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Die Predigten in diesem Band widmen sich ganz verschiedenen Themen: Spirituelles, Lebensalltägliches, biblische Themen (wie z. B. Reich Gottes Botschaft, Einführung ins Lukasevangelium und Apostelgeschichte), Themen der katholischen Soziallehre und gesellschaftspolitische Fragen. Ebenso Predigten zu grundsätzlich dogmatischen Themen (wie z. B. Eschatologie, Christologie) und Predigten zu wichtigen Texten des II. Vatikanischen Konzils (GS, DV). Gedanken großer Theologen wie Karl Rahner oder Jon Sobrino werden dargelegt. Dabei ist dem Autor wichtig, verständlich, anschaulich mit lebensnahen Bezügen die Themen darzulegen.
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Seitenzahl: 310
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„Erfüllt vom Heiligen Geist“
Lk 4,1
1. Adventssonntag: Gott als Dirigent
2. Adventssonntag: Solowjews Test und Jesus im Pfarrgemeinderat
3. Adventssonntag: Die Entwicklung des Elan vital
4. Adventssonntag: Maria und Elisabeth begegnen sich
Christmette: Wunderbarer Tausch
1. Weihnachtsfeiertag: Jesus und Bischof Ketteler
2. Weihnachtsfeiertag: Stephanus, der erste Diakon
Fest Heilige Familie: Streitszene
2. Sonntag nach Weihnachten: Jesus geschichtlich verstehen.
Erscheinung des Herrn: Der Messias-Titel
Taufe Jesu: Das Sakrament der Taufe
Aschermittwoch: Auch dies vergeht…
1. Fastensonntag: Die Versuchung, Gott sein zu wollen
2. Fastensonntag: Dei Verbum – Die Offenbarungskonstitution
3. Fastensonntag: Entscheide Dich!
4. Fastensonntag: Von Solowjew und anderen, die Umwege gegangen sind
5. Fastensonntag: Sündige Systeme – Einsichten des Theologen Walter Wink
Palmsonntag: Warum ist das Kreuz erlösend?
Gründonnerstag: Die Fußwaschung
Osternacht: Auferstehung - die Offenbarung Gottes
Ostern: Aus der Auferstehung leben bringt Freude und Freiheit
Ostermontag: Das leere Grab ist der unauflösbare Rest
2. Ostersonntag: Sehnsucht nach eigener Gotteserfahrung
3. Ostersonntag: Theologie der Arbeit
4. Ostersonntag: Gaudium et spes – Die Pastoralkonstitution
5. Ostersonntag: Zuhören und spiegeln
6. Ostersonntag: Die Apostelgeschichte und ihre Höhepunkte
Christi Himmelfahrt: Jesus Christus, der Hohepriester
7. Ostersonntag: UND-Theologie
Pfingsten: Der Heilige Geist wirkt in der Apostelgeschichte
Dreifaltigkeitssonntag: Trinität nach Hans Urs von Balthasar
Fronleichnam: Wir sind Leib Christi
2. Sonntag im Jahreskreis: Selbstverwirklichung – hohes Ideal oder Egotrip?
3. Sonntag im Jahreskreis: Predigt zum Lukasevangelium
4. Sonntag im Jahreskreis: Innere Empathie
5. Sonntag im Jahreskreis: Drei Berufungen
6. Sonntag im Jahreskreis: Das Standbein in Gott verankert
7. Sonntag im Jahreskreis: Ziemlich beste Freunde
8. Sonntag im Jahreskreis: Weniger Ver-urteilen mit gewaltfreier Kommunikation, lösungsorientierten Arbeiten und Ignatius
9. Sonntag im Jahreskreis: Wie wird Jesus für uns der Christus?
10. Sonntag im Jahreskreis: Eckhart Tolle und Paulus
11. Sonntag im Jahreskreis: Variationen – wie Jesus auch hätte handeln können…
12. Sonntag im Jahreskreis: Die Frage aller Fragen und für wen hältst Du mich?
13. Sonntag im Jahreskreis: Menschensohn, Sohn Gottes und Knecht Gottes.
14. Sonntag im Jahreskreis: Das Reich Gottes - das zentrale Thema der Predigt Jesu
15. Sonntag im Jahreskreis: Sehen, Urteilen, Handeln
16. Sonntag im Jahreskreis: Martha und Maria als Tendenzen in mir
17. Sonntag im Jahreskreis: Ein Bibelgespräch über das Vaterunser
18. Sonntag im Jahreskreis: Ignatius´ Theologie nach Hugo und Karl Rahner
19. Sonntag im Jahreskreis: Beten ist Warten auf den Herrn
20. Sonntag im Jahreskreis: Oscar Romero bei Johannes Paul II.
21. Sonntag im Jahreskreis: Was ist mit der Hölle?
22. Sonntag im Jahreskreis: Gleichnisse als seelische Arznei
23. Sonntag im Jahreskreis: Jüngersein in der Wandergruppe Jesu
24. Sonntag im Jahreskreis: Sind wir beide Söhne in einem?
25. Sonntag im Jahreskreis: Untreuer Verwalter und Demokratie
26. Sonntag im Jahreskreis: Soziale Ungerechtigkeit
27. Sonntag im Jahreskreis: Die Tugend Demut
28. Sonntag im Jahreskreis: Ein schöner und erhabener Gottesdienst
29. Sonntag im Jahreskreis: Beten mit erhobenen Händen
30. Sonntag im Jahreskreis: Falsche Vorstellungen von der Beziehung zu Gott
31. Sonntag im Jahreskreis: Zachäus und der moderne Mensch
32. Sonntag im Jahreskreis: Spuren für die Ewigkeit bei ihm
33. Sonntag im Jahreskreis: Beethovens letzte Sonate
Christkönig: Jesus Christus ist der Kyrios!
