Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Viele dieser 46 politisch aufklärenden Predigten fassen die Grundgedanken von erhellenden Büchern zusammen, z. B. "Bürgerkriege" von Barbara Walter, "Die Donut-Ökonomie" von Kate Raworth, "Code des Kapitals" von Katharina Pistor, "Das Licht, das erlosch" von Krastev und Holmes, "Wir können auch anders" von Maja Göpel, "Raus aus der ewigen Dauerkrise" von Maren Urner, "Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein" von Bernie Sanders, "Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus" von Thomas Biebricher. Weitere Themen: Whistleblower, keine Beziehungsdramen sondern Femizide, politisches Handeln in einer komplexen Welt usw.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 320
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Viele dieser politisch aufklärenden Predigten fassen die Grundgedanken von erhellenden Büchern auf wie „Bürgerkriege“, „Donut-Ökonomie“, „Code des Kapitals“, „Das Licht, das erlosch“, „Wir können auch anders“, „Raus aus der ewigen Dauerkrise“
Vorwort
Zwei Impulse für die passende Haltung
Sinnvollere und weniger sinnvollere Haltungen in einer komplexen Krise
Die drei Gaben des Hl Geistes Ohnmacht, Unwissenheit,Verwirrung
Barbara Walter: „Bürgerkriege“
Die vier Faktoren für Bürgerkriege
Soziale Medien können Demokratien gefährden und Bürgerkriege befördern
Bürgerkriege und Genozide
Wie man Bürgerkriege verhindern kann
Kate Raworth: „Die Donut-Ökonomie“
Einführung zur Donut-Ökonomie: Füllt den neuen Wein nicht in die alten Schläuche
Statt lineares systemisches Denken
Ziel der Wirtschaft kann nicht allein die Steigerung des Bruttosozialprodukts sein
Das Menschenbild: Der Typ Wirtschaftsmensch
Die Bühne und die Rollen in unserer Wirtschaft
Soziale Gerechtigkeit
Kreislaufwirtschaft
Bergsons Anregungen zur Diskussion um grünes Wachstum oder Postwachstumsgesellschaft
Maja Göpel: „Wir können auch anders“
Schluss mit der Insektenvernichtung
Was Monopoly über den Kapitalismus verrät
Katharina Pistor: „Der Code des Kapitals“
Einführung in „Code des Kapitals“
Landeigentum
Maren Urner: „Raus aus der ewigen Dauerkrise“
Einladung zur Umkehr hin zu einem dynamischen Denken
Was braucht es, um glücklich zu werden?
Sieben Empfehlungen für eine Umkehr
Für einen fairen Umgang miteinander
Verantwortlicher Umgang mit Wissen
Zwei Predigten zu Franziskus´ Enzykliken
Die Enzyklika „Fratelli tutti“ und die Menschheitsliebe in Bergsons Philosophie
Die drei Ökologien und die Enzyklika „Laudato si“
Predigten zum Thema Komplexität
Kontraktionsebenen
Gegen Monopolisten, für Vielfalt und Balance
Der bewusste Geist weiß nicht, was die Zellen alles tun und wie es ihnen geht
Predigten zu Putin und Ukrainekrieg
Putins Feindbild: „Faschistische Ukrainer“
Predigt an Sebastiani zur Putin-Analyse aus Krastev/Holmes: „Das Licht, das erlosch“
Predigten zur gefährdeten Demokratie
Grundthesen des Buches „Das Licht, das erlosch“
Whistleblower – Propheten heute
Warum kämpfen Menschen für ihre Knechtschaft?
Neid schüren und die Demokratie entkräften – Warnungen vor der AfD
Die Sehnsucht nach einem sicheren Hafen - Warum wählen Menschen die AfD
Lernen und Frusterfahrungen
Gute Regierungsarbeit als Mittel gegen Populisten
Zur Flüchtlingsproblematik
Politische Dialektik zwischen leeren Versprechen und nachträglichen Wenden
Zwischen Skylla und Charybdis
Predigten zur Gewalt in unserer Gesellschaft
Moralischer Relativismus beim Thema Prügelstrafe
Mobbing in der Schule
Kein Beziehungsdrama, sondern Femizid
Ethische Fundierung mit der Traumatisierbarkeit des Menschen
Naturrecht heute?
Unterdrückung und verkrampft sozial zugewandt
Letzte Predigt dieses Buches
Seid wachsam, wie ihr und andere denken und reden
Anmerkungen
Heute ist die Feststellung der Philosophen Deleuze und Guattari leider mindestens genauso aktuell wie zu ihrer Zeit: „So bleibt die grundlegende Frage der politischen Philosophie immer noch jene, die Spinoza zu stellen wusste: warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?“1 Warum jubeln Menschen Trump, Putin, Erdogan oder Orban zu?
Deswegen ist politische Aufklärung heute not-wendig. Nur wer die Knechtschaft durchschaut, wird nicht mehr für diese Knechtschaft kämpfen, als wäre sie ihr Heil.
Aber muss diese politische Aufklärung auch durch Predigten geschehen? Warum nicht! Steht man mit politischer Aufklärung doch in bester Tradition mit den Propheten des AT oder auch mit Jesus selbst. Soziale Ungerechtigkeiten, falsche Propheten und unheilvolle Konsequenzen durch bestimmte politische Entscheidungen sprachen die Propheten offen an. Und Jesus entlarvte die Pharisäer, die Lasten anderen auferlegen, sich aber gerne selber ins Rampenlicht stellen und bejubeln lassen. Er wollte keine Unterdrückung unter seinen Jüngern, wie sie die Könige und Herrscher praktizierten.
Deswegen können wir auch zu den unterschiedlichsten aktuellen Themen wie Bürgerkriege oder Mobbing passende Texte in der Bibel finden.
Aber sollen Predigten nicht von der Gnade Gottes sprechen?
Wo finden wir in diesen Themen Gottes Gnade und sein Wirken? Wir finden Gottes Wirken in uns, wenn wir – geführt vom Heiligen Geist – die Geister unterscheiden und Verwirrung und Unterdrückung aufdecken, wenn wir trotz all dieser Probleme nicht verzagen. Christus hat keine Hände außer unsere Hände, um das Gute zu tun. Und gerade, wenn wir das akzeptieren, führt uns der Heilige Geist, schenkt uns Einsicht, Mut, Weisheit, Stärke, Erkenntnis und passenden Rat.
Es gibt heute exzellente Menschen, die vom Heiligen Geist inspiriert, die Herausforderungen unserer Zeit erforschen, analysieren, anpacken, neue Lösungen suchen und präsentieren, neue Strategien ausprobieren und umsetzen. Besonders auf drei Quellen beziehe ich mich in meinen „Politisch aufklärende Predigten“. Einmal sind das erhellende Bücher von VorausdenkerInnen, ProphetInnen unserer Zeit:
„Bürgerkriege“ von Barbara Walter,
„Die Donut-Ökonomie“ von Kate Raworth,
„Code des Kapitals“ von Katharina Pistor,
„Das Licht, das erlosch“ von Krastev und Holmes
„Wir können auch anders“ von Maja Göpel
„Raus aus der ewigen Dauerkrise“ von Maren Urner
„Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“ von Bernie Sanders
„Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus“ von Thomas Biebricher
(Die Thesen der beiden letzten Bücher werden in folgenden Predigten angesprochen: Warum kämpfen Menschen für ihre Knechtschaft?, Politische Dialektik zwischen leeren Versprechen und nachträglichen Wenden)
Die zweite Quelle sind die exzellenten Recherchen und Sendungen des Bayrischen Rundfunks, insbesondere das „Nachtstudio“ oder „radioWissen“. Beispiele für deren Themen, die ich hier behandle: Femizide, Mobbing, Putins Feindbild usw.
Die dritte Quelle sind Printmedien, insbesondere die wertvolle Wochenzeitung DIE ZEIT.
Viele Predigten in diesem Band beziehen sich auf die Lesungen eines Sonntags in den Lesejahren, manche gehen von biblischen Texten aus, die nur in der Wochentags-Leseordnung vorkommen. Und manche Predigten beziehen sich auf Texte, die ich aus der Versenkung heraushole, weil sie in keiner Leseordnung auftauchen. Es lohnt sich somit, die übliche Sonntagslesung wegzulegen und stattdessen diese unbekannteren Texte zu nehmen, wenn man die entsprechende Predigt im Gottesdienst hält.
Einige der abgedruckten Predigten habe ich in Gottesdiensten gehalten, andere werde ich noch halten. Die vier Predigten über das Thema „Bürgerkriege“ ergeben z. B. zusammen einen Vortrag, den ich in der katholischen Erwachsenenbildung gehalten habe. Manche der abgedruckten Predigten habe ich besonders für dieses Buch geschrieben. Normalerweise predige ich ca. 10 min, d. h. ungefähr 1000 Wörter. Doch viele der hier angesprochenen Themen sind so komplex, dass 10 min nicht ausreichen. Aber jedeR kann die jeweilige Predigt nochmals nach eigenem Ermessen kürzen.
Die Predigtform zwingt einen, ein Thema kompakt, verbunden mit einem biblischen Text, verständlich und anschaulich darzulegen. Deswegen hoffe ich, dass manche LeserInnen dieses Buches durch die Lektüre Gewinn haben, gerade wenn sie nie die behandelten Bücher in ihrer Gänze lesen würden. So haben sie das Wichtigste durch diese Predigten mitbekommen und wurden zum Nachdenken angeregt. Das ist das eigentliche Ziel dieses Buches.
Ein zweiter Band „Politisch aufklärende Predigten“ ist in Planung und soll dann besonders die Bewahrung der Schöpfung als Thema haben.
Was ist der Unterschied zwischen einem Legobaukasten und einem Garten? Die Arbeit im Garten hört niemals auf! Und deswegen hat man auch mehr vom Garten als von einem Legobaukasten. Mit dem Legobaukasten kann ich zum Beispiel eine Eisenbahn aufbauen. Aber irgendwann habe ich sie fertig aufgebaut und sie steht vollendet da. Ich kann natürlich die Eisenbahn wieder in Einzelteile zerlegen und in neuer Form aufbauen. Aber dann bin ich auch irgendwann wieder fertig. Im Garten bin ich nie fertig. Schon am nächsten Tag kann ich vielleicht wieder ein gewachsenes Unkraut finden. Oder ich sehe, dass ich den Weinstock stutzen muss. Oder die Brombeeren sind reif und müssen gepflückt werden.
Diese Gegenüberstellung erinnert mich an den Satz des Philosophen Gilles Deleuze: „Es mag also zutreffen, dass Gott die Welt mit seinen Rechnungen erschafft, aber diese Rechnungen gehen niemals auf, und diese Unstimmigkeit im Ergebnis, bildet die Bedingung der Welt. Die Welt „entsteht“, während Gott rechnet; es gäbe keine Welt, wenn die Rechnung aufginge.”2
Im Garten geht die Rechnung nie auf! Und ist nicht das ganze Leben eine Baustelle? Was passiert, wenn ich meine Probleme und Herausforderungen mit der Haltung anpacke, dass sie irgendwann so fertig gelöst sein müssen, wie den Bau einer Eisenbahn aus Legosteinen? Es kann sein, dass die wirklich herausfordernden Probleme so nicht gelöst werden können. Dann kann mich diese Haltung, dieser Denkrahmen, dass ich das Problem fertig lösen muss, frustrieren und entmutigen! Wenn ich dagegen das herausfordernde Problem eher ansehe wie Gartenarbeit, mit der ich zwar nie fertig werde, bei der es immer eine Ungleichung geben wird, die aber trotzdem sinnerfüllend ist, dann habe ich wohl eine sinnvollere Haltung gefunden!
Eine Krise kann auch in der Gartenarbeit auftreten: ein Sturm kann zum Beispiel einem Baum umreißen. Aber auch diese Krise und Herausforderung werde ich besser meistern, wenn ich nicht meine, ich müsse das Problem nun schnell lösen und damit fertig werden.
Noch ein weiterer Haltungswechsel kann uns in einer Krise helfen. Pfarrer Norbert Jung erzählte im Heinrichsblatt: „Aus einer südamerikanischen Gemeinde wird folgendes Gespräch erzählt: „Warum suchte sich Jesus ausgerechnet Fischer aus, als er seine Jünger berief?“ – „Wer sich zu Land bewegt, baut eine Straße und befestigt sie. Dann wird er immer wieder diesen einen Weg benutzen. Ein Fischer aber sucht die Fische dort, wo sie sind. Deshalb sucht er jeden Tag einen neuen Weg. Ihm kommt es darauf an, die Fische ausfindig zu machen. Es könnte ja sein, dass der Weg von gestern nicht dorthin führt, wo die Fische heute sind.“
Diese Fischer können uns ein Vorbild sein, neue Wege in einer Krise zu wagen. Manche Krisen entstehen ja dadurch, dass man zu lange immer denselben Weg beschritten hat. Dann wird es höchste Zeit, mal etwas Neues auszuprobieren. Fischer sind flexibel, sie suchen immer neue Wege auf dem Wasser. Und sie sind pragmatisch: es geht darum, Fische zu fangen, und nicht darum, alte Wege und Strategien zu erhalten, weil sie sich früher mal bewährt haben.
Krisen fordern heraus. Sie können auch Wertvolles zerstören. Einige Krisen sind unvermeidlich. Andere hätte man mit etwas mehr Vorausblick vermeiden können. Aber bei allen Krisen gilt: die Haltung des Gärtners und des Fischers ist günstiger für jegliche Krise!
Ich weiß es nicht! Ich bin verwirrt! Ich bin hilflos! – das klingt alles nicht optimistisch, wenn das jemand sagt. Viele Menschen in der Coronakrise sind verwirrt, wissen nicht, wie sie die Krise einordnen sollen und fühlen sich hilflos. Wir alle wollen nicht verwirrt, hilflos und unwissend sein!
Und doch bezeichnen zwei führende Coaches Matthias Vargas von Kibed und seine Frau Insa Sparrer diese drei als kraftvolle Helfer und kostbare Ressourcen.
Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung als Helfer? Wie ist das möglich?
Die Apostel und Maria Magdalena waren auch verwirrt, als sie vor dem leeren Grab standen. Sie konnten sich keinen Reim auf das machen, was sie sahen. Hilflos fragt Maria Magdalena den vermeintlichen Gärtner, wo der Leichnam ihres Herrn ist.
Das Nichtwissen, die Hilflosigkeit und Verwirrung waren wichtige Voraussetzungen, damit die Jünger den Auferstandenen erfahren konnten. Wenn sie sich auf eine Verschwörungstheorie versteift hätten, dass eine böse Macht den Leichnam Jesu Christi geklaut habe, wäre ihre Geist und Herz nicht offen gewesen, den Auferstandenen wirklich zu erkennen und ihm zu begegnen.
Bekannt sind die sieben Gaben des Heiligen Geistes: Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit, Gottesfurcht. Das erste Mal sind sie bei Jesaja im 11. Kapitel aufgelistet.
Wenn ich den sieben offiziellen Gaben des Heiligen Geistes die drei Helfer daneben stelle, wird mir klar: Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung sind grundlegender.
Nur wer mal zugibt, dass er es nicht weiß…
Nur wer mal sich seine eigene Hilflosigkeit eingesteht…
Nur wer mal seine Verwirrung zulässt…
… kann dazu lernen, neue Horizonte erreichen, querdenken, kreatives schaffen, ungewöhnlich neue Lösungen finden.
So sind Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung also nichtbekannte Gaben des Heiligen Geistes. Wir werden nur weiser, wachsen in Stärke und Einsicht, können nur gut Rat geben, wenn wir auch Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung zulassen.
Und warum ist das so?
Das Nichtwissen als Freund hilft uns beim Verzicht auf Interpretationen und Deutungen. Das Nichtwissen, wenn wir es zulassen, zwingt uns, neu, ohne Vormeinung, frisch hinzuschauen! Aus dem Nichtwissen kommen auch die Fragen, die weiter führen. Wir legen unsere alten Lösungsmuster zur Seite. Hören wirklich dem anderen zu, ohne gleich zu wissen, was richtig ist und wo er falsch liegt…
Die Hilflosigkeit zeugt uns ihre Freundschaftsdienste, indem sie uns erinnert, dass wir nicht alles machen und kontrollieren können. Die Erfahrung von Hilflosigkeit öffnet uns, dass die Gnade Gottes wirken kann. Deswegen die Einladung, die Hilflosigkeit nicht gleich mit noch mehr Aktivismus zudecken, sondern sie auch innerlich zulassen. Wer dann eine Einsicht, eine Erkenntnis hat, die aus der Gnade kommt, wird bescheiden und dankbar bzw. fromm und gottesfürchtig.
Die Verwirrung ist unsere Reaktion auf Paradoxien: Das passt doch nicht zusammen. Wer die Verwirrung zulässt, der wird durch sie fähig, seinen alten Denkrahmen zu verlassen. Er schaut über seinen Tellerrand, verlässt die alten Gedankenwege und bricht zu neuen Ufern auf.
„Aus der Knospe der Verwirrung hebt sich die Blüte der Verwunderung.“3
Wer Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung meidet, der verhindert wirkliches Lernen. Und ohne Lernen können auch die sieben klassischen Gaben des Heiligen Geistes nicht entstehen: Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit, Gottesfurcht.
Wann haben Sie zu sich gesagt: Ich weiß es nicht! Ich bin verwirrt! Ich bin hilflos! – Wahrscheinlich haben Sie die drei in der Situation nicht als Helfer gesehen. Sie waren wahrscheinlich froh, als die Unwissenheit, Verwirrung und Hilflosigkeit vorbei war. Aber wenn Sie nun zurück schauen, bemerken Sie vielleicht, wie notwendig und hilfreich diese drei Gaben waren: Nur durch sie konnten Sie weiter kommen, die Krise akzeptieren, anpacken, an ihr reifen und wachsen. Aber weil diese Zeit schwer und herausfordernd war, verdrängen wir leicht die Einsicht, dass Unwissenheit, Verwirrung und Hilflosigkeit notwendig waren.
Wo können wir diese drei Gaben gut gebrauchen und wo tauchen sie öfters auf?
Bei kreativen Schaffensprozessen: malen, komponieren, dichten, Bücher schreiben
Bei Projekten in einem Team. Bei Entwicklungsprozessen einer Firma. Bei politischen Lernprozessen, siehe gerade im Moment die Coronakrise: Die deutschen Politiker stellen sich ihrer Unwissenheit, Verwirrung und Hilflosigkeit und sind deswegen erfolgreicher und glaubwürdiger als Donald Trump oder Bolsanaro. Sehr wichtig sind sie auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, Partnerschaften, der Kindererziehung.
Also wenn Ihnen mal die Unwissenheit, die Verwirrung oder die Hilflosigkeit über den Weg läuft, verscheuchen Sie sie nicht, sondern begrüßen Sie sie als Chance, als eine Gabe des Heiligen Geistes. Als eine provozierende Gabe des Heiligen Geistes! Denn pro-vocare heißt: herausrufen.
Der Heilige Geist hat die Jünger an Pfingsten aus ihren Wohnungen herausgerufen.
Er ruft uns auch heute aus unseren alten Gleisen heraus: oft durch seine drei Gaben Nicht-Wissen, Verwirrung und Hilflosigkeit!
Lesung:2 Sam 15,13-14.30; 16,5-13a, Montag 4.Woche im Jahreskreis, II. Lesejahr
Predigt:
Als König David älter wurde, bedrohten schwere Krisen den Bestand seines Reiches, vor allem die ungeklärte Frage der Nachfolge spaltete seine Familie und das Volk. Der schöne Abschalom war der Liebling des Volkes und er verstand es, Intrigen zu schmieden. Schließlich drohte er seinem Vater mit offenem Aufstand.
Also auch im Alten Testament zur Zeit König Davids drohte die Gefahr eines Bürgerkrieges. Barbara Walter schrieb das Buch „Bürgerkriege“, indem sie die Forschungsergebnisse zusammenfasste: Was löst einen Bürgerkrieg heute aus? Der Sturm aufs Kapitol der Trump Fans brachte sogar die USA nahe an einen Bürgerkrieg!
Es gibt 4 Faktoren, die einen Bürgerkrieg begünstigen:
Ein Staat zwischen Demokratie und Diktatur bzw. autoritärem Regime. Also eine defekte Demokratie bzw. eine Mischform. Das nennt man eine Anokratie.
Gruppierungen bzw. Parteien, die genau eine Ethnie bzw. Religionsgruppe vehement vertreten. Das sind Faktionen, also Fraktionen ohne r.
Eine Gruppierung erleidet Statusverlust, Verlust an Land, Einfluss, Reichtum usw.
Eine Gruppierung gibt die Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung auf.
Anokratie:
Wenn eine Monarchie oder eine ehemalige Kolonie oder ein ehemaliger Kommunismus-Staat sich auf den Weg macht, eine Demokratie zu werden, muss es quasi wie das Volk Israel durch die Wüste mit all ihren Gefahren wandern, bis es ins gelobte Land Demokratie kommt. Genau dieser Bereich dazwischen, diese Mischform nennt man Anokratie. Alle Bürgerkriege nach dem II. Weltkrieg fanden in dieser Zwischenstaatsform statt. Wenn die Demokratie sehr gut funktioniert, haben die Bürger keinen Grund, einen Bürgerkrieg zu beginnen. Wenn sie in einem autoritären Staat leben, trauen sie sich nicht, einen Aufstand zu beginnen. Einige Beispiele: In Ruanda begann der Völkermord der Hutu an den Tutsi während der Demokratiebestrebungen des Landes. Die Serben zogen gegen die Kroaten in den Krieg, als Titos autoritäres Regime, das die vielen Völker mit harter Hand zusammenhielt, auseinandergefallen war. Die ersten zwei Jahre einer demokratischen Reformbewegung sind die anfälligsten für einen Bürgerkrieg, siehe Äthiopien 2018-2020. Mexiko dagegen schaffte zwischen 1980 und 2000 den Übergang in die Demokratie ohne Bürgerkrieg, weil die Reformen langsam abliefen. Die Tschechische Republik und Litauen erreichten schnell und ohne Bürgerkrieg die Demokratie. Anokratie ist also eine notwendige Voraussetzung, aber nicht die einzige Voraussetzung für einen möglichen Bürgerkrieg.4
Faktionen:
Die meisten Iraker waren froh, dass die Amerikaner sie von der Herrschaft Saddam Husseins befreiten. Doch kurz darauf versank das Land in einen Bürgerkrieg. Warum? Im Irak herrschen ethnische und religiöse Rivalitäten: Kurden im Norden, Schiiten mit mehr als 60 % der irakischen Bevölkerung und Sunniten. Der amerikanische Chef der Koalitionsübergangsverwaltung im Irak ordnete fatalerweise an: die Baath Partei wird verboten und die Mitglieder der Regierung Saddam Hussein verlieren auf Dauer ihre Position. Das irakische Militär löste er auf. Plötzlich hatten Zehntausende von Baath-Bürokraten kein Amt und 350.000 Soldaten keinen Sold mehr. 85.000 einfache Iraker, wie zum Beispiel Lehrer, verloren ihren Job, weil sie vorher in der Baath-Partei waren.
So witterten die unterdrückten schiitischen Politiker ihre Chance. Die Sunniten begannen sich Sorgen zu machen. Würden die Schiiten an ihnen Rache üben? Also bildeten sie Widerstandsorganisationen. Als Saddam Hussein im Dezember 2003 gefangen genommen wurde, war der Guerillakrieg bereits voll entbrannt.
Der führende serbische Politiker nach Titos Tod in den 80 er Jahren war Milosevic. Er rückte die ethnische Identität und nicht irgendeine politische Richtung wie eine normale Partei in den Mittelpunkt! Milosevic propagierte schamlos den Nationalismus! Sein Ziel war ein Jugoslawien, in dem die Serben endlich die Geltung und den Einfluss haben würden, der ihnen angeblich zustand. Milosevic lehnte ab, im Land das Mehrparteiensystem einzuführen und Wahlen abzuhalten. Ziel für ihn die Herrschaft der Serben über das ganze Land, koste es, was es wolle. Das führte zur ethnischen Säuberung in Jugoslawien und blutigen Bürgerkrieg. Das Gleiche machte Tudman und Karadzic für die Kroaten.
In sechs Schritten gehen sie alle vor:
Eliten und Anhänger einer Gruppe wittern eine günstige Gelegenheit, zum Beispiel die Schwäche des Regimes oder die Unzufriedenheit der Bevölkerung, das Gefühl zurückgesetzt zu werden.
Mit Begriffen und Symbolen schaffen sie Identität und Gefolgschaftstreue.
Rhetorik schafft Abgrenzung der Gruppen: Wir sind überlegen, die anderen sind minderwertig. Die Tutsi zum Beispiel seien Kakerlaken.
Ist die Faktion, also die ethnische bzw. religiöse Partei an der Macht, schaltet sie rivalisierende Faktionen aus.
Angst und Misstrauen zwischen den rivalisierenden Gruppen wächst.
Alle Parteien stellen die ethnischen und religiösen Identitätsfragen in den Mittelpunkt. Die eigentlichen politischen Themen sind verdrängt. Identitätsbasierte Parteien machen es dem Wähler unmöglich, die Seite zu wechseln.
5
Statusverlust:
In der Lesung tritt Schimi auf. Er gehörte zur Sippe Sauls. Durch das Ende von Sauls Königtum hat er und sein Clan Macht und Ansehen verloren. Den Groll spürt man: Er brüllt David an und wirft ihm vor, mitverantwortlich am Tod Sauls und Sauls Anhänger zu sein. Das ist zwar nach der Bibel Fake News, aber wehe, wenn Schimi das auf den sozialen Medien gepostet hätte.
Matalam ist ein Muslim auf Mindanao im Süden der Philippinen. Er ist ein weiser Religionsführer und kluger Streitschlichter. Er war ein muslimischer Fürst ab 1946, als die Philippinin unabhängig wurden. Zunehmend wanderten Katholiken aus dem bevölkerungsreicheren Norden nach Mindanao. Viele Muslime wurden von ihrem seit Generationen bewirtschafteten Land vertrieben.
1965 kandidierte Ferdinand Marcos und gewann das Präsidentenamt. Matalam eben noch hochverehrter Provinzführer, verlor von heute auf morgen jegliche Geltung. Als 1967 sein erstgeborener Sohn von einem Justizbeamten außer Dienst erschossen wurde, bekundete kein Kollege im Beileid. Am 1. Mai 1968 gründete der verbitterte Matalam die muslimische Unabhängigkeitsbewegung. In einem Manifest rief er zur Abspaltung der muslimischen Gebiete im Süden der Philippinen und zur Gründung der Republik Mindanao und Sulu auf. Dadurch entstanden auf beiden Seiten vielerlei Ängste. Einige katholische Familien verkauften in Erwartung eines muslimischen Aufstands ihren Besitz und verließen Mindanao. Es bildeten sich muslimische Guerillakämpfer. Im März 1970 kam es zu Gewaltausbrüchen zwischen den verfeindeten Gruppen. Katholische Banden attackierten muslimische Bauern und brannten ihre Häuser nieder.
Menschen, die einen Statusverlust erleben, werden verbittert, wenn sie glauben, einen Anspruch darauf zu haben und Verbitterung und Empörung treibt eine Gruppe in den Bürgerkrieg.
Menschen ist nichts so sehr zuwider wie der Verlust. Sie hassen es, Geld, ihren Arbeitsplatz, Respekt, Partner und nicht zuletzt ihren Status zu verlieren. Menschen versuchen eher, Verlorenes wiederzugewinnen, als Neues zu gewinnen. Sie können klaglos jahrelang Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung ertragen, miserable Schulen und schlechte Krankenhäuser oder marode Infrastruktur. Aber: den Verlust ihres Status an einen Ort, auf denen sie ein Recht zu haben glauben, tolerieren sie nicht! Besonders schlimm ist der Verlust für Menschen, die tief in ihrer Heimat verwurzelt sind. Ureinwohner einer Region, die sich als legitime Erben fühlen.6
Hoffnungslosigkeit
Die Katholiken in Nordirland hofften lange Zeit, dass die Regierung in London irgendwann die nordirischen Protestanten in Schranken weisen würden und das Schlimmste verhindern würden. Aber am Blutsonntag 30. Januar 1972 trafen Kugeln britischer Soldaten 26 unbewaffnete Zivilisten, 14 davon tödlich. Irische Katholiken hatten friedlich gegen die Entscheidung der Regierung von Ulster protestiert, Katholiken ohne Gerichtsverfahren zu inhaftieren. Britische Soldaten schossen fliehenden Demonstranten in den Rücken. Da verloren die Katholiken jede Hoffnung! So bekam die paramilitärische Organisation der IRA Rückhalt in der Bevölkerung. Niemand in Syrien hatte mit einem Bürgerkrieg gerechnet. Assad hatte seinem Volk immer wieder Reformen versprochen, jedoch dies nicht eingehalten. Als die Demonstrationen am 15. März 2011 begannen, waren die Syrer noch optimistisch, beflügelt vom arabischen Frühling. Anstatt aber Reformen anzukündigen, bezeichnete Assad die Demonstranten als Terroristen und ging brutal gegen die Demonstranten vor. „Wenn sie Krieg wollen, sind wir zum Krieg bereit.“ sagte Assad im Fernsehen. Diese Rede führte direkt in den Bürgerkrieg.7
Was können wir aus diesen Einsichten für unsere Demokratie lernen?
Eine Partei, die eine ethnische oder religiöse Gruppe vertritt und andere schlecht macht, ist höchst gefährlich.
Ein Mehrheitswahlrecht stärkt solche Faktionen. Sämtliche Demokratien, in denen zwischen 1960 und 1995 ein Bürgerkrieg tobte, praktizierte das Mehrheitswahlrecht oder das präsidiale System. In keinen gab es das Verhältniswahlrecht wie in Deutschland.
Der Umgang mit denen, die etwas verlieren, ist entscheidend, ob Frieden oder Spaltung kommt.
Demonstrationen müssen auch Wirkung haben. Kein Wunder, dass sich der Stil der Demonstranten der „last generation“ radikalisiert hat, weil die Regierungen die Demonstranten der SchülerInnen von „Fridays for future“ und Klimapolitik einfach nicht ernst genug genommen haben! Beunruhigend ist folgende Entwicklung: in den neunziger Jahren hatten friedliche Proteste eine Erfolgsquote von 65 %. Seit 2010 sank die Erfolgsquote auf 34 %. Und das belastet auch die ältesten und freiesten Demokratien.
Besonders drei Merkmale schützen Demokratien vor Bürgerkriegen:
Die Rechtsstaatlichkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz
Das Mitspracherecht und die Rechenschaftspflicht, das Maß der Freiheit, mit der die Bürger an der Wahl ihrer Regierung mitwirken können, sowie Meinungsfreiheit, Koalitionsfreiheit und freie Medien
Die Effizienz der Regierung, die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen sowie die Qualität und Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes.
Diese drei Merkmale spiegeln wider, inwieweit eine Regierung ihren Bürgern dient und inwieweit ihre politischen Institutionen stark, legitim und rechenschaftspflichtig sind. Gerade die Effizienz und die Qualität hat auch in Deutschland in den letzten Jahren immer wieder leider gefehlt. Man denke an überbordende Bürokratie oder sich gegenseitig blockierende Ministerien wie z. B. bei der Herausforderung, afghanische Mitarbeiter für deutsche Soldaten nach der Machtergreifung der Taliban rechtzeitig aus Afghanistan herauszuholen.
Lesung:2 Sam 15, 1-6.
Diese Lesung kommt in der Leseordnung der katholischen Gottesdienste nicht vor. Man kann ja aber auch die Lesungen austauschen.
1 Abschalom beschaffte sich einen Wagen mit Pferden und eine 50 Mann starke Leibwache. 2 Er stellte sich jeden Morgen in aller Frühe an die Straße, die zum Palast führte. Alle, die mit einer Streitsache kamen, um sie dem König als oberstem Richter vorzulegen, fragte er nach ihrer Heimatstadt. Wenn jemand zu einem der Nordstämme Israels gehörte, 3 sagte Abschalom zu ihm: „Zweifellos würdest du den Prozess gewinnen, denn du bist im Recht. Aber man wird dich gar nicht erst bis zum König vorlassen.“ 4 Und er fügte noch hinzu: „Ach, wäre doch ich der oberste Richter in unserem Land! Ich würde mir Zeit nehmen für jeden, der mit seinem Fall zu mir kommt. Allen würde ich zu ihrem Recht verhelfen.“ 5 Wenn der andere sich dann voller Ehrfurcht vor Abschalom zu Boden werfen wollte, kam der ihm zuvor, umarmte und küsste ihn. 6 So verhielt Abschalom sich gegenüber allen Leuten aus Israel, die mit ihren Streitigkeiten zum König nach Jerusalem kamen. Dadurch machte er sich bei ihnen beliebt.
Predigt:
Abschalom, der Sohn Davids, möchte König werden und David vom Thron schieben. Er macht sich beliebt bei den Menschen und gleichzeitig bringt er den Königshof von David in Verruf: Du bist zwar im Recht, aber du kommst gar nicht bis zum König vor.
Es ist schon erstaunlich, wie sehr diese Taktik von Abschalom heutigen Populisten ähnelt. Sie reden den Bürgern ein, Demokratie in ihrer bestehenden Form würde zu mehr Betrug, mehr Lügen, mehr Inkompetenz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik führen; politische Kompromisse seien ineffektiv und die bisherige Regierung habe samt und sonders versagt. Und sie arbeiten mit Ressentiments und Angst. Die Eliten in der Demokratie hören dem Volk nicht zu!
Der Philosoph Spinoza hatte Recht: Man muss die Menschen täuschen, mit falschen Infos und Erzählungen füttern, und ihre Angst schüren, „damit sie für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“
Eine funktionierende Demokratie mit Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, freien Wahlen usw. dagegen verhindert solche Knechtschaften nach Spinoza: „so kann doch in einem freien Staatswesen nichts unglücklicheres ersonnen und versucht werden als dieses.“8
Aber das Internet und die sozialen Medien veränderten die soziale Kommunikation grundlegend. In den Anfängen dachte man, dass das Internet die Demokratie stärken könne, weil die Menschen vernetzter miteinander kommunizieren können. Im Arabischen Frühling z. B. förderte das Internet auch Demokratiebewegungen.
2009 war das Problem der Falschinformationen noch relativ klein. Doch es dauerte nur fünf Jahre und die Zahl der Falschinformationen in den sozialen Medien stieg sprunghaft an. „Je größer die Reichweite der sozialen Medien wurde und je mehr sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zogen, desto deutlicher zeichnete sich ein immer gleiches Muster ab: ethnische Spannungen verstärken sich, die soziale Spaltung wurde größer, Fremdenfeindlichkeit nahm zu, dreiste Populisten gewannen Wahlen, und die Gewalt stieg an. Die offenen unregulierten Plattformen der sozialen Medien erwiesen sich als Brandbeschleuniger für Bürgerkriegsbedingungen. Das Problem liegt im Geschäftsmodell der sozialen Medien: Technologieunternehmen wie Facebook, YouTube, Google und Twitter müssen die Nutzer […] „fesseln“. Je länger die Nutzer online bleiben, auf Links zu Katzenbildern klicken, Geschichten über Prominente retweeten oder Videos teilen, desto stärker sprudeln die Werbeeinnahmen.“9
Und nichts fesselt so sehr wie Wut und Zorn und Aufregung:
„Wie sich herausstellte, mögen viele Menschen eher aufwühlende Nachrichten als beruhigende, sie glauben eher Lügen als der Wahrheit und empören sich lieber, als dass sie Mitgefühl empfinden. Die Nutzer liken weitaus eher einen hitzigen als einen wohlüberlegten Beitrag.“10
So führte 2009 Facebook den Like-button [also ein „Gefällt mir“] und „einen Algorithmus [also ein Verarbeitungsprogramm] ein, der Nutzern auf der Grundlage ihrer bisherigen Likes weitere Beiträge zur Ansicht vorschlug. [...]. Mit der Einführung des Like-Buttons wurde Facebook Nutzer plötzlich dafür belohnt, ihren negativen Gefühlen freien Lauf zu lassen – so wie sie es dabei mit der Wahrheit hielten, war zweitrangig“11
Informatiker der Universität Rom erforschten Millionen von Kommentaren in Facebook Gruppen: „die Kommentare fallen umso extremer aus, je länger eine Diskussion dauert. [...] YouTube sei ein Wegbereiter für Radikalisierung.“12
Ein Abschalom des 21. Jahrhunderts ist Rodrigo Duterte, Bürgermeister einer Stadt auf der Insel Mindanao. Er beschloss 2015 für das Präsidentenamt zu kandidieren. Ohne nennenswerte finanzielle Unterstützung engagierte er einen Marketing-fachmann. Dieser heuerte hunderte von Influenzer an, also Multiplikatoren im Internet. Duterte „kritisierte die Medien als Sprachrohr der politischen Elite, stellte die Institutionen infrage und brandmarkte das politische Establishment als korrupt. Er schürte die Ängste der Bürger vor der Verbreitung von Drogen und plädierte für ein hartes Durchgreifen der Polizei. Facebook war entscheidend für seinen Wahlsieg.“13 Er streute gezielt Lügen, also Fake News und Gerüchte über seine Gegner aus und gewann die Wahl. Andere Politiker wie Bolsonaro in Brasilien oder Erdogan in der Türkei kopierten seine Strategie.
Früher kamen Autokraten, also Diktatoren in der Regel durch einen Militärputsch an die Macht. Heute produzieren sie über die sozialen Medien Wut-Bürger, die sie dann wählen.
„Haben die Menschen dann erst einmal das Vertrauen in den demokratischen Prozess verloren, neigen sie dazu, ein alternatives System gut zu heißen und die Macht in die Hände charismatischer Personen zu legen, die ihnen Schutz und eine sichere Zukunft versprechen.“14
Soziale Medien, insbesondere Facebook ist inzwischen auch mitverantwortlich für einen Völkermord: Die Engländer hatten die Einwanderung indischer, muslimischer Arbeitskräfte nach Myanmar veranlasst, weil sie diese für ihre Industrien als Arbeitskräfte brauchten. Die buddhistischen Einheimischen in Myanmar fühlten sich an den Rand gedrängt. Schon in den dreißiger Jahren hetzten buddhistische Nationalisten gegen die indischen Muslime, die Rohingya. So wurde ihnen 1982 die Staatsbürgerschaft aberkannt.
2011 begann die Militärjunta, ihre Macht abzugeben und eine Demokratisierung zu ermöglichen. Es gab also 2011 mehrere Faktoren, die einen Bürgerkrieg begünstigen: Ein Staat mit einer noch nicht gefestigten Demokratie, zwei ethnische Gruppen, eine davon die einheimischen Buddhisten, und nationalistische Bewegungen, die eine ethnische Gruppe gegenüber den anderen aufwertet. Nun kam der Brandbeschleuniger Facebook dazu!
2012 begann schon in Facebook eine Hetze gegen die Rohingya. Sowohl Militärführer als auch extreme buddhistische Mönche nutzten dieses Mittel. „Obwohl es keinen Zweifel daran geben konnte, dass die Gewalt durch über Facebook verbreitete Lügen geschürt worden war, weigerte sich die Regierung, die Existenz der Rohingya-Muslime überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Journalisten, die über ethnische Säuberung und Verbrechen des Militärs berichteten, wurden ins Gefängnis geworfen. Wer versuchte, Facebook zu bewegen, etwas zu unternehmen wurde abgeblockt.“15 Die Situation eskalierte im Oktober 2016: Morde, Vergewaltigungen, Brandstiftungen und Verhaftungen waren an der Tagesordnung. 24.000 Rohingya ermordet, 18.000 Frauen und Kinder vergewaltigt. 700.000 von 1 Millionen Rohingya vertrieben. Erst im Jahr 2018 räumte Facebook schließlich Mitverantwortung für Gewaltausbrüche in Myanmar ein. Aber es war zu spät. Islamfeindliche wechselten zu Twitter.
In den letzten zehn Jahren haben viele stabile Demokratien einen schweren Demokratierückschritt erlitten: besonders Spanien, gefolgt von Griechenland, Deutschland, Frankreich, Irland, Großbritannien und Österreich. Auch die skandinavischen Länder sind seit 2010 zurückgefallen.
Afrika ist die einzige Region in der Welt, in der die Zahl der Demokratien in den letzten zehn Jahren eher zu als abnahm. Der Grund ist ganz einfach: in den Ländern, in denen die Demokratie in Afrika wuchs, hatte sich das Internet und damit die sozialen Medien noch nicht stark ausgebreitet. Deswegen konnten Demokratieprozesse in Burkina Faso, Sierra Leone, Elfenbeinküste und Gambia gute Fortschritte machen.
Aber seit 2015 verbreitet sich Facebook, YouTube und Twitter auch in Afrika und damit nehmen dort die Konflikte wieder zu. In Äthiopien beispielsweise spitzte sich im Jahr 2019 die schon länger bestehenden Spannungen zwischen den Tigray und Oromo zu, als gefälschte Videos kursierten, in denen behauptet wurde, Regierungsvertreter würden junge Männer bewaffnen.
Die große Hoffnung, dass man mit Facebook einen großen Förderer der Demokratie hat, hat sich ins Gegenteil umgeschlagen. Scharlatane, Verschwörungstheoretiker, Trolle, Demagogen und Gegner der Demokratie, denen die Medien zuvor keine Stimme geliehen hatten, haben auf einmal ein leichtes Spiel.
Als Expertin für Bürgerkriege wurde Barbara Walter nach dem 6. Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol, immer wieder gefragt: Was sollen wir tun? Ihre erste Antwort war immer: Nehmen wir den sozialen Medien das Megaphon weg, dann können die Desinformationsmaschinen, die Unruhestifter, Trolle, Hetzer, Verschwörungstheoretiker und Demokratiefeinde nicht mehr so laut tönen!
Irgendwie seltsam, dass die Sperrung Trumps auf Twitter einfach so funktioniert hat, ohne dass irgendetwas Schlimmes passiert ist!
Der Verschwörungstheorie von QAnon glaubten im Dezember 2020 17 % aller Amerikaner, fast jeder sechste!, erst nach dem 6. Januar 2021 viel zu spät gingen Facebook, YouTube und Twitter hart gegen QAnon-Seiten vor.
Eine Regulierung der sozialen Medien stärkt auf der ganzen Welt die Demokratien! Die EU ist hier Vorreiter mit dem „Gesetz über digitale Dienste“, im Oktober 2022 bekanntgegeben.
Vermittlungsdienste, d. h. Online-Plattformen – wie soziale Medien und Marktplätze – müssen Maßnahmen ergreifen, um ihre Nutzer vor illegalen Inhalten, Waren und Dienstleistungen zu schützen. Nicht einvernehmlich weitergegebene illegale Inhalte (Rachepornos) sollen sofort aus dem Verkehr gezogen werden. Online-Plattformen und Suchmaschinen können mit Geldbußen von bis zu 6 % ihres weltweiten Umsatzes belegt werden, wenn sie nicht schnell und konsequent gegen Hetze und FakeNews vorgehen.
Die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten werden Zugang zu den Algorithmen sehr großer Online-Plattformen (engl. Very Large Online Platform) erhalten
Plattformen müssen ein klareres „Melde- und Aktions“-Verfahren vorhalten, bei dem die Nutzer die Möglichkeit haben, illegale Inhalte online zu melden; Meldungen von Nutzern müssen von den Plattformen zügig bearbeitet werden
Online-Marktplätze müssen dafür sorgen, dass Verbraucher sichere Produkte oder Dienstleistungen online erwerben können, indem sie die Kontrollen verstärken, um nachzuweisen, dass die von Händlern gemachten Angaben zuverlässig sind („Kenne deinen Geschäftskunden“), und Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass illegale Inhalte auf ihren Plattformen erscheinen, auch durch Stichproben.
Im Falle sehr großer Online-Plattformen (mit mehr als 45 Millionen Nutzern) wird die EU-Kommission die alleinige Befugnis haben, die Einhaltung der Vorschriften zu verlangen
All das ist nötig, um unsere Demokratien zu schützen! Die sozialen Medien dürfen kein ungeregelter Wilder Westen der sozialen Kommunikation via Internet sein!
Evangelium:Mk 3,20-35. 10. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Predigt:
Jesus soll angeblich mit der Hilfe des Anführers der Dämonen Beélzbul die Dämonen austreiben. Jesus erwidert ihnen: Wie kann der Satan den Satan austreiben? Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben.
Kriminelle Banden aber machen es genauso: Sie drohen Geschäften Gewalt an, wenn sie nicht Schutzgeld zahlen. Sie schützen vor der eigenen angedrohten Gewalt, wenn man bereit ist zu zahlen.
Nicht ganz so offensichtlich aber irgendwie ähnlich handelte Modi in Indien. Seit 2014 betreibt Modi eine prohinduistische Politik in Indien. Er vergab Schlüsselpositionen in der Regierung an Extremisten. Muslime werden als eine Herde von zweibeinigen Tieren bezeichnet. Lehrpläne werden umgestaltet, sodass die Muslime aus der Kulturgeschichte Indiens ausgeblendet werden. 2019 hebt Modi den Sonderstatus für Jammu und Kaschmir auf, Indiens einzige mehrheitliche muslimische Region, und er schwächt die Demokratie: er greift freie und faire Wahlen an, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Er benutzt staatliche Machtmittel, um gegen Oppositionsführer zu ermitteln und sie mit konstruierten Vorwürfen der Bestechung verhaften zu lassen. Journalisten, die regierungskritische Berichte bringen, werden auf schwarze Listen gesetzt, weil sie angeblich Falschnachrichten verbreiten. Gemeinsame Proteste von Muslimen mit progressiven Hindus werden von Sicherheits-kräften brutal unterdrückt.
Modi versteht es, ethnische und religiöse Gruppen in seinem Land aufzubauen und auszunutzen, indem er äußere Bedrohungen dramatisiert und den Nationalismus schürt, um eine Alarmstimmung zu erzeugen. In Neu-Delhi spalten sich inzwischen ganze Stadtviertel entlang der religiösen Zugehörigkeit, in denen einst Toleranz herrschte.
Spinoza fragte, warum Menschen ihrem eigenen Unterdrücker zujubeln, als ob es ihr Erlöser wäre. Modi hat es geschafft, Ressentiments und Ängste zu schüren und dann sich als der Erlöser und Beschützer zu präsentieren für ein Problem, das er eigentlich selbst erst erschaffen hat. Modi kann besser als die Mafia mit ihren Schutzgeldern verschleiern, dass er die eigentliche Ursache der Aggression ist, vor der er angeblich als Retter und Beschützer auftritt.
Die Gewalt, die Modi zu fördern scheint, dient seiner Partei. Denn sie radikalisiert eigentlich gemäßigtere Wähler und überzeugt sie davon, dass seine Behauptungen über Muslime der Wahrheit entsprechen. Mahatma Gandhi wäre entsetzt!
Jesus warnt: Ein solches Reich ist in sich gespalten.
Eigentlich in ähnlicher Weise, nur noch verschleierter funktioniert Trumps Politik: Der Neoliberalismus hat die Reichen immer reicher gemacht und die weiße Mittelschicht in den USA verarmte. Aber anstatt den Kapitalismus sozialer zu machen, präsentiert Trump andere Sündenböcke: die Schwarzen und die südamerikanischen Einwanderer. Er kämpft gegen das politische Establishment der Demokraten, die als einzige die Ideen, den Willen und die Möglichkeit hätten, den Kapitalismus sozialer zu machen, siehe z. B. Obamas Krankenversicherung für alle. Trump verspricht wirtschaftlichen Aufschwung durch seine protektionistische Politik „Amerika zuerst“, die sicherlich nicht langfristig die amerikanische Wirtschaft stärkt. Indem er die eigentlichen Ursachen der sozialen Ungerechtigkeit nicht angeht, kann er weiterhin die Ängste, den Neid und die Ressentiments ausnutzen, um seine Fans an sich zu binden.
Solche Teufelskreise können zu Bürgerkriegen und zu Völkermord führen.
Hermann Göring erklärte im Nürnberger Prozess: Das Volk will keinen Krieg. Man muss dem Volk sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorwerfen und behaupten, sie brächten das Land in Gefahr.
Genau diese Taktik ist entscheidend für die zehn Stadien eines Genozids, die Gregory Stanton aufgrund vergleichender Studien herausgefunden hat.16
Acht Stadien müssen durchlaufen werden, bevor der eigentliche Genozid beginnt.
Erste Stadium: Klassifizierung. Eine dominierende Gruppe reklamiert eine bestimmte Identität für sich. 1939 führte die belgische Kolonialverwaltung in Ruanda im Personalausweis einen Vermerk ein, wer seiner Abstammung nach Hutu oder Tutsi ist. Vorher war man sich da gar nicht so sicher.
Zweites Stadium: Symbolisierung. Die Identität wird mit Symbolen verstärkt. In den USA haben sich die Rechtsextremisten ihre eigenen Symbole geschaffen, die allgegenwärtige konföderierten Flagge oder die Hawaiihemden, die Rechtsextreme bei der Erstürmung des Kapitols trugen usw.
Drittes Stadium: Diskriminierung. Die dominante Gruppe unterdrückt per Gesetz oder durch ihr Verhalten die andere Gruppe. So nahm die buddhistische Mehrheit in Myanmar den Rohingya das Wahlrecht, ihre Arbeitsplätze und ihre Bürgerrechte weg. Schwarze bekommen in den USA nur halb so oft Rückmeldung, wenn sie sich auf eine Stelle bewerben, wie Weise.
Viertes Stadium: Entmenschlichung. Die Machthaber nutzen den öffentlichen Diskurs, um die Minderheiten kriminell zu brandmarken oder ihnen die Menschlichkeit abzusprechen. Trump bezeichnete Einwanderer ohne Papiere als Tiere.
Fünftes Stadium: Organisation. Die dominante Gruppe stellt eine Armee oder eine Miliz auf. Karadzic bereitete die Bildung örtlicher paramilitärischer Gruppen vor. Erschreckend ist auch, dass sich Milizen-Gruppen unter Obama explosionsartig vermehrt haben.
Sechstes Stadium: Polarisierung. Die dominante Gruppe verstärkt die Propaganda und dämonisiert die andere Gruppe. Zwischen der Minderheit und der Allgemeinheit wird die Kluft vertieft.17
Siebtes Stadium: Vorbereitung. Die dominante Gruppe bildet eine Armee. Mit der Behauptung „Wenn wir sie nicht töten, dann töten sie uns!“ schüren die Anführer zudem Angst in der Bevölkerung. In diesem Stadium wird der Genozid als Mittel der Selbstverteidigung