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Liebe und Tod zwischen den Zeiten: Ägypten, 1798. Napoleon hat Kairo unterworfen. Der junge Zeichner Bastien Topart befindet sich wie viele andere Künstler und Wissenschaftler im Tross des Eroberers, um das Land zu erforschen. In einem abgelegenen Wüstentempel retten Bastien und seine Begleiter eine junge Frau vor dem Opfertod. Die Gerettete bringt nur ein Wort hervor: »Ourida« – Rose. Die Franzosen nehmen Ourida, wie sie die Frau nennen, mit nach Kairo, wo sich bald die rätselhaften Vorfälle in ihrer Nähe häufen. Seltsame Visionen suchen Bastien heim, Ereignisse aus der Vergangenheit: Schon einmal scheinen sich Bastien und Ourida begegnet und einander nähergekommen zu sein, vor Jahrhunderten, zur Zeit der Kreuzritter. Und damals wie heute ging es um das »Wahre Kreuz Christi« – eine Reliquie, deren Besitz ungeheure Macht verspricht.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2016
Jörg Kastner
Roman
Roman nach den Aufzeichnungen des Zeichners Bastien Topart über seine Erlebnisse während der Ägyptenexpedition des Generals Napoleon Bonaparte
Für Mitch und Ari und all die anderenwundervollen Jungs und Mädels und für ihre wundervolle Mami. Mit besonderem Dank anYousreya Pölkner.
»Das Wort ›unmöglich‹ gibt es nurim Wörterbuch von Narren.«
Napoleon Bonaparte
Diese Geschichte spielt zu einer Zeit, als in Frankreich der Republikanische Kalender, auch Revolutionskalender genannt, gültig war. Dieser wurde im September 1793 eingeführt und bis 1805 benutzt. Hintergrund war die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses im republikanischen Frankreich; sie sollte durch die Abwendung vom christlich geprägten Gregorianischen Kalender dokumentiert werden. Man ersetzte nicht nur die althergebrachten Monatsnamen durch poetisch klingende neue wie Vendémaire (Weinlesemonat) oder Floréal (Blütemonat), sondern die gesamte Einteilung der Zeit wurde verändert. So dauerte die Woche zehn Tage. Der Umstand, dass es nur alle zehn Tage einen freien Tag (den sogenannten Dekadentag) gab, förderte nicht gerade die Beliebtheit der neuen Zeitrechnung unter der arbeitenden Bevölkerung. Zum Jahresende 1805 zog ein Edikt Kaiser Napoleons einen Schlussstrich unter die Angelegenheit.
Im Folgenden richten sich um des leichteren Verständnisses willen alle Zeitangaben nach dem Gregorianischen Kalender.
Ich bin kein Verräter und kein Dieb, jedenfalls nicht in meinen Augen, nicht in denen der Abnaa Al Salieb und, dessen bin ich gewiss, auch nicht vor Gott. Was ich tat, geschah in bester Absicht, vor mehr als sechshundert Jahren genauso wie heute. Die Stimme des Herrn leitete mich. Solange es Menschen gibt, die in die Häuser, Städte und Länder anderer eindringen, um ihnen fremde Gesetze, fremde Ansichten und einen fremden Glauben aufzuzwingen, kann das Kreuz Jesu zu einer mächtigen, Tod und Verderben bringenden Waffe werden. Deshalb beschloss ich, es vor der Welt zu verbergen. Ich schreibe meine Geschichte nieder, damit die Nachwelt versteht, was ich tat und was mich antrieb, damals, als ich in das geheimnisvolle, aber auch gefährliche Morgenland kam. Als ich, der einfache Zeichner Bastien Topart, vor vielen Jahren zum ersten Mal den Fuß auf ägyptischen Boden setzte, ahnte ich nicht, welche Abenteuer mich erwarteten. Hätte jemand es mir sagen wollen, ich hätte ihn ausgelacht. Und hätte ich es nicht am eigenen Leibe erfahren, ich würde es auch heute nicht glauben. Wer also Zweifel hegt an meinen Worten, kann sich meines Verständnisses sicher sein. Aber es hat sich so zugetragen, wie ich es schildere, in jenen stürmischen Jahren nach der Französischen Revolution.
Ende des 18. Jahrhunderts hatte das revolutionäre Frankreich seine Stellung in Europa weitgehend gefestigt. Der sogenannte Erste Koalitionskrieg war beendet, Frankreichs Feinde waren besiegt oder hatten Frieden geschlossen. Bis auf die Engländer, die, geschützt durch ihre mächtige Flotte, unangreifbar auf ihrer Insel saßen.
Da fasste der junge General Bonaparte, der binnen weniger Jahre vom einfachen Artillerieoffizier zu einem der mächtigsten Männer Frankreichs aufgestiegen war, im Jahr 1798 einen verwegenen Plan. Er wollte England schwächen, indem er den englischen Handel im Nahen Osten und in Indien störte. Beginnen wollte er diesen Feldzug in Ägypten.
Mit fast vierzigtausend Soldaten stach er in See. Bei ihm waren aber auch Landvermesser, Kartografen, Ingenieure, Archäologen, Mineralogen, Architekten, Chemiker, Botaniker, Astronomen, Maler, Komponisten, Schriftsteller, Zeichner. Und einer von ihnen war ich …
Die Bestie, halb Löwe und halb Adler, starrte uns aus großen, dunklen Augen an. Wie zum Sprung bereit, jede Sehne in dem gewaltigen Leib gespannt, kauerte sie vor der Felswand, vier- oder fünfmal so groß wie ein Mensch. Die Schwingen waren halb ausgebreitet, als sollten sie dem Sprung zusätzliche Kraft verleihen. Ein Löwe mit Flügeln wäre schon seltsam genug gewesen, aber das Ungewöhnlichste war der Kopf: Er trug fast menschliche Züge, und gerade das wirkte unheimlich.
Alt und erhaben, wachsam und furchteinflößend zugleich war das geflügelte Untier, das über den brüchigen Säulen thronte. Wie viele Jahrhunderte, Jahrtausende vielleicht, es diesen seltsamen Ort schon beschützte, wusste ich nicht, aber es schien von seiner abschreckenden Wirkung nichts eingebüßt zu haben. Abul, unser einheimischer Führer, hielt den Kopf gesenkt und wagte es kaum, zu der mächtigen Gestalt hinüberzusehen. Der knochige Alte, den wir in Kairo angeheuert hatten, schien froh darüber zu sein, dass er mit der Aufsicht über unsere Tiere und unsere Ausrüstung betraut und somit nicht verpflichtet war, sich dem monströsen Wesen zu nähern.
Mein Onkel trat schmunzelnd an mich heran. »Der alte Abul fühlt sich hier nicht besonders wohl.«
»Sie scheint das zu amüsieren, Onkel«, sagte ich, ohne in meiner Arbeit innezuhalten. Mein Bleistift wanderte über den großen Bogen Papier und schuf ein getreues Abbild des alten Tempels.
Mein Onkel nickte nachdenklich. »Abuls Furcht dürfte ein gutes Zeichen sein. Schon der Wirt in Kairo, der mir von diesem Tempel erzählt hat, erwähnte einen alten Aberglauben, demzufolge es tödlich enden kann, den Tempel zu betreten. Ich bin äußerst gespannt, was wir darin finden. Und du, Bastien, wirst unsere Entdeckung mit deiner Zeichenkunst für das Institut festhalten.«
Er meinte das Institut von Ägypten, das General Bonaparte nach der Einnahme Kairos gegründet hatte, um dieses alte, fremde Land, in das unsere ruhmreiche Revolutionsarmee vorgedrungen war, wissenschaftlich zu erfassen. Mitnichten war Napoleon Bonaparte jener blindwütige Eroberer, als den seine Feinde jenseits der Grenzen Frankreichs ihn so oft hinstellten. Sein Interesse an der Wissenschaft war groß, sehr groß, sonst hätte er wohl kaum einen ganzen Tross an Gelehrten der verschiedensten Fachrichtungen, an Ingenieuren, Architekten, Schriftstellern und Zeichnern mitgenommen, die ihm helfen sollten, das geheimnisvolle Reich der Pharaonen in ein erforschtes, deshalb aber nicht minder faszinierendes Land zu verwandeln. Das Institut, dem seit seiner Gründung auch mein Onkel, der renommierte Archäologe Jean Cordelier, angehörte, sollte sowohl der Wissenschaft als auch der praktischen Verbesserung des Allgemeinzustands von Armee und Bevölkerung dienen.
Wie ernst Bonaparte die Sache nahm, zeigte er dadurch, dass er den angesehenen Geometer und Mathematiker Gaspard Monge zum Präsidenten und sich selbst zum Vizepräsidenten des Instituts ernannte. Mein Onkel hatte mir erzählt, dass Bonaparte an den Sitzungen teilnahm, sooft er nur konnte, und schon so manchen Disput mit großem Eifer geführt hatte. Ich selbst, Bastien Topart aus einem kleinen Dorf bei Pontoise, hatte keine wissenschaftlichen Meriten vorzuweisen und war mit meinen dreiundzwanzig Jahren eigentlich in dem Alter, in dem ich meinen Armeedienst hätte ableisten müssen. Da mir aber eine Kopfverletzung, die ich mir als Kind zugezogen hatte, hin und wieder in Form heftiger Schmerzen zu schaffen machte, war ich, obwohl von großer und durchaus kräftiger Statur, für untauglich befunden worden. Als Soldat wäre ich somit nicht mit nach Ägypten genommen worden, und wohl auch nicht als unbekannter Zeichner. Zwar wurden auch Zeichner gebraucht, um die Wunder dieses fernen Landes festzuhalten, aber es gab erfolgreichere Kollegen, die man eher als mich gefragt hätte. Onkel Jean hatte seinen Einfluss bei dem Chemiker Berthollet geltend gemacht, der zusammen mit General Caffarelli die Gelehrten und Künstler für die Expedition auswählte. Auf diese Weise war ich an Bord eines der Segler der französischen Flotte gelangt, die im Mai des ereignisreichen Jahres 1798 in Toulon aufgebrochen war, um die englische Vormachtstellung in Nordafrika und Vorderasien zu brechen.
Ein düsteres Gefühl beschlich mich beim Gedanken an die Flotte, mit deren Hilfe Bonaparte erst die Insel Malta erobert und dann seine Armee nach Ägypten gebracht hatte. Inzwischen lagen die stolzen Schiffe auf dem Grund der Bucht von Abukir, wohin sie von dem einarmigen Teufel Nelson geschickt worden waren.
Ein lauter Ruf erlöste mich von meinen düsteren Betrachtungen: »Hierher, die Herren! Das sieht aus wie ein Eingang!« Der da rief, war Sergeant Kalfan, ein Veteran vieler Schlachten, der die Soldaten in unserer Begleitung, die so fleißig nach einem Zugang zu dem alten Tempel suchten, befehligte. Er stand genau unter der steinernen Bestie und winkte uns, gleich einem mechanischen Apparat, unentwegt zu.
»Schauen wir nach, was der gute Sergeant entdeckt hat«, schlug Onkel Jean vor. »Wenn es sich wirklich um einen Eingang in den Tempel handelt, hat er sich eine Extraration Schnaps verdient.«
»Dafür würde Kalfan uns sogar einen Eingang graben«, erwiderte ich lachend, klemmte den Zeichenblock unter den Arm und folgte meinem Onkel.
Je näher wir dem Tempel kamen, desto mächtiger wirkte der geflügelte Löwe auf mich, aber die freudige Erregung darüber, dass wir bald das Innere des uralten Bauwerks zu Gesicht bekommen würden, ließ keinen Raum für irgendwelche beklemmenden Gedanken. Einmal blickte ich zurück, sah weit hinter uns Abul warnend gestikulieren und lachte innerlich über den abergläubischen alten Narren aus dem Morgenland, nicht ahnend, dass er, der sich in vorsichtiger Entfernung zu dem Tempel hielt, der einzige Kluge unter uns war.
»Hier, Professor Cordelier«, sagte Kalfan, als wir ihn erreichten, und zeigte auf den Boden. »Der Eingang ist fast zugeschüttet, deshalb haben wir ihn nicht gleich entdeckt. Aber wir werden ihn bald freigeschaufelt haben.«
»Ein Eingang, der in den Boden, in die Tiefe führt«, murmelte ich, »seltsam. Beinahe wie ein Einlass in die Unterwelt.«
»Vielleicht soll es genau das sein«, sagte Onkel Jean. »Wir wissen noch zu wenig über die Erbauer dieser Stätte und können nur Mutmaßungen anstellen. Aber vielleicht sind wir schon klüger, wenn wir das Bauwerk von innen gesehen haben. Rufen Sie Ihre Leute, und legen Sie den Eingang frei, Sergeant. Zur Belohnung soll heute Abend eine Flasche Wacholderschnaps geleert werden. Wie sagte doch Montaigne? Wenigstens ein Rausch im Monat stärkt den Magen, fördert den Schlaf und mildert die Anspannungen.«
Der Sergeant grinste über das ganze runde Bauerngesicht, und die Spitzen seines mächtigen Schnurrbarts zitterten vor freudiger Erregung. »Diesem Bürger Montaigne würde ich gern die Hand schütteln. Er ist gewiss ein sehr kluger Mann!«
Von der Aussicht auf eine Sonderration Schnaps beflügelt, schwangen Kalfan und seine sieben Kameraden ihre Schaufeln und Hacken mit wahrer Inbrunst, und keine Stunde später hatten sie verwitterte Stufen freigelegt, die in eine finstere Tiefe führten. Onkel Jean ließ einige der mitgebrachten Fackeln entzünden, und vorsichtig, uns Schritt für Schritt vortastend, stiegen wir hinunter. Oben blieben nur Abul und zwei Soldaten zurück.
Abgestandene Luft schlug uns entgegen, ganz so, als sei der Eingang schon seit Jahrhunderten verschüttet, als sei schon lange nicht ein winziges Lüftchen mehr in das alte Bauwerk gelangt. Unter unseren schweren Stiefeln knirschte der Sand, während wir tiefer und tiefer hinabstiegen. Die Wände links und rechts der Treppe waren glatt und schmucklos, sodass mein Block hier leer geblieben wäre, selbst wenn ich die nötige Muße zum Zeichnen gehabt hätte.
Unten mündete die Treppe in einen langen, gewundenen Gang, dessen Decke durch etliche Säulen gestützt wurde. Diese waren, im Gegensatz zu den Wänden, mit zahlreichen jener geheimnisvollen Zeichen verziert, wie die alten Ägypter sie überall dort hinterlassen haben, wo man auf Überreste ihrer untergegangenen Kultur stößt.
Onkel Jean hatte mein Zögern bemerkt und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Geduld, Bastien. Du wirst ausreichend Gelegenheit haben, dies alles zu verewigen. Zweifellos sind wir auf eine bedeutende Kultstätte gestoßen, die wir in aller gebotenen Ausführlichkeit erforschen werden. Aber fürs Erste wollen wir einfach weitergehen und sehen, welche Wunder diese unterirdische Welt vor uns verbirgt.«
Also gingen wir, eskortiert von den Soldaten, weiter, beherrscht von einem seltsamen Zwiespalt der Gefühle. Forscherdrang und Wissbegier spornten uns zur Eile an, wohingegen das Staunen angesichts der alten Baukunst, der wir auf Schritt und Tritt begegneten, uns immer wieder zum Anhalten und zum näheren Betrachten verführen wollte. Mehrmals gerieten wir an Abzweigungen, die wir einstweilen ignorierten, wuchs doch mit jedem weiteren Schritt die Neugier auf das, was uns am Ende des Weges erwartete.
Wir hatten gerade die dritte oder vierte Abzweigung hinter uns gelassen, als wir seltsame Laute durch das Gewölbe hallen hörten: Stimmen, Schritte und dann einen langgezogenen Schrei – es klang wie der Schrei einer Frau in Todesangst.
Wir erstarrten, und wahrscheinlich spukten durch jeden Kopf ähnliche Gedanken. Waren die Warnungen vor diesem Ort mehr gewesen als der Ausdruck nebulösen Aberglaubens? Lebten hier unten diejenigen fort, die das alles vor Jahrhunderten erbaut hatten und deren Körper längst zu Staub hätten zerfallen sein müssen? Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich klammerte mich an meinem Zeichenblock fest, als könne er mich vor Geistern und Dämonen beschützen.
Sergeant Kalfan fand als erster seine Sprache wieder und deutete zu der Abzweigung. »Das kam aus diesem Gang.«
Täuschte ich mich, oder schwang in der rauen Stimme des kampferprobten Mannes ein leises Zittern mit?
Wieder hörten wir etwas. Kurze Rufe, die männlichen Kehlen entstammten, dann den spitzen Schrei einer Frau. Verstehen konnten wir nichts. War das überhaupt unsere Sprache? Gehörten die Stimmen in unsere Zeit, oder überdauerten in diesem unterirdischen Tempel Laute, die eigentlich längst hätten verklungen sein müssen?
»Sehen wir nach!«, sagte Onkel Jean in einem Ton, der zwar Verwirrung verriet, aber kein Zaudern.
Kalfan nickte. »Sie und Ihr Neffe sollten die Fackeln tragen, Professor, damit meine Männer im Notfall ungehindert ihre Waffen einsetzen können.«
So geschah es. Mein Onkel nahm eine Fackel an sich und ich deren gleich zwei, nachdem ich meinen Zeichenblock, der mir in der gegenwärtigen Lage wenig nützen konnte, auf dem Boden abgelegt hatte. Wir drangen in die Abzweigung ein, und es war beruhigend, Kalfan und seine Grenadiere, die Bajonette aufgepflanzt, bei uns zu wissen.
Die fremden Stimmen, die hin und wieder zu uns herübertönten, wurden lauter, aber noch immer verstanden wir nicht, was vor sich ging. Schließlich ging der Gang, der weniger breit war als der vorherige, in eine Biegung über, und dahinter eröffnete sich ein großer Raum, der von mehreren in eisernen Wandhaltern steckenden Fackeln erhellt wurde. Was wir dort sahen, mutete an wie eine Szene aus einem Schauspiel, dessen Verfasser seiner überbordenden, durchaus morbiden Fantasie freien Lauf gelassen hatte.
In der Mitte des Raums, zu dem es noch einen zweiten Zugang gab, erhob sich ein massiger steinerner Block, der mich an den Altar der Klosterkirche von St. Jacques erinnerte und damit an jene Zeit, bevor die Revolution Klöster und Kirchen in Frankreich hinweggefegt hatte. Darauf lag rücklings eine junge Frau, mit Stricken gefesselt, das helle Gewand zerfetzt und mit leuchtenden Flecken frischen Blutes besudelt. Sie musste diejenige sein, deren angsterfüllte Schreie wir vernommen hatten.
Als wir den Raum betraten, hob sie den Kopf und blickte uns erstaunt und zugleich wie mit neu erwachter Hoffnung entgegen.
Obwohl ihr das lange Haar, das im flackernden Licht der Fackeln kupfern leuchtete, wirr und zerzaust ins Gesicht hing, sah ich von ihrem Antlitz doch genug, um augenblicklich ihrer Schönheit zu verfallen. Die Angst, die ihre Züge zeichnete, konnte daran nichts, aber auch gar nichts ändern. Es waren ebenmäßige Züge mit hohen Wangenknochen und einer leicht gebogenen, vielleicht eine Spur zu großen Nase, die dem Gesicht einen starken Ausdruck verlieh. Der Blick aus den großen, orientalisch geschnittenen Augen blieb einen langen Moment auf mir haften, und ich meinte darin den flehentlichen Wunsch zu lesen, ich möge ihr gegen ihre Peiniger beistehen. Und dazu war ich seit der Sekunde, in der ich ihrer ansichtig geworden war, fest entschlossen.
Ihre Peiniger, das waren zehn oder zwölf Männer in seltsamen Gewändern. Sie trugen fast knöchellange, ärmellose, weit geschnittene Mäntel, deren rechte Hälfte schwarz war und die linke weiß. Auf der schwarzen Seite prangte im Brustbereich ein weißes, auf der weißen ein rotes Kreuz. Sie erinnerten mich an mittelalterliche Ritter, deren Abbildungen ich früher in der Klosterbibliothek so oft betrachtet hatte. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die Kettenhemden, die Arme, Kopf und Nacken bedeckten. Die Füße steckten in schweren Stiefeln.
Seit unserer Ankunft in Ägypten hatte ich unzählige exotische Gewandungen gesehen, nicht zuletzt an den Kriegern dieses Landes. Aber Männer wie diese erblickte ich zum ersten Mal; das waren keine Mameluckenreiter und keine Beduinenkrieger. An das Mittelalter ließ auch ihre Bewaffnung denken. Ich sah Schwerter, Schilde und Streitäxte, konnte aber keine einzige Feuerwaffe entdecken. Die unten spitz zulaufenden Schilde ähnelten in ihrer farblichen Zweiteilung den Mänteln und waren ebenfalls mit dem weißen und dem roten Kreuz verziert.
Während ich das alles in Sekundenbruchteilen wahrnahm, riss einer der Männer sein breites Schwert aus der lederbespannten Scheide und rief: »Auf sie, Brüder! Macht sie nieder!« Diesmal verstand ich. Der Mann sprach Französisch. Und die Männer, die er Brüder genannt hatte, ebenso.
Sie erhoben ihre Waffen und stürmten auf uns zu. Ich stand noch immer wie gebannt da, als sei ich in einem grotesken Traum gefangen.
»Feuer!«, hörte ich Sergeant Kalfan neben mir rufen, und schon erfüllten Pulverrauch, der meine Augen tränen ließ, und das Gebell der Musketen den Raum.
Drei oder vier der Angreifer gingen zu Boden, aber zum Nachladen blieb keine Zeit. Der Feind hatte uns erreicht. Schwerter, Streitäxte und Schilde trafen auf Gewehrkolben, Bajonette und Infanteriesäbel.
Kalfan musste es mit zwei Gegnern zugleich aufnehmen. Dem ersten, der die Streitaxt bereits zum Schlag erhoben hatte, zerschmetterte der wackere Sergeant mit dem Gewehrkolben den Kiefer. Trotz des allgemeinen Kampfgetümmels vernahm ich das Splittern des Knochens deutlich.
Ein zweiter Angreifer ließ sein Schwert auf Kalfan niederfahren. Im letzten Augenblick duckte sich der Sergeant, sodass ihm nur der Zweispitz mit dem roten Federbusch vom Kopf gerissen wurde. Er drehte seine Muskete um und rammte seinem Gegenüber die Bajonettspitze in den Leib. Einen anderen Gegner hätte dieser Stoß das Leben gekostet, aber das Kettenhemd milderte die Wucht, und der Mann im schwarz-weißen Waffenrock wich lediglich taumelnd zurück. Kalfan, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett zum erneuten Stoß erhoben, setzte ihm nach.
Wie der Kampf weiterging, konnte ich nicht verfolgen. Ein anderer Ritter – eine treffendere Bezeichnung für unsere seltsamen Gegner wollte mir nicht einfallen – drang mit schlagbereitem Schwert auf meinen Onkel ein und versperrte mir die Sicht.
Zum Glück war Onkel Jean nicht die schwächliche Gestalt, für die ein Gelehrter oft gehalten wird. Im Gegenteil, er war groß und von kräftiger Statur. Als wir noch im Kloster lebten, hatte ich eines Tages mit angesehen, wie er einem Mitbruder half, den Stamm eines gefällten Apfelbaums aus dem Boden zu ziehen. Ein eingespannter Esel hatte sich erfolglos daran versucht, aber mein Onkel hatte es mit der bloßen Kraft seiner Hände vollbracht. Auch nun, mit seinen zweiundfünfzig Jahren, befand er sich noch im Vollbesitz seiner Kräfte, wovon ich mich überzeugen konnte.
Er schleuderte dem Angreifer seine Fackel entgegen. Überrascht hielt der Ritter inne, wohl nur zwei oder drei Sekunden, aber die Zeit reichte Onkel Jean, um mit beiden Händen den rechten Unterarm des anderen zu packen. Mein Onkel rang mit ihm um den Besitz des Schwertes, und keiner wollte nachgeben. Schließlich sanken beide ineinander verschlungen zu Boden, wo das Gerangel weiterging.
Ich wollte Onkel Jean gerade beispringen, als ein mit Schwert und Schild ausstaffierter Ritter auf mich zustürmte. In seinem wettergegerbten Gesicht las ich wilde, tödliche Entschlossenheit.
Meine einzigen Waffen waren die beiden Fackeln in meinen Händen, und ich setzte sie ein. Die eine warf ich dem Ritter entgegen, so wie es mein Onkel zuvor getan hatte. Der Ritter wich aus, setzte aber seinen Angriff fort.
Schon blitzte die Schwertklinge vor mir auf, und im Geiste sah ich bereits meinen abgetrennten Kopf über den Boden rollen. Ich riss die zweite Fackel hoch und rammte sie dem Gegner mitten ins Gesicht. Er schrie schmerzerfüllt auf und ließ Schwert und Schild fallen, um die Hände schützend vor sich zu halten. Dabei riss er mir, wohl mehr aus Zufall, die Fackel aus der Hand. Der widerliche Geruch verbrannten Fleisches verursachte mir Übelkeit.
Als der Ritter die Hände sinken ließ, war dort, wo eben noch sein Gesicht gewesen war, eine grässlich entstellte Fratze, die mich hasserfüllt anblickte. Welche unvorstellbaren Qualen musste er in diesem Augenblick erdulden!
»Du erbärmlicher Hund!«, presste er mit vor Schmerz und Zorn bebender Stimme hervor. »Ich werde dich töten, so langsam, dass du dir wünschen wirst, deine Mutter hätte dich niemals geboren!«
Und schon schossen seine kettengeschützten Hände vor und schlossen sich um meinen Hals, bevor ich auch nur Anstalten machen konnte, dem Angriff auszuweichen. Ich wollte mich losreißen, wollte mit meinen Händen die seinen von mir lösen, aber es gelang mir nicht. Vielleicht war der Fremde von Natur aus stärker als ich, vielleicht auch verliehen ihm Schmerz und Zorn übermenschliche Kräfte. Fest und fester drückten seine Hände zu, und in meinem Hals war ein Stechen wie von tausend Nadeln. Ich ging in die Knie und rang würgend um Atem. Vor meinen Augen begann es zu flimmern, und ich spürte, wie die Lebenskraft aus mir wich.
Da tauchte Onkel Jean neben dem Ritter auf, mit beiden Händen ein erbeutetes Schwert umklammernd. Offenkundig hatte er seinen Gegner besiegt und entwaffnet. Mein Onkel erfasste sofort, wie es um mich stand, und schlug hastig und unkontrolliert zu. Das Schwert traf meinen Peiniger mit der flachen Seite an der Brust und schleuderte ihn von mir fort. Ich sog die so dringend benötigte Luft ein und beobachtete, wie mein Onkel das Schwert zu einem neuerlichen Schlag hob.
Ein faustgroßer Gegenstand fiel dicht neben Onkel Jean zu Boden und zerplatzte mit einem dumpfen Laut. Augenblicklich verbreitete sich grauschwarzer Rauch, der noch stärker in den Augen brannte als zuvor der Pulverrauch der Musketen. Der Qualm verbarg den Ritter mit dem verbrannten Gesicht vor mir und wohl auch vor Onkel Jean, der die tränenden Augen zusammenkniff.
Sergeant Kalfan tauchte neben meinem Onkel auf und sagte hustend: »Die Kerle haben Rauchbomben geworfen, wollen sich offenbar durch den anderen Eingang zurückziehen. Wir sollten sie nicht daran hindern, wissen wir doch nicht, ob sie irgendwo in diesem unterirdischen Gemäuer noch Verstärkung haben. Wir sollten zusehen, dass wir an die frische Luft kommen!«
»Sie haben recht, Sergeant«, keuchte Onkel Jean und wich vor dem Rauch zurück.
Ich aber, der ich mich leidlich erholt hatte, erhob mich schwankend und drang durch den Rauch zu dem steinernen Altar vor, auf dem noch immer die gefesselte Frau lag. Halb ängstlich, halb erwartungsvoll starrte sie mich an. Ich wollte ihr etwas Beruhigendes zurufen, doch aus meiner geschundenen Kehle drang nur ein kraftloses Krächzen.
Aus einer Rocktasche zog ich mein Klappmesser, das mit seiner kleinen Klinge als Waffe nicht viel taugen mochte. Aber es war scharf genug, um die Fesseln der Unbekannten zu lösen. Der Sergeant erschien neben mir und zog seinen Säbel, um mir zu helfen. Dann hob er die Frau hoch, legte sie über eine seiner breiten Schultern, und wir verließen den raucherfüllten Raum.
Auch der Gang, durch den wir uns zurückzogen, war nicht frei von dem beißenden Rauch. Wir konnten erst wieder richtig durchatmen, als wir den größeren Gang erreichten. Hier stellte ich fest, dass wir zwar vollzählig, aber allesamt lädiert waren; keiner von uns war ohne Blessuren aus dem Kampf hervorgegangen. Einer der Grenadiere war so schwer verwundet, dass er von einem Kameraden gestützt werden musste. Ein anderer hielt eine Fackel, die er wohl aus einer Wandhalterung in dem Altarraum genommen hatte – unsere einzige Lichtquelle.
Ich entdeckte meinen Zeichenblock und nahm ihn auf, bevor ich den anderen folgte. Eilig strebten wir der Treppe zu, über die wir diesen unterirdischen Ort betreten hatten. Während ich mit weichen Knien die hohen Stufen erklomm, erschien mir das nahende Tageslicht wie ein Leuchtfeuer in stürmischer Nacht.
Wir taumelten unterhalb des steinernen Untiers ins Freie, wo uns die beiden Soldaten, die wir als Wachen zurückgelassen hatten, sofort mit Fragen bestürmten. Sergeant Kalfan klärte sie in kurzen Worten auf und befahl ihnen, den Tempeleingang schärfstens zu bewachen, mussten wir doch mit Verfolgern rechnen.
Wir anderen ließen uns ein Stück entfernt nieder, um zu neuen Kräften zu gelangen. Die Grenadiere öffneten ihre Wasserflaschen und boten auch meinem Onkel und mir an, daraus zu trinken. Ich nahm die dargebotene Flasche dankbar entgegen und wandte mich der unbekannten Frau zu, die ganz in meiner Nähe hockte und zu Boden starrte. Nur hin und wieder gestattete sie sich einen raschen Blick zum Tempeleingang. Fürchtete auch sie, die Männer in den schwarzweißen Mänteln könnten uns folgen?
»Trinken Sie, Mademoiselle«, sagte ich mit einem Krächzen in der Stimme, das ich auf die Misshandlung meines Halses durch den Ritter zurückführte. »Das Wasser wird Ihnen guttun.«
Die Frau blickte auf, um erst mich und dann die Feldflasche anzuschauen. Aber sie traf keine Anstalten, meiner Aufforderung zu folgen. Selbstverständlich musste ich damit rechnen, dass sie der französischen Sprache nicht mächtig war, doch meine Geste konnte sie kaum missverstanden haben. Traute sie mir nicht? Vielleicht glaubte sie, ich wolle sie vergiften. Also trank ich zuerst und wischte mir mit einer übertriebenen Geste über den Mund, als hätte ich soeben den köstlichsten Wein zu mir genommen und nicht abgestandenes, viel zu warmes Wasser. Dann bot ich ihr die Flasche erneut an.
Täuschte ich mich, oder huschte der Anflug eines Lächelns über das ebenmäßige Gesicht, dessen Anblick allein mich für die Strapazen in dem unterirdischen Tempel entschädigte? Schnell blickte sie wieder ernst drein, fast unbeteiligt. Doch sie griff zu der Feldflasche und trank.
Als sie die Flasche absetzte, sprach mein Onkel sie an, erst auf Französisch, dann auf Arabisch. Er fragte sie, wer sie sei und was die Szene in dem Altarraum zu bedeuten hatte. Aber sie reagierte nicht.
»Stumm wie ein Fisch«, brummte Kalfan.
»Nicht immer«, sagte Onkel Jean. »Dort unten haben wir ihre Schreie gehört. Vielleicht will sie uns einfach nicht verstehen.«
Die schweigsame Schöne an meiner Seite hatte mich bereits so für sich eingenommen, dass ich mich bemüßigt fühlte, ihr zur Seite zu stehen. »Unser eilig gelerntes Arabisch ist nicht das allerbeste, Onkel. Mag sein, sie versteht uns wirklich nicht. Die Menschen hier sprechen allerlei seltsame Dialekte, und manchmal glaube ich, sie können sich nicht einmal untereinander so richtig verständigen. Vielleicht sollte Abul einmal mit ihr reden.«
»Ein guter Vorschlag, Bastien«, sagte mein Onkel. »Bist du so gut und holst ihn her?«
»Gern«, erwiderte ich und erhob mich sogleich. »Wenn ich nur wüsste, wo er steckt.«
Ich fragte die beiden Wachtposten vor dem Tempeleingang. »Der alte Ziegenbart hat sich dort zwischen den Dünen bei den Packeseln verkrochen«, erhielt ich zur Antwort. »Scheint heilfroh zu sein, dass er sich nicht in der Nähe des Tempels aufhalten muss.«
Als ich auf die Dünen zuschritt, hörte ich das durchdringende Geschrei der Esel, das uns auf unserem Weg von Kairo bis hierher begleitet und manchmal an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. Alarmiert beschleunigte ich meine Schritte – und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie unser Führer in wilder Hast auf einem Esel davonritt. Der Araber schlug mit einem krummen Stock auf den Esel ein, um ihn zur Eile anzutreiben, was das Tier mit dem weithin hallenden, wehklagenden Geschrei quittierte.
Durch den Lärm angelockt, waren mein Onkel und der Sergeant mir gefolgt. Als sie neben mir standen, war Abul schon zu einer winzigen Gestalt geschrumpft, die jeden Moment in der von den Hufen des Esels aufgewirbelten Staubwolke verschwinden würde.
»So viel also zu meiner Idee, dass Abul uns helfen könnte«, sagte ich. »Wenn er so weitermacht, bleibt der Esel erst in Kairo wieder stehen.«
»Genau da wird er hinwollen«, brummte Onkel Jean.
Kalfan stieß einen derben Soldatenfluch aus. »Sollte mich nicht wundern, wenn der Alte mit den Kerlen im Tempel unter einer Decke steckt. Jetzt, wo wir den Kampf gewonnen haben, macht er sich lieber aus dem Staub.«
Mein Onkel schüttelte leicht den Kopf. »Ich glaube, es ist die nackte Angst, die ihn von hier wegtreibt. Er hatte schon vorher gehörigen Respekt vor dem Tempel. Als er uns, verwundet und in Begleitung dieser fremden Frau, zurückkommen sah, hat die Angst ihn schlicht übermannt.«
Kalfan strich über seinen Schnurrbart und blickte skeptisch drein. »Wenn er solche Angst vor diesem Ort hat, warum hat er uns dann hergeführt?«
»Deshalb«, sagte Onkel Jean und vollführte mit Daumen und Zeigefinger die Bewegung des Geldzählens. »Aus dem Grund, aus dem die meisten Dinge auf dieser Welt geschehen.«
»Hätte er genauer gewusst, was für Gestalten in dem Tempel ihr Unwesen treiben, wäre er wohl schon vorher geflohen«, pflichtete ich meinem Onkel bei.
»Bald sind wir wieder in Kairo, und dann werden wir ihn selbst nach dem Grund fragen«, meinte Onkel Jean.
Ich blickte ihn erstaunt an. »Sie wollen die Expedition abbrechen, Onkel?«
»Was bleibt mir übrig? Die meisten von uns sind verwundet, ein Mann sogar schwer. Es ist kein Arzt unter uns. Außerdem müssen wir damit rechnen, dass unsere seltsamen Freunde aus dem Tempel uns neuerlich auf den Leib rücken. Immerhin haben wir etwas mit uns genommen, an dem sie ein großes Interesse haben.«
Er sah zu der Stelle hinüber, wo die Frau scheinbar teilnahmslos auf dem Boden hockte, den Blick auf den Tempeleingang gerichtet.
Kalfan kratzte sich am Kopf, um den er nach dem Verlust seines Hutes ein schweißfleckiges Tuch als Sonnenschutz gebunden hatte. »Was waren das nur für Gestalten, Professor? Von einem Stamm mit solcher Kleidung habe ich noch nicht gehört.«
»Mir kamen sie vor wie mittelalterliche Ritter«, warf ich ein. »Daran habe ich auch gedacht«, sagte mein Onkel. »Vielleicht können wir das ebenfalls in Kairo klären. Jetzt sollten wir uns aber um unseren Abmarsch kümmern. Ich halte es nicht für ratsam, die Nacht in der Nähe des Tempels zu verbringen.
Möglicherweise wagen unsere Gegner nicht nur einen zweiten Angriff, sondern kehren auch noch mit Verstärkung zurück.«
Der Sergeant schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab und ließ seinen Blick über den alten Tempelbau und den schroffen Berg dahinter schweifen. »Schon wahr, irgendwo da hinten könnten sich weitere Feinde verborgen halten.«
»Auf jeden Fall gibt es mehr als einen Eingang zu dem Tempel«, fuhr Onkel Jean fort. »Der, den wir freigelegt haben, ist schon lange nicht mehr benutzt worden. Die Frau dort und die Männer, von denen sie drangsaliert wurde, müssen auf andere Weise in den Tempel gelangt sein. Auf demselben Weg könnten die Fremden Verstärkung heranholen. Wir wissen nicht, ob und mit welcher Geschwindigkeit sie dazu in der Lage sind, aber zu unser aller Sicherheit sollten wir mit dem Schlimmsten rechnen und uns deshalb ein anderes Nachtlager suchen, bevor wir den Marsch zurück nach Kairo antreten.«
»Wir könnten auf dem kleinen Felsplateau nächtigen, das wir heute Mittag passiert haben«, schlug der Sergeant vor.
»Sitzen wir da nicht wie auf dem Präsentierteller, wenn die Männer uns verfolgen?«, zweifelte ich.
»Dafür haben wir von dort nach allen Seiten eine gute Sicht«, widersprach Kalfan. »Mit unseren Gewehren könnten wir uns zwischen den Felsen gut verteidigen. Der Stamm, zu dem die Männer aus dem Tempel gehören, scheint von Feuerwaffen nicht viel zu halten oder sich keine leisten zu können. Das ist ein wichtiger Vorteil für uns.«
»Sie sind der Experte in militärischen Dingen, Sergeant«, sagte mein Onkel. »Ich verlasse mich da ganz auf Ihr Urteil.« Wir gingen die Düne auf der anderen Seite hinunter und stellten zu unserer Verärgerung fest, dass Abul nicht nur einen Esel, sondern auch zwei Wasserschläuche mitgenommen hatte. Das sollte für seinen Bedarf mehr als genug sein, bis er Kairo erreichte. Unser Wasservorrat allerdings war dadurch bedenklich geschrumpft.
»Dieser arabische Hurensohn!«, platzte es aus Kalfan heraus. »Wir haben einen Schwerverwundeten zu versorgen, und der vermaledeite alte Bock klaut uns das lebenswichtige Wasser! Wenn ich den zu fassen kriege, zerquetsche ich ihn wie eine Laus!«
Die zornige Grimasse, die der Sergeant bei diesen Worten schnitt, ließ an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung keinen Zweifel zu.
»Den Teil unserer Ausrüstung, den wir für die Ausgrabungen benötigen, lassen wir zurück«, sagte mein Onkel. »So kommen wir schneller vorwärts, und die Esel müssen sich weniger anstrengen. Wir werden ohnehin hierher zurückkehren.«
»Und wenn diese … Ritter oder was auch immer dann noch hier sind?«, fragte ich.
Onkel Jean setzte eine grimmige Miene auf. »Dann sind wir vorbereitet und haben mehr Soldaten an unserer Seite als heute.«
Als wir zu den anderen zurückkehrten, wurde der Verwundete, ein rotgesichtiger Bauernsohn namens Gaspard, von seinen Kameraden versorgt. Sie versuchten, die tiefe Wunde, die wohl eine Schwertklinge in seine rechte Seite geschlagen hatte, zu reinigen. Aber die groben Soldatenhände setzten dem armen Gaspard gehörig zu, das verrieten sein schmerzverzerrtes Gesicht und die dumpfen Laute, die er stoßweise hervorbrachte.
Da regte sich die Frau, die selbst einige kleinere Verletzungen davongetragen hatte, nahm einem der Soldaten den feuchten Lappen aus der Hand und fuhr fort, die Wunde zu reinigen.
Ihre Berührungen waren ungleich sanfter, und sofort entspannte sich der Verwundete. Am Ende legte sie ihm einen Verband an, und es war offensichtlich, dass sie das nicht zum ersten Mal tat.
»Danke«, sagte Gaspard, und die Frau schenkte ihm ein Lächeln.
Mir war ein silberner Anhänger aufgefallen, den sie an einer feingliedrigen, ebenfalls silbernen Kette um den Hals trug. Ich beugte mich vor und hielt den Anhänger fest, bevor sie es verhindern konnte. Er hatte eine runde Form, war ungefähr handtellergroß und wies eine Gravur aus arabischen Schriftzeichen auf. Links und rechts davon war jeweils eine Rose eingraviert.
Aber auch ohne diese Rosen hätte das Arabischstudium, das ich betrieben hatte, seit ich von unserer Expedition nach Ägypten wusste, ausgereicht, um die Schriftzeichen zu entziffern. Dort stand Ourida, das arabische Wort für Rose. Onkel Jean, der sich im Arabischen besser auskannte als ich, bestätigte das.
»Ourida«, sagte ich gedehnt und blickte in ihre unergründlichen Augen. »Ist das dein Name?«
Als sie nicht antwortete, wiederholte ich die Frage in meinem gewiss sehr unzulänglichen Arabisch. Doch in den dunklen Augen leuchtete es kurz auf, und sie öffnete die vollen, geschwungenen Lippen.
»Ourida.«
Mehr als dieses eine Wort sagte sie nicht. Aber ich schloss daraus, dass es tatsächlich ihr Name war. Es war ein arabisches Wort, und sie hatte es gesagt, nachdem ich auf Arabisch zu ihr gesprochen hatte. War das Arabische also Ouridas Muttersprache? Vieles deutete darauf hin, auch ihre Gesichtszüge und ihre Hautfarbe, die um einiges dunkler war als die meinige, doch in mir blieben Zweifel. Nicht nur im Fackellicht, das den unterirdischen Altarraum erleuchtet hatte, auch hier im hellen Schein der Sonne glänzte ihr Haar wie dunkles Kupfer, was ich bei einheimischen Frauen noch nie gesehen hatte. Ourida blieb ein Rätsel – wie alles, was uns im Tempel widerfahren war.
Nachdem alle Wunden versorgt waren, bereiteten wir unseren Aufbruch vor. Während die Mehrzahl der Esel unsere Ausrüstung und Verpflegung trug, wurden von meinem Onkel zwei als Reittiere für Ourida und Gaspard bestimmt. Der verletzte Grenadier wurde von seinen Kameraden auf dem Eselsrücken festgebunden, damit er unterwegs nicht den Halt verlor und zu Boden stürzte. Schließlich setzte sich unser kleiner Zug in Bewegung, geradewegs nach Nordosten. In jener Richtung lag Kairo, das wir am folgenden Abend zu erreichen hofften.
Zunächst jedoch stießen wir, wie geplant, auf das kleine Felsplateau, das Sergeant Kalfan als unser Nachtlager ausersehen hatte. Wir mussten einen Skorpion verscheuchen, als wir unsere Decken auf dem Boden ausbreiteten, der, sobald die Sonne versunken war, merklich abkühlen würde. Mehr Sorge als Skorpione und die nächtliche Kälte, die in der Wüste einen so großen Kontrast zur am Tag herrschenden Hitze bildet, bereiteten mir allerdings die Ritter aus dem Tempel, die möglicherweise hinter uns her waren. Bisher hatten wir nichts von ihnen bemerkt, und trotz aller Neugier hoffte ich, dass es dabei blieb.
Wir schlugen keine Zelte auf und zündeten kein Feuer an, um unseren Aufenthaltsort nicht ohne Not zu verraten. Unsere Mahlzeit bestand aus kaltem Pökelfleisch, hartem Ziegenkäse und trockenem Brot. Zum Glück steuerte Onkel Jean aus seinen scheinbar unerschöpflichen Vorräten eine Flasche Wein bei, die unserem kargen Mahl ein wenig von seiner Trostlosigkeit nahm.
Nach dem Essen kümmerte sich Ourida, als sei das eine Selbstverständlichkeit, um Gaspard und wechselte seinen Verband. Ich ging zu ihr und sprach sie an. Sie antwortete nur mit einem langen Blick, den ich nicht zu deuten vermochte. Lag darin Sympathie – oder vollkommene Gleichgültigkeit? Ourida faszinierte mich immer mehr. Das lag nicht allein an ihrer Schönheit, sondern auch an dem Geheimnis, das sie umgab.
Was verband sie mit den Rittern, aus deren Gewalt wir sie gerettet hatten? Gehörten sie demselben Stamm an, demselben Volk? Aber die Männer im Tempel hatten Französisch gesprochen, wohingegen Ourida nicht reagierte, wenn man sie in meiner Muttersprache anredete.
Vielleicht verstellte sie sich auch nur. Alles schien möglich, und die Nacht, die sich fast übergangslos über die ägyptische Wüste legte, trug nicht zur Aufklärung des Geheimnisses bei.
Trotz der Erschöpfung, die ich nach diesem Tag spürte, drehte sich das Rad meiner Gedanken noch lange, aber irgendwann nickte ich doch ein. Wirre Traumbilder begleiteten meinen Schlaf.
Ich sah die Ritter aus dem alten Tempel vor mir, aber ich kämpfte nicht gegen sie, sondern an ihrer Seite. Ja, ich war einer von ihnen, trug einen Mantel und ein Kettenhemd. Mit Schwert und Schild verteidigte ich mich gegen eine anstürmende Übermacht wilder orientalischer Krieger, und es schien ein aussichtsloser Kampf zu sein. Meine Muskeln schmerzten, mein Arm wurde schwer, während ich Hieb um Hieb austeilte. Aber für jeden Angreifer, der vor mir fiel, tauchten zwei neue auf, und meinen Mitstreitern erging es nicht anders. Furcht befiel mich, nicht um mein Leben, sondern um etwas anderes, etwas Großartiges, Wichtiges … »Das Kreuz!«
Vor mir tauchte ein vertrautes Gesicht auf, das längliche, fast asketisch anmutende Antlitz meines Onkels, das ich in der klaren, mondhellen Nacht deutlich erkannte.
»Junge, was ist mit dir?«, fragte er besorgt und packte mich fest an der Schulter.
Der Traum fiel von mir ab, und das Klirren der Waffen verhallte. Die Nacht war still, nur das kurze Kläffen eines einsamen Wüstenfuchses klang zu uns herüber. Aber ich spürte noch immer tiefe Furcht in mir. Schweiß stand auf meiner Stirn, obwohl es bitterkalt war.
»Du hast schlecht geträumt«, stellte Onkel Jean fest, während er mit seinem Taschentuch meine Stirn trocknete. »Aber es ist vorbei, also beruhige dich!«
»Es war so – lebensecht!«, stieß ich hervor und hörte selbst die im Traum empfundene Angst in meiner Stimme. »Niemals zuvor habe ich einen Traum so deutlich erlebt. Als sei ich tatsächlich einer der Ritter gewesen.«
»Was hast du geträumt?«, fragte mein Onkel sanft.
Ich erzählte ihm alles, konnte aber seine Fragen, wer die Ritter an meiner Seite und wer die Angreifer gewesen seien, nicht beantworten.
»Worum ging es bei dem Kampf?«, fragte Onkel Jean weiter. »Ich glaube, die Ritter wollten etwas vor den Angreifern beschützen. Aber ich kann nicht sagen, was das war.«
»Beim Aufwachen hast du etwas von einem Kreuz gerufen.«
»Habe ich das?«, erwiderte ich, denn auch daran konnte ich mich nicht erinnern. »Es tut mir leid, wenn ich Sie und die anderen erschreckt habe, Onkel. Aber der Traum war so ungewöhnlich, beinahe unheimlich.«
Mein Onkel lächelte. »Schon gut, Bastien. Dieses geheimnisvolle Land lässt uns nicht unberührt, und das, was wir in dem Tempel erlebt haben, tut ein Übriges. Da braucht es dich nicht wunderzunehmen, wenn deine Sinne überspannt sind. Versuch, noch ein wenig zu schlafen! Die Nacht ist bald vorüber.«
Ich wollte seinen Rat beherzigen und legte mich wieder hin, fand aber keinen Schlaf. Unruhig wälzte ich mich hin und her. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, und schlug die Augen auf. Für einen kurzen Moment kreuzte mein Blick den der geheimnisvollen Wüstenrose.
Ja, auch Ourida war wach und betrachtete mich offenbar schon eine gewisse Zeit. Jetzt aber schloss sie die Augen rasch, vielleicht in der Annahme, ich hätte ihren Blick nicht bemerkt.
Sollte ich mich geschmeichelt fühlen? Wohl kaum, denn etwas Eigenartiges hatte in ihrem Blick gelegen – Überraschung, vielleicht auch Entsetzen.
Am Nachmittag des übernächsten Tages erreichten wir Kairo, ohne ein weiteres Mal in Gefahr geraten zu sein. Zwar hatten wir am späten Vormittag hinter uns eine Staubwolke bemerkt und schemenhaft auch Reiter erkannt, als wir durch das Fernrohr meines Onkels sahen. Aber die Reiter hatten sich uns nicht genähert. Unmöglich zu sagen, ob es die Ritter aus dem Tempel gewesen waren oder zufällig unseren Weg kreuzende Beduinen.
Das zurückliegende Abenteuer trat in den Hintergrund, sobald uns der Trubel in der großen Stadt am Nil umbrandete. Überall in den Außenbezirken waren französische Soldaten mit Schanzarbeiten beschäftigt. Sie rissen ganze Gebäude ein, um an ihrer Stelle Verteidigungsbollwerke zu errichten oder einfach nur ein freies Schussfeld für die Artillerie zu gewinnen. Zwar hatte unsere Armee das Mameluckenheer in der Schlacht bei den Pyramiden besiegt, aber nach dem Untergang unserer Flotte mussten wir besondere Vorsicht walten lassen. Der umsichtige General Bonaparte stellte sich, wie mein Onkel mir berichtet hatte, darauf ein, dass die Engländer ein Expeditionskorps anlandeten, um Kairo zu erobern.
Die Stadt hatte sich in den zwei Monaten seit unserem Einmarsch stark verändert und deutlich europäische, um nicht zu sagen französische, Züge angenommen. Überall hatten Restaurants und Kaffeehäuser eröffnet, die sich mit Interieur und Speisekarte dem abendländischen Geschmack anpassten. Selbst die europäische Mode wurde inzwischen von den Einheimischen – besonders den weiblichen – nachgeahmt, nicht stets zur Freude der Männer, die ihre Frauen nur ungern unverschleiert durch die Straßen flanieren sahen.
Sergeant Kalfan begab sich mit den meisten seiner Soldaten zum Lager seiner Kompanie, weil der heftig fiebernde Gaspard dringend ärztlicher Hilfe bedurfte. Zwei Grenadiere begleiteten meinen Onkel, die noch immer schweigsame Wüstenrose und mich zu unserem von Palmen beschatteten Haus in der Nähe der Al-Hussein-Moschee. Die ursprünglichen Bewohner waren vor dem französischen Einmarsch geflohen, und so hatten Onkel Jean und ich hier Quartier bezogen. Empfangen wurden wir von dem alten Malik, seiner Frau Zeineb und beider Enkelsohn Nafi, unseren Bediensteten. Malik, der an der Haustür stand, zog den zerbeulten Zweispitz, den er irgendwo aufgelesen hatte und seitdem fast unablässig trug, wohl um uns Franken, wie die Araber uns nannten, seinen Respekt zu erweisen. Maliks Name bedeutete nicht weniger als »König«, und er trug den traurigen Hut wahrhaftig so würdevoll wie eine Krone. Er verbeugte sich in einer Geste, die europäische Höflichkeit nachahmte, aber sehr ungelenk wirkte, und begrüßte uns in dem eigentümlichen Gemisch aus französischen und arabischen Wörtern, das er sich angeeignet hatte.
Nafi, ein vielleicht zwölf- oder dreizehnjähriger Knabe von flinkem Wesen und mit stets wachen Augen, kümmerte sich um unsere Esel, während wir anderen ins Haus gingen. Auf Onkel Jeans Geheiß brachte Zeineb unsere Begleiterin in ein Gästezimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Mein Onkel und ich ließen uns in der Bibliothek nieder und mussten nicht lange darauf warten, dass Malik uns zwei Karaffen mit Wasser und Wein brachte. Onkel Jean wies ihn an, auch den beiden Grenadieren, die vor dem Haus Wache hielten, eine Erfrischung zu bringen.
Ich lehnte mich in einem der alten Sessel zurück, schloss die Augen und labte mich an der kühlen Mischung aus Wasser und Wein. »Das tut gut nach Tagen in der Wüste, die uns nichts eingebracht haben als Schmutz, Schweiß und Todesgefahr.«
»Das siehst du bei Weitem zu düster«, widersprach mein Onkel. »Vergiss nicht den Tempel, den wir entdeckt haben, die liebreizende Ourida und das hier.«
Ich hörte, wie er etwas Schweres auf den Tisch legte, und öffnete die Augen wieder. Es war ein länglicher, in ein großes Tuch eingeschlagener Gegenstand, den er nicht mit unserem übrigen Gepäck Nafi anvertraut, sondern mit ins Haus genommen hatte. Als er das Tuch entfernte, erkannte ich die mittelalterliche Waffe, die er im Tempel erbeutet und mit deren Hilfe er mir das Leben gerettet hatte.
»Das Schwert!«, staunte ich. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass Sie es bei sich haben, Onkel.«
Die Finger meines Onkels strichen langsam über die breite Klinge. »Der Beweis dafür, dass wir uns die seltsame Geschichte nicht bloß eingebildet haben. Eine solide Arbeit und aufschlussreich dazu.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich und beugte mich vor, um die Waffe genauer zu betrachten.
»Zweischneidige Schwerter mit nussförmigem Knauf wie dieses wurden im Mittelalter verwendet, im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert.«
»So alt ist es?«
»Nein, dazu ist es zu gut erhalten. Aber wer immer es auch geschmiedet hat, ihm haben zweifellos Schwerter aus der genannten Zeit als Vorbild gedient. Besonders interessant ist das hier!«
Er wies auf ein hell schimmerndes Kreuz, das eine Seite des Knaufs schmückte. Dann drehte er das Schwert um. Auch auf der anderen Knaufseite war ein Kreuz eingraviert, hier allerdings von rötlicher Färbung.
»Ein weißes und ein rotes Kreuz!«, stieß ich aufgeregt hervor. »Wie auf den Mänteln dieser Ritter – oder wie man sie bezeichnen soll.«
»Lass uns ruhig von Rittern sprechen, Bastien. Offenbar orientieren sich diese Männer, was ihre Kleidung und Bewaffnung angeht, an den Kreuzrittern, die einst in dieses Land kamen.«
»Aber wozu der Mummenschanz?«
»Ich würde nicht von Mummenschanz sprechen. Dahinter steckt mehr, etwas sehr Gefährliches, wie wir am eigenen Leib erfahren haben. Leider wissen wir zu wenig, um die Frage nach dem Warum auch nur ansatzweise beantworten zu können. Wäre sie nicht so verschlossen, könnte Ourida uns gewiss weiterhelfen.«
Mein Onkel ging zum Bücherregal, zog einen schweren Band hervor und legte ihn neben das Schwert. Es war ein bebildertes Werk über das Mittelalter, in dem ich selbst auch schon gelesen hatte. Zielstrebig schlug Onkel Jean den Teil auf, der sich mit den Kreuzfahrten beschäftigte.
»Hm«, brummte er nach kurzem, konzentrierten Lesen. »Das hilft uns auch nicht weiter. Die Kreuzfahrer trugen die unterschiedlichsten Gewänder, auch die Angehörigen religiöser Ritterorden: weiß mit rotem Kreuz die Templer, weiß mit schwarzem Kreuz die vom Deutschen Orden, weiß mit rotem Kreuz und rotem Schwert die Schwertbrüder, schwarz mit weißem Kreuz die Johanniter. Aber hier steht nichts von schwarz-weißen Mänteln oder von einer Vereinigung, die sowohl das rote als auch das weiße Kreuz zu ihrem Zeichen erhob. Es bleibt ein Rätsel, das …«
Ein lautes Krachen, unzweifelhaft ein Schuss, schnitt ihm das Wort ab.
»Das kam von vorn!«, rief ich, sprang auf und eilte an das Fenster, das zur Straße hinausging.
Onkel Jean trat neben mich, und wir beobachteten einen Aufruhr vor dem Haus, das unserem direkt gegenüberlag. Dort wohnte ein ägyptischer Gelehrter, der sehr zurückgezogen lebte, und von dem wir nicht viel mehr wussten als den Namen: Maruf ibn Saad. Ein einziges Mal hatte ich einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können, als er durch seinen Garten spazierte: ein hochgewachsener, schlanker, sehr würdevoll wirkender Mann mittleren Alters. Vor seiner Haustür drängten sich zehn bis fünfzehn Personen, die in eine lautstarke Auseinandersetzung verwickelt waren, Ägypter, vermutlich Bedienstete von Maruf ibn Saad, und französische Soldaten in der Uniform der leichten Infanterie.
»Das gefällt mir nicht«, knurrte mein Onkel und war auch schon auf dem Weg nach draußen.
Ich folgte ihm und kam dazu, als Onkel Jean den Anführer der Soldaten, einen schlecht rasierten Korporal in schmutziger Uniform, zur Rede stellte.
»Was soll der Aufstand, Korporal? Wer hat hier geschossen?« Der Korporal maß meinen Onkel mit einem abschätzenden Blick. »Einer meiner Männer. Er hat sich gegen einen dieser stinkenden Kameltreiber verteidigt, als der handgreiflich werden wollte.«
Jetzt erst bemerkte ich den Ägypter, der blutend am Boden lag. Ich konnte nicht erkennen, ob er noch lebte.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Onkel Jean.
»Hier soll ein Gelehrter wohnen, der viele Bücher hat. Die wären in der Bibliothek des Instituts von Ägypten besser aufgehoben, haben wir uns gedacht. Schließlich sind wir jetzt die Herren im Land. Außerdem wird das Institut sich im Gegenzug sicher großzügig zeigen.«
»Das glaube ich nicht!«, schnarrte mein Onkel. »Ich bin Jean Cordelier, ich gehöre dem Institut von Ägypten an.«
Eine leichte Unsicherheit flackerte in den Augen des Korporals auf.
»Das Institut kauft Bücher, aber es stiehlt sie nicht«, fuhr Onkel Jean fort. »Und wir Franzosen sind nicht in dieses Land gekommen, um die Ägypter zu unterdrücken und auszurauben, sondern um sie von der Mameluckenherrschaft zu befreien. Ihr Verhalten, Korporal, ist mehr als schändlich, geradezu verbrecherisch. Wir leben in Frieden mit den Kairoern, aber Sie und Ihre Männer gefährden diesen Frieden. Wenn Sie nicht augenblicklich von hier verschwinden, werde ich Ihr Verhalten General Bonaparte melden!«
Dem Korporal war deutlich anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Die Muskeln zuckten, und die Kiefer mahlten heftig, während er sich die Worte meines Onkels durch den Kopf gehen ließ.
Seine Männer und er würden, wenn sie meinem Onkel gehorchten, um eine fette Beute gebracht werden. Gehorchten sie aber nicht, mochte statt der erhofften Belohnung ein Exekutionskommando auf sie warten.
Ein weiterer Trupp Soldaten eilte herbei, und ich befürchtete schon, der Korporal und seine Bande von Plünderern könnten Verstärkung erhalten. Aber dann erkannte ich unseren wackeren Sergeant Kalfan an der Spitze eines halben Dutzends Grenadiere.
Sie nahmen neben Onkel Jean und mir Aufstellung, und Kalfan fragte: »Worum geht es hier, Professor Cordelier?«
»Nur um ein Missverständnis, hoffe ich«, sagte mein Onkel energisch und fixierte den Korporal. »Die Kameraden von der leichten Infanterie wollten sich ohnehin gerade verabschieden. Nicht wahr, meine Herren?«
Zögernd antwortete der Korporal: »Jawohl, das wollten wir.« Kaum hatte er mit seinen Männern das Grundstück verlassen, ließen sich ein paar der Ägypter neben dem am Boden liegenden Mann nieder und drehten ihn so weit herum, dass auch ich sein Gesicht sehen konnte. Er war jung, noch keine zwanzig Jahre alt, und er atmete. Aber über der Brust war sein Gewand rot von Blut.
»Das sieht schlimm aus«, sagte Kalfan, der in seinem langen Soldatenleben schon viele Verwundete gesehen hatte.
Onkel Jean nickte. »Sergeant, schicken Sie sofort einen Boten zu Ihrem Regimentsarzt! Ich bitte ihn, umgehend herzukommen und sich des Verwundeten anzunehmen.«
Kalfan war verblüfft. »Aber, Herr Professor, ich weiß nicht ob er wegen eines … eines …«
»Ein Mensch ist schwer verwundet, und die Schuld daran trägt ein Schandexemplar von einem französischen Soldaten«, erklärte mein Onkel. »Also sollte die Sache auch durch einen französischen Soldaten in Ordnung gebracht werden. Der Bote soll dem Regimentsarzt ausrichten, dass er mir mit seinem baldigen Erscheinen einen großen Gefallen täte!«
»Jawohl«, antwortete Kalfan knapp und schickte einen seiner Soldaten mit der Botschaft zum Regimentsstab.
Unterdessen war in der Haustür ein Mann in einem vornehm bestickten Gewand erschienen, und ich erkannte sofort Maruf ibn Saad.
»Als Herr dieses Hauses bin ich Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet, Monsieur«, sagte er in einem Französisch, das zwar mit einem starken Akzent behaftet, ansonsten aber fehlerlos war. »Mein Name ist Maruf ibn Saad, und mein Haus ist das Ihre, wann immer Sie es wünschen.« Er wandte sich seinen Bediensteten zu und wies sie in seiner Muttersprache an, den Verwundeten vorsichtig ins Haus zu bringen, bevor er sich wieder meinem Onkel zuwandte. »Ich würde Sie gern sofort in mein Haus bitten, aber vielleicht sollten wir erst den Besuch des Arztes abwarten und Ruhe einkehren lassen. Darf ich Sie und Ihren Neffen für morgen Vormittag zum Kaffee einladen?«
»Gern«, antwortete Onkel Jean und verbeugte sich. »Aber woher wissen Sie, dass dieser junge Mann mein Neffe ist?« Der Ägypter lächelte. »Wir sind Nachbarn, oder?«
Nachdem wir uns von Maruf ibn Saad verabschiedet hatten, sagte mein Onkel zu Kalfan: »Sie und Ihre Männer sind gerade im rechten Augenblick aufgetaucht. Wie kommt es, dass Sie so schnell hier waren?«
»Ich dachte, wir sollten dem alten Abul einen Besuch abstatten, bevor es Abend wird.«
»Das ist ein guter Gedanke, Sergeant. Genau das sollten wir tun!«
Abuls Haus stand in einem der westlichen Außenbezirke Kairos, einer alles andere als vornehmen Gegend. Die meisten Gebäude hier erweckten einen halb verfallenen Eindruck. Ihre Bewohner schienen sich kaum um den Erhalt der Behausungen zu kümmern, waren dazu entweder zu arm oder zu träge. Vielleicht hatten sie sich auch einen Ausspruch zu Herzen genommen, der ihrem Propheten Mohammed zugeschrieben wurde: »Was den Wohlstand eines Gläubigen auffrisst, ist das Bauen.«
In so manches Haus hätte ein Europäer keinen Fuß gesetzt, aus Angst, ihm könne jeden Augenblick die Decke auf den Kopf fallen. Und doch lebten in solchen Ruinen ganze Großfamilien und waren sich der Gefahr scheinbar nicht einmal bewusst.
Die Schatten waren bereits sehr lang, als wir die gewundene Gasse erreichten, an deren Ende unser treuloser Führer wohnte. Sergeant Kalfan und zwei Grenadiere begleiteten Onkel Jean und mich. Die übrigen Grenadiere hatten den Befehl erhalten, unser Haus zu bewachen und gleichzeitig ein Auge auf Maruf ibn Saads Anwesen zu haben.
Zahlreiche Augenpaare beobachteten uns neugierig aus Hauseingängen und Fensteröffnungen, während wir, die Fremden aus dem fernen Frankenland, die Gasse durchschritten. Abuls windschiefes Haus erweckte einen verlassenen Eindruck; die Tür war verschlossen. Mein Onkel klopfte mehrmals laut, aber nichts geschah.
»Niemand zu Hause?«, fragte ich zweifelnd.
»Ich glaube eher, dass da jemand nicht angetroffen werden will, und das aus gutem Grund«, schnaubte Onkel Jean. »Lassen Sie die Tür aufbrechen, Sergeant!«
Die Haustür war alt und morsch, sodass es voraussichtlich keiner großen Anstrengung bedurfte, sie zu öffnen. Sergeant Kalfan selbst warf sich mit der Schulter dagegen, einmal, zweimal, und schon knirschte es gefährlich.
Bevor der Sergeant einen dritten Anlauf nehmen konnte, hörten wir das Schaben eines Riegels, und quietschend schwang die Tür auf. Wir sahen uns einer alten Frau gegenüber, deren unverschleiertes Gesicht nur aus Falten zu bestehen schien. Sie musterte uns halb ängstlich, halb verärgert. Hierzulande galt es schon als grobe Unhöflichkeit, ungebeten ein fremdes Haus zu betreten, von gewaltsamem Eindringen ganz zu schweigen.
Mein Onkel fragte die Frau nach Abul, erst auf Französisch, dann in ihrer Sprache, aber sie würdigte ihn keiner Antwort. Aus dem hinteren Bereich des Hauses drang ein dumpfer Laut an unsere Ohren, wie von einem schweren Gegenstand, der umgefallen war. Die schweigsame Alte war also nicht allein. Wir drängten sie zur Seite und eilten in den rückwärtigen Raum, aus dem das Geräusch gekommen zu sein schien. Onkel Jean schlug den zerschlissenen Vorhang zur Seite, der den Raum vom Rest des Hauses abteilte.
Auf dem Boden lag, in seitlicher Haltung, ein knochiger alter Mann, das Gesicht mit dem spitzen Kinnbart auf den vergilbten Teppich gepresst, als lausche er einem von unten kommenden Geräusch. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus. Es war Abul.
Kalfan kniete sich neben ihn und drehte ihn herum. Wir sahen, dass sein helles Gewand vor der Brust blutgetränkt war. »Mausetot, der alte Ziegenbart«, knurrte der Sergeant.
Die Frau trat hinter uns, stieß beim Anblick des Toten einen Schrei aus und schluchzte: »Ja mussihbe, ja za’al!« Was so viel hieß wie: »Welch ein Unglück, welch ein Leid!«
Sie warf sich über den Toten und begann hemmungslos zu weinen, wobei sie zwischendurch immer wieder Abuls Namen rief.
»Abul scheint ihr Mann gewesen zu sein«, sagte ich. »Offenbar ist sie von seinem Tod ebenso überrascht wie wir.«
»Er kann auch noch nicht lange tot sein«, sagte Kalfan und erhob sich wieder. »Er ist noch ganz warm. Möchte wissen, wer …«
Ein Geräusch über uns ließ ihn verstummen. Es waren unverkennbar Schritte auf dem Dach.
»Das muss er sein!«, entfuhr es dem Sergeanten, und es war klar, dass er Abuls Mörder meinte. »Ihm nach!«
Vor dem Durchgang zum rückwärtigen Raum stand die Leiter, die auf das Flachdach führte. Ich war als Erster oben und blickte mich suchend um. Wäsche flatterte an einer Leine, und in einer Ecke lagen auf einem ausgebreiteten Tuch Früchte zum Trocknen aus, aber ein Mensch war nicht zu sehen. Abuls Mörder musste über die niedrige Mauer, die das Dach einfasste, geklettert und hinuntergesprungen sein.
Aber auf welcher Seite des Hauses? Es war schon reichlich dunkel, und in diesem Randbezirk der Stadt hatte sich die von Bonaparte verordnete Straßenbeleuchtung noch nicht durchgesetzt. Die Häuser verwandelten sich zusehends in nur schemenhaft wahrnehmbare Gebilde, zwischen denen ein einzelner Mensch mit Leichtigkeit untertauchen konnte. »Den finden wir nicht mehr«, meinte dann auch einer der Grenadiere.
»Wir sollten es wenigstens versuchen«, erwiderte mein Onkel. »Ich glaube nicht, dass Abul zufällig ermordet wurde, von irgendeinem dahergelaufenen Räuber.«
Erstaunt sah ich Onkel Jean an. »Sie meinen, er sollte zum Schweigen gebracht werden?«
»Alles andere würde mich überraschen. Der Mörder kann uns vielleicht sagen, was Abul uns nicht mehr verraten kann. Aber dazu müssen wir ihn erst einmal finden!«
Eilig stiegen wir wieder nach unten und verließen das Haus. Draußen verteilten wir uns in sämtliche Himmelsrichtungen, um nach dem Flüchtigen zu suchen. Angesichts der hereinbrechenden Dunkelheit glaubte ich kaum an einen Erfolg und schlug mehr aus Pflichtbewusstsein aufs Geratewohl einen schmalen Weg ein, der von der Gasse abzweigte. Irgendwann fiel mir ein, dass ich nicht einmal bewaffnet war. Nur das Klappmesser steckte in einer meiner Rocktaschen.
Plötzlich bewegte sich etwas vor mir, und ein Schatten löste sich aus der allgemeinen Dunkelheit. Das karge Mondlicht, das die sich links und rechts von mir erhebenden Häuser durchließen, fiel auf einen orientalisch gekleideten Mann, der mir den Weg versperrte. Er streckte seinen rechten Arm aus, wie um mir die Hand zu reichen. Aber dann sah ich den Dolch und wusste, dass ich den Mörder gefunden hatte.
Ich verwarf den Gedanken, mein Klappmesser hervorzukramen. Das hätte viel zu lange gedauert, und außerdem erschien mir die kleine Klinge im Vergleich zu dem großen Dolch meines Gegenübers geradezu lächerlich.
Der Mörder schien erkannt zu haben, dass ich waffenlos war, und kam langsam auf mich zu. Ich wich zurück und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die in mir hochsteigen wollte. Nicht einmal meinen Onkel und die Grenadiere konnte ich rufen, denn ich vermochte keinen Laut hervorzubringen. Mir war, als befände ich mich wieder in dem unterirdischen Tempel und spürte die kettengeschützten Hände des Ritters an meiner Kehle.
Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf die große, kräftige Gestalt vor mir. Ich blickte in ein orientalisch anmutendes Gesicht mit schwarzem Vollbart. Über der scharf gebogenen Nase saßen wachsame Augen, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Der Mann war noch jung, höchstens vier oder fünf Jahre älter als ich.
Er schien es nicht eilig damit zu haben, mich zu töten. Es war, als warte er – wie ein Bäcker, der genau weiß, wann er das Brot aus dem Ofen ziehen muss – auf den richtigen Zeitpunkt.
Dieser Zeitpunkt kam schneller, als mir lieb war. Ein Satz des Fremden nach vorn, ein schneller Stoß mit der rechten Hand, und ich sah den Dolch schon in mein Herz eindringen.
Meine Angst und die damit verbundene Unachtsamkeit retteten mich, als ich beim ungelenken Zurückweichen stolperte und rücklings zu Boden fiel. Auch der Mörder stolperte jetzt, und zwar über mich. Er landete unsanft auf meiner linken Schulter, die augenblicklich von einem stechenden Schmerz durchfahren wurde. Der Pfad zwischen den Häusern war nicht breit genug, dass zwei ausgewachsene Männer nebeneinander liegen konnten.
Der Fremde schien sich bei dem Sturz ebenfalls verletzt zu haben, denn er stieß einen Schmerzenslaut aus. Ein seltsam kehliges Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte. Es erinnerte mich an das Knurren eines Raubtiers.
Ich war geistesgegenwärtig genug, die Verwirrung des Mannes auszunutzen, und schwang mich rittlings auf ihn. Wieder stieß er jenes eigenartige Knurren aus, das diesmal klang wie ein Ausdruck unbändiger Wut.
Seine rechte Hand fuhr hoch und wollte den Dolch in meine Brust rammen, aber es gelang mir, sie zu packen und umzudrehen. Wie im Rausch drückte ich die fremde Hand samt Dolch nach unten, ignorierte den Schmerz in meiner Schulter und mobilisierte sämtliche Kraftreserven.
Vielleicht hatte der Mörder sich bei dem Sturz stärker verletzt, als ich angenommen hatte, vielleicht war er auch nur überrascht, jedenfalls gewann ich die Oberhand. Die Klinge fuhr in die Brust des anderen und schnitt tief in das Fleisch. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut heraus. Seine Augen weiteten sich, dann sackte sein Kopf zur Seite, und jeder Widerstand erlahmte. Der schwere Körper unter mir war nur mehr eine leblose Ansammlung von Fleisch und Knochen.
Erstarrt wie erkaltetes Blei, so hockte ich auf ihm, vielleicht einige Minuten, vielleicht auch nur wenige Sekunden lang. Die Lebensgefahr, die mich eben noch in größte Panik versetzt hatte, war vorüber, und doch konnte ich mich nicht rühren. Ich hatte einen Menschen getötet, einen Mörder zwar, der zudem auch mir nach dem Leben getrachtet hatte, aber doch einen Menschen.
Mein Verstand versuchte, das in seiner ganzen Tragweite zu erfassen, und war doch nicht fähig dazu. War nicht Gott allein der Herr über Leben und Tod? Ich erschauerte bei dem Gedanken, dass ich mich in seine Befugnisse eingemischt hatte.
Irgendwann wurde ich gewahr, dass Onkel Jean und die Grenadiere vor mir standen. Waren sie durch den Kampflärm angelockt worden, oder hatte ich nach ihnen gerufen? Ich wusste es nicht.
Ich sah zu, wie sie den Toten hinaus auf die Gasse zogen. Ein Soldat hielt ein brennendes Scheit in der Hand, das er wohl aus einem der Häuser geholt hatte, und gespenstisch flackerndes Licht fiel auf den Leichnam, dessen Brust ebenso blutverschmiert war wie die von Abul. Immer mehr Schaulustige kamen aus den Häusern, ohne dass wir weiter auf sie achteten.
»Wer war der Mann?«, fragte mein Onkel und kniete sich neben den Toten.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat kein einziges Wort gesprochen.«
»Das konnte er auch nicht«, sagte Onkel Jean, nachdem er den Leichnam kurz untersucht hatte. »Er hat nämlich keine Zunge.«
»Keine Zunge?«, wiederholte ich leise, während ich zu begreifen versuchte, was das zu bedeuten hatte.
Mein Onkel schob die Kiefer des Toten auseinander, und auf sein Geheiß leuchtete der Soldat mit dem Feuerscheit in den offenen Mund. Tatsächlich konnte ich keine Zunge entdecken.