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Der Beitrag "Das Wesen der Träume" ist eine Art Zusammenfassung der wichtigsten Gedanken Fromms zum Verständnis des Traumes und zur Kunst der Traumdeutung in Abgrenzung von den Traumtheorien Freuds und Jungs. Die letzten drei Absätze des Aufsatzes enthalten die wichtigsten Thesen Fromms zur Traumsprache als der universalen symbolischen Sprache der Menschheit (wie sie Fromm dann in dem Buch "Märchen, Mythen, Träume" noch weiter ausgeführt hat). Hier wird deutlich, welchen Stellenwert das Verstehen dieser vergessenen Sprache für ein humanistisches Menschenbild und Erziehungsideal hat.
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(The Nature of Dreams)
Erich Fromm (1949a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung unter dem Titel The Nature of Dreams in Scientific American, New York, Band 180 (1949) S. 44-47; eine deutsche Übersetzung von Karl Wolff erschien unter dem Titel Das Wesen der Träume in Neue Auslese, herausgegeben vom Alliierten Informationsdienst, München 4 (1949) Heft 8, S. 25-33. Rainer Funk überarbeitete die Übersetzung für die Publikation in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, GA IX, S. 161-168.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA IX, S. 161-168.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1949 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Sigmund Freuds Traumtheorie war ein Teil seiner Theorie vom Menschen. Er nahm an, dass der Mensch im Verlauf seiner Entwicklung dazu gezwungen wird, schlechte Strebungen – Egozentrik, Destruktivität, Irrationalität – zu verdrängen, um sich so den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens anzupassen. Er tut das, sagt Freud, zum Teil durch Verwandlung seiner asozialen Strebungen in sozial-nützliche – ein Vorgang, den Freud als „Sublimierung“ oder „Reaktionsbildung“ bezeichnete. Ein Beispiel für erfolgreiche Sublimierung ist der Chirurg, der seine ursprünglich sadistischen Strebungen in eine sozial-nützliche Tätigkeit verwandelt hat. Ein Beispiel erfolgreicher Reaktionsbildung ist der Menschenfreund, dessen große Güte aus dem steten Kampf gegen seine destruktiven Tendenzen erwächst. Die besten Eigenschaften des Menschen wurzeln nach Freud in seinen schlimmsten.
Wenn wir schlafen, erklärte Freud, lässt die Anspannung nach, durch die wir unter normalen Umständen den Verbrecher, der wir im Grunde sind, in Schranken halten. Unser Traumleben ist gleichsam der Zufluchtsort, wo wir uns von der schweren Bürde unserer Kultur erholen und verdrängte infantile Strebungen befriedigen dürfen. Und doch ist auch im Schlaf die Aufmerksamkeit des inneren Zensors nur entspannt, nicht völlig ausgeschaltet. Um ihn zu hintergehen, träumen wir in einer Art von Geheimcode. Die wirkliche Bedeutung des Traumes wird nur verständlich, wenn man diesen Code entziffert. Was Freud Traumdeutung nennt, ist nichts anderes als diese Entzifferung.
Freuds Traumtheorie war den Psychologen ein Ärgernis und wurde von vielen als unwissenschaftlich gebrandmarkt. Die meisten seiner Anhänger jedoch verteidigten sie fanatisch, obwohl einige, bei aller Anerkennung ihres Wahrheitsgehaltes, sie schließlich doch für einseitig hielten. Carl Gustav Jung, der an die Spitze dieser Gruppe trat, neigte mehr und mehr dazu, den „höheren“ Sinn der Träume ebenso einseitig zu betonen, wie Freud den „niederen“. Während Freud in Träumen nur irrationale infantile Strebungen entdeckt hatte, sah Jung darin den Ausdruck sittlicher und religiöser Erfahrungen, die er als den Niederschlag vererbter religiöser und metaphysischer Ideen deutete. Wenn ein Mann im Traum eine Frau sieht, deren Gesichtszüge ihm unbekannt sind, pflegte Freud anzunehmen, dass diese Frau seine Mutter vertritt und [IX-162] dass die frühkindliche sexuelle Bindung an die Mutter, nachdem sie aus dem Bewusstsein verdrängt ist, sich nun im Traum auslebt. Sie bleibt nach Freuds Meinung dem Träumer im Traum unbekannt, um den Zensor hinters Licht zu führen. Indem er dieses Verlangen nach der Mutter mit den neueren Erlebnissen des Träumers verknüpft, sucht der Psychoanalytiker nach den verborgenen inzestuösen Tendenzen in der Beziehung des Mannes zu einer Frau, in die er sich vielleicht erst kürzlich verliebt hat. Jung seinerseits neigt dazu, die unbekannte Frau als ein aus dem „Unbewussten“ stammendes Bild zu deuten und überdies als ein Symbol für die weiblichen Elemente in der Persönlichkeit des männlichen Träumers.
Wäre Jung weniger darauf aus gewesen, eine neue Schule zu gründen und weniger fasziniert vom irrationalen Rassismus[2], so würde er nach seiner Abwendung von Freuds Dogmatismus die Sackgasse vermieden haben, in die er schließlich geriet. Wie die Dinge liegen, muss eine konstruktive Überprüfung von Freuds Traumtheorie den Faden dort aufnehmen, wo er fallen gelassen wurde, als die Schulen Jungs und anderer Psychoanalytiker sich bildeten.
Wir können mit der Definition des Traumes beginnen, die Aristoteles gibt, die Freud zwar zitiert, aber nicht gelten lässt; Träume sind der Ausdruck jeder geistigen Tätigkeit im Zustand des Schlafes. Das unterscheidende Merkmal der Träume ist also nicht ein besonderer Erlebnisbereich – weder Freuds infantile Wünsche noch Jungs wahres Bild der subjektiven Verfassung –, sondern die Wirkung des Schlafzustandes auf unsere Art des Erlebens.