Allerheiligen: Werden wir, was wir sind.
Anmerkungen:
Lk 21, 25-28.34-36
Fluchtpunkt Beim Bilder Malen in der Schule, im Kunstunterricht habe ich gelernt, was ein Fluchtpunkt ist. Zeichne ich zum Beispiel ein Zimmer, dann müssen die Kanten der Seitenwände als verlängerte Linien auf einen Punkt in der Mitte des Bildes zulaufen. Wenn ich eine Straße male, laufen die Seitenlinien und die Mittellinie zusammen im Horizont, dem Fluchtpunkt. Warum sage ich das? Das Evangelium am Anfang des Kirchenjahres ist ein solcher Fluchtpunkt!
Fluchtpunkt der Geschichte Warum fängt das Kirchenjahr mit einem Text über die letzten Dinge an? Damit man den Anfang vom Ende her versteht! Das gibt uns am Anfang einen Fluchtpunkt, auf den alles zu läuft. Mit diesem Fluchtpunkt können wir alles Folgende richtig einordnen: der Mensch Jesus ist der Christus, der Weltvollender, der Fluchtpunkt der Menschheitsgeschichte!
Nun gibt es aber unterschiedliche Deutungen von: den Anfang vom Ende her verstehen!
Eine mögliche Interpretation ist die Vorstellung von einem fertigen Plan. So wie ein Architekt einen Plan für das vollendete Haus entwirft, so hat Gott für die ganze Menschheitsgeschichte einen fertigen Plan entworfen, der mit Christus als König der Welt endet.
Prozessdenken Es ist aber noch eine andere Deutung möglich. Philosophen wie zum Beispiel Whitehead und Bergson geben uns dafür Hinweise. Gott ist die treibende Kraft, die zur heilenden und versöhnenden Vollendung hintreibt. Als Schöpferkraft ist er die Lebensschwungkraft, der Elan vital in jedem Leben. Gott ist eher wie ein Poet, der die geschichtlichen Prozesse mit zärtlicher Geduld leitet, neue Offenheit eröffnet und zugleich immer alles auf einen Fluchtpunkt hintreibt: seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte.
Ist Gott eher gleich einem Puppenspieler oder eher gleich einem Dirigenten? Gott gewährt den Menschen Freiheit. Gibt er dann nicht die Allmacht auf? Vergleichen wir dazu einen Puppenspieler mit einem Dirigenten. Ein Puppenspieler erscheint uns allmächtig gegenüber seinen Puppen. Die Puppen machen das, was die Fäden „befehlen“. Der Puppenspieler hat alle Fäden in der Hand.
Ein Dirigent dagegen hat es mit Menschen zu tun, die frei sind, sich weigern können, lustlos sein können usw. Er muss die Musiker inspirieren, begeistern, motivieren.
Wer ist mehr zu bewundern: ein Puppenspieler, der durch seine Fäden armselig allmächtig seine leblosen Puppen in der Hand hat, oder ein Dirigent, der durch Überzeugung und Ausstrahlung die Musiker motivieren und das Orchester leiten muss? Ich bewundere den Dirigenten mehr: Er ist mächtiger als der Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hat, weil er sogar Einfluss nimmt auf freie Menschen. Gott ist eher ein Dirigent als ein Puppenspieler, und diese Vorstellung erhöht auch unser Bild von der Macht Gottes!
Gott – der Dirigent der Welt Noch etwas verdeutlicht dieses Gleichnis. Ein Dirigent macht selbst keine Töne. Die Zuhörer werden auf der CD keinen einzelnen Ton vom Dirigenten hören. Und trotzdem: der Dirigent vermittelt seine Energie, seinen Elan, seine Interpretation den Musikern. Und so erkennen Musikexperten, ob eine Sinfonie zum Beispiel Karajan oder Celibidache dirigiert hat. Ist das nicht ein schönes Gleichnis für Gottes Wirken in der Welt? Physiker, Chemiker, Biologen usw. können nur die einzelnen Töne analysieren. Mit ihrem Blickwinkel hören sie nur die Musiker. Aber der Gläubige, der Theologe erkennt im Gesamten das Wirken Gottes, wie der Musikexperte bei einer Aufnahme den Stil eines Dirigenten erkennen kann.
Und wohin führt uns Gott als Dirigent der Welt? Wenn wir Jesus Christus als Fluchtpunkt der Menschheitsgeschichte vor Augen haben, dann können wir nicht in zwei Extreme verfallen: den Optimismus, der in naive Fortschrittgläubigkeit verfällt und den Pessimismus, der alle Geschichte als Zerfall deutet. Die Moderne war und ist für beide Extreme anfällig. Die rasanten Fortschritte in Wissenschaft und Technik beflügeln immer wieder einen naiven Optimismus, als ob wir mit Technik alle Probleme lösen könnten. Die zwei Weltkriege, der 11. September und die tragische Politik danach, der Klimawandel, die Finanzkrisen usw. lassen uns verzagen und treiben viele dazu, die Geschichte als eine Fahrt in den Abgrund zu deuten.
Der Christ kann sagen: auch wenn es viele Krisen gibt, kann ich – fast paradox – an einen Vollender glauben! Der adventliche Mensch hat einen Fluchtpunkt, die zweite Ankunft Jesu Christi am Ende der Zeit. Die Adventszeit ist eben nicht nur eine Vorbereitungszeit auf Weihnachten. Sie will uns außerdem deutlich machen, dass zum Christsein eine Haltung gehört, die wir adventlich nennen sollten. Der adventlich denkende Christ weiß, dass letztlich alles gut wird, aber nie so, wie wir Menschen uns das vorstellen. Deswegen ist der adventliche Mensch in der Gegenwart wachsam auf die Realität, immer bereit, darin einen Ruf Gottes in die heilende Richtung zu entdecken.
Lk 3, 1-6
Jesus im Pfarrgemeinderat Für Pfarrgemeinderäte, die sich einen Besinnungstag gönnen, gibt es eine wertvolle spirituelle Übung: Die Teilnehmer dürfen sich vorstellen, dass Jesus ihre Pfarrei besucht. Vielleicht kommt er zuerst einmal an Ihre Haustüre und klingelt. Sie laden ihn zum Kaffeetrinken ein und erzählen ihm von Ihrem Leben, von dem Leben in diesem Viertel. Was erzählen Sie ihm? Worauf sind Sie stolz, welches Thema macht Sie eventuell betreten? Dann führen Sie ihn durch das Pfarreigebiet. Was zeigen Sie ihm? Was wird Ihnen deutlich, wenn Sie gerade Jesus durch Ihr Viertel führen. Wo wird Jesus besonders hinschauen? Was wird ihn besonders interessieren?
Am Abend ist Pfarrgemeinderatssitzung und Jesus ist dabei. Der Vorsitzende bittet ihn, einige Worte zu sagen. Was könnte Jesus unserem Pfarrgemeinderat sagen? Was wird er wertschätzen? Wo wird er uns ermahnen? Auf was in seiner Botschaft wird er nochmal besonders hinweisen? Und welche Fragen werden wir ihm stellen wollen?
Sie können sich vorstellen, dass jeder der Teilnehmer erst einmal für sich selber oder zu zweit eine gewisse Zeit braucht, um sich diese Fantasiereise mit Jesus und drei Stationen auszumalen und Antworten auf die vielen Fragen zu finden. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, aus eingefahrenen Denkgewohnheiten auszusteigen und wieder einmal ganz bewusst Jesus und seine Botschaft als Maßstab sich vor Augen zuführen – und das nicht allgemein, sondern ganz bewusst in Bezug zu meinem Leben und in Bezug zu unserer Pfarrei.
Denn die Aufforderung von Jesaja gilt ja auch heute noch: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.
Solowjews Test Der russische Theologe und Philosoph im 19. Jahrhundert Wladimir Solowjew, ein Zeitgenosse von Dostojewski und Tolstoi, formulierte die entscheidende Aufgabe des einzelnen Christen und der ganzen Kirche und der ganzen Welt ähnlich: Christus in allem Gestalt gewinnen lassen. Leben bedeutet: Bereitet dem Herrn den Weg!
Er betont, dass die Befolgung von Geboten und Regeln, und seien es Gebote und Regeln des Evangeliums, nicht unbedingt dazu führen, dass wirklich Christus Gestalt gewinnt, dass wirklich ihm der Weg bereitet wird. Denn sogar höchste Gebote können nach dem Buchstaben aber nicht nach dem Geiste verstanden werden. Und wie kann es geschehen, dass wir dem Herrn den Weg bereiten, dass wir ihn Gestalt gewinnen lassen?
„Die beste und einzige Prüfung liegt doch so nahe! Man braucht nur, bevor man sich zu irgendeinem Schritt entscheidet, der für das persönliche oder gesellschaftliche Leben Bedeutung hat, in seiner Seele das Bild Christi wachzurufen, sich darauf zu konzentrieren und sich zu fragen: könnte er diesen Schritt tun, oder mit – mit anderen Worten – wird er ihn gutheißen oder nicht, wird er mich, wenn ich ihn tue, segnen oder nicht? Allen möchte ich diese Überprüfung vorschlagen – Sie trügt nicht.“1
Man könnte sagen, völlig im Geiste Johannes des Täufers spricht Solowjew weiter: „Wenn alle Menschen guten Willens, sowohl die Privatpersonen wie auch die bahnbrechenden Männer des sozialen Lebens und die Lenker der christlichen Völker, künftig in allen zweifelhaften Fällen dieses verlässliche Mittel anwenden würden, dann wäre das schon der Beginn der Wiederkunft Christi und die Vorbereitung zu seinem Jüngsten Gericht – denn die Zeit ist nahe.“2
Vielleicht ist uns diese Sprache etwas zu pathetisch, aber das Entscheidende bleibt. Solowjew gibt uns eine wahrlich durch und durch wertvolle spirituelle Übung an die Hand. Nehmen Sie zum Beispiel eine Ikone mit dem Antlitz Christi und schauen Sie sie an. Welche Frage bewegt Sie, welche Entscheidung müssen Sie fällen? Welche Möglichkeiten haben Sie durchgespielt? Und dann horchen Sie in sich hinein und schauen das Bild Jesu Christi an, welche Entscheidung wird er gutheißen, welche wird er begrüßen und segnen?
Die am Anfang vorgestellte spirituelle Übung für Pfarrgemeinderäte ist natürlich eine Ausweitung und Variation von Solowjews Empfehlung.
Ich lade Sie herzlich ein: Probieren Sie eine dieser Übungen einmal aus, dann folgen Sie dem Aufruf Jesajas, den Johannes der Täufer in seiner Predigt aufgegriffen hat: Bereitet dem Herrn den Weg!
Und bleiben wir im Alltag wachsam und offen! Damit es uns nicht ergeht wie einem Mann, dem vom Himmel her versprochen wurde, dass Jesus vorbeikommt. Voll Freude bereitet er alles vor. Dann kommt eine arme Witwe, die er wegschickt, weil er ja auf Jesus wartet. Ebenso schickte er ein hungriges Kind weg und einen unschuldig Flüchtenden. Am Abend ist er sehr traurig, weil Jesus nicht gekommen ist und da muss er aus dem Himmel vernehmen: Ich kam dreimal zu dir, und du hast mich dreimal abgewiesen.
Lk 3, 10-18
„Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.“ Dieses bekannte Adventslied ist der Grund für den heutigen Sonntag, den Gaudete-Sonntag: Freut euch, rufen uns die Lesungen zu. Aber warum? Was ist der Grund der Freude?
Der Wurzelstock ist ein Symbol für die stockende Lebensschwungkraft. Und da verkündet Jesaja: Ein kleiner Reis, ein kleines Pflänzchen wächst aus der Wurzel – die Wurzel ist nicht das totale Aus! Es kann auch da weitergehen. Das ist der Grund der Freude.
Wir können eine Geschichte schreiben, die genau auf diese Momente schaut, in denen aus einer abgestorbenen Wurzel ein neues Pflänzchen wächst. Welchen Weg ging mit dieser Sichtweise die Lebensschwungkraft, die Kraft Gottes? Wo setzte sie sich durch?
Henri Bergson hat diesen Weg in seinem Buch „Schöpferische Entwicklung“ nachgezeichnet. Dieses philosophische Werk wurde 1927 sogar mit dem Literaturnobelpreis geehrt.
Am Anfang der Schöpfungs- und Heilsgeschichte steht die Kraft Gottes: Mit dem Philosophen Bergson möchte ich die Schöpferkraft des Heiligen Geistes auch Lebensschwungkraft nennen. Diese Lebensschwungkraft, dieser Elan vital wirkt durch die ganze Geschichte.
Jedoch: Immer wieder bleibt sie stocken, verzweigt sich, kann später eventuell an einer Stelle weiterwirken. Zuerst schuf die Lebensschwungkraft in der Materie das Leben, die ersten Lebewesen.
Die kleinen Lebewesen, wie Einzeller und Bakterien, versuchten zwei Dinge der Lebensschwungkraft zu verwirklichen: Energie ansammeln und sich bewegen.
Als die Lebewesen größer wurden, konnte die Lebensschwungkraft nicht mehr beides vereinigt lassen. Die Bewegung teilte sich auf: Die Pflanzen spezialisierten sich, sie sammeln Energie mit der Photosynthese. Die Tiere dagegen können sich bewegen, sind aber unfähig, Licht in biochemische Energiestoffe umzuwandeln. Sie müssen Pflanzen oder andere Tiere fressen.
In gewisser Weise stockte die Lebensschwungkraft bei den Pflanzen und blieb auf einem Niveau stehen: Pflanzen bewegen sich nicht.
Bei den Tieren wirkte die Lebensschwungkraft weiter. Und so stellte sich in dieser Entwicklung die Frage: Wie die Bewegungsfreiheit gestalten?
Wieder verzweigte sich die Lebensschwungkraft, die Kraft Gottes und wieder bei einer eingeschlagenen Richtung stockte die Lebensschwungkraft:
Die Insekten bildeten den Instinkt aus. So perfekt ein Bienenstaat ist, er ist doch im Vergleich zum anderen Weg eine Sackgasse.
Die Wirbeltiere entwickelten sich zum Menschen weiter. Hier stockte die Lebensschwungkraft nicht.
Eine neue Stufe von Bewusstsein und Freiheit wurde erklommen: Der Mensch hat Intelligenz, er kann über sich selbst nachdenken, planen, Werkzeuge herstellen, sprechen. Mit diesen neuen Fähigkeiten kann er seine Möglichkeiten, seine Freiheit gestalten.
Aber wie können die Menschen ihre Freiheit so gestalten, dass die Lebensschwungkraft, die Dynamik Gottes in der Geschichte weitergeht und nicht steckenbleibt, wie bei den Pflanzen und den Insekten? Wie können Menschen ermuntert werden, dass sie ihre Intelligenz und Freiheit nicht egoistisch, allein zu ihrem Eigennutz missbrauchen?
Gott wirkte weiter in der Geschichte – Ein zentraler Höhepunkt: Gott offenbart sich am Sinai und gibt Mose und dem Volk Israel die 10 Gebote.
Aber was macht Israel aus dieser Lebensschwungkraft, die aus diesen Geboten fließen? Es lässt die Dynamik Gottes verkümmern. Es verfällt wie andere Völker in Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit und verliert ihr Gottvertrauen.
Jesajas Bild von der Wurzel bedeutet genau dies: Gottes Wille und Dynamik Gottes ist verkümmert, das Volk Israel will oder kann nicht gut die menschliche Freiheit gestalten.
Die Lebensschwungkraft stockt wieder! Und wie bei den Stockungen vorher geht es an einer Stelle weiter.
Jesus Christus Ein kleiner Zweig wächst aus der Wurzel. Ein Mensch, Jesus, erfasst intuitiv in einer ganz klaren und bewussten Weise die Lebensschwungkraft, den Geist Gottes, die Dynamik Gottes selbst. Er spürt: Das Reich Gottes setzt sich durch und mein Vater möchte durch mich, mein Handeln und meine Predigten einen neuen Impuls setzen, einen unwiderruflichen Neuanfang.
Deswegen ist Jesus der Höhepunkt der Geschichte! Nicht nur ist die Dynamik Gottes weitergekommen. Sondern einem Mensch wird der tiefste Wille Gottes deutlich und dieser Mensch selbst offenbart und verkörpert diesen Willen Gottes. Dieser Mensch Jesu lebt die Dynamik Gottes, den Elan vital selbst aus.
Er überwindet alle Egoismen: den Egoismus der einzelnen, einer Gruppe oder eines Volkes. Denn wenn alle Menschen Kinder Gottes sind, gilt es auch, die eigenen Feinde zu lieben. Und so wendet er sich gerade den Ausgestoßenen zu und predigt die tätige Nächstenliebe. Am Kreuz verwirklicht er diese Liebe weltumspannend, sogar seine Feinde einschließend.
Beim Urknall entstand Materie. Da begann die Lebensschwungkraft Gottes zu wirken. Der Höhepunkt ist Jesus Christus. Dieser Reis aus der Wurzel Jesajas ist Kraftquelle und Maßstab und Halt für heute und für immer!
Der Friede Gottes Die Paulus-Lesung bezeichnet diese Kraft Gottes mit: der Friede, der alles Denken übersteigt. Ja so ist der Friede Gottes, immer gegenwärtig, nicht mit dem Verstand zu begreifen, aber wirkmächtig, trotz aller Stockungen wirkt er weiter, auch wenn wir es nicht merken: Der Friede Gottes ist Grund, Ziel und Halt jetzt und ewig. Er ist der tiefste Grund der Freude!
Siehe „Exerzitien der Nächstenliebe“
Predigt zur 32. Woche
Als Kind habe ich in der Weihnachtszeit gerne eine Hörspielkassette mit den Weihnachtslegenden von Waggerl gehört. Vor kurzem ist sie mir wieder in die Finger gekommen und ich habe hinein gehört. Schnell war ich in meine Kindheitstage zurückversetzt. Und so verband ich mit den Geschichten etwas von dem Weihnachtszauber, den gerade Kinder besonders erleben können. Auf den ersten Blick sind es hübsche süße Weihnachtsgeschichten. Aber tiefer geblickt offenbaren sie erzählerisch, humorvoll verpackt, zentrale Aspekte des Geheimnisses von Weihnachten. Eigentlich macht Waggerl nichts anderes als Lukas: Er erzählt Geschichten, um wichtige theologische Wahrheiten auszudrücken. Man kann es einfach als narrative Theologie bezeichnen. Zwei Legenden möchte ich erzählen, um mit ihnen zum Geheimnis von Weihnachten vorzudringen.
Die erste Legende erzählt vom Erzengel Gabriel, der es sich nicht nehmen lassen kann, den Stall mit einer Schar von Engeln gründlich zu putzen und zu reinigen und alles Ungeziefer zu vertreiben, bevor der heilige Joseph und die selige Gottesmutter Maria eintreffen würden.. Ochs und Esel ließen sie im Stall! Der Esel wurde ja später noch für die Flucht nach Ägypten gebraucht und der Ochs war zu träge, um ihn aus dem Stall zu befördern. Warum musste es unbedingt so ein erbärmlicher Stall sein? Das ging selbst so einem hohen Engel wie dem Erzengel Gabriel nicht in den Kopf! Aber wie der Zufall will, ein kleiner Floh wurde von den Engeln doch nicht entdeckt!
Als nun das Kind geboren war, erwachte der Floh im Stroh der Krippe. Er erkannte die Situation, und wollte flüchten: So viel Licht, so viele Engel, das war zu viel für den kleinen Floh. Und so sprach er mit dem Jesuskind, ob er von seinem Platz aus kurz zu seinem Ohr springen könne, um dann weiter einen Satz zur Glatze des Josefs und weiter zum Fenstersims machen zu können. Das Jesuskind gab ihm zu verstehen, dass es ruhig halten werde. Und so nahm der Floh Anlauf und sprang mit zwei Sätzen auf den Fenstersims. Da berührte Maria ihren Mann und sagte: Sieh einmal, es lächelt schon!
Jesus lächelt: Sehen wir dieses Lächeln einmal eher als ein Lächeln Gottes. Was bedeutet dieses Lächeln dann? Ich glaube, Gott lächelt über den Erzengel Gabriel! Dieser große Erzengel scheint nicht ganz zu kapieren, auf was es eigentlich bei Weihnachten ankommt. Gott selbst macht sich ganz klein und geht wirklich ganz in die tiefsten Tiefen der Welt hinein. Gott möchte nicht in einem Palast der Reichen, die die Armen unterdrücken, geboren werden. Gott möchte in Jesus Christus wirklich Mensch werden mit allem Drum und Dran. Der Erzengel vertreibt das angebliche Ungeziefer. Aber hat Gott nicht auch die Käfer und die Flöhe geschaffen? Jesus Christus lächelt: Ich ziehe keine Grenzlinie zwischen guten Tieren und Ungeziefer. Ich gehe ganz in die Welt hinein. Da darf sogar ein Floh in mein Ohr hüpfen.
In einer anderen Legende wird von einem kleinen Hirtenjungen erzählt, der im Gegensatz zum Erzengel die Menschwerdung viel besser versteht. Als die Hirten aufbrachen, um dem Engel zu folgen und den Stall zu finden, ließen sie einen kleinen Hirtenjungen am Feuer zurück. Du bist noch zu klein, sagten sie zu ihm. Da war der kleine Junge enttäuscht und nach einer gewissen Zeit nahm er seinen ganzen Mut zusammen und ging den andern Hirten nach, denn er wollte auch das Kind sehen. Als er aber am Stall ankam, waren die anderen schon auf einem anderen Weg zurückgegangen. Josef und Maria schliefen schon. Nur das Jesuskind lag still aber wach in seiner Krippe. Da dachte der Junge, dass der kleine Säugling irgendwie einsam dalag. So ging der Hirtenjunge zum Jesuskind, nahm seinen rechten Daumen und steckte diesen in seinen Mund. So hatte der Hirtenjunge dem Jesuskind das gegeben, worüber sich so viele Babys vor und nach Jesus gefreut haben: ihren eigenen Daumen.
Ja jetzt lächeln wir: Denn der Hirtenjunge hat verstanden. Jesus ist wirklich wahrer Mensch, mit ganz normalen menschlichen Bedürfnissen. Er könnte uns ja gar nicht verstehen, wenn er nicht all unsere Bedürfnisse mit uns teilen würde. Er könnte uns gar nicht heilen, wenn er Freud und Leid mit uns nicht teilen würde.
Gott ist ganz in seine Schöpfung hinein gegangen und hat sich völlig mit uns solidarisiert. Deswegen versteht uns Jesus aus ganzem Herzen. Deswegen heilen die verwundeten Herzen an der Krippe, weil wir dort erkennen, dass wir nie von Gott getrennt sind, getrennt waren oder sein werden, sondern immer von Gottes Liebe durchdrungen sind.
Für Weihnachten gibt es eine Präfation, die sich nennt: der wunderbare Tausch. Darin heißt es: Denn einen wunderbaren Tausch hast du vollzogen! Dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben.
Der Hirtenjunge hat dem Jesuskind seinen Daumen geschenkt. Was er von Jesus bekam, hat er wohl nicht gleich gemerkt. Aber wir können es heute freudig besingen. Denn es wurde uns allen geschenkt: Durch dieses Kind entdecken wir: Wir sind wirklich immer hineingenommen in die göttliche Liebe, die uns umfängt, trägt, führt, heilt und Leben in Fülle schenkt.
Wir feiern heute den Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus. Die ersten, die sich mit Maria und Joseph über die Geburt des Kindes gefreut haben, waren die Hirten. Arme Hirten, die für wenig Geld hart schufteten und Wind und Wetter ertrugen.
Am 25. Dezember ist noch jemand anderes geboren: im Jahre 1811 in Münster wurde Wilhelm Emmanuel von Ketteler geboren, der später Bischof von Mainz wurde. Er ist einer der wichtigsten Wegbereiter der katholischen Soziallehre.
Gibt es zwischen den beiden über den gemeinsamen Geburtstag hinaus einen Zusammenhang, der naheliegt, warum ich in einer Weihnachtspredigt auf Wilhelm Emmanuel von Ketteler komme?
Ja, diesen Zusammenhang gibt es: Ketteler kann uns einen wichtigen Aspekt von Weihnachten deutlich machen! Für ihn gehört die soziale Frage zum Glaubenssatz der Kirche, zum Wesen des christlichen Glaubens. Alles, was Menschen unterdrückt, beleidigt Gott!
Warum sind die ersten Zeugen der Geburt Jesu arme Hirten? Warum findet die heilige Familie keine Herberge? Und warum muss der Sohn Gottes in einem Stall zur Welt kommen?
Gott ist solidarisch mit den Ärmsten Ja da können sich der Evangelist Lukas und der Bischof Ketteler die Hand reichen. Beide wollen auf ihre Weise deutlich machen: Gott wird nicht nur Mensch, sondern vom ersten Augenblick seines Menschenlebens ist Gott solidarisch mit den Ärmsten. Diese besondere Solidarität mit den Leidenden und Armen gehört wesentlich zur Menschwerdung Gottes, genauso wie die soziale Frage zum Wesen des christlichen Glaubens gehört. Denn auch die Heilige Familie litt unter staatlicher Willkür, unter Armut und Ausgrenzung: Wegen der Volkszählung müssen sie sich auf den Weg machen.
Soziale Dimension vergessen Aber es wird oft vergessen, dass die soziale Frage in das Zentrum der Weihnachtsbotschaft gehört. Erich Kästner hat mit einer Umdichtung eines bekannten Weihnachtsliedes sarkastisch humorvoll auf diese Vergesslichkeit von vielen Christen hingewiesen:
Morgen, Kinder, wird's nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man's bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist's noch nicht soweit.
Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.
Wenn wir uns heute am Weihnachtstag an den Bischof Ketteler erinnern, hilft er uns, dass wir uns der sozialen Dimension der Weihnachtsbotschaft bewusst werden. Beim ersten deutschen Katholikentag in Mainz im Jahre 1848 – zu dieser Zeit sind die Folgen der Frühindustrialisierung offensichtlich – hält der 1844 geweihte Priester Ketteler aus dem Stegreif eine Rede, die tiefen Eindruck auf alle Zuhörer hinterließ: „Die schwerste Frage, die bei allen gesetzlichen Bestimmungen, bei allen Staatsformen noch nicht gelöst ist, das ist die soziale Frage. Ich kann es mit aller Wahrheit aussprechen: die Schwierigkeit, die Größe, die Dringlichkeit dieser Aufgabe erfüllt mich mit der größten Freude; nicht die Not freut mich, die ich in Wahrheit im tiefsten Herzen mitfühle, nicht das Elend meine Brüder – nein, sondern dass es jetzt sich zeigen wird und zeigen muss, welche Kirche die Kraft der göttlichen Wahrheit in sich trage.“3
Eigentum verpflichtet Im gleichen Jahr wurde er zu Adventspredigten in Mainz eingeladen und widmete sich gleich einem heißen Eisen der sozialen Frage: Ist das Recht auf Eigentum absolut und unantastbar? Oder ist Besitz und Eigentum das Grundübel und muss abgeschafft werden, wie die Kommunisten fordern? Beide Extreme lehnte er ab: „Die falsche Lehre vom starken Recht des Eigentums ist eine fortgesetzte Sünde wider die Natur, indem sie kein Unrecht darin sieht, das zur Befriedigung der unangemessensten Habsucht, der ausschweifendsten Sinnenlust zu verwenden. Aus dem entstellten Eigentumsrecht ist die falsche Lehre des Kommunismus hervorgegangen. Auch sie ist eine Sünde gegen die Natur, […] [weil sie] einen Kampf aller gegen alle hervorruft und so die Bedingungen des menschlichen Daseins vernichten würde.“4
Ketteler plädiert mit Thomas von Aquin dafür, dass Eigentum verpflichtet, dass Eigentum nur ein beschränktes Nutzungsrecht ist und kein absolutes Recht. Seine Theologie hat Eingang gefunden in unser deutsches Grundgesetz. Artikel 14: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Hat man diesen Artikel inzwischen vergessen? Viele Superreiche in Deutschland hätten gar nichts dagegen, mehr Steuern abzuführen. Aber die Politik traut sich nicht, stärker der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich entgegenzutreten.
Ketteler setzte sich auch für Arbeitsschutzgesetze ein, für das Verbot der Kinderarbeit, für Gewerkschaften, für Genossenschaften und forderte, die Arbeiter am Gewinn zu beteiligen. Er wurde damit Impulsgeber für die deutschen Sozialgesetze und Mitbegründer der katholischen Arbeiterbewegung.
Würde des Menschen All dies tat er aus einer grundsätzlichen Erkenntnis heraus: Es geht um die Würde des Menschen! Wenn Gott Mensch wird, dann ist der politische Einsatz für die Würde des Menschen Gottesdienst. Oder wie Kardinal Reinhard Marx schreibt: „Spiritualität und Weltverantwortung, Mystik und Politik gehören zusammen. Mystik ist keine Weltflucht und Politik keine Glaubensflucht.“5
Weihnachten ist und bleibt unser Fest für unsere Menschenwürde. Setzen wir uns wie Ketteler für sie ein!
Wir feiern heute den ersten Märtyrer der Kirche: Stephanus! Gleichzeitig feiern wir heute auch den ersten Diakon der Kirche: Stephanus! Ich möchte zu beidem etwas sagen.
Zuerst zu Stephanus, dem Diakon! Die Einsetzung der Diakone in der Apostelgeschichte ist eine seltsame Geschichte. Die Diakone werden eingesetzt, um den Dienst an den Tischen zu verrichten, das bedeutet zum Beispiel die Witwen täglich zu versorgen. Auf Deutsch gesagt: Die Diakone sollten eigentlich die Aufgabe übernehmen, die heute die Caritas übernimmt. Nicht umsonst heißt der evangelische Wohlfahrtsverband Diakonie. Die Apostel sollen sich dagegen um die Verkündigung des Wortes Gottes kümmern.
Aber dann passiert etwas Erstaunliches im Text: Es wird berichtet, dass Stephanus Wunder und große Zeichen unter dem Volk tat. Er wird festgenommen, nicht deswegen weil er Witwen versorgt, sondern weil er Predigten hält, die dem Hohen Rat und den Schriftgelehrten nicht gefallen. Seltsam: Sind nicht die Apostel für die Predigt zuständig? Und jetzt wird nicht ein Apostel sondern der Diakon Stephanus festgenommen, weil er zu provokativ predigt?
Wir merken, dass Lukas die Sachlage nicht ganz vollständig und klar darlegt. Er möchte eine Einheit in der Urgemeinde suggerieren. Aber so einheitlich, wie Lukas das sich ausmalt oder ausmalen will, war die Urgemeinde nicht. Eines z. B. verschweigt er gewissermaßen. In Jerusalem gibt es nicht eine einheitliche christliche Gemeinde. Es gibt die Hebräer: das sind galiläische Juden oder Juden aus Jerusalem, wie z.B. die Apostel, die Christen geworden sind. Und es gibt die Hellenisten: das sind Juden, die früher außerhalb von Israel zum Beispiel in Ägypten oder in Griechenland gewohnt haben und griechisch sprechen. Einige von diesen Exiljuden sind nach Jerusalem zurückgekehrt. Und einige von diesen Juden sind eben Christen geworden. Genau diese hellenistischen Judenchristen wurden von den Aposteln vernachlässigt. Für diese wurden die Diakone ausgewählt.
Die hellenistischen Judenchristen waren im Gegensatz zu den Aposteln tempelkritisch. Lukas sagt zwar, dass alle Christen in den Tempel gingen, um zu beten. Aber das stimmt eben nicht ganz. Die hellenistischen Judenchristen und insbesondere Stephanus ließen kritische Töne gegen den Tempel laut werden. Und deswegen wurde Stephanus festgenommen. Dann wurden sogar viele hellenistische Judenchristen verfolgt. Aber nicht die Christen um die Apostel herum, die hebräisch sprachen.
Das erklärt die Spannungen im Text: der Diakon ist einerseits für den Dienst an den Tischen da und andererseits kritischer Prediger. Diese Spannung zeigt sich auch heute noch: Der Diakon soll sowohl den Armen, Kranken und Notleidenden beistehen als auch das Evangelium im Gottesdienst verkünden und auslegen. Tatsache ist, dass dem Diakon meistens das passiert, was den Aposteln nach Apostelgeschichte passiert ist. Sie sind sehr viel für die Liturgie zuständig und ganz wenig für echte Diakonie. Sie haben ihren helfenden Dienst zum Großteil an die Caritas delegiert.
Wort und Tat Aber dieses Problem gilt nicht nur für den Diakon. Vielmehr kommt hier ein grundsätzliches Problem zum Vorschein, in das wir alle rutschen können. Es ist die Frage nach der Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Es ist ein Problem von Menschen überhaupt: Jeder weiß, wie unsympathisch Menschen sind, die große Versprechungen machen und sie nicht einhalten, die große Reden schwingen aber keine Taten folgen lassen. Es ist aber auch ein Problem der Kirche! Sie muss sich immer kritisch fragen: Lebe ich das, was ich verkünde? Genau das hat mir der Bischof bei der Weihe zum Auftrag gegeben: Lese das Evangelium, verkünde, was du liest, und lebe, was du verkündest.
Stephanus der Märtyrer Stephanus ist hier gerade in seiner letzten Lebensstunde das große Vorbild: er hält vor dem Hohen Rat eine große Predigt über Jesus Christus. Aber danach lässt er eine noch größere Tat folgen! Er ist bereit, für diesen Christus zu sterben. Eine höhere Glaubwürdigkeit ist nicht mehr zu erreichen!
Er kann dies aber nur leben, weil er aus einer anderen Glaubwürdigkeit heraus die Kraft bekommt: die Glaubwürdigkeit der Geburt, des Lebens und Sterbens Jesu Christi. Ja schon in der Geburt beginnt diese Glaubwürdigkeit: Gott lässt die Engel predigen; er selbst aber vollzieht die Tat: Er erniedrigt sich und wird Mensch! Unbegreifliche Größe Gottes! Umgekehrt zeigen gerade alle Märtyrer, allen voran der erste Märtyrer der Christenheit, Stephanus, die Macht und Kraft des Glaubens.
Wenn wir von außen als Atheisten den christlichen Glauben betrachten, dann erscheint das doch alles irgendwie seltsam: Da wird Jesus Christus als Retter gepriesen. Und was hat er bewirkt? Von außen betrachtet: Nichts! Er ist in einer Krippe geboren – wahrlich keine Ausgangsposition, um etwas mit „Macht” zu ändern. Er ist am Kreuz gestorben – die Römer hat er nicht aus dem Land getrieben. Ist unser Glaube verrückt, ein Hirngespinst?
Stephanus zeigt uns die wahre Macht und Kraft, die wir durch den Glauben an Jesus Christus bekommen! Er starb – ohne seine Feinde zu hassen und ohne in Hoffnungslosigkeit zu verfallen! Das zeigt den wahren Sieg, die wahre Errettung, die mit Jesus kam: Dass wir sogar im Tod nicht verzweifeln müssen, dass wir unseren Feinden nicht mit Gewalt und Hass begegnen müssen.
Gelobt und gepriesen seien die Märtyrer, die für diesen unseren Gott Zeugnis ablegten!
Lk 2, 41-52
Vielleicht kennen Sie diese Darstellungen der Heiligen Familie! Es wird eine idyllische Familie gezeigt: Der kleine Junge Jesus hilft Joseph in der Werkstatt bei der Arbeit. Familienharmonie, Familienidylle: Kein Streit, Jesus ist ein vorbildlicher Sohn. Eine perfekte Familie!
Besteht darin die Heiligkeit der Heiligen Familie?
Eines ist auf jeden Fall klar: Diese Vorstellung der Heiligen Familie als Familienidylle wurde auch benutzt, um Kinder brav und unterwürfig zu halten. So stellt sich die Frage: Wie war die Heilige Familie wirklich? Und wenn wir eine vage historische Vorstellung davon haben, wie die Heilige Familie tatsächlich war, stellt sich die Frage: Worin zeigt sich ihre Heiligkeit?
Wie kann die Heilige Familie uns ein Vorbild sein?
Von Familienidylle lesen wir in der Bibel jedenfalls nichts! Die einzige Geschichte handelt von einem Missverständnis: Im Lukasevangelium haben wir nur die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel.
In der heutigen Zeit wäre das ja nicht einmal so dramatisch abgelaufen. Mutter Maria hätte zum Handy gegriffen und den zwölfjährigen Jesus angerufen: Wo bist du überhaupt? Jetzt komme aber schleunigst zurück!
Damals ohne Handy war die Sache dramatischer: Drei Tage suchen die Eltern nach Jesus! Drei Tage Sorge! Und was bekommen sie für eine Antwort: Warum habt ihr mich gesucht? Besonders verständnisvoll ist das nicht! Wenn wir nicht wüssten, dass es Jesus gesagt hat, würden wir sagen: So ein verzogener Bengel.
Ein Bild der Kunstgeschichte zeigt diese Streitszene sehr gut: Josef schaut ernst Jesus an und verweist auf Maria. Seinem Gesicht kann man leicht die Sprechblase zuordnen: Schau mal, wie du deiner Mutter Sorgen bereitet hast. Und Jesus mit verschränkten Armen und bockigem Gesicht! So eine Körpersprache kennen Eltern auch heute. Der 12-Jährige drückt damit aus: Ihr versteht mich einfach nicht!
Alle vier Evangelisten haben kein Interesse, ein Familienidyll von der Heiligen Familie zu zeichnen. Das finde ich sehr sympathisch. Die heilige Familie ist nicht mehr ein unerreichbares und unrealistisches Ideal. Wenn es auch in der Heiligen Familie Missverständnisse zwischen den Eltern und dem Sohn gab, dann ist der Weg frei, dass die Heilige Familie in ihrer eigentlichen Heiligkeit ein wirkliches Vorbild für unsere Familien sein kann.
Das erste: Es kann immer wieder Missverständnisse zwischen Eltern und Kinder geben.
Was ich bei einer Passage von Gregory Bateson gelernt habe: Kulturelle Werte werden nie Eins zu Eins an die nächste Generation weitergegeben. Kinder lernen nie durch bloße Wiederholung und durch reine Aufnahme. Kinder und Jugendliche sind in ihrem Lernprozess auch immer mehr oder weniger schöpferisch. Sie finden neue Wege, um ein Problem zu lösen. Und das macht Eltern und Lehrer stutