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Zwei großartige und labyrinthische Werke, Höhepunkte des gemeinsamen Schaffens von Deleuze und Guattari: Die zwei Bände "Kapitalismus und Schizophrenie" werden in diesem Einsteigerband verständlich kommentiert und LeserInnen nahe gebracht. Beispiele aus verschiedenen Bereichen machen die philosophischen Einsichten anschaulich. Dabei werden auch die Gedanken der beiden Philosophen mit neuen Werken aus Philosophie, Wirtschaft, Politologie und Recht weitergedacht (z. B. Braidotti, Pistor, Krastev, Sahr) Dies ist, 51 Jahre nach der Veröffentlichung von Anti-Ödipus, der erste deutsche Kommentar zu diesem beeindruckenden philosophischen Doppelwerk, das in Deutschland bis jetzt zu wenig beachtet wurde.
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Hinweise für die LeserInnen
EINLEITUNG: BILDER UND MOTOR-BEGRIFF FÜR DELEUZES PHILOSOPHIE
Leitende Bilder
Suche nach einem Motor-Begriff für Deleuzes Denken
Kontinuität
Nachteile der Diskontinuität, Vorteile der Kontinuität
Divergenz und Kontinuität
HAUPTTEIL: KAPITALISMUS UND SCHIZOPHRENIE – IN ZWEI BÄNDE ANTI-ÖDIPUS UND TAUSEND PLATEAUS
Übersicht über AÖ und TP
Übersicht über Anti-Ödipus
Übersicht über Tausend Plateaus
Deleuze und Guattari schreiben zusammen
Viele sonderbare Begriffe
Was Deleuze von Guattari aufnahm, untersucht anhand der Proust-Essays
Von AÖ nach TP
Aufbau dieses Kommentars
Rhizom
Die Rhizom-Pflanze wird ein philosophischer Begriff und ein Bild des Denkens
TP als ein Rhizombuch
Baumdenken
Fünf Eigenschaften des Rhizoms
Dualismus zwischen Rhizom und Baum?
Je-nachdem-Ethik
Vom Dualismus zum Pluralismus=Monismus
Rhizom: Einladung zur Umkehr
Peter Wohlleben: Den Wald als Rhizom entdecken
Gekerbter und glatter Raum
Glatter und gekerbter Raum in der Musik
Mannigfaltigkeit und Patchwork
Das Meer als glatter und gekerbter Raum
Von Hecken und Äckern
Ritornell
Der Ritornell-Begriff
Menschliche Erfahrungen
Milieu und Rhythmus – Differenz und Wiederholung
Territorium markieren
Relative und absolute Deterritorialisierung
Konsistenz und Konsistenzebene
Musik und Ritornell
Qigong - Körperliche Ritornell-Übungen
Plateaus
Postulate der Linguistik
1. Gegenpostulat: Grundeinheit der Sprache ist der Befehl
Hjemslevs linguistisches Schema – 2. Gegenpostulat: Die abstrakte Sprachmaschine bezieht sich auf extrinsische Faktoren
3. Gegenpostulat: Sprache hat nur Variablen und ist ein heterogenes System
4. Gegenpostulat: Man muss nicht von einer Standardsprache ausgehen, um Sprache zu untersuchen
Passwörter
Geologie der Moral
Der humorvolle Rahmen des Kapitels
Beginn mit der Erde als organlosen Körper
Die anorganischen Schichten
Die organischen Schichten
Hjemslev Schema: Semiologie wird Ontologie
Evolution und verschiedene Milieus der Lebewesen
Alloplastische Schicht
Weiterdenken: Geologie der Moral und der Klimawandel
Einige Zeichenregime
Differenzierungen zu den Begriffen Code, Zeichen, Signifikant und Zeichenregime
Vier Zeichenregime
Signifikanz-Zeichenregime
Präsignifikantes Zeichenregime
Kontrasignifikantes Zeichenregime
Postsignifikantes Zeichenregime
Schlussbetrachtungen
Die abstrakte Maschine Gesicht
Einordnung
Normierung und Abweichung
Zeichen, Zeichenregime, Gesicht
Das christliche Gesicht
Rassismus
Christusgesicht
Schlusskapitel – Gesamtübersicht über TP
Schichten und die Lava
Gefüge
Rhizom
Konsistenzebene, organloser Körper
Deterritorialisierung
Abstrakte Maschinen, Diagramm und Phylum
Kriegsmaschine und Staatsapparat
Organloser Körper und Désir
Überblick über das Kapitel: Wie schafft man sich einen organlosen Körper
1. Zugang zum oK: Biochemie
2. Zugang zum oK: Polyvagaltheorie
Spinozas politische Frage ist auch D&Gs politische Frage
3. Zugang zum oK: Arbeit mit den inneren Teilen - IFS
Spinozas Frage bei Beziehungen mit Narzissten
4. Zugang zum oK: Qigong
Einführende Gedanken zu Désir
Die drei Synthesen und die fünf Paralogismen in AÖ
1. Zugang: Désir und Begehren bei Kant
2. Zugang: Désir und Élan vital, oK und Spinozas Substanz
3. Zugang: Désir, Idee und problematisches, virtuelles Feld
4. Zugang: Désir, das Virtuelle und das Mögliche und der Mangel
5. Zugang: Désir und das Unbewusste bei Leibniz
Wunschmaschinen und Cranio-sakral-Therapie
6. Zugang: Désir, Focusing und Leben im Prozess
7. Zugang: Désir und Gefüge
8. Zugang: Désir und Nietzsches Trieb-Philosophie
Maschinenbegriff
9. Zugang: Désir und das Gesellschaftliche
Jenseits von Marx und Freud
Wie entsteht eigentlich Mangel?
10. Zugang: Désir und Deleuzes Freud-Kritik in DW
Schizo-Analyse Definitionen
5. Zugang zum oK: Kontemplative Meditation und Überschreitung des Ego
6. Zugang zum oK: Traumatherapien
7. Zugang zum oK: Miasmatische Homöopathie
Rückblick auf das oK-Kapitel
Goethe, Marx, Keynes und Krugman
Kapitalismus mit Goethes Faust erklärt
Karl Marx
John Maynard Keynes
Paul Krugmans Modelle für den Kapitalismus
1. Modell: Die Babysitting-Kooperative
2. Modell: Der Globo
Ströme, Codes, Guthaben
Ströme und politische Philosophie
Kapitalismus: Kombination zweier decodierter Ströme
Code und Decodierung
Ströme bei Keynes
Doppelheit des Geldes im Kapitalismus
8 Thesen aus D&Gs Geschichtsphilosophie
Die 8 Thesen
Spiral Dynamics in geraffter Übersicht
Allgemeine Thesen
Thesen zu den drei Sozialformationen
Die drei Ebenen von Sozialformationen bei D&G
Sozialleben im Senegal
Dem Clan verpflichtet
Die Kleinfamilie gibt es im Senegal nicht
Der Staat ist weit entfernt
Von Sparzirkeln und Kontakten
Der Geist des Kapitalismus schleicht sich in die Stammesgesellschaft ein…
… und auch die Kleinfamilie
Die Stammesgesellschaft will den Vormarsch verhindern
Stammesgesellschaften nach D&G in AÖ
Codierung und Inzestverbot
Filiation und Heiratsallianzen
Einschreibung und Schuld statt Tausch
Gegen Lagerung
Zusammenfassung
Descartes, Freud, Ödipus und die Psychoanalyse
Psychoanalyse ist der letzte Erbe des Kartesianismus
Vier Sätze zur Psychoanalyse
Der kleine Hans
Schizoanalyse und Enneagramm
Das Enneagramm aus der Polyvagaltheorie und Entwicklungspsychologie entwickelt
Überschreitungen der Enneagrammtypen
Schizoanalyse und Enneagramm
Sozialmaschinen, Anti-Produktion und Einschreibung in AÖ
Sozialmaschinen
Anti-Produktion auf molekularer Synthese-Ebene
Anti-Produktion auf der Ebene der Sozialformationen
Anti-Produktion in der Stammesgesellschaften
Mehrwert in Stammesgesellschaft
Anti-Produktion in der despotischen Sozialformation
Imperiale Einschreibung
Anti-Produktion im Kapitalismus
Der Geist und die monetäre Maschine des Kapitalismus
Max Webers Analyse des modernen Kapitalismus
Aaron Sahr: Die moderne monetäre Maschine
Kapitalismus in AÖ
Differenz in der Ordnung des Kapitalismus
Staat und Kapitalismus
Das kapitalistische Subjekt
Neurose und Psychose
Todestrieb in AÖ
„Ein Wolf oder mehrere?“
Drei Novellen und drei Arten von Linien
Harte segmentierte, molare Linien
Novelle
Molekulare, geschmeidige Linien
Fluchtlinien
Die drei Arten von Linien in Interaktion
Tarde und die Soziologie sozialer Strömungen
Somnambulismus
Ideen- und Begehrensströme
Gegensätze und Erfindungen
Primat und Paradox der Innovationen
Fluchtlinien
Drei Hauptrichtungen in TP
Die Fluchtlinien der Gesellschaft
Fluchtlinie, Mannigfaltigkeit und Konsistenzplan
Fluchtlinie und abstrakte Maschine
Fluchtlinie und Dualismus
Der Unterschied zwischen Foucault und D&G
Die Frage, wie man das Feuer wach hält
Mikropolitik und Segmentarität
Segmentarität
Binäre, lineare, zirkuläre Segmentarität
Makropolitik und Mikropolitik
Molekular und molar
Mikrofaschismus
Mikroanalyse
Vereinnahmungsapparat und der Urstaat
Die barbarische Despotenmaschine in AÖ
Vereinnahmungsapparat in TP
Axiomatik des Kapitalismus
Das erste Axiom des Kapitalismus
Addition und Subtraktion
Sättigung
Modelle, Isomorphie und Tertium datur
Minderheiten und unentscheidbare Sätze
Scham
Kapitalismus-Analyse weiterdenken
Kontrollgesellschaften
Joseph Vogl: Kapitalismus und Ressentiment
Pistor: Der Code des Kapitals
Sahr: Kritik der finanziellen Vernunft
Krastev und Holmes: Wie der Westen seine Strahlkraft verlor
Vergleich mit Mishras Buch
Warum osteuropäische Staaten illiberal wurden
Russlands und Putins Entwicklung
Das Phänomen Donald Trump
Rückblickend Gedanken mit D&Gs Philosophie auf die Ausführungen von K&H
Können wir die Klimakrise bewältigen?
Diskussion von Herrmanns Buch: Das Ende des Kapitalismus
Klimawandel und Artensterben mit Deleuze, Tetralemma und IFS betrachtet
Tetralemma-Betrachtung der Klima-Problematik
Deleuzes Philosophie des Problems und das Klimawandel-Problem
Das erhabene Problem Klimawandel
Von Bummlern, Monopolisten und Verdrängten
Nomadische Kriegsmaschine
Zugänge
Nomadologie und Kriegsmaschine
Zwei Fragen des Kapitels
Nomadische Wissenschaft und Raum
Geigenbau als ambulante Wissenschaft
Noologie
Abzählen
Metallurgie – jenseits von Aristoteles´ Form-Materie-Modell
Affekte und Gefühle, Waffen und Werkzeuge
Staat, Kriegsmaschine und Krieg
Totaler Krieg und schrecklicher Friede
Ökolandbau und konventioneller Landbau
Werden…
Das Werden-Kapitel lesen
Ziele und das Problemfeld des Werden-Kapitels
Versuch einer theologischen Annäherung
Vernetzung des Werden-Kapitels mit anderen Kapiteln, Büchern, Philosophen, Begriffen und Fragen
Intensive Geschwindigkeiten
Affekte
Majorität und Minorität
Punktsysteme und multilineare Systeme
Beispiele zum Einstieg
Drei Arten von Tieren und was Tier-werden nicht ist
„Wir Zauberer“
Beispiel Willard
Ansteckung und Allianz – Meute und Anführer
Kontinuum der Werdensarten
Frau-Werden, Feminismus, Geschlechtsumwandlung
Sackgasse Drogen
Musik
Werden eines Ereignisses und Haecceïtas
Beispiel Werden: Nastassjas Bär-Werden
Die Geschichte
Das Ereignis lässt sich nicht einordnen
Ereignis und Begegnung
Tier-Werden
Lava und Platten
Heilungsschritte
Beispiel Werden: Virginia Woolfs Intensiv-Werden
Kostproben aus Woolfs Werk mit Deleuze, Guattari und Braidotti beleuchtet
Vita und Virginia
Nomadisches Subjekt
SCHLUSS
Alte Kirche rhizomatisch betrachtet
Deleuze und Guattari weiterdenken: Braidottis Posthumanismus
„Tod des Menschen“ und Braidottis Posthumanismus
Die doppelte Bedeutung von Posthumanismus und daraus folgende Fragen
Warum der Humanismus gar nicht so human ist
Beispiel Feministische Philosophie
Warum Antihumanismus auch ambivalent ist
Braidottis spinozistische Lebensgefühl
Tierwerdung
Kompensatorischer Humanismus
Das Posthume als Erdwerdung
Das Posthumane als Maschinenwerdung
Zoé, Relationalität und Differenz
Unterscheidung der Geister und offene Zukunft
LITERATURVERZEICHNIS
Anmerkungen
Im Text verwendete Kürzel:
D&G Deleuze und Guattari
AÖ
Deleuze und Guattari: „Anti-Ödipus“
TP
Deleuze und Guattari: „Tausend Plateaus“
DW
Deleuze: „Differenz und Wiederholung“
LdS
Deleuze: „Logik des Sinns“
KrV
Kant: Kritik der reinen Vernunft
KpV
Kant: Kritik der praktischen Vernunft
KU
Kant: Kritik der Urteilskraft
K&H Krastev und Holmes (die Autoren von „Das Licht, das erlosch)
Folgende Bücher bzw. Kapitel aus Büchern von Deleuze werden mit diesem Band besser verständlich: Die zwei Bände „Kapitalismus und Schizophrenie“
Anti-Ödipus
Tausend Plateaus
Hinweis: Den philosophischen Begriff „désir“ schreibe ich häufig französisch aus Désir, aber manchmal auch in der deutschen Übersetzung „Wunsch“, oder auch „Begehren“
Es ist wahrlich nicht einfach, Einsteigerbücher zu Deleuzes philosophische Welten zu verfassen. Die drei vorgelegten Bände versuchen die Herausforderung zu bewältigen, indem sie mehrere Zugänge und Ebenen anbieten: Sowohl viele Beispiele als auch intensives Studium von Textpassagen. Sowohl Hintergrundinformationen als auch weiterführende Gedanken und Theorien.
Dadurch ergeben sich unterschiedliche Schwierigkeitsgrade. Manche Passagen und Kapitel sind sicherlich einfacher zugänglich, andere führen die LeserInnen in die dichte Welt der Deleuzeschen Begriffe und Texte.
Alle drei Bücher enthalten teilweise auch längere Zitate aus dem Werk von Deleuze und von D&G. Sie sind nicht selten herausfordernd und nicht einfach zu lesen. Mit den Beispielen, Erläuterungen und Hintergrundwissen haben die LeserInnen mit diesen Einsteigerbänden die Chance, das Lesen von Deleuze-Texten zu trainieren. Der Trainingseffekt zeigt sich oft erst mit der Zeit, wenn man bei Deleuzezitaten trotzdem weitergelesen hat, obwohl man nicht alles verstanden hat.
Es ist recht unterschiedlich, wodurch LeserInnen Zugang zu Deleuze bekommen. Gleich im 1. Band begann ich mit Leibniz und der Infinitesimalrechnung und scheute nicht davor, auch Formeln und Graphen zu verwenden. Für Mathematik-affine Menschen ist das einfach zu verstehen und diesen LeserInnen gibt dieses Kapitel einen hilfreichen Einstieg in Deleuzes philosophische Welten. Andere LeserInnen sind abgeschreckt. Sie bekommen vielleicht durch das Proust-Kapitel im 1. Band schneller einen Zugang zu Deleuzes Philosophie. In diesem Band haben wir es wieder mit einem weiten Feld zu tun. Naturwissenschaftlich-affine LeserInnen erfreut sicherlich das Kapitel „Geologie der Moral“ und seine Beispiele. Andere LeserInnen, die kein Sensus für Chemie haben, fühlen sich überfordert.
So möchte ich nochmals den Vergleich aus dem 1. Band aufgreifen: Die Einsteigerbücher sind nicht Wandern im Flachland, sondern teilweise auch Bergsteigen im Hochgebirge. Was aber für den einen eine schwere Kletterpassage ist, ist für den anderen ein angenehmer Weg, entsprechend des eigenen Hintergrundwissens.
Die ersten gut 200 Seiten sind evtl. schwerer zu lesen als die folgenden 450 Seiten, weil in diesem ersten Teil in die Grundlage der Philosophie von D&G eingeführt wird und schwierige Kapitel aus TP behandelt werden. Deswegen kann es motivierend sein, auch mal beim Lesen des ersten Teils in den hinteren Teil zu springen und dort einfachere Kapitel zwischendurch zu erkunden. (Man darf also auch dieses Einsteigerbuch rhizomatisch lesen.) Gerade das Kapitel „Schlusskapitel – Gesamtübersicht über TP“ mag für viele schwer zu lesen sein. Aber hier kann es wertvoll sein, dieses
Kapitel zwei Mal zu lesen – das zweite Mal, nachdem man den größten Teil des Buches gelesen hat.
Es ist auch empfehlenswert, zuerst den 1. Band und den 2.Band zu lesen, bevor man sich dem 3. Band widmet. Wer mit dem 3. Band beginnt, kann die Hinweise auf einzelne Kapitel der vorherigen Bände aufgreifen.
Ich habe die drei Bände in großer Schnelligkeit geschrieben, innerhalb von gut zwei Jahren. Da ich keinen Korrekturleser hatte, sind leider in den Bänden nicht alle Fehler wie grammatische Fehler, Fehler des Spracherkennungsprogramms usw. erkannt und ausgemerzt worden. Ich hoffe, diese in der jeweiligen 2. Auflage beseitigen zu können. Trotzdem hoffe ich, dass viele LeserInnen im Großen und Ganzen Gewinn durch die Lektüre der drei Bände haben. In diesem Zusammenhang möchte ich Günther Doliva danken, der die ersten 200 Seiten Korrektur gelesen hat.
Besonders für diesen 3. Band war mir wichtig zu zeigen, dass „Anti-
Ödipus“ und „Tausend Plateaus“ auch für unsere heutigen Probleme, die die Menschheit bewältigen muss, Wichtiges vorzuweisen hat, mit dem man weiterdenken kann… Deswegen ist das Kapitel „Weiterdenken Kapitalismus“ und im Schluss das Kapitel zu Braidottis Posthumanismus recht ausführlich geworden.
Ursprünglich hatte ich drei Einsteigerbände geplant. Aber beim Schreiben dieses Bandes merkte ich, dass ich lieber AÖ und TP ausführlich erforschen will, anstatt diese Werke, die Kinobücher und „Was ist Philosophie?“ nur kompakt zu behandeln. Im Moment weiß ich noch nicht, ob es irgendwann einen 4. Band geben wird, der die Kinobücher und „Was ist Philosophie?“ kommentiert. Völlig unwahrscheinlich ist es nicht…
Mit den ersten zwei Einsteigerbänden habe ich in einen Großteil der Philosophie von Deleuze eingeführt. Wir haben die Bücher über andere Philosophen (Leibniz, Kant, Foucault, Bergson, Spinoza, Nietzsche, Strukturalismus) behandelt, auch einige weitere Philosophen erkundet, die bei Deleuze eine wichtige Rolle spielen (Simondon, Whitehead, Tarde, Maimon, Lacan). Ausführlich haben wir „Differenz und Wiederholung“ (DW) und „Logik des Sinns“ (LdS) erforscht. Ebenso haben wir Deleuzes Buch über Marcel Proust und über Francis Bacon behandelt.
Wenn man „Was ist Philosophie?“ liest, dann erkennt man, dass Deleuze mit Guattari auf ihr Philosophieren zurückschauten. Sie traten einen Schritt zurück und fragten sich: Was haben wir da eigentlich gemacht? Wie können wir unser Philosophieren in die ganze Philosophiegeschichte und in den Kontext von Wissenschaft und Kunst einordnen? So möchte ich nun auf die Philosophie von Deleuze, die wir in den ersten zwei Einsteigerbänden behandelt haben, zurückschauen.
Bergson beschreibt in seinem Artikel „Philosophische Intuition“ sehr schön, wie man sich normalerweise Philosophen nähert. Wir haben dies im 1. Band unter „Wie kann man sich einem Philosophen nähern? Tipps von Bergson“ im Kapitel zur „Kritik der reinen Vernunft“ besprochen.
Wir lernen erst einmal ein großes philosophisches System kennen. So ein philosophisches System ist wie ein großes Gebäude. Und es braucht Zeit, all die verschiedenen Zimmer, Fluren und Teilgebäude kennen zu lernen bzw. die Begriffe, ihre Zusammenhänge, die Probleme und die Lösungen dieser philosophischen Lehre. Genau das haben wir in den ersten zwei Einsteigerbänden getan: Wir haben die großen Gedankengebäude von „Differenz und Wiederholung“ und „Logik des Sinns“ erkundet.
Dann entsteht ein Interesse, woher die Fragestellungen, die Sichtweisen, die Begriffe usw. dieses Philosophen kommen: Wir fragen uns z. B., was hat Deleuze von Spinoza, Leibniz, Hume, Nietzsche oder Bergson aufgegriffen und weiter entwickelt? Auch das haben wir in den zwei Einsteigerbänden versucht. Wir haben nachvollzogen, inwiefern Deleuze in die philosophische Schule von Bergson, Spinoza, Kant, Leibniz, Nietzsche, Simondon, Salomon Maimon usw. gegangen ist.
Aber so wertvoll dieses durchdringende Verstehen der historischen Zusammenhänge ist, es erfasst vielleicht nicht immer das wirklich Neue des jeweiligen Philosophen. „Aber in demselben Maße, wie wir uns mehr in das Denken des Philosophen hineinversetzen, anstatt es nur von außen zu betrachten, sehen wir, wie seine Lehre eine neue Gestalt gewinnt. Zunächst vermindert sich ihre Kompliziertheit. Dann beginnen die Teile miteinander zu verschmelzen. Schließlich konzentriert sich das Ganze in einem Punkt, und wir fühlen, dass man sich ihm immer mehr annähern könnte, ohne ihn je zu erreichen. In diesem Punkt liegt irgendetwas so Einfaches, so unendlich Einfaches, so außergewöhnlich Einfaches, dass es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszudrücken. Und darum hat er sein ganzes Leben lang darüber gesprochen.“1 Ein großer Philosoph hat also eine tiefe philosophische Intuition, die er nicht einfach in Worte fassen kann. Ein vermittelndes Bild kann diese Intuition herausarbeiten und darstellen. „Aber was wir erfassen und festlegen können, das ist ein gewisses, zwischen der Einfachheit der philosophischen Intuition jedoch und der sie ausdrückenden Fülle der Abstraktionen vermittelndes Bild, ein flüchtig aufleuchtendes Bild, welches vielleicht ihm selber unbewusst, ihm dauernd nachgeht, ihn wie ein Schatten durch alle Windungen seines Gedankens verfolgt, und das, wenn es auch nicht die Intuition selbst ist, sich ihr sehr viel mehr annähert als der begriffliche Ausdruck, der notwendigerweise symbolisch ist, auf den die Intuition zurückgreifen muss, um so genannte „Erklärungen“ darzubieten.“2
In den ersten zwei Einsteigerbänden wurden drei Bilder immer mehr Leitfaden für Deleuzes Philosophie:
Das virtuelle Vektorfeld einer Differentialgleichung und die aktuelle Kurve
Neuraths Schiff auf dem Meer
Die Lava und die Platten über der Lava
Gerade Neuraths Schiff wurde im Prozess des Schreibens „lebendiger“ und detaillierter. Es wurde ein „Deleuzes-Philosophie-Schiff“. Das Schiff steht nun nicht nur für die Alltagssprache, sondern auch für das Ich, das aus passiven Synthesen entsteht. Bildlich gesprochen: Das Schiff kann nicht nur allein auf der See umgebaut werden. Es wurde auch nie am Land hergestellt. Es entsteht aus dem Meer, aus Seetang, Treibgut usw. (Siehe auch den Kapiteltitel in Stingelins kleinem Buch: „Pädagogik des Begriffs oder Wie zimmert man auf offener See ein Floß? Die Vorlesungen von Gilles Deleuze“ Aber er macht aus dem Bild kein grundsätzliches Bild von Deleuzes Philosophie.)
Die Lava und die Platten verdeutlichen bildlich, dass es eigentlich nur ein univokes Sein gibt, die Lava. Aber wir tendieren immer zur aristotelischen Sichtweise der Gattungsaufteilung, den Platten. Deleuze hat Bergsons Aufdeckung der transzendentalen Illusion, die die Zeit in getrennten Momenten, also räumlich betrachtet, ins Ontologische verallgemeinert.
Das Vektorfeld und die aktuelle Kurve war von Anfang an das leitende Verständnisbild, um mehrere Aspekte von Deleuzes Philosophie zu verstehen. Ich habe mit Leibniz begonnen um dieses leitende Bild verständlich für alle von Anfang an einzuführen. An diesem vermittelnden Bild kann man sehr gut das Virtuelle und das Aktuelle bzw. Problemfeld und Lösung erklären. Das Virtuelle ist differentielle Mannigfaltigkeit, eben ein Vektorfeld. Das Aktuelle ist eine konkrete Kurve. Das Problem ist wie ein Vektorfeld und die Lösung ist die aktuelle Kurve. Die hier aufgeführten Aspekte decken bei weitem nicht alle „Einsichten“ ab, die man durch diese drei leitenden Bilder haben kann. Aber ich will weiterfragen: Können wir noch einen Schritt weitergehen, um Deleuzes philosophische Intuition kompakt zu verstehen…?
Wenn Deleuze über einen anderen Philosophen schrieb, hat er selbst oft einen Begriff gefunden, der den inneren Motor des Denkens dieses Philosophen sehr gut erfasst. Bei Spinoza ist das der Begriff „Ausdruck“, bei Leibniz der Begriff „Falte“, bei Bergson der Begriff „Differenz“. Der Begriff mag im Werk des Philosophen gar nicht exponiert vorkommen, eher erscheint er im „Zwischen“, z. B. als Verb: „ausdrücken“ bei Spinoza.
Können wir einen Motor-Begriff für Deleuzes Denken finden, den Deleuze vielleicht gar nicht selber verwendete, der aber trotzdem oder gerade deswegen sehr gut den inneren Motor des Denkens von Deleuze erfasst?
Ich habe in der Sekundärliteratur einen Kandidaten gefunden, den ich für einen Motor-Begriff für Deleuzes Denken vorschlagen möchte:
Ich fand den guten Kandidaten in der Einleitung zum Kommentar zu „Tausend Plateaus“ von Brent Adkins. „Wenn ich Deleuzes Metaphysik in einem Wort beschreiben sollte, würde ich sagen Kontinuität.“3 Auf den ersten Blick ist natürlich nicht einsichtig, warum „Kontinuität“ den zentralen Denkmotor von Deleuzes Denken erfassen könnte.
Warum „Kontinuität“ trotzdem ein guter Motor-Begriff für Deleuze ist, zeigt sich, wenn man mit Bergson fragt: Zu was sagt Deleuzes philosophische Intuition „Nein!“? Naheliegend ist Diskontinuität…
Schauen wir uns einige Beispiele aus der Philosophiegeschichte an, dann wird uns plötzlich klar, wie oft Deleuze Diskontinuitätsdenken in Kontinuität umgewandelt hat:
Platons Ideen schweben transzendent über der alltäglichen Welt. Zwischen Idee bzw. Urbild und Abbildern besteht eine Diskontinuität, zum Beispiel zwischen dem Schönen und den schönen Dingen. Hier besteht ein Unterschied im Wesen nicht nur im Grad. Diese Diskontinuität verwandelt Deleuze in seiner Umkehrung des Platonismus in DW. Die Trugbilder reißen den Ideenhimmel in die heraklit´sche Immanenz hinein und zerstören deren Transzendenz. (siehe 2. Band Kommentar zum 1. Kapitel DW)
Aristoteles´ Hylemorphismus: Die Form ist diskontinuierlich zum Inhalt, zur Materie. Deleuze greift Simondon auf, weil dieser detailliert zeigte, dass diese Denkform sogar bei so einem einfachen Beispiel wie Ziegelbrennen nicht adäquat ist. Simondon zeigte eine Kontinuität zwischen Form und Materie. Diese Denkform hat sich auch auf andere Bereiche ausgeweitet! So hat Kant Anschauung und Begriffe wie passive Materie und aktiv bestimmende Form behandelt:
Kants Graben zwischen Anschauung und Begriffen, Sinnlichkeit und Verstand kritisiert Deleuze und greift Salomon Maimon auf, der den Graben durch ein Kontinuum aufhebt. „Salomon Maimon ist es, der eine grundlegende Umarbeitung der Kritik vorlegt, indem er die kantische Dualität von Begriff und Anschauung überwindet.“ (DW, S.223) (siehe 1. Band Kapitel zu Salomon Maimon)
Aristoteles´ Seinsbegriff: Wenn die Gattungen zueinander nur analog sind, dann gibt es im Sein Diskontinuität. Deleuzes´ spinozistische Ontologie ruft eine Kontinuität aus: Das Sein ist univok!
Aristoteles´ Unterscheidung von Substanz und Akzidentien schafft auch eine Diskontinuität zwischen dem Wesen, das unwandelbar, stabil ist, und den wandelbaren, nur akzidentiellen Eigenschaften. Aber wenn alles eigentlich Bewegung ist, sich verändert und dauert, so wie es Bergsons oder Whiteheads Philosophie versteht, dann ist diese Diskontinuität aufgehoben. Alles ist vernetzt und in Bewegung, ein großes offenes Ganzes, mannigfaltig mit vielen Divergenzen, die sich gegenseitig ständig beeinflussen.
(Wir begannen den 1. Band mit der Beschreibung von drei Aristoteles-Denkrahmen, die Deleuze überwinden will: Materie/Form, Gattung/Art, Substanz/Akzidenz. Alle drei Denkrahmen hat Deleuze mit einem Kontinuitätsdenken überwunden.)
Der Graben zwischen Subjekt und Objekt. Wie kommt das Subjekt zum Objekt? Die Phänomenologie will diesen Graben durch aktive Intention überwinden. Das aktive Ich richtet seine Intention, seine bewusste Absicht auf das Objekt aus. Deleuze untersucht dagegen unbewusste Synthesen. Gerade diese zeigen, dass wir in der Tiefe schon eingebettet sind, so dass zwischen Subjekt und Objekt eine tiefgründige Kontinuität besteht. Bei der Analyse der 1. passiven Synthese im 2. Kapitel von DW vertieft Deleuze Humes Analyse der passiven Synthese der Gewohnheit. Unter den psychischen passiven Synthesen finden Tausende von organischen passiven Synthesen statt, die nur in einem Kontinuum zwischen meinem Körper und der Umwelt möglich sind.
Philosophen haben Schichten der Welt aufgestellt. So beschreibt Nicolai Hartmann den „Aufbau der realen Welt“ mit vier Schichten: Unorganisches, Leben, Seele und Geist. Schon Bergson bemühte sich, die Diskontinuität zwischen diesen Schichten zu überwinden und eine Kontinuität von Bewusstsein und Leben und Materie aufzuzeigen. Deleuze und Guattari widmen sich diesem Problemfeld ausführlich in „Tausend Plateaus“.
Viele Menschen stellen sich auch einen Graben zwischen Sprache und Realem vor.
Hier
spreche ich über die Dinge
dort
. Aus dem inneren System der Sprache heraus beziehe ich mich auf Tatsachen außerhalb der Sprache. Auch diese Diskontinuität überwindet Deleuze, z. B. in „Logik des Sinns“ aber auch in „Tausend Plateaus. Sprache ist nicht ein extra Seinsbereich. Sprache ist immer auch eingebettet in Pragmatik, Soziales, Umwelt usw. Sprache entsteht aus Semiotik. Und der Bereich der Semiotik ist nicht auf die Menschenwelt beschränkt: Zeichen gibt es unter Tieren, Pflanzen, sogar in biologischen und materiellen Prozessen.
Die Moral beschäftigt sich mit der Diskontinuität zwischen Sollen und Sein. Wenn der Graben nicht überwunden werden kann, dann – so Spinoza – lamentieren die Moralphilosophen über die schwache Natur des Menschen usw. Ethik, wie sie Spinoza und Deleuze verstehen, dagegen fragt: Was vermag ein Körper? Wie kann ein Körper sein Vermögen erweitern? Wie kann ein Körper sich mit mehr freudigen aktiven Affekten erfüllen? Es ist offensichtlich, dass in dieser Sichtweise die Diskontinuität zwischen Sollen und Sein überstiegen ist.
Wenn wir andere philosophische französische Zeitgenossen von Deleuze betrachten, erkennen wir, dass sie mit Diskontinuität weiter arbeiten. Levinas behauptet eine scharfe Diskontinuität zwischen Ich und dem Anderen. Der Andere ist der ganz Andere. Aus dieser Diskontinuität entwickelt Levinas seine Ethik. Deleuze dagegen hat auch hier eine untergründige Kontinuität aufgezeigt. (Siehe die Analysen zum entsetzten Gesicht in Bd. 1 und Bd. 2) Für Derrida ist die
differance
ein Einbruch, eine unberechenbare Diskontinuität in einem System. Ähnlich ist für Badiou das Ereignis ein Einbruch in das Sein. Geht nicht Deleuze einen Schritt weiter als diese beiden, wenn er in das Brodeln selbst hineinsteigt und versucht, dieses philosophisch zu ergründen, anstatt das Brodeln nur in seinen Ausbrüchen zu beschreiben?
Eine weitere Kontinuität und Wechselwirkung in beiderlei Richtungen finden D&G (Deleuze und Guattari) im Verhältnis von Maschine, Leben und Mensch. So entstehen solche Begriffe wie „Wunschmaschine“. Wir werden sehen, dass dies nicht zu einem reinen Materialismus führt, der das Leben und das Menschliche auf rein materielle Prozesse reduziert. D&G (auch Simondon) verfallen nicht der Sackgasse des Reduktionismus.
4
In den einleitenden Gedanken zum 2.Bd. haben wir eine zentrale philosophische Frage von Deleuze angesprochen: Wie wird das Ich? Dort benutzte ich den Begriff „Einbettung“. Am Ende des 1. Bandes habe ich aufgezeigt, dass Deleuzes Philosophie auch als moderne Kontaktphilosophie bezeichnet werden kann. „Einbettung“, „Kontakt“, „Vernetztheit“ sind nur andere Begriffe für den Grundgedanken der „Kontinuität“.
Und so komme ich zum letzten Beispiel: Denken ist nicht Abbildung der Welt, wie sie ist. Das wäre Diskontinuität. „Das gleiche gilt für das Buch und die Welt: ein Buch ist, entgegen einem fest verwurzelten Glauben, kein Bild der Welt. Es bildet mit der Welt ein Rhizom.“ (TP 22) In Kurzform: Mit der Welt zu denken anstatt über die Welt.
5
Der Terminus „mit“ hat hier eine doppelte Bedeutung: Wir denken mit der Welt insofern, dass die Welt ein Hilfsmittel, Werkzeug des Denkens ist. Und wir denken mit der Welt insofern, dass die Welt selber „denkt“. So wie Spinoza das Attribut Denken auf das ganze Sein bezieht, so wie die Ereignisse miteinander kommunizieren, so ergeben sich mit der Welt zu denken Begriffe. Dagegen bedeutet über die Welt zu denken, irgendeinen Apparat der Repräsentation zwischen dem Denken bzw. den Zeichen und der Welt und ihren Dingen zu setzen.
6
Denken und Welt sind nach D&G in ständiger Wechselbestimmung: „Die unendliche Bewegung wird durch ein Hin und Her definiert [...] Die unendliche Bewegung ist zweifach, und zwischen beiden besteht nur eine Falte. In diesem Sinne heißt es: Denken und Sein sind ein und dasselbe.“ (WPh 45) Also Kontinuität zwischen Denken und Sein.
Wir werden noch weitere Beispiele für „Kontinuitätsdenken“ in diesem Band kennenlernen…
Wir sehen: Die ganze westliche Metaphysik ist eher durch Diskontinuität geprägt. Wir können Deleuzes ausschließende philosophische Intuition also zusammenfassen: Überall Diskontinuitäten aufsuchen und in Kontinuität umwandeln. Das gilt auch für die Werke, die er mit Guattari geschrieben hat. Denn bei all diesen Beispielen wird die Differenz so verstanden, dass eines besser und höher ist als das andere. Genau diese verzerrte Deutung von Differenz, hier das eine - dort das andere, wird durch das Kontinuitätsdenken überwunden.
Deleuze wählte bei seinen Untersuchungen philosophische und literarische Autoren, die zu seiner Kontinuitätsthese etwas beitragen konnten: Spinoza, Leibniz, Maimon, Nietzsche, Bergson usw.
Whiteheads Analyse der Diskontinuität Ein weiterer Philosoph, den Deleuze zwar selten explizit aber dann immer mit Hochachtung behandelte, hat vor Deleuze schon die Diskontinuität als Grundmangel der abendländischen Metaphysik angeprangert: Whitehead! Er nannte dies Bifurcation: „Wogegen ich grundsätzlich protestiere, ist die Bifurkation der Natur in zwei Wirklichkeitssysteme, die, insoweit sie wirklich sind, in unterschiedlicher Weise wirklich sind. Die eine Wirklichkeit wäre die der Entitäten, etwa von Elektronen, die Gegenstand der spekulativen Physik sind. Dies wäre die Realität der Erkenntnis; obwohl sie, nach dieser Theorie, nicht erkannt werden könnte. Denn was bekannt ist, ist die andere Art von Wirklichkeit, die begleitende Handlung des Geistes. Es gäbe dann also zwei Naturen: Die eine wäre die Vermutung, die andere der Traum.“7 Und wie die beiden Welten zusammenhängen, konnte die Philosophie nach Whitehead nicht klären! Schon William James stellte sich vor Whitehead einer verwandten Frage: Wie kann man die Kluft zwischen Subjekt und Objekt überwinden? Mit seiner Prozessphilosophie schafft Whitehead ein philosophisches Grundmodell, in dem Subjekt und Objekt schon immer vernetzt gedacht werden.
Whitehead gibt auch einen Grund an, warum wir im Abendland zur Bifurcation neigen: Im mechanistischen Weltbild geht man davon aus, dass die Natur nur aus Körpern besteht, deren einzige Eigenschaften Masse und Ausdehnung sind. Körper reagieren nur durch Anstoßung von außen und sind ansonsten passiv. Einen Körper bestimmt man in diesem Weltbild durch seine Masse an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Whitehead nennt das: „fallacy of simple location“, Fehlschluss einfacher Verortung. Alle anderen konkreten Eigenschaften wie Klang, Farbe oder Wärme sind dann aber Einbildungen, die man auf Bewegungen von Körpern zurückführen muss. Das bewirkt die Aufgabelung (Aufspaltung) in zwei getrennte Bereiche. Für Whitehead verwechseln die Mechanisten aber Abstraktheit und Konkretheit: Zeit, Masse und Raum sind keine konkreten, sondern abstrakte Gegenstände. Das ist ein fallacy of misplaced concreteness (Fehlschluss der deplatzierten Konkretheit).
Bergsons Antwort auf diese Einsicht ist: Der Graben entsteht nur in Analysesichtweise. In Dauer-Sichtweise gibt es keinen Graben, weil Subjekt und Objekt in fließender Interaktion gar nicht abgetrennt werden können.8
Deleuze ist ein vielseitiger Überwinder von Bifurcation unterschiedlicher Art. Aber nicht so, dass er wieder einen Einheitsbrei macht. Wenn wir die Begriffe der Christologie aufgreifen, kann man sagen, dass Deleuze nicht in die Falle des Monophysitismus verfällt. (Vgl. Bd.1 „Der Riss im Ich und Chalcedons Lösung mit der Idiomenkommunikation“, S.168f) Deleuze bezieht wie Bergson Zeit ein. Aber noch stärker als Bergson betont er, dass die Zeit immer eine virtuelle Dimension hat, die den Fluss der Zeit unberechenbar macht. Das zeigen der Begriff Äon und die drei Zeitsynthesen.9
Einige von Deleuzes Begriffen sind überkreuzend, um alte Gräben zu überwinden. Z. B. „Wunschmaschinen“: In der Logik der Bifurkation kann sich eine Maschine nichts wünschen. Nur Menschen können sich was wünschen. D&G interessieren sich außerdem sehr für die Interaktionen zwischen der molaren und der molekularen Ebenen, um die Bifurkation zu überwinden. (Genauere Erklärung der Begriffe folgt später.)
Deleuze sieht den Grund für die Bifurcation besonders in der Aufspaltung von Subjekt der Äußerung und Subjekt der Aussage. Wir werden das noch genauer ausführen.
Deleuze auch Vogel Beispiel in Leibniz. Dann wendet er Fallacy erweitert an
Kants Philosophie Mit Kant musste Deleuze sich natürlich beschäftigen, weil Kant einerseits wichtige Diskontinuitäten der modernen Philosophie verteidigt hat (aktives und passives Ich, Anschauung und Begriffe, Neigung und Pflicht), und andererseits auch Elemente der Kontinuität bereitgestellt hat wie zum Beispiel die drei Synthesen. Ebenso zeigt sich im freien Zusammenspiel der Vermögen in der Urteilskraft auch Kontinuität. Wenn sich die Vermögen gegenseitig im Erhabenen an die Grenzen treiben, offenbaren sie, wie die unterschiedlichen Vermögen, aus dem einem „Lavabrodeln“ der Wechselwirkungen der präindividuellen Singularitäten entstehen.
Andere Fragen stellen Das Denken der Diskontinuität ist nicht nur in der Philosophiegeschichte vorherrschend. Es ist auch nahelegend, weil wir als Kinder schon gewohnt sind zu fragen: „Was ist das?“ Die Frage „was ist das?“ ist eine Frage nach der Essenz, nach dem Unveränderlichen, nach dem Intelligiblen jenseits des Veränderlichen der Sinneserfahrungen. Nietzsche fragt dagegen „wer?“ und sucht nach den untergründigen Kräften und Kräfteverhältnissen. Der Wechsel der Frage lässt vom Diskontinuitätsrahmen zum Kontinuitätsdenken wechseln.
Bei Spinoza ist es die Frage: Was kann ein Körper? Zu was ist er fähig, was vermag er? Welche Kräfte setzen ihn zusammen oder zerstören ihn? Ein Körper ist nicht eine unabhängige Substanz, sondern ein Modus in Wechselwirkung mit anderen Modi.
Ein weiteres Beispiel: Wenn ich die Frage stelle „Was ist Wahrheit?“, dann tendiere ich immer zu Diskontinuität. Es gibt ein Wahrheitsreich, das transzendent von der veränderlichen Wirklichkeit existiert. Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eine Suche nach der Wahrheit, aber nicht nach einer jenseitigen zeitlosen Wahrheit. „Wer möchte die Wahrheit wissen? Unter welchen Bedingungen war diese Person getrieben, die Wahrheit zu suchen? Diese Fragen führen uns weg von der Vorstellung einer universalen Wahrheit a priori, die diskontinuierlich mit der Sinneserfahrung ist, und versetzt uns in die Wirklichkeit, in welcher die Wahrheit eine wesentliche Beziehung zur Zeit hat.“10
Noch ein theologisches Beispiel: Wir haben in der christlichen Theologie mit der Linie Augustinus – Luther – Barth die Überzeugung, dass die Gnade von außen kommen muss, weil der innere gute Kern zerstört ist. Zwischen den Menschen in seiner Natur nach dem Sündenfall und der Gnade herrscht Diskontinuität. Dagegen haben Pelagius – Thomas – Hugo von St. Viktor – mittelalterliche Mystiker – Rahner sich bemüht, die Kontinuität zwischen Natur und Gnade aufzuzeigen. Das Wirken der Gnade ist immer nur eine Entfaltung der göttlichen Präsenz, die immer schon da ist.
Abschließend können wir also sagen: „Für Deleuze zeigt sich in der Geschichte der Philosophie und in der Geschichte des Denkens allgemein zwei Tendenzen, eine in Richtung Diskontinuität, die andere in Richtung Kontinuität.“11
Die drei leitenden Bilder drücken auf verschiedene Weise die Kontinuität aus. Das Schiff auf dem Meer entsteht letztlich aus dem Meer, wenn es nie an Land umgebaut werden kann. Die Lava bringt die Platten hervor. Die Platten sind nichts anderes als erkaltete Lava. Die Differentialgleichung beschreibt Wechselbeziehungen und Kräftefelder, bevor irgendetwas „Festes“ da ist. Die aktuelle Lösung ist nie unabhängig von dem virtuellen Vektorfeld, das sein Grund ist.
Deleuze hat gute Gründe, warum er das Diskontinuitätsdenken verlässt und sich dem Kontinuitätsdenken auf allen erdenklichen Ebenen zuwendet. Denn das Diskontinuitätsdenken bereitet Nachteile!
Der wesentliche Grund für die Nachteile beim Diskontinuitätsdenken ist der Graben und die Frage, wie man eine Brücke über den Graben schlagen kann.
Z. B: Wie komme ich vom Subjekt zum Objekt? Kant hat diese Frage internalisiert und kommt so zu seinem Graben: Wie kann man den Graben zwischen Anschauung und Begriffen überwinden? Der Schematismus ist Kants aufwendig gebaute Brücke über den Graben! Deleuze beurteilt diese Strategie in seinem Kant-Buch so, dass diese Internalisierung originell sei, aber das Problem auf andere Weise fortbestehen lässt. „Zweifellos ist diese Verschiebung originell und aber es genügt weder eine harmonische Übereinstimmung der Vermögen, noch einen Gemeinsinn als Ergebnis dieser Übereinstimmung geltend zu machen [...] Ebenso gut könnte man sagen, dass die beiden ersten Kritiken das ursprüngliche Problem des Verhältnisses der Vermögen nicht lösen können, sondern nur aufzeigen und uns auf dieses Problem zurückverweisen, als eine letzte Aufgabe.“ (KKP 57.59)
Der Graben setzt sich im Ich weiter fort: Das transzendentale Ich und das empirische Ich sind nicht zur Deckung zu bringen. Kants Lösung sind zwei Stockwerke: die empirische Ebene und die transzendentale Ebene. Ich kann mit dem inneren Sinn nur mein empirisches Ich erfahren, nicht das transzendentale Ich. Aber das transzendentale Ich in den Giftschrank zu sperren und ein Schild „Nicht drüber nachdenken!“ davor zu hängen, ist auch keine optimale Lösung.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Simondon zeigte, dass Aristoteles´ Hylemorphismus nicht das Werden von Individuen erklären kann. Auch in diesem Bereich zeigen sich viele Nachteile des Diskontinuitätsdenkens.
Ein weiterer Nachteil: Diskontinuität braucht Ähnlichkeit und Analogie. Die schönen Dinge sind dem Schönen ähnlich. Usw. „Für Deleuze und Guattari besteht die Schwierigkeit der Analogielehre darin, dass sie fundamental die Aufgabe der Metaphysik verfehlt.“12 Analogie und Ähnlichkeiten enthalten immer Affirmation und Negation gemischt. Es gibt immer irgendwelche Aspekte, worin die schönen Dinge dem Schönen als Idee nicht ähnlich sind. Und so kann die Diskontinuität nicht sagen, was es wirklich ist.
Aber was passiert, wenn der Graben fluid wird und die zwei Seiten in Kommunikation kommen? Dann wandelt sich das Diskontinuitätsmodell hin zu einem Kontinuitätsdenken… Genau diesen Wandel vollziehen Deleuze und D&G in verschiedensten Bereichen.
Die Lösung für Kants Dilemma besteht nach Deleuze, Maimon folgend, darin, eine Kontinuität zwischen der Anschauung und dem Verstand zu entdecken, die letztlich einbegriffen ist in einer Univozität des Seins. Statt Hylemorphismus also Hylozoismus. Beim Hylemorphismus ist die Form das bestimmende und die Materie wird passiv bestimmt. Genauso macht es Kant: der Verstand ist mit seinen Begriffen bestimmend und die sinnliche Anschauung ist rein passive Materie. Dagegen setzt Deleuze die drei passiven Synthesen und macht sie stark. Das meint Hylozoismus: die Materie ist selbst lebendig und formierend. Es geschieht alles immanent! Es gibt kein externes Prinzip.
Dabei ist folgendes zentral: Die zwei Seiten werden nicht durch die Kontinuität nivelliert. Sie werden vielmehr dynamisiert und wechselseitig differentiell. Genau das haben die christologischen Diskussionen der Alten Kirche durch ihr heftiges Streiten und Ringen aufgezeigt: Die Kontinuität darf nicht so gedacht werden, dass sie innerhalb einer Identität eingefasst werden kann. Diese Einsicht zeigt sich in der Ablehnung des Monophysitismus und in der Ablehnung der Lösung von Apollinaris. Der eine Pol darf nicht völlig im anderen Pol aufgehen, so wie es der Monophysitismus vorgeschlagen hat. Leibniz´ Philosophie tendiert zu einem Monophysitismus. Alle Relationen werden eingefaltet in eine große Kontinuität, in eine große Differentialgleichung der beste aller möglichen Welten. Ebenso darf nicht der eine und der andere Pol letztlich in einer großen Identität, einer großen Synthese vereinigt werden. Hegel setzt Apollinaris´ Lösung in großem Stil um: Alles synthetisiert sich in der großen Identität des absoluten Geistes.
Wir haben im 1. Band ja schon die christologischen Häresien, Chalcedon und die Idiomenkommunikation als Denkorientierungen verwendet. So kann man den klassischen Empirismus als „Arianismus“ ansehen. Aristoteles tendiert zu einer Nestorius-Lösung: Es gibt nur eine analoge Verteilung der Gattungen im Sein. (Bei Nestorius sind die zwei Naturen nur lose verbunden.)
Gerade auch die christologischen Streitigkeiten wie die vielen Problemfelder in der Philosophie zeigten: Wer die Kontinuität denkt, der muss sie in der Differenz denken. Genau das hat das Konzil von Chalcedon negativ ausgedrückt: unvermischt und ungetrennt. Deleuze hat dieses differentielle kontinuierliche Verhältnis von Polen in seiner Philosophie auf immer neue Weise durchdacht.
Alle theologischen Hilfen, die ich in 1. und 2. Bd. angeführt habe, unterstützen das Kontinuitätsdenken. Das liegt daran, dass die Theologie, obgleich oft in der Tendenz, die Diskontinuität zu betonen, aus verschiedenen theologischen Gründen gezwungen war, die Kontinuität zu entdecken. So haben uns schon öfters theologische Gedanken und Begriffe geholfen, Deleuzes Kontinuitätsdenken besser zu fassen. Hier eine Aufzählung in Stichpunkten:
Idiomenkommunikation: Deleuze benutzte die Idiomenkommunikation, um das Verhältnis von empirischem und transzendentalem Ich zu beschreiben. Die Eigenschaften wechseln zur anderen Seite über.
Ablehnung der christologischen Häresien, weil sie entweder Diskontinuität aufrechterhalten oder die Kontinuität auf eine falsche Weise herstellen.
Die Chalcedon-Formel beschreibt, wie zwei Tendenzen sowohl ungetrennt im Konkreten als auch unvermischt beschrieben werden können. Das gleiche macht Bergson, wenn er zwei Tendenzen untersucht. D&G übernehmen dies in TP.
Rahner betonte: Die ökumenische Trinität ist gleich der immanenten Trinität. Ähnlich kann man durch das empirische Ich das transzendentale Ich erkennen. (Vgl. 1.Bd. „Der Riss im Ich und Chalcedons Lösung mit der Idiomenkommunikation“)
Die Divergenz von Christologie von oben und Christologie von unten kann helfen zu verstehen, dass wir Aktualisierung und Gegenverwirklichung nicht parallel behandeln dürfen. (2.Bd. „Die Blickrichtung des 2. Kapitels“)
Rahner betonte, dass eine „Lösungsformel“, also z. B. die Chalcedon-Formel wiederum Beginn ist. Sie wirft uns auf die Problemebene zurück. Eine Lösung beseitigt nie das Problem, die Problemebene! (vgl. 1. Bd. „Das Problematische“ im Simondonkapitel)
Deleuzes Philosophie verstehen wir aber letztlich nur, wenn wir Divergenz und Kontinuität nicht als nicht zueinander passend ansehen. Es ist gerade ein entscheidender Clou von Deleuzes Philosophie, dass er Divergenz und Kontinuität zusammendenkt. Divergenz und Kontinuität schließen sich nicht gegenseitig aus.
In Band 2 schrieb ich im Kapitel „Univozität des Seins bei Deleuze“ am Ende: „Bei Hume sind Relationen äußerlich. Sie lassen sich nicht auf die Dinge und ihrem jeweiligen Wesen zurückführen. Das ist schon ein Schritt weg vom Aristoteles-Denkrahmen in uns. Andererseits gibt es bei Leibniz eine Wechselbestimmung, so dass bei seinen Monaden die Relationen innerlich sind. Wie kann Deleuze sowohl Leibniz und Empirismus zusammendenken?
Wenn das Meer in Bewegung ist, müssen die Relationen veränderlich, damit äußerlich, ja oft zufällig sein. Nur in einer Welt mit Divergenzen kann Deleuze Leibniz und Empirismus zusammendenken! Das ergibt das nomadische Sein. Nur im nomadischen Sein sind die Relationen sowohl äußerlich wie innerlich.
In Whiteheads Prozessphilosophie konstituieren die äußeren Relationen das
Werden von actual entities, so dass sich die Relationen nach innen falten.“
Es gibt nach Deleuze keine wesentlichen Brüche, es gibt keine verschiedenen getrennten Seinsbereiche. Aber die Mannigfaltigkeit des Seins fügt sich auch nicht zu einer harmonischen „besten Welt aller Welten“ zusammen. Divergenzen, Ungleichungen machen das Sein nomadisch… Divergenzen sind fluid und bilden keine festen Abgrenzungen wie bei herkömmlichen Diskontinuitäten, die im sesshaften Denken entstehen. (Siehe Leibnizkapitel am Anfang vom 1. Bd. Auch in LdS ist die „disjunktiven Synthese“ zentral, vgl. z. B. LdS, S.223)
Jede Aktualisierung in der Welt ist ein Ort eines Verbundenseins von Virtualitäten, die notwendigerweise „unvollkommen“ miteinander interagieren. Deswegen ist es Aufgabe der Ethik nach Deleuze, die Instabilität und Wandelbarkeit der realen Welt zu akzeptieren, bildlich ausgedrückt: auf den Ungleichungen surfen zu lernen. (Mit diesem Thema haben wir Band 1 begonnen!)
Umgekehrt ist jedes politische System tendenziell gefährlich, das diese unberechenbare Wandelbarkeit von allem ablehnt bzw. durch Kontrolle und Eindämmung beherrschen und beseitigen will.
In „Tausend Plateaus“ haben D&G die verschiedenen Straßengräben, sowohl in die eine Richtung (Stasis, Kontrolle, Uniformierung) als auch in die andere Richtung (Chaos, gefährlicher bis tödlicher Kontrollverlust) philosophisch erkundet.
So stellt sich nun die Frage: Wenn wir nun zum Kontinuitätsdenkrahmen wechseln, was bedeutet das dann für unser Leben…? Auch darauf werden D&G in ihren zwei Bänden „Kapitalismus und Schizophrenie“ Antworten geben!
Mit den Ereignissen im Mai 68 wendete sich Deleuze mehr und mehr philosophischen Fragen von sozialer und politischer Natur zu. Zwar beschäftigten ihn schon bei der frühen Hume-Studie soziale und politische Fragen. Aber in der Zusammenarbeit mit Guattari intensivierte er sein Interesse für diese Fragen. Dabei baute er auf seine Einsichten seiner früheren Werke auf.13
Anti-Ödipus (AÖ), 1971 erschienen, wurde von vielen Intellektuellen als Affront betrachtet. D&G (Deleuze und Guattari) wagten es, die heilige Kuh Psychoanalyse frontal anzugreifen! Deleuze betrachtet Tausend Plateaus (TP), das 1980 erschien, als sein bestes Werk.14
In gewisser Hinsicht ist AÖ rhizomatischer geschrieben als TP. TP ist in 15 Kapitel eingeteilt und jedes Kapitel behandelt ein Thema. Bei AÖ dagegen hat die Leserin/der Leser mehr den Eindruck eines Fließens, eines Strömens, bei dem sich die Themen mehr als in TP vermischen. Das macht das Lesen von AÖ in gewisser Weise schwieriger als das Lesen von TP. D&G steigen einfach mittendrin ein. Sie beginnen zwar AÖ mit der 1. Synthese. Insofern hat das Buch schon einen „logischen“ Anfang. Aber das Buch beginnt eher wie eine abgedrehte Kurzgeschichte.
In anderer Hinsicht ist aber AÖ recht klar aufgebaut: D&G stellen im 1.Kapitel drei unbewusste Synthesen vor. Das erinnert natürlich an das 2.Kapitel von DW, an die letzten Serien von LdS und an die drei Synthesen in KrV von Kant.
Diese unbewussten Synthesen können verzerrt dargestellt und behandelt werden; diese Verzerrungen beziehen sich auf das Subjektverständnis. Deswegen nennen D&G diese Verzerrungen wie Kant in KrV Paralogismen. Diese fünf Paralogismen verzerren den Wunsch. Was „Wunsch“ genau bei D&G bedeutet, müssen wir ausführlicher erläutern. Aber schon das Wort zeigt: Das Thema von AÖ ist praktisch-ethisch! Wie kann der Wunsch, der unbewusst durch die drei Synthesen gebildet wird, durch die fünf Paralogismen verzerrt werden? AÖ ist also praktisch-ethisch und insofern passt AÖ zur KpV. Die Form der Analyse übernehmen jedoch D&G aus Elementen der KrV.
Das 3. Kapitel untersucht drei Sozialformationen: Stammesgesellschaften, Staaten bzw. Imperien, Kapitalismus. Mit dieser Analyse präsentieren D&G eine genealogische Untersuchung á la Nietzsche, der ja fordert, die Kritik Kants fortzusetzen. Wie konnte der Kapitalismus entstehen? Und wie hängt diese Genese mit der Genese des ödipalen Denkrahmens der Moderne zusammen?
Das 4. Kapitel führt beide Analysestränge, das 1. und 2 Kapitel einerseits und das 3. Kapitel andererseits, zusammen in eine „Einführung in die Schizo-Analyse“. Kapitalismus und ödipaler Denkrahmen gehören nach D&G zusammen. Das erkennt man aber nur, wenn man im Außen denkt, den Denkrahmen von Kapitalismus und ödipalem Denken überschreitet. Das will die Schizo-Analyse erreichen. Nur ein anti-ödipales Denken, ein schizophrenes Denken kann dieses Denken im Außen von Kapitalismus und Ödipus-Korsett erreichen.
Holland hat in seinem Kommentar fünf Themengebiete bzw. Problemfelder für TP aufgelistet: epistemologisch, ontologisch, anthropologisch, ethisch und politisch. Wir sehen schon an dieser Liste, dass TP quasi durch alle Felder der Philosophie marschiert.
Wir müssen bei der Philosophie von TP wie auch sonst bei Deleuze davon ausgehen, dass der Kosmos ein sich ständig selbstorganisierendes Chaos ist. Vgl. Holland 21 Die Bewegung geht vom Virtuellen zum Aktuellen, so dass man keine eineindeutigen Vorhersagen machen kann. „Starte den Prozess der Evolution 100-mal, und Du wirst 100 verschiedene Ergebnisse bekommen.“ Holland 17
Epistemologisch bedeutet das: Wie kann ich nicht nur über den Kosmos, sondern vielmehr mit ihm denken? Ich erhebe mich nicht denkend über ihn, sondern denke in ihm und somit mit ihm, eingebettet in ihn und durch die Interaktionen mit ihm auch durch ihn. (Die drei Präpositionen „mit ihm, in ihm und durch ihn“ taucht auch am Ende jedes Hochgebets auf!) Das Rhizomkapitel, das Kapitel zum glatten und gekerbten Raum und die Unterscheidung zwischen nomadischer Wissenschaft und Königswissenschaft im Kriegsmaschine-Kapitel behandeln dieses epistemologische Fragenfeld.
Ontologisch bedeutet das: Wie kann ich das offene Ganze des Kosmos verstehen? Wie ist das Verhältnis von immerwährenden Werden und Wandel und gewisser Stabilität? Wie kann man ganz konkret die Ontologie von DW, dass die Differenz grundlegender als die Identität ist, umsetzen? Das Kapitel „Geologie der Moral“, das Werden-Kapitel oder das Ritornell-Kapitel beschäftigen sich damit.
Anthropologisch bedeutet das: Wie kann die menschlich soziale Selbstorganisation eingebettet und in ihrer Besonderheit verstanden werden? Insbesondere hinsichtlich der Themen Sprache, Geld bzw. Kapitalismus, Sozialformationen und den entsprechenden Zeichenregimen? Diesem Themenfeld widmen sich die Kapitel zu den Postulaten der Linguistik, zu den Zeichenregimen, zum Gesicht und zum Staatsapparat bzw. Vereinnahmungsapparat.
Ethisch bedeutet das: Wie kann man - je nachdem - das Vermögen und die aktiven Freuden vermehren? Das Werden-Kapitel, das Kapitel zu den organlosen Körpern, aber auch „Ein Wolf oder mehrere?“ oder das Novellenkapitel stellen sich der Frage, wie man Spinozas Ethik heute modern weiterführen kann.
Politisch bedeutet das: „Wie kann man die menschliche Lebensform als selbstorganisierend sozial in der Weise verstehen, dass man sowohl das Herden- als auch Rudel-Verhalten einbezieht, repressive despotische Tyrannei als auch expansiven ökonomischen Imperialismus, die Einschränkungen von rigiden Schichten als auch die Fluchtlinien der Destratifikation?“15 In diesem Zitat verwendet Holland schon die Spezialbegriffe von D&Gs Sozialphilosophie, die sie in den Kapiteln zur nomadischen Kriegsmaschine, zur Mikropolitik und Segmentarität, zum Vereinnahmungsapparat entwickelt haben.
Wie Bergson untersuchen auch D&G in TP Tendenzen, die sich in der Realität vermischen.
Rhizomartige Formationen vs. Baumartige Strukturen
Immanenzplan vs. Organisationsplan
Organloser Körper vs. Organismus
Molekular vs molar
Planomenon vs. Ökumenon
Schizo-Gott vs. Gott der Religion
Glatter Raum vs. Gekerbter Raum
Kriegsmaschine vs. Staatsapparat
16
Deleuze erzählte in einem Brief an Kuniichi Uno, der in SG veröffentlicht ist, auf liebevolle und lebendig-ehrliche Weise, wie Deleuze und Guattari sich kennenlernten, wie sie einander schätzen gelernt haben und sich entschlossen, zusammen zu arbeiten und wie ungewöhnlich die Zusammenarbeit ausgeschaut hat. Ein Freund von beiden brachte Deleuze und Guattari kurz nach Mai 68 zusammen. Fast bescheiden beschreibt Deleuze sich selbst und Guattari mit wertschätzenden Prädikaten: „Doch auf den ersten Blick gab es nichts, worüber wir uns hätten verständigen können. Felix hat immer viele Seiten gehabt, er arbeitete in der Psychiatrie, in der Politik und mit Gruppen. Er ist ein Gruppen Star. Oder vielmehr sollte man ihn mit einem Meer vergleichen: dem Anschein nach ständig in Bewegung, unentwegt funkelnd. Er kann von einer Tätigkeit zur anderen wechseln, er schläft wenig, er reist, er hört nie auf. Er verfügt über außergewöhnliche Geschwindigkeiten. [Man sieht, dass Deleuze Guattari aus einer Spinoza-Perspektive beschreibt] ich dagegen bin eher wie ein Hügel: ich bewege mich sehr wenig, bin außerstande, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, meine Ideen sind fixe Ideen, und wenn ich mich – selten – rege, handelt es sich um innere Bewegungen. Ich schreibe gern allein, spreche aber nicht gern, außer in den Vorlesungen, wo das Wort einer anderen Ordnung untersteht.“ (SG 223)
Deleuze muss sich am Jahresanfang 1969 einer schweren Operation unterziehen, in der ihm der zerstörte Lungenflügel entfernt wird. Deleuze wird vom Arzt Erholungszeit verordnet. In dieser Zeit schlägt Guattari Deleuze eine Zusammenarbeit vor. Beide ahnen, dass sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit, in ihrer Differenz gegenseitig befruchten können. Der quirlige Guattari kann Deleuze in noch freieres Denken führen und Deleuze kann den quecksilbrigen Guattari begrifflichen Halt und Ausarbeitung anbieten. Die Zusammenarbeit gelingt nur, weil sie sich in ihrer Differenz belassen, die verschiedenen Rhythmen und Schnelligkeiten aushalten. Dabei darf man sich ihre Zusammenarbeit keineswegs als harmonisch im üblichen Sinne vorstellen: „Wir begannen mit langen, endlosen Briefen ohne jede Ordnung. Dann setzten wir uns zusammen, für ein paar Tage oder Wochen verstehst du: es war sehr anstrengend, aber gleichzeitig haben wir die ganze Zeit gelacht. Und jeder für sich entwickelte diesen oder jenen Punkt in verschiedenen Richtungen, dann fügen wir das Geschriebene zusammen und erfanden Wörter, wann immer wir sie benötigten. Manchmal gewann das Buch eine solche Kohärenz, dass sie nicht mehr durch den einen oder den anderen von uns zu erklären war. Das liegt daran, dass unsere Unterschiede uns zwar geschadet, letztlich aber doch mehr genützt haben. Wir hatten nie den gleichen Rhythmus. Felix warf mir vor, nicht auf die Briefe zu reagieren, die er mir schickte: weil es mir im Augenblick einfach nicht möglich war. Ich konnte erst später etwas damit anfangen, nach ein oder zwei Monaten, wenn Felix schon ganz woanders war. Und wenn wir uns trafen, sprachen wir nie beide: der eine sprach, der andere hörte zu. Ich ließ nicht locker, auch wenn es Felix zu viel wurde; und Felix verfolgte mich selbst dann, wenn ich nicht mehr konnte. Nach und nach gewannen die Begriffe eine autonome Existenz, die wir manchmal auch weiterhin auf unterschiedliche Weise begrenzen (zum Beispiel haben wir unter dem „organlosen Körper“ immer etwas anderes verstanden). Niemals ist die Arbeit zu zweit eine Vereinheitlichung gewesen, sondern eher eine Wucherung, eine Anhäufung von Abzweigungen, ein Rhizom. Ich könnte genau sagen, wer dieses oder jenes Thema, diesen oder jenen Begriff beigesteuert hat. Zuweilen war Felix ein regelrechtes Gewitter, und ich war dann so etwas wie ein Blitzableiter, ich vergrub alles in der Erde, damit es in anderer Form wieder erstehen, aber Felix trifft es wieder auf usw., und so kamen wir voran.“ (SG 224f)
Diese Zusammenarbeit erinnert mich an das diskordante Zusammenspiel der Vermögen, das Deleuze in DW beschrieben hat: Eine Begegnung zwingt zum Denken, so dass sich die Vermögen gegenseitig an die Grenze treiben. Das Ungedachte, das loquendum, das sentiendum zeigt sich und bringt neue Begriffe, Einsichten, Affekte usw. hervor.
So befruchteten sich Deleuze und Guattari gegenseitig. Z. B. der Begriff abstrakte Maschine kommt zwar von Guattari, aber Deleuze hat ihn mit seiner Nietzsche-Philosophie oder seinem Verständnis vom problematischen Feld weiter durchdacht. Ebenso hat Deleuze den Begriff Mikropolitik, den Guattari eingebracht hatte, mit seinem Bergson-Verständnis von Mannigfaltigkeiten gedeutet.17
Den Schreibprozess von TP erläutern D&G im Rhizomkapitel: „Jeden Morgen nach dem Aufstehen hat sich jeder von uns gefragt, welche Plateaus er sich vornehmen würde, um hier fünf oder dort zehn Zeilen zu schreiben.“ (TP 37) In dem Brief an Kuniivhi Uno betont Deleuze, dass sich ihre Zusammenarbeit beim TP-Buch veränderte, weil sie sich aneinander gewöhnt hatten und jeder schon erraten konnte, wo der andere hinstrebte. „Unsere Gespräche enthielten immer zahlreiche Ellipsen, und wir konnten alle möglichen Wechselwirkungen herstellen, nicht zwischen uns, sondern zwischen den Gebieten, die wir durchquerten.“ SG 225
Besonders bei den Kapiteln „Ritornell“, „nomadische Kriegsmaschine“ und „Werden-Kapitel“ hatten D&G schönste Momente der Zusammenarbeit und Deleuze offenbart, dass er dort den Eindruck hatte, „unbekannte Territorien zu betreten, wo sonderbare Begriffe lebten.“ (SG 225)
Für Deleuze selber ist TP ein Buch, dessen Erarbeitung in der Zusammenarbeit mit Guattari glücklich gemacht hat, und das er nie ganz ausschöpfen könne. (Vgl. SG 225) Einerseits tröstlich für uns LeserInnen, wenn wir vieles nicht verstehen. Andererseits zeigt das, dass TP mehr ist als die Addition der Gedanken von Deleuze und Guattari. Die Zusammenarbeit hat schöpferisch Neues hervorgebracht.
Warum haben D&G ein Faible für sonderbare Begriff? Begriffe wie „Wunschmaschine“, „Schizophrenie“, „nomadische Kriegsmaschine“ usw. Menschen mit Psychosen, mit destruktiven Wahnvorstellungen sind ja keineswegs erstrebenswerte Vorbilder. Krieg ist schrecklich, zerstörerisch.
Natürlich können wir das gleich mit dem Hinweis entkräften: Die Kriegsmaschine meint nicht den Krieg allein und die Schizo-Analyse huldigt nicht kranken Schizophrenen. Umgekehrt kann man für D&G argumentieren, dass sie sich keine heile Welt jenseits der realen Welt philosophisch zusammenbasteln wollen. Vielmehr fragen sie, wie kleinere Bewegungen in größerem Umfang destruktiv werden können bzw. wie destruktive Phänomene letztlich auf weitverbreitete unterirdische Sackgassen hinweisen. Sagt der Schizophrene nicht etwas über unsere Gesellschaft selbst aus? Kann der Mikrofaschismus der Nährboden für das bekannte Phänomen des Faschismus werden?
Deleuze selber bezeichnet einige Begriffe in TP als sonderbar. (Vgl. SG 225) Für die meisten LeserInnen ist die Liste der sonderbaren Begriffe wahrscheinlich noch viel länger. AÖ und TP quellen regelrecht über an sperrigen Begriffen. Und ich bekenne, dass ich viele Begriffe erst einmal als blöd, unangenehm und crazy empfand. Auch Kircher meint vorsichtig, dass D&G fast schon barbarische Begriffe kreiert haben.18
Schon im 1. Band habe ich die Erschaffung und Entdeckung eines Begriffes durch einen Philosophen mit der Erschaffung und Entdeckung einer Romanfigur durch einen Schriftsteller verglichen. Der Philosoph, der einen Begriff erschafft, ist oft erstaunt, wie sich der Begriff entwickelt. Es ist vergleichbar mit der Erfahrung, die die Autorin Hustvedt beschreibt, die sie mit ihren Romanfiguren erlebt: „Sobald ich die imaginäre Person hören und fühlen kann, selbst wenn sie mir nicht ähnlich ist, kann ich die Figur schreiben. Zugang zu diesen Menschen bahne ich mir nicht durch Kalkül. Ich fertige keine Listen mit ihren Eigenschaften an und entscheide dann, wie die Figuren sprechen. Sie nisten sich in mir ein und fangen von selbst an zu reden. Dabei ist Rhythmus wichtig, wesentlich. Unterschiedliche Charaktere haben unterschiedliche Sprechrhythmen.“19
In ähnlicher Weise – glaube ich – haben D&G Begriffe in sich einnisten lassen, so dass die Begriffe ihr rhizomatisches Wachstum in verschiedene Richtungen beginnen konnten. So sagt Deleuze im Fernsehinterview treffend über seine philosophische Arbeit besonders in AÖ und TP „Was ist eine Schöpfung von Begriffen? Ein Begriff existiert nicht weniger als Personen. Ich glaube, es bedarf einer großen Fülle von Begriffen, eines Übermaßes an Begriffen. Die Begriffe müssen in der Philosophie wie in einem Kriminalroman höherer Art präsentiert werden: Sie müssen einen Bereich der Präsenz haben, eine lokale Situation lösen, mit den „Dramen“ zu tun haben, eine gewisse Grausamkeit aufweisen.“20
Begriffe können also wie Romanfiguren ein Eigenleben entwickeln. Wie kommt das? Weil sie sich in einem Problemfeld entwickeln, das ja der Philosoph selber gar nicht voll im Griff hat und komplett überschauen kann. Deswegen können sie auch eine gewisse Grausamkeit aufweisen. Die sonderbaren, barbarischen, verrückten Begriffe aus AÖ und TP verdeutlichen das schon in ihrem „Namen“, im Begriffswort selber.
Aber warum so viele Begriffe in TP? Vielleicht, weil sich D&G Bergsons Einsicht zu Herzen genommen haben, dass viele philosophische Begriffe eher Konfektionsgrößen gleichen, als dass sie passgenau sind.21 Wer das vermeiden möchte, muss bereit sein, viele Begriffe zu erschaffen und zu erkunden, die gleichzeitig das Vermögen haben, Differenzen und die Mannigfaltigkeit des Realen zu durchschreiten. So schaffen es D&G mit den vielen Begriffen in TP, das Soziale aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschauen zu können. „Allein durch die Schaffung fremdartiger Begriffe kann jemand Fremder in der eigenen Sprache werden und ungewöhnliche neue Fragen stellen.“22
Die innere Mannigfaltigkeit der großen Begriffe in AÖ und TP regen außerdem die LeserInnen selbst zum Denken an, eröffnen neue Denkhorizonte. Sie sind ähnlich einem modernen Bild, das viele Deutungen zulässt, gerade weil es neue Sichtweisen, Affizierungsweisen anregt.
Wenn D&G in TP auf Biologie, Musik, Ethologie usw. bezugnehmen, dann weil sie überzeugt sind: auch philosophische Begriffe entstehen nicht aus dem Nichts. Vielmehr entstehen sie in Nachbarschaftszonen zu anderen Wissenschaften. D&Gs Begriffe sind ja nie auf bestimmte abgegrenzte externe Objekte bezogen. Sie etablieren vielmehr neue Koordinaten und ermöglichen frische Begegnungen.23
In der Firmvorbereitung lernte ich einmal eine Jugendliche kennen, die zu einer Bewegung von Harry Potter-Fans gehört, die Geschichten zu gewissen Personen aus dem „Hogwarts-Universum“ erfinden. So schrieb sie Geschichten über Luna Lovegood. Sie ließ also – wie es Hustvedt beschrieb – die Person in sich einnisten und weiterwachsen. Ich glaube, dass wir LeserInnen von D&Gs Büchern genau das auch mit ihren Begriffen machen sollten. Das wird – nach meiner Einschätzung – in der philosophischen Sekundärliteratur zu Deleuze viel zu wenig gemacht. Und meine Vermutung im Blick auf die Rezeption der Kinobücher z. B. ist, dass das Nicht-Philosophen eher machen als die Philosophen im akademischen Milieu.
Anne Sauvagnargues hat in ihrem Büchlein „Ethologie der Kunst. Deleuze, Guattari und Simondon“ einige Linien aufgezeigt, wie Guattari Deleuzes Denken beeinflusst hat. Sie zeigt aber andererseits auch auf, dass Guattari nicht ein völlig neues Denken bei Deleuze bewirkte, vielmehr Tendenzen und Entwicklungen in Deleuzes Denken weiterführte und weiterbrachte. Dabei ist für sie hilfreich, Deleuzes zweite Schrift zu Proust genauer anzuschauen, in der der Einfluss von Guattari deutlich wird.
Beginnen wir mit dem Strukturalismus als Ausgangspunkt: Die Erkenntnis des Strukturalismus ist, dass ein sprachliches Zeichen, ein Wort an sich keine Bedeutung hat. Seine Bedeutung bekommt es nicht durch das Subjekt, durch seinen mentalen bewussten Akt. Seine Bedeutung bekommt es aber auch nicht durch die Wirklichkeit, auf die sich das Zeichen bezieht. Der Strukturalismus fand heraus, dass nur das interne Spiel der Beziehungen, also die Struktur, den Sinn hervorbringt. Der Sinn wird also produziert. „All diese theoretischen Diskurse lassen uns von einer Theorie der Bedeutung zu einer Theorie der Produktion des Sinns übergehen. So unterschiedliche Elemente wie ein Sprechakt, eine unbewusste Produktion, ein sozialer Konflikt, eine Verwandtschaftsbeziehung oder ein Mythos verweisen weder auf einen empirischen Referenten noch auf eine sprachliche Bedeutung oder eine gegebene Essenz. Woher rührt also ihr Sinn? Er rührt von einem Effekt der Position, einem als symbolisch qualifizierten Spiel der Beziehungen, dass eine neue Zone dessen Produktion einrichtet.“24 Das hat Deleuze in seinem Artikel zum Strukturalismus wunderbar beschrieben. Es gibt kein Reservoir von ewigen Essenzen, die transzendent sind, keinen Weltlogos, aus dem sich der Sinn ergibt. Und der Sinn kommt auch nicht aus einer inneren Intentionalität des menschlichen Geistes. In LdS ist der Sinn ein Oberflächeneffekt mit seinen eigenen Gesetzen und Wirksamkeiten. Wie wir gesehen haben, geht hier Deleuze schon über den reinen Strukturalismus hinaus.
Durch Felix Guattari bekommt Deleuze neue Impulse: Von der Interpretation zum Experiment und von den strukturalen Formalismen zur pragmatischen und ökologischen Dimension. Was bedeutet das?
Deleuze verlässt mit Guattari endgültig das Schema Signifikant-Signifikat. Es gibt viele Zeichen, sprachliche, biologische, materielle Zeichen. In einer Mutterlösung zum Beispiel ist ein Keim ein Zeichen, wie wir gesehen haben. Ein Enzym wirkt wie ein Zeichen für eine bestimmte Reaktion usw. Hier wird nichts repräsentiert, hier muss nichts interpretiert werden. Hier haben wir ökologische Semiotiken. Oder die Markierungen eines Territoriums durch ein Tier und daneben andere Markierungen ergeben Affektkarten. Der Strukturalismus blieb noch auf einer Ebene verharrend: die differentiellen Beziehungen innerhalb dieser Ebene bestimmen den Sinn. Deleuze hat das schon in LdS aufgebrochen. Mit Guattari geht er noch einen Schritt weiter. „Die Erfahrung ist ein Produkt, und sie wird produziert durch eine Kreuzung realer Effekte (Ökologie) und Produktionen des Sinns (Formalismus). Die Sinnproduktion bezieht sich nicht mehr auf eine streng strukturale Operation, die einem Zeichensystem innerlich ist, sondern auf ein Experimentieren, das auf ökologische Weise einen neuen Erfahrungsmodus begründet.“25 Diesen experimentellen Erfahrungsmodus bezeichnet Guattari als Maschine. Hier sucht man nicht mehr nach Archetypen, also Kategorien des Imaginären wie bei C.G. Jung, man begründet auch nicht mehr mit einer symbolischen Struktur wie Lacan. Dieser ökologische Ansatz von Guattari ist wahrlich ein Immanenzdenken: alles kann hier mit jedem quer und krumm miteinander in Beziehung gesetzt werden. So gibt es für Guattari drei Umwelten, die miteinander agieren: die anorganische und organische Umwelt, auf die sich normalerweise Umweltschutz und Ökologie bezieht, die soziale Umwelt und die mentale Umwelt. (Vgl. „Die drei Ökologien“. Die sozialen Netzwerke mit ihren Informationen sind somit beides, soziale Umwelt und mentale Umwelt.) Diese verschiedenen Zeichenwelten durchdringen sich im ökologischen Denken von Guattari und Deleuze.