diese Diskussion sowieso zu nichts führen würde. Kyan hat seinen eigenen Kopf, was mir in den letzten sechs Monaten schnell bewusst geworden ist. ›Wie du meinst. Warum rufst du an?‹
›Wollte dir nur Bescheid geben, dass sich unser Freund auf den Weg zu dir macht und ich euch ganz heimlich dabei beobachten werde.‹
Wie bitte? Wütend umfasse ich die Tischkante vor mir, sodass meine Knöchel weiß hervorstechen. Mit einem nervösen Prickeln im Nacken sehe ich mich unauffällig um. ›Hatten wir nicht eine eindeutige Regel, Kyan? Wenn er dich bemerkt, ist all das hier hinfällig.‹
›Zuckerpuppe‹, beginnt er, was mich wieder dazu veranlasst, mit den Augen zu rollen. Dieser Kosename ist sein liebster, neben den gefühlt hundert anderen, die er mir schon an den Kopf geworfen hat. Dabei hasse ich solche Bezeichnungen. Nur ein Mann auf dieser Welt darf das. ›Ich habe alles im Griff. Niemand wird auch nur ahnen, dass ich hier bin.‹
Mein Blick schweift zu den Leuten, die sich im Café befinden. Dabei bemerke ich ein junges Pärchen, welches sich verliebt in die Augen sieht, einen Mann an der Theke, der seinen Kaffee genüsslich trinkt, und eine ältere Dame in einem violetten Mantel, deren halber Lippenstift an ihrer weißen Tasse klebt.
Kyan kann ich allerdings zwischen den Menschen nicht ausmachen. Um auf Nummer sicher zu gehen, benutze ich meine geheime Gabe, die es mir ermöglicht, auf andere Talis zuzugreifen und deren Magie zu benutzen. Die meisten Steine prangen am Rücken, doch einige befinden sich auch an den Beinen oder Armen.
Ich streichle nur ganz sanft über die glatte Oberfläche der Talis, um mir in meinem Kopf ein Bild von ihnen zu machen. Als ich die Taliducz überprüfe, bleibe ich ausgerechnet bei der alten Dame mit ihrem knallroten Lippenstift verdutzt hängen. Ich kenne Kyans Talis und noch mehr entsetzt es mich, zu wissen, dass er sich an einem Illusionszauber bedient hat, der ihn wie eine alte Schrulle aussehen lässt.
›Nicht dein Ernst‹, murre ich in Gedanken. ›Was stimmt denn nicht mit dir?‹
Die alte Dame sieht zu mir herüber, prostet mir mit ihrer befleckten Tasse zu und zwinkert.
Ich sehe schnell weg. ›Irgendetwas muss doch in deiner Kindheit schiefgelaufen sein.‹
Zum Glück versteht Kyan meinen Humor, obwohl ich diesen Satz teilweise auch ernst meine.
Warum eine alte Lady? Glaubt er wirklich, dadurch würde er unauffällig wirken? Allein der grauenvolle violette Mantel aus den Sechzigern fällt einem doch sofort ins Auge.
Meine Augen gleiten wieder verstohlen zu ihm hinüber. Die alte Dame trägt so viel Schminke in ihrem Gesicht, dass man meinen könnte, sie wäre in eine Farbdose gefallen. Um die Augenlider wurde ein dicker dunkelblauer Strich aufgetragen und auf ihren Wangen prangt ein viel zu helles Rosa, das durch ihre blasse Haut nur noch mehr hervorsticht.
›Du machst Samara aus The Ring Konkurrenz‹, lache ich in Gedanken und muss mir ein Grinsen verkneifen. ›Weiß nicht, ob sie das so cool findet. Nicht, dass sie beim nächsten Mal aus deinem Fernseher krabbelt.‹
›Ach, papperlapapp.‹ Auf den Lippen der alten Dame erscheint ein beschämtes Lächeln. ›Schätzchen, du sollst nicht so mit deinen Komplimenten übertreiben, sonst laufe ich noch rot an.‹
Ich muss wegsehen, bevor ich laut lospruste. ›Du willst wirklich, dass diese Mission scheitert, oder? Das soll ernst sein!‹
Mit einem verstohlenen Blick zu Kyan bin ich dankbar dafür, dass er sich endlich von mir abgewandt hat und nun gedankenversunken aus dem Fenster sieht. Jedenfalls soll es so wirken.
Ich wende mich wieder meinen Fingern zu, die noch immer verschränkt auf dem Tisch liegen. Gerade als ich etwas anfügen will, lässt mich eine Stimme zusammenzucken.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
Die schwarzhaarige Kellnerin steht nun neben mir, und ich habe sie wohl nicht kommen sehen.
Freundlich lächle ich sie an. »Einen Kakao, bitte.«
»Sehr gerne«, erwidert sie und kehrt zurück hinter die Theke.
›Also ich trinke einen Earl Grey‹, ertönt eine grelle, hohe Stimme in meinen Gedanken, die Kyan absichtlich verstellt hat, um mir doch ein kleines Lachen zu entlocken. Zum Glück hat es niemand wirklich mitbekommen. Sein Aufzug und diese bescheuerte Stimme in meinem Kopf geben einfach ein zu lustiges Bild ab.
›Hör jetzt auf, oder ich werde echt wütend, Kyan. Diese Mission ist mir wichtig.‹
›Mein Auftritt auch‹, erwidert er.
›Welcher Auftritt? Du bist nur ein heimlicher Beobachter.‹
Er macht eine kurze Pause. ›Wart’s ab.‹
Ich unterbinde Kyans Telepathie-Anruf, um mich vollkommen auf meine Mission zu konzentrieren.
Bevor der entscheidende Moment eintritt, nehme ich aus meiner Hosentasche einen dunkelgrauen, verbotenen Tali heraus, den ich zwischen meinen Fingern drehe. Ringlose Steine sind absolut illegal in Talbrem, besitzen aber dafür stärkere Magie.
Damit niemand den Tali näher betrachten kann, umschließe ich ihn mit beiden Händen und hauche dem Stein einen Kuss zu. Mein letztes Überbleibsel von Kjell. Er hat ihn mir damals geschenkt, damit ich mir Zutritt zu seiner geheimen Wohnung verschaffen konnte. Inzwischen ist er mein Glücksbringer geworden, ohne den ich niemals das Haus verlasse.
Schnell stecke ich den Tali zurück in meine Hosentasche, wo er sicher ist.
Die Tür schwingt auf und jemand betritt den Raum.
Zwei dunkelbraune Augen sehen in meine. Ich habe natürlich meine Platzwahl sorgsam ausgewählt, sodass er mich gar nicht übersehen kann. Denn gerade weil ich allein in der Ecke sitze, statt unscheinbar zwischen anderen Leuten, fixiert er mich zuerst.
Vorsichtig hebe ich einen Mundwinkel, um ein Lächeln anzudeuten und klarzumachen, dass ich die Person bin, mit der er sich trifft.
Er kommt auf mich zu.
Zac Jule Culben ist ein ehemaliger Freund von Kjell Evensen. Er hat ihm damals den Illusions-Tali angefertigt, mit dem Kjell seine ringlosen Steine versteckt halten konnte. Auch war er es, mit dem er zuletzt gesprochen hat, bevor ihn jemand hinterrücks in seiner Wohnung angriff und anschließend entführte.
Ich habe sechs Monate gebraucht, um ihn hierherzulocken. Dank Kyan konnte ich mich als Informantin ausgeben und so ein Treffen mit Zac vereinbaren. Mein Ziel ist es, seine Gedanken auszuhorchen, um in Erfahrung zu bringen, was er weiß und ob er mit Josephine unter einer Decke steckt.
Kyan hatte ihn bereits in der Mangel, was jedoch kläglich danebenging. Nun habe ich noch eine letzte Chance bekommen, die ich unbedingt nutzen muss.
Eine Anti-Lauscher-Barriere umgibt uns, als Zac sich mir gegenüber an den Tisch setzt. Bis auf einen ganz leichten goldenen Schimmer bemerke ich sie kaum.
»Wusste gar nicht, dass eine Gesandten-Tochter für Verbrecher arbeitet«, stichelt er und grinst keck, als müsste er keine Angst davor haben, dass ihm hier etwas zustößt.
Zac bestand nämlich darauf, mich nur an einem öffentlichen Ort zu treffen, an dem es Augenzeugen gibt – aus Angst, ich könnte ihn in eine Falle locken.
Nur zu dumm, dass sein Herkommen bereits sein erster Fehler war. Er kennt mich nicht und noch weniger weiß er von meiner Gabe, die ich in den letzten Monaten trainiert und weiterentwickelt habe.
»Wer tut das in Talregnum nicht?«, stelle ich als Gegenfrage, woraufhin er allerdings nichts erwidert.
Die meisten Gesandten bedienen sich geheimer Informationen, die aus dem Untergrund kommen. Jeder hat seine kleinen Vöglein, und die Regentin besitzt neben Kyan die meisten davon.
Er zieht aus seiner Lederjacke einen Tali heraus, der eine Nachricht enthält. Vorsichtig reicht er ihn mir herüber, während ich für ihn ebenfalls einen bereithalte. Der Stein besitzt eine sehr niedrige Stärkeklasse, da er nur Stimmaufnahmen im Kopf wieder abspielt, wenn man ihn aktiviert.
Wir halten die Steine so gut in unseren Händen verborgen, dass niemand ahnt, was wir beide hier tun. »Wie lang arbeitest du schon für den Untergrund?«
Ich zucke mit den Schultern. »Eine Weile. Ich bin eine Informantin für einige Ranghöhere. Ich werde nur aktiv, wenn sich der Aufwand lohnt.«
Er hebt verdutzt eine Augenbraue, sodass ihm eine dunkle Locke in die Stirn fällt. »Und für wen arbeitest du dort?«
Ich behalte mein gut geübtes Pokerface bei. Er weiß nichts von mir und Kyans Verbindung, weshalb er nur Vermutungen anstellen kann. »Niemand freundet sich mit Ratten an. Das machen nur Dumme oder Verzweifelte.«
Zac lacht freudlos auf. »Allerdings.«
Er umschließt meine Finger, als wäre er ein verliebter Junge, der mit seiner Freundin Händchen halten will. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Seine Haut ist rau und kalt.
Obwohl es mir zuwider ist, diesen Mann zu berühren, halte ich trotz meiner Nervosität stand.
Während wir in dieser Bewegung verharren, tauschen wir mit geschickten Fingergriffen unsere Talis aus und lassen erst voneinander ab, als jeder seinen Stein sicher in den Händen hält.
Als die Servicekraft in unsere Richtung kommt, lege ich ein sorgenfreies Lächeln auf meine Lippen. Sie stellt mir den Kakao auf den Tisch und wendet sich an meine Begleitung. Ich lasse die Anti-Lauscher-Barriere für den Augenblick verschwinden, solange die Bedienung noch in unserer Nähe ist.
»Möchten Sie ebenfalls etwas trinken?«
Zac schüttelt den Kopf. »Nein, danke.«
Ah, er will das Geschäft schnell abschließen, um sich dann schleunigst aus dem Staub zu machen. So nicht, mein Freund. »Sei nicht so bescheiden.« Ich lache und sehe zu der Schwarzhaarigen. »Noch einen Kakao, bitte. Eigentlich will er einen, aber manchmal übertreibt er es mit seinem Diät-Wahn.«
Die Bedienung kichert vergnügt. »Tun wir das nicht alle?«, gibt sie rhetorisch von sich. »Ein Kakao, kommt sofort.«
Sie wendet sich zum Gehen und die Barriere erscheint wieder um uns.
Zac gefällt mein taktischer Zug überhaupt nicht. »Der geht auf dich.«
Als würde mich Geld interessieren. Hier geht es noch nicht einmal um den Informationsaustausch, den ich vortäusche. Sondern nur darum, die Wahrheit über Kjells Entführung zu erfahren. Und ich weiß, dass er mit Josephine unter einer Decke steckt.
Mit meinen neu gewonnenen Fähigkeiten und meiner Gabe werde ich das nun herausfinden, auch wenn ich Letzteres nicht gerne preisgebe. Je mehr davon wissen, umso gefährlicher wird es für mich. Es ist schon schlimm genug, dass Josephine davon weiß. Nicht alles, aber einen Teil, und das ist schon zu viel.
»Ich werde mir jetzt deine Information anhören«, meint er, was gleichzeitig mein Stichwort ist.
Zacs Info interessiert mich einen feuchten Dreck. Sie dient nur dazu, ihn für den Moment abzulenken, sodass er mein wahres Vorhaben nicht kommen sieht.
Kyan hat sich allerdings einen Spaß erlauben wollen und vollkommenen Unsinn aufgenommen.
Sein Tali enthält die Nachricht: »Nachts ist es kälter als draußen, und rechts sitzt man sicherer als im Flugzeug.«
Kyans Humor halt, mit dem er gerne jemanden auf den Arm nimmt.
Als ich spüre, dass Zac sich die Nachricht anhört, schießen meine unsichtbaren Fühler auf seinen Körper los. Behutsam legen sie sich über seine Talis am Rücken. Er besitzt ganze fünfzehn, von denen ich jene mit einer niedrigeren Stärkeklasse auslasse und mich nur auf die bedeutsameren konzentriere.
Als ich einen Lähmungs-Tali vorfinde, den die meisten Informanten besitzen, um sich in Notsituationen zu retten, aktiviere ich diesen und wende ihn auf Zac selbst an. Mit meinem Telekinese-Stein halte ich seinen Körper aufrecht, fast so wie eine Puppe, an deren Fäden ich ziehe.
Er wird stocksteif und alle seine Muskeln verharren in ihrer Bewegung. Nur seine Augen sehen mich ängstlich an.
»Deine Information interessiert mich überhaupt nicht«, lege ich die Karten offen auf den Tisch.
Bevor ich den Tali jedoch zurückgebe, verbinde ich mich heimlich mit Kyan, der immer noch als alte Dame in der Nähe sitzt. Ich leite die Nachricht, die im Stein enthalten ist, durch meinen unsichtbaren Fühler an ihn weiter.
Erst als Kyan mir ein Zeichen gibt, indem er mit der Tasse laut klirrt, weiß ich, dass er sie gehört haben muss. Ich schiebe den Tali über den Tisch, ohne dass jemand etwas mitbekommt, und verstecke diesen in seinen verkrampften Fingern.
»Hinterhältige …«, presst er zwischen seinen Zähnen hervor. »Was ist … das?«
Niemand würde sich diese Kraft erklären können, die ich bei ihm anwende. Er spürt noch nicht einmal, dass es sein eigener Tali ist, den ich für die Lähmung benutzt habe. Er denkt, ich wäre stärker als er, dabei unterdrücke ich nur seine Magie.
Ein süffisantes Lächeln legt sich über meine Lippen. »Ich kann solche Lügner und Verräter wie dich nicht ausstehen.«
Die Wut erkämpft sich wieder einen Platz in meinem Herzen, als ich daran denke, dass Kjell diesem Mann vertraut hat und Zac ihn schließlich hinterging. Doch bevor ich meinen neuen Trick an ihm anwende, möchte ich erst herausfinden, ob er mir vielleicht auch so die Wahrheit sagt.
»Kjell Evensen«, beginne ich in einem gefährlich ruhigen Tonfall. »Wo ist er?«
Ich kann ein kaum merkliches Schnauben vernehmen.
Verspottet er mich etwa? Um ihn sprechen zu lassen, entziehe ich ihm die Lähmung für Stimme und Mund, fixiere jedoch mit einem Telekinese-Tali all seine anderen Glieder. »Du brauchst mir nichts vorzulügen. Ich weiß, dass du für Josephine gearbeitet hast.« Denn ich habe da so eine Theorie, von der ich aber nicht zu einhundert Prozent sicher bin, ob sie stimmt. Trotzdem will ich ihn damit konfrontieren, um seine Reaktion abzuwarten. »Durch zuverlässige Quellen ist mir zu Ohren gekommen, dass du offensichtlich Kjells letzter Gesprächspartner warst, ehe er verschwand. Deshalb vermute ich, dass du ihn auf Josephines Befehl hin in eine Falle gelockt hast. Er wurde angegriffen und wollte durch ein Portal fliehen, woraufhin Josephines Leute ihn verfolgten, um ihn letztendlich in seiner Wohnung zur Strecke zu bringen.«
»Du denkst, die Regentin steckt hinter der Tat?«
Ich weiß es. »Das tut sie, ja.«
Er zischt. »Eine ganz schön heftige Anschuldigung, Ms. Brooks. Wenn das der Rat zu Ohren bekommt, landest du genauso im Gefängnis wie dein Dad.«
Seine selbstsichere Art und dieses dämliche Grinsen auf seinen Lippen machen mich rasend. Aber gut, eigentlich wollte ich diese Karte niemals ins Spiel bringen, allerdings muss ihn jemand in seine Schranken weisen.
Ich benutze einen meiner neuen Talis, die alle drei an meinem linken Unterarm prangen, genau an derselben Stelle, an der auch Kjell seine trägt. Als ich sie mir vor wenigen Monaten habe einsetzen lassen, fühlte ich mich ihm dadurch näher. Außerdem hat mir keine andere Stelle gefallen, an der ich sie hätte anbringen wollen.
Eine Energie fließt durch meine Venen, schießt zu meinen Fühlern und bringt meine Fingerkuppen zum Kribbeln. Der Schmerz-Tali gehört zu der Kategorie der sehr seltenen Steine, von denen es nur drei auf der Welt gibt. Er war ein Geschenk von Kyan.
Die Qual ist beinahe die eines Cluster-Kopfschmerzes. Er zieht sich durch denselben Nerv oberhalb der Braue, allerdings dann bis hinunter zur Hüfte.
Als Zac diesen wahrnimmt, presst er die Lippen zusammen. Doch ich greife wieder nach seiner Lähmungsenergie, um all seine Muskeln erschlaffen zu lassen, damit ihm der Rest im Raum nichts anmerkt.
In seinen Augen erkenne ich, dass er innerlich vor Schmerz schreit.
Die Qual lasse ich fünf Sekunden andauern, bevor die Bedienung wieder auftaucht und Zac seinen Kakao hinstellt. »Lass es dir schmecken.«
Zac kann sie nicht ansehen, sondern blickt nur starr in meine Richtung. Um die Situation nicht merkwürdig aussehen zu lassen, lächle ich wieder freundlich. »Vielen Dank. Ich glaube, er muss sich noch dazu überwinden, entgegen seiner Diät den Kakao zu trinken.«
Das findet die Schwarzhaarige wohl witzig und fängt an zu lachen. Glücklicherweise wendet sie sich jedoch in der nächsten Sekunde einem anderen Gast zu, der sie von der Theke aus herbeiwinkt.
Das ging ja noch mal gut.
Als die Dame weg ist, blicke ich Zac ernst in die Augen. »Du wirst meinem kleinen Gefängnis nicht entkommen können. Also würde ich dir vorschlagen, dass du auf deine Selbstsicherheit verzichtest und mir die Wahrheit sagst.«
Ich lasse es erneut zu, dass er sprechen darf. Der Schmerz scheint ihn ein wenig gefügiger gemacht zu haben. »Das kann ich nicht.«
Meine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. »Wieso nicht?«
Zac wirkt nervös. »Weil ich nicht weiß, ob es Josephine wirklich war. Ich habe den Befehl jedenfalls nicht von ihr erhalten.«
»Von wem dann?«
»Es war ein Mann. Am Handy war seine Stimme verändert, vermutlich damit ihn niemand erkennen kann. Jedenfalls kann ich nicht genau sagen, ob er mit der Regentin unter einer Decke steckt, da ich zuvor immer nur persönlich von ihr Anweisungen erhielt. Nur bei diesem einen Auftrag, der Kjell betraf, war es nicht sie, die mit mir sprach.« Er macht eine kurze Pause. »Josephine erteilt Befehle, kurz und schmerzlos. Diese Person am Telefon war anders … sie redete zu viel.«
Aber es muss Josephine sein. Wer sollte sonst infrage kommen? Kjell war ihr wegen irgendetwas auf der Spur gewesen. Sie hatte allen Grund, ihn und sogar uns beide zum Schweigen zu bringen.
Bevor ich weiter nachhake, was wirklich geschehen ist, komme ich zu dem Entschluss, dass ich mir meine Informationen selbst beschaffe.
Ich schließe kurz die Lider, lege meine Finger um den Unterarm und spüre dabei die leichte Erhebung auf meiner Haut. Die weiße Linie bildet mehrere Kreise, ehe sie gerade weiterzieht und am Ende einen Knick macht. Das Einbrennen dieses Symbols war weitaus schmerzhafter als das Einsetzen eines Talis.
Ein Pulsieren bringt mein Blut in Wallungen und lässt Hitze durch meinen Körper strömen. Diese Macht, die ich anwende, ist uralt, allerdings viel mächtiger und verbotener als ein Tali. Trotzdem benötige ich ihre Kräfte, um diese mit dem Verstärkungs-Tali am Arm zu koppeln.
Als sich die geballte Energie in meiner Brust sammelt, lasse ich sie durch meine Arme schießen, damit sie in die Fühler übergeht. Es knistert leicht in der Luft und mir wird bewusst, dass dies jemand bemerken könnte.
Doch obwohl das Risiko hoch ist, die Aufmerksamkeit der anderen auf mich zu ziehen, darf ich jetzt nicht aufgeben. Dieser Moment ist zu wichtig.
Meine Macht dringt in Zac ein, der prompt einen leisen Laut von sich gibt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass uns die Bedienung einen Blick zuwirft.
Verdammt. Ich hätte die Lähmung verstärken sollen, doch so viele Fähigkeiten gleichzeitig anzuwenden, kostet mich ungemeine Kraft.
Die Nervosität lässt mich wanken, sodass alles auseinanderzubrechen droht. Unsicherheit und Angst wallen in mir auf, da ich befürchte, es nicht zu schaffen, in Zacs Kopf vorzudringen.
Da erhebt sich die alte Dame von ihrem Platz und ruft der Schwarzhaarigen zu: »Ach, wertes Fräulein, ich hätte da eine Frage an Sie.«
Kyans Auftritt. Das hat er also gemeint. Ich bin ihm gerade überaus dankbar, dass er seinen Sturkopf durchgesetzt hat und in diesem Raum anwesend ist, sonst hätte mir die Bedienung Probleme bereitet.
Die Schwarzhaarige geht um die Theke herum, um sich die Belange von Kyan anzuhören.
Ich atme tief aus und setze noch einmal all meine Konzentration in meine Magie. Meine Fühler werden stärker, sodass die Unsicherheit verschwindet und ich meine neue Kraft in Zac hineinfließen lassen kann.
Bilder erscheinen vor meinem inneren Auge und mein Geist fällt durch einen langen, dunklen Tunnel, an dessen Ende sich eine Erinnerung abspielt. Es wird lauter um mich herum, sodass zu den schnell wechselnden Eindrücken Geräusche hinzustoßen.
Nachdem ich unten angekommen bin, befinde ich mich an einem Ort, der mir nur allzu bekannt ist. Kjells Wohnung, der Zeitpunkt, an dem er entführt worden ist.
Es ist dunkel, überall klebt Blut und die gesamte Bar liegt zerbrochen vor meinen Füßen. Hinter den Überresten der Theke höre ich jemanden schwer ein- und ausatmen, sodass ich alarmiert nachsehen will.
Doch bevor das geschieht, taucht neben mir ein Portal auf und ich sehe Zac, der mit mehreren schwarz gekleideten Männern in den Raum tritt.
»Scheiße, was habt ihr getan?«, entfährt es ihm. »So war das nicht ausgemacht.« Er hält sich vor Entsetzen die Hände an den Kopf. »Ist er tot?«
Die verschleierten Männer treten auf die Theke zu und aus irgendeinem Grund komme ich nicht von der Stelle. Offensichtlich reichen bis dahin Zacs Erinnerungen nicht mehr.
Drei von ihnen begeben sich hinter die Theke, unter ihren Schuhsohlen knirschen die Splitter der zerbrochenen Spiegelwände.
Sie scheinen lieber zu schweigen, statt Zac zu antworten. Nur einer von ihnen bleibt neben ihm stehen.
»Ich dachte, mit: ›Ihn in seine Schranken weisen‹ meint ihr, dass ihr mit ihm redet und ihn nicht gleich tötet!«, entfährt es Zac reuevoll. »Scheiße Mann, ich bin kein Mörder.«
Der Maskierte neben ihm packt ihn fest im Nacken und drückt seinen Kopf leicht nach unten. »Schnauze! Sonst stopf ich dir dein Maul. Wenn irgendwer hiervon etwas erfährt, darfst du um dein Leben bangen, klar?« Seine Stimme ist dunkel und fremd.
»Okay«, gibt Zac kleinlaut von sich.
Der Mann lässt ihn wieder los und erstellt dabei ein Portal.
Zac reibt sich schmerzerfüllt über den Hals. »Und nun verschwinde. Deine Arbeit ist getan. Wir überweisen dir das Geld in Kürze.«
Zac wurde also dafür bezahlt? So ein … wie konnte er nur?
Da ertönen Geräusche hinter der Theke und ich sehe gespannt dabei zu, wie die Männer jemandem aufzuhelfen versuchen.
Zac wendet sich dem Portal zu, und die Erinnerung verschwimmt. Sie ziehen denjenigen auf die Beine, der ein Ächzen von sich gibt, als sei er nicht ganz bei Bewusstsein. Doch da Zac nicht über seine Schulter zurückgeblickt hat, um den Verletzten anzusehen, bevor er das Portal durchschritt, erkenne ich nur Schatten.
»Verräter«, ertönt eine raue Stimme plötzlich, die mir eine Gänsehaut verpasst.
Das ist Kjell! Ganz eindeutig!
Ich will voller Hoffnung einen Schritt auf ihn zu machen, werde jedoch noch immer an Ort und Stelle festgehalten. Obwohl ich weiß, dass dies nur eine Erinnerung ist, treibt es mir Freudentränen in die Augen, seine Stimme zu hören.
Er ist nicht real, aber dies beweist mir, dass er damals wirklich in seiner Wohnung gewesen ist, bis Männer ihn verschleppt haben.
Mein Herz pocht aufgeregt in der Brust. Zac wendet sich Kjell nicht zu, während mir fast die Luft wegbleibt.
Wieso dreht dieser verdammte Mistkerl sich nicht zu ihm um? Ich muss sein Gesicht sehen, wissen, wie es um ihn steht und wie schwer er verletzt ist. Wie soll ich sonst abwägen können, ob er noch lebt …
Am liebsten hätte ich auf Zac eingeprügelt oder ihn so lange an den Schultern gerüttelt, bis er sich zu Kjell dreht.
»Du hast ja keine Ahnung«, knurrt Zac.
»Nein«, beginnt Kjell schwer atmend. »Du hast keine Ahnung. Genau wie so viele andere.«
»Klappe jetzt, ihr beiden!«, schnauzt der Maskierte neben Zac und schubst diesen durch das Portal. »Verschwinde!«
Die Erinnerung löst sich langsam auf und alles um mich herum beginnt zu bröckeln.
Doch ich versuche, das Bild anzuhalten, um nach irgendwelchen Hinweisen zu suchen. Zacs Geist will mich vertreiben, damit er wieder Herr über seine Gedanken wird. Aber ich habe nicht sechs Monate lang gesucht, um nur das zu erfahren!
Das kann nicht das Ende sein. Nein, nein, nein. Es muss etwas geben, das mich weiterbringt.
Ich verstärke die Macht, hebe die Arme nach oben, als würde ich mich gegen Zacs unsichtbare Wand stemmen, die mich aus dem Raum zu schieben versucht. Mit verzerrtem Gesicht und purer Entschlossenheit wehre ich mich gegen die Widerstandskraft seines Geistes.
Nein, hier muss es etwas geben. Wer sind diese Männer? Die Erinnerung darf nicht enden!
Gerade als ich denke, dass all meine Hoffnung verloren ist, nehme ich eine Gestalt wahr, die aus dem Portal tritt. Meine Sicht ist unklar, beinahe wie eine beschlagene Scheibe, durch die man nur Schattenumrisse erkennt.
Stimmen dringen dumpf zu mir.
»Wollt Ihr ihn noch einmal verhören?«, fragt der Maskierte.
»Nein«, ertönt eine stark verzerrte Stimme, die anhand ihres Klangs von einer Frau stammen muss.
Trotz der Schatten und der unklaren Sicht erkenne ich helles Haar. Josephine ist jedoch brünett.
Aber … das ist unmöglich! Das muss Josephine sein! Ob sie vielleicht eine andere Form annimmt, um nicht als Regentin erkannt zu werden?
Die unsichtbare Wand hinter mir schiebt mich weiter zu einem schwarzen Rand. Nur ein Stoß und ich würde hinabfallen und damit aus Zacs Geist katapultiert werden. Der Raum um mich herum fällt allmählich in sich zusammen.
Noch nicht! Stopp!
»Du steckst also wirklich dahinter«, höre ich Kjell mit rauer Stimme sagen. »Wie kannst du nur? Sie hat dir vertraut!«
Die unbekannte Frau stößt ein boshaftes Lachen hervor. »Bringt ihn zu den anderen. Ich habe keine Verwendung mehr für ihn.«
Die Männer bewegen sich und gehen mit Kjell auf das Portal zu, der sich trotz seines kritischen Zustandes zu wehren scheint. Auf Höhe der Frau halten die Männer kurz an.
»Das Land der Zeitlosen wird dir gefallen, Kjell.«
Das Land der Zeitlosen? Das ist doch …
Bevor ich weiter zuhören kann, verliere ich das Gleichgewicht und stürze ins Dunkel hinab.
Sechs Monate zuvor …
Ich will schreien, weinen und um mich schlagen, doch seit einigen Minuten ist nichts geschehen. Der Schock sitzt noch immer in meinen Gliedern, lässt mein Blut gefrieren und gibt mir das Gefühl, alles verloren zu haben. Meine Beine haben versagt, sodass ich auf meine Knie zusammengebrochen bin und geradeaus starre.
Kjell ist fort, und was er hinterlassen hat, ist jede Menge Blut. In mir brennt das Verlangen, zu wissen, wohin sie ihn gebracht haben. Wer hat ihm das angetan?
Meine Tränen sind zwar getrocknet, aber mein Herz ist in tausend Scherben zerbrochen. Je länger ich auf das Horrorszenario vor mir schaue, desto stärker werden die Gefühle in mir.
Ich bin wütend auf Josephine. Ich weiß, dass sie es war. Sie hat sich an Kjell gerächt, da er den Deal zwischen mir und ihr gebrochen hat, um mein Leben zu retten.
Ich bin enttäuscht von mir selbst, weil ich es nicht geschafft habe, ihn zu retten. Wieso bin ich ihm nicht nachgelaufen? Ich hätte locker durch das Portal hindurchspringen können, wenn ich schneller reagiert hätte. Doch nun ist es zu spät. Die Zeit kann nicht zurückgedreht werden.
Alles zerfließt in mir wie eine schmelzende Schneemasse. Meine Kehle ist trocken und spröde, weil ich seit einer Weile nichts mehr gesagt habe. Der Anblick vor mir hat mich meiner Stimme beraubt.
Doch was ich wirklich erst jetzt wahrnehme, ist eine weitere Anwesenheit im Raum, die ich vor wenigen Minuten unbewusst hierher gebeten habe. Als ich die Wohnung das erste Mal betrat, habe ich Raik, Kjells Zwillingsbruder, kontaktiert, ohne mir erklären zu können, warum ich das tat.
Er hat geahnt, dass etwas nicht stimmte, und gab mir Anweisungen am Handy, denen ich wie eine geistig Abwesende gefolgt bin. Ich registrierte nicht einmal, was ich da tat, und dachte auch nicht darüber nach, welche Konsequenzen es haben würde, Raik an diesen Ort zu schaffen.
Ich habe für ihn ein Portal geöffnet, damit er in die Wohnung kommen konnte. Seither hat er auf mich eingeredet, allerdings drang seine Stimme nur dumpf zu mir durch, als wäre sie weit entfernt.
Nun hallen seine Schritte durch den Raum. Glas zerbricht und Splitter knirschen unter seinen weißen Sneakers.
Er flucht, dann grübelt er wieder und ruft mir etwas zu, doch ich reagiere nicht. Hat er mich um etwas gebeten? Ich weiß es nicht, denn in meinen Ohren ist es so laut, dass ich seine Worte nicht höre. Dafür sind mein wild schlagendes Herz, meine unregelmäßigen Atemzüge und das pulsierende Blut verantwortlich, die alle im Chor dröhnen.
Irgendwann ignoriert mich Raik und scheint sich selbst um das Problem zu kümmern.
Er läuft die Treppe hinauf und hinunter und stellt einen Karton neben mir ab. Meine Beine sind eingeschlafen, da ich mich noch immer keinen Millimeter bewegt habe.
Eine Hand berührt sanft meine Schulter, was die Geräusche in mir plötzlich zum Verstummen bringt. »Kira«, höre ich Raiks Stimme neben mir. »Irgendwann wird die Elite erscheinen. Wir müssen das hier wegbringen.«
Ich wende tatsächlich den Blick von der Bar ab, um in den Karton hineinzusehen. Dort liegen mehrere illegale Talis, unser gemeinsames Foto und meine weißen Pumps. Dinge, die Kjell geheim halten wollte.
Ich greife nach dem Bild und spüre, wie erneut Tränen über meine Wangen laufen, als ich Kjells Gesicht darauf erkenne.
Raik weiß es nun, auch ohne mich danach fragen zu müssen. Allein meine Reaktion auf Kjells Verschwinden und die Tatsache, dass ich nicht das erste Mal in dieser Wohnung bin, sollten ihm Aufschluss darüber geben, dass wir ihn die ganze Zeit über angelogen haben. Doch er scheint es mir nicht übel zu nehmen – zumindest nicht in diesem Moment.
»Warum, Raik?«, kommt es trocken und schluchzend aus meiner Kehle.
»Hey«, flüstert er leise neben mir, als er den Karton wegschiebt und mich ohne Vorwarnung in seine Arme zieht.
Die Berührung lässt mich zusammenzucken, da ich niemals erwartet hätte, dass Raik eine solche Nähe zulässt. Seine Geste schenkt mir Trost, der meinem – nein, Kjells – zerfallenden Herzen für den Moment den Schmerz nimmt. Obwohl ich nicht weiß, warum Raik das tut, da wir uns vorher wie zwei Fremde begegnet sind, bin ich dankbar dafür, dass er in diesem Augenblick hier ist.
»Er ist nicht tot.«
Ich reibe mir mit dem Handrücken über die feuchte Nase. »Woher willst du das wissen?«
»Zwillinge spüren das«, meint er. »Irgendwie, denke ich. Wenn etwas wirklich Schlimmes passiert wäre, hätte mir das mein Instinkt sicher gesagt.«
»Er wird verletzt sein. Wie lange wird er überleben? Was ist, wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden?« Es ist gerade kein guter Zeitpunkt, dieses Thema anzusprechen, aber ich muss diesen Vergleich einfach erwähnen. »So wie bei Vera.« Die Schwester der beiden, die vor dreieinhalb Jahren ebenfalls entführt wurde.
»Wir finden ihn«, macht Raik mir Mut, wenn auch mit zittriger Stimme.
Er bangt genauso um Kjells Leben wie ich.
Zorn wallt in mir auf, als ich daran denke, wer an der Entführung Schuld trägt. »Das war Josephine«, grolle ich. »Sie hat ihn entführt.«
Ich höre, wie er für den Moment die Luft anhält. »Kira, das ist eine sehr heftige Anschuldigung. Wieso sollte ihm die Regentin etwas antun?«
»Kjell fand etwas über sie heraus«, erkläre ich. »Allerdings konnte er es mir nicht mehr sagen, weil sie ihn vorher …«
Ein erneuter Tränenschwall überkommt mich und Raik zieht mich enger an sich. Der minzig-scharfe Duft seines Parfüms steigt mir dabei in die Nase.
Mein Blick fällt auf den Karton. Wie lange sitze ich eigentlich schon hier? Eine halbe Stunde? »Wie hast du die Sachen alle gefunden?«
»Ich kenne meinen Bruder bereits gut genug, um seine Verstecke mit Leichtigkeit ausfindig zu machen. Aber wenn du noch von weiteren Sachen weißt, die die Elite besser nicht zu Gesicht bekommen sollte, dann nimm sie mit.« Er seufzt und schweigt für den Moment, bevor er mit einem völlig anderen Thema fortfährt. »Warum habt ihr mir nicht die Wahrheit gesagt?«
Ich wische mir die Tränen von den feuchten Wangen. »Kjell wollte es nicht. Er hatte Angst, dich in Probleme hineinzuziehen.«
Raik gibt einen zischenden Laut von sich. »Dieser … warum denkt er nicht mal an sich, statt immer nur an andere? Ich schätze meines Bruders Selbstlosigkeit, allerdings könnte ich ihm dafür manchmal auch eine verpassen. Schließlich bringt er sich damit nur in Gefahr, und weil er sich nie gerne helfen lässt, wird die Situation nur schlimmer.«
Oh ja. Ich erinnere mich zu gut daran, als wir beide nach dem Kampf mit Josephine in diesem Schuppen saßen und er währenddessen fieberhaft überlegte, wie er die Situation in den Griff kriegen könnte. Selbst in dem Moment, als wir mein Double mit der Hilfe des Spiegels in Eldorado erschaffen hatten, meinte er, alles allein regeln zu müssen. Das ist so typisch und ich kann Raiks Meinung verstehen. »Er hat gesagt, er müsse telefonieren. Nur noch einmal mit jemandem reden, ehe er dann endlich all die Probleme gelöst hätte.« Ich schluchze. »Aber er kam nicht mehr zurück, also habe ich ihn hier in der Wohnung gesucht.«
»Vielleicht ist es nicht sein Blut«, macht Raik mir Hoffnung.
An diese Illusion will ich nicht glauben. »Das bezweifle ich.«
Stille kehrt zwischen uns ein. Für den Moment hängt jeder seinen Gedanken nach.
Als Raik sich von mir löst, erhebt er sich und greift nach dem Karton. »Es ist besser, wenn die Elite dich hier nicht sieht, Kira. Versteck eure Sachen gut. Niemand darf sie zu Gesicht bekommen. Ich werde versuchen, jedes Beweisstück zu vernichten, bevor sie hier eintreffen. DNA-Spuren von dir würden ausreichen, um dich zu identifizieren.«
Ich nicke und versuche, ebenfalls aufzustehen, doch meine Beine sind etwas taub und fühlen sich so weich wie Wackelpudding an. »Was ist, wenn du dadurch Beweise vernichtest, die seine Entführung aufklären könnten?«
Raik verzieht die Mundwinkel nach unten. »Willst du, dass sie wissen, mit wem mein Bruder liiert ist?«
Ich schüttle den Kopf. Schließlich bin ich ziemlich sicher, wer für die Entführung verantwortlich ist.
»Was soll ich denn den anderen sagen?«, flüstere ich.
»Er ist nicht tot«, beharrt Raik und lächelt, als wollte er mich damit aufmuntern. »Ich lasse meinen Bruder nicht im Stich und werde alle Hebel in Bewegung setzen, dass wir ihn finden.«
»Kannst du Emily anrufen?«, frage ich bittend und senke den Blick. »Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin …«
Meine Sicht verschwimmt, doch ich sehe kurz an die Decke, blinzle mehrmals und versuche, die Tränen zurückzuhalten.
»Ich werde es ihr sagen.«
»Danke.« Ich nehme den Karton auf den Arm und sehe mich noch mal im Raum um, wobei ich die Bar allerdings auslasse, da ich das viele Blut nicht ertrage. »Was werden sie machen, wenn die Elite hier ist? Kjell hat für diese Wohnung einen falschen Namen verwendet.«
Raik schüttelt den Kopf. »Mach dir darum keine Sorgen. Das wird sie herzlich wenig interessieren. Aber ich werde mich trotzdem noch mal ganz genau umsehen, bevor ich den anonymen Tipp gebe, dass hier etwas vorgefallen ist.«
»Du willst die Elite einschalten?«, frage ich verblüfft. »Hältst du das für eine gute Idee?«
Er zuckt nur mit den Schultern und stopft seine Hände in die Hosentasche. »Wenn nicht, wird es die alte Dame von unten tun. Es wundert mich, dass sie noch nicht geklingelt hat.«
Er meint Rose, die freundliche Nachbarin, der ich damals geholfen habe, den Garten herzurichten. Ich bin zu müde, um meine Gabe für sie anzuwenden, daher suche ich nicht nach ihr. »Vielleicht hat sie es nicht mitbekommen.«
Ich beschwöre meinen Tali am Rücken, der mich nach Hause bringen soll. Da ich den Portal-Punkt für das Anwesen in Talregnum aufgegeben habe, werde ich ins Dracula-Schloss nach New York zurückkehren müssen.
Mein Blick fällt auf die vielen bunten Talis, die mir Kjell damals als Vertrauensbeweis gezeigt hat, kurz bevor wir zur Special Elite ausgebildet wurden. »Wie kamst du überhaupt an verbotene Talis ran?«
Raik grinst selbstbewusst. »Ich glaube, mein Bruder wollte, dass ich der einzige Taliducz bin, der das Siegel öffnen kann, falls etwas passiert. Ich habe meine Hand daran gehalten und dann hat es sich geöffnet.«
Ich hebe eine Braue. »Vielleicht wegen eures Zwillingsbluts.«
Er schüttelt den Kopf. »Kjell und ich sind zweieiige Zwillinge, unser Erbgut ist nicht identisch.«
»Oh, okay.« Es wundert mich, dass er seinem Bruder so viel Vertrauen schenkt. Denn nachdem Vera entführt worden war, wirkte es auf mich so, als wären die beiden verschiedene Wege gegangen.
Da fällt mir noch etwas anderes ein, was sein Bruder erwähnt hat, ehe er verschwand. »Kjell hat mir erzählt, dass Dad im Gefängnis sitzt, weil er Josephine bedroht hat«, erwähne ich, bevor ich das Portal nach New York beschwöre.
Magie strömt von meinem Tali am Rücken in meinen Arm hinein. Schließlich kribbeln meine Fingerspitzen und vor mir bildet sich langsam ein dunkler Umriss, der mich an eine eingeschlagene Wand erinnert.
»Ja. Hoffentlich wird er da nicht allzu lange bleiben. Sie überprüfen im Moment die Anschuldigungen.«
»Was hat er gesagt?«, will ich wissen.
»Sie hätte dich in seinem Anwesen bedroht und entführen wollen.«
Ja, das hatte sie gewollt. Aber Raik würde mir das wohl genauso wenig glauben wie der Rat, welcher auf der Seite der Regentin steht. Ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ist so gut wie unmöglich. Doch Raik kann ich das nicht sagen. »Hat Dad erwähnt, aus welchem Grund sie das getan haben soll?«, frage ich stattdessen.
Er seufzt und zieht die Mundwinkel nach unten. »Das hätte er selbst gerne gewusst. Stimmt es denn?«
Ich presse die Lippen aufeinander und schweige. Was darf ich Raik verraten? Ja, die Regentin wollte mich entführen, um den Deal einzulösen. Aber dadurch kämen nur noch mehr Fragen auf, und für dieses Thema kann ich im Moment keinen klaren Gedanken fassen.
Ich wende mich wortlos meinem Portal zu, dessen Oberfläche so schwarz wie die Nacht ist.
Raik scheint meine Reaktion zu verstehen. »Schon gut«, raunt er.
Ich bin ihm dankbar, dass er nicht nachhakt oder mich auszuquetschen versucht.
In meinem Kopf herrscht noch immer ein einziges Durcheinander. Doch die Erinnerung an den Kampf, bei dem ich Kjell zu Hilfe geeilt kam, löst dabei das größte Chaos aus. Meine Freunde haben noch immer Fragen, die ich mit einer Lüge beantworten muss. Denn ich kann ihnen nicht von Eldorado erzählen, da ich sonst das Versprechen meiner Mutter bräche.
»Kira«, hält Raik mich ein letztes Mal auf, aber ich sehe ihn dabei nicht an. »Auch, wenn du skeptisch sein solltest, du kannst mir vertrauen. Ich will genauso meinen Bruder zurückhaben wie du. Wenn es etwas gibt, das du weißt, rede mit mir.«
Ich nicke. »Mach ich.«
Mit zitternden Beinen trete ich durch das Portal und lande direkt in meinem Zimmer im Anwesen. Die Stille erdrückt mich wie ein immer enger werdender Raum.
Ich schiebe den Karton unter mein Bett, nehme das Foto von Kjell und mir in die Hand, um es an meine Brust zu drücken.
Gebrochen lasse ich mich aufs Bett fallen, ziehe die Beine an mich und warte darauf, dass der Schmerz über mich hereinbricht.
Ich will die Zeit zurückdrehen.
Allein der Gedanke, Kjell nie wieder zu sehen, stößt mich Stück für Stück einen Abgrund hinunter. Es ist genau derselbe Schmerz wie damals, als ich Mom verloren habe und glaubte, nie wieder meiner Trauer entkommen zu können.
Doch dieses schwarze Loch, in das ich immer tiefer falle, ist anders. Es zerreißt mich. Langsam. Qualvoll. Ohne Hoffnung auf Wiederkehr.
Da ist kein Licht – noch nicht einmal ein Schimmer.
Nur Dunkelheit und das Gefühl, einen wichtigen Teil für immer verloren zu haben.
Ich habe bestimmt einige Stunden im Bett gelegen, während mein Handy ununterbrochen geklingelt hat. Selbst Carl, mein Butler, hat versucht, mich zu erreichen, obwohl ich mich längst wieder im Anwesen befinde. Nach Dads Gefangennahme übernimmt er wohl die Aufgabe, nach mir zu suchen. Dabei weiß ich noch immer nicht genau, weshalb Carl mich eigentlich zu Josephine geführt hat.
Mein Vater will eine Erklärung.
Meine Freunde wollen eine Erklärung.
Vermutlich will ganz Talregnum eine Erklärung.
Aber ich kann ihnen keine geben. Würde ich Dad von dem Deal erzählen, würde er wissen wollen, wieso ich ihn überhaupt eingegangen bin. Damit käme Kjell ins Spiel, für den ich sogar mein eigenes Leben geopfert habe. Er könnte niemals verstehen, dass eine Brooks und ein Evensen einander lieben.
Ein ähnliches Problem habe ich mit Emily und den anderen. Wenn ich ihnen die Wahrheit sagen würde, wäre ich auch gezwungen, über Eldorado zu sprechen.
Außerdem weiß Josephine von meinem Zugang zur Stadt der Vervielfältigung. Da sie mein Double gesehen hat, würde es nicht lang dauern, bis sie eins und eins zusammenzählte. Sie wird mich deswegen wohl versuchen, in die Enge zu treiben, um an Eldorado heranzukommen. Dazu wird ihr jedes Mittel recht sein.
Diese Konflikte klingen aussichtslos und beinahe unlösbar. Aber ich werde mich ihnen irgendwann stellen müssen, daran führt kein Weg vorbei.
Innerlich überkommt mich der Drang, mit jemandem darüber zu sprechen. Doch die einzige Person, die mich verstanden hätte, ist entführt worden. Ich fühle mich leer und allein gelassen.
Gerade als ich die Kraft finde, mich aus dem Bett zu erheben, höre ich, wie jemand meine Türklinke runterdrückt. Da es nur einen Taliducz gibt, der in diesem Raum noch einmal nach mir sehen würde, stelle ich mich innerlich auf ein unangenehmes Gespräch ein.
Schnell verstecke ich das Bild von Kjell und mir in meinem Ausschnitt, um unser Geheimnis zu hüten. Doch statt der grauweißen Haare von Carl erkenne ich rotbraune Wellen, die sich durch den Türspalt schieben. Warme haselnussfarbene Augen sehen in meine.
Emily? Was macht sie hier? Und wie kam sie ins Anwesen?
Ich beantworte mir meine Fragen selbst: Jemand wird sie wohl reingelassen haben. Sie ist ja keine Unbekannte.
Bedeutet das dann, dass Carl auch bei ihr ist?
Sie stößt einen erleichterten Seufzer aus, als sie mich sieht, und kommt herein. Leise schließt sie hinter sich die Tür und betätigt einen Schalter gleich daneben, der die Anti-Lauscher-Barriere im Raum aktiviert.
»Kira«, flüstert sie, obwohl sie das gar nicht mehr müsste. »Raik hat mich kontaktiert, anschließend habe ich versucht, dich zu erreichen, aber …« Sie entdeckt mein Handy, das mit mindestens hundert verpassten Anrufen neben mir liegt. Sie zieht ihre Brauen zusammen und stemmt die Arme in die Hüfte. »… du gehst ja nicht ran.«
»Sorry«, kommt es nur schwach über meine Lippen, ehe ich meinen Kopf wieder in der Decke vergrabe, die unter mir liegt. »Wie kommst du hierher? Hat Carl dich reingelassen?«
Sie nickt. »Er ist unten und telefoniert mit den Behörden von Talregnum. Ich habe einfach gesagt, dass ich noch mal in deinem Zimmer nachsehe.«
Jeder sucht nach mir.
Emilys Blick wird weicher und sie setzt sich zu mir. »Raik hat erzählt, was in der Wohnung vorgefallen ist.« Ihre Hand streicht sanft über meinen Oberarm. »Es tut mir so leid, Süße.«
»Und Dad sitzt im Gefängnis«, füge ich hinzu, wobei ich die Decke zur Seite schiebe, um zu ihr aufzuschauen.
Ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich. »Ja, ich weiß.« Emily schaut zum Fernseher. »Und auch, wenn das vielleicht gerade nicht der passendste Zeitpunkt ist, solltest du dir ansehen, was gerade in den Medien los ist. Es … geht dabei nicht nur um Kjell und deinen Dad.«
Überrascht hebe ich meinen Kopf. »Was meinst du damit?«
Sie greift nach der Fernbedienung und schaltet den Flachbildschirm an. Durch verschiedene Programme geschaltet, landet sie schließlich bei dem Sender, den wir aus Talbrem empfangen.
Eine brünette Nachrichtensprecherin steht an einem Pult, während hinter ihr ein Bild von Josephine erscheint. »Die Regentin Josephine Morrell hat soeben offiziell verkündet, sie wolle sich zurückziehen und ihr Amt vorerst dem dritten Gesandten Victor Hewy überlassen. Der Verlust ihres geliebten Mannes und die heftigen Anschuldigungen von Adriel Brooks seien der Grund, weshalb sie sich für einen Rücktritt entschieden habe.«
Josephine zieht sich zurück? Aus welchem Grund? Sie darf nicht verschwinden, sonst wird es mir beinahe unmöglich sein, herauszufinden, wo Kjell steckt. Bedeutet das vielleicht, dass sie mir nun aus dem Hintergrund auflauern wird? Wegen Eldorado?
Ich sehe meine Freundin mit hinuntergeklappter Kinnlade an.
Sie nickt und seufzt dann, als hätte sie meine Gedanken gehört.
Die Kamera schwenkt zu dem zweiten Nachrichtensprecher, der an einem anderen Pult steht. »Ist eigentlich sehr nachvollziehbar, oder Anna?«
Seine Kollegin nickt. »Absolut. Der Oberbefehlshaber Hewy ist ohnehin eine gute Wahl, da er alle Ermittlungen leitet und betreut. Auch die Familie des I. Gesandten Henrik Evensen muss sich erst einmal von dem Schock am heutigen Morgen erholen. Dazu gleich mehr.«
Ihr Kollege fährt mit dem nächsten Thema fort. »Tja, wie wir gerade gehört haben, wurde gestern Abend Adriel Brooks festgenommen, da er – so beschreibt es der Oberbefehlshaber der Elite, Victor Hewy – lautstark und gewaltbereit auf Josephine Morrell losgegangen sei. Grund seines Verhaltens soll dessen Annahme gewesen sein, dass die Regentin in sein Anwesen eingedrungen sei und seine Tochter Kira-Jane Brooks entführt haben soll. Aktuell ist die Elite noch auf der Suche nach ihr.«
»Du weißt, dass du aussagen musst«, bemerkt Emily und kaut dabei unsicher auf ihrer Unterlippe herum.
Ich nicke. »Leider.«
»Wirst du deinem Vater beistehen? Oder es abstreiten?« Sie holt tief Luft. »Ich meine, wir wissen beide, dass Josephine es tatsächlich gewesen ist.«
Kjell muss den anderen erzählt haben, was vorgefallen ist, bevor er sich zu Josephine aufmachte, um den Deal einzulösen.
Meine Züge verhärten sich. »Wenn ich die Wahrheit sage, muss ich einen Grund vorweisen, weshalb Josephine mir etwas antun würde. Aber den Beweis für unseren Deal gibt es nicht mehr und eine andere Begründung, weshalb die Regentin so etwas tun sollte, habe ich nicht.«
Warum musste mein Vater sich auch einmischen? Er hat mir damit nur noch mehr Probleme beschert. Ich weiß, dass er mir helfen wollte, aber auf diese Weise war seine Hilfe sinnlos. Josephine ist zu gerissen, als dass sie sich durch eine einfache Anschuldigung in die Knie zwingen lässt. Er hätte vorher mit mir reden sollen.
Dass die Regentin sich zurückzieht, finde ich merkwürdig. Sie steht gerne im Rampenlicht und genießt es, die Macht über Talbrem zu besitzen. Wieso gibt sie ihr Zepter an den dritten Gesandten ab? Ob sie sich nun Kjell widmet, den sie entführt hat? Wird sie ihn quälen? Ihn … foltern?
Mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, und mich überkommt das Bedürfnis, mich unter meiner Bettdecke zu verstecken.
Trotz allem bin ich gerade froh, dass Emily bei mir ist.
Der Nachrichtensprecher führt die Meldung fort: »In den frühen Morgenstunden meldete ein Nachbar aus dem Haus nebenan lauten Lärm. Als die Elite dieser Sache nachging, fand man große Mengen Blut vor, dafür aber keine Leiche. Es gab außerdem Kampfspuren und mehrere Möbel wurden beschädigt. Die Untersuchungen ergaben, dass es sich dabei um den jungen Kjell Evensen handeln muss, dessen Blut in der Wohnung gefunden wurde. Nach Angaben der Vermieterin habe er dort gewohnt und unter falschem Namen einen Mietvertrag abgeschlossen.«
Hinter dem Mann erscheint ein Bild von Kjell und seine Eisaugen sehen direkt in meine. Es ist ein älteres Porträt von ihm, auf dem seine dunkelbraunen Haare etwas kürzer sind und in seiner linken Iris der Schnee fehlt, den er nach dem Absitzen im Magiewall erhalten hat.
Das Bild verpasst mir erneut ein schmerzhaftes Ziehen unter meinen Rippen und ich senke die Lider, da ich beim Betrachten seines Antlitzes erneut in mein schwarzes Loch versinke.
Emily berührt meine Hand und legt ihre Wange auf meine Schulter. »Wir finden ihn.«
Dasselbe hat auch Raik gesagt. Aber ist es nicht normal, dass man sich an eine Hoffnung klammert, ganz gleich, wie klein sie auch ist?
»Nun laufen die Ermittlungen und es wird sogar vermutet, dass es sich dabei um denselben Täter handelt, der auch damals die älteste Tochter Vera Evensen entführt hat.«
Der Mann wendet sich wieder an seine Kollegin. »Eine wirklich schlimme Sache, nicht?«
Anna nickt. »Allerdings. Ich bin mir sicher, dass die Regierung alles daran setzen wird, um sowohl die Anschuldigungen als auch die Entführung aufzuklären.«
»Hoffen wir, dass auch Kira-Jane Brooks wieder auftaucht«, kommentiert der Mann. »So, aber nun kommen wir zum Sport …«
Emily schaltet den Fernseher aus und die Stille kehrt zurück.
Wir hängen eine Weile unseren Gedanken nach, bis meine Freundin schließlich die Stille durchbricht. »Also, wenn ich dir einen Tipp geben darf«, beginnt sie, und ich drücke mir ein kleines Kissen ins Gesicht. Die noch ungelösten Konflikte scheinen mich von allen Seiten zu ersticken. »Am besten, du gibst Carl Bescheid, dass es dir gut geht. Dann redest du mit deinem Vater und stimmst ihn um, die Anschuldigungen gegen Josephine fallen zu lassen, sonst bleibt er eine Weile im Gefängnis.«
Ich reiße das Kissen von meinem Gesicht. »Was?«
Emily zupft einen Faden aus dem Spannbetttuch. »Schau doch, Kira. Josephine gewinnt jedes Mal. Ich bin absolut deiner Meinung, dass ihr jemand Einhalt gebieten muss, aber in diesem Punkt reitet ihr euch nur noch in größere Probleme.« Ihre braunen Augen sehen mich vertrauensvoll an, beinahe sogar flehentlich. »Sei doch mal ehrlich zu dir selbst. Wir haben keine Beweise. Alles, was du ansonsten vorzubringen hast, bezeugt, dass du etwas mit Kjell hattest oder dein Herz damals verloren hast. Es würde nur Geheimnisse aufdecken, die die Regierung besser nicht kennen sollte.«
Und damit hat sie vollkommen recht. Auch wenn es gegen mein inneres Rachegefühl geht, von Josephine abzulassen, ist es dennoch die einzige Möglichkeit, meinen Vater, meine Freunde und mich zu schützen.
In meinen Vorstellungen sehe ich die Regentin bereits siegreich grinsen. Schon wieder gewinnt sie.
Es schürt meinen Hass auf diese Schlange.
Emily reißt mich aus meinen Gedanken, als sie meine Hände in ihre nimmt. »Und Kira, wichtig ist auf jeden Fall, dass du mit uns redest. Auch über Kjell, wenn es dir dadurch besser geht. Raik meinte, du seist am Boden zerstört gewesen. Dir darf nicht noch mal dasselbe passieren wie beim Tod deiner Mom oder als du dein Herz verloren hast.«
Ihre Worte verwundern mich etwas, aber aus irgendeinem Grund bauen sie mich tatsächlich auf.
Emily lächelt mich fürsorglich an. »Ich weiß, es ist schwer, weil wir nicht wissen, was mit Kjell geschehen ist. Doch wenn wir ihn zurückhaben wollen, müssen wir handeln.«
Mein Herz pocht und die anfängliche Kälte kriecht aus meinen Gliedern. Stattdessen pumpt das Blut durch meine Adern, als ich wie gebannt an Emilys Lippen hänge. Denn alles, was sie sagt, gibt mir das Gefühl, jetzt nicht aufgeben zu dürfen.
»Es ist einfach, die Decke über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als ginge dich die Welt nichts mehr an. Aber das wird dir Kjell nicht zurückbringen, Kira. Er braucht uns, und deshalb müssen wir erst die Hauptprobleme beseitigen, bevor wir uns auf Kjells Entführung konzentrieren. Ich bin mir sicher, dass Arran und die anderen uns helfen werden.« Sie pustet eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Sosa hat mir schon gleich gesagt, dass sie dabei sein wird, einen Plan zu schmieden.«
Obwohl ich noch immer über Kjells Verschwinden betrübt bin, spüre ich in mir eine Hoffnung aufkeimen, die zuvor nicht da gewesen ist. Sie baut sich langsam in meinem Inneren auf, als würde sie die Splitter meines Herzens zusammensuchen, um sie an die richtige Stelle zurückzusetzen.
Ich nehme einen tiefen Atemzug, ehe ich Emily antworte. »Klingt gut.«
In ihren Ausdruck stiehlt sich ein breites Grinsen. »Wir kriegen das schon hin, okay? Und wenn du traurig bist oder das Bedürfnis hast, zu reden, dann ruf mich an. Ich bin vierundzwanzig Stunden verfügbar. Egal ob in Talbrem oder der Menschenwelt.«
Damit entlockt sie mir ein kleines Lachen. »Hey, du musst auch noch arbeiten.«
Sie zuckt bloß mit den Schultern. »Ich darf Pause machen, wann ich will. Und für meine beste Freundin habe ich immer Zeit.«
Ich weiß, warum ich sie so unfassbar gern habe. Sie hat mich niemals im Stich gelassen, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. So jemanden wie Emily gibt es nur einmal auf der Welt, und ich bin froh, dass sie in mein Leben getreten ist.
»Danke«, sage ich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
Emily schlingt ihre Arme um mich und drückt mich fest an sich. »Ich hab dich so lieb, Kira.« Ihre Strähnen kitzeln meine Nase. »Wenn meine Kay traurig ist, muss ich eben etwas unternehmen.«
Ich zucke bei dem Spitznamen zusammen, was Emily losprusten lässt. »Ich dich auch, Emy.«
Gerade als wir uns voneinander lösen, platzt jemand ins Zimmer hinein und blaue Augen sehen mich überrascht an. »Ms. Brooks?«
Carl, unser Butler, scheint mich endlich gefunden zu haben. Das bedeutet, dass ich mich jetzt schon mal auf eine Predigt einstellen darf. Immerhin hätte ich mich längst melden können. »Hallo«, sage ich kleinlaut.
»Was machen Sie hier? Die Elite sucht Sie! Haben Sie nicht mitbekommen, was passiert ist?« Er tritt näher zu mir. »Hören Sie, Ms. Brooks, wenn ich gewusst hätte, dass Mrs. Morrell mit Ihnen etwas vorhat, hätte ich Sie niemals in den Raum gelassen. Sie sagte mir, es wäre etwas äußerst Wichtiges, was Ihren Posten in der Regierung betrifft.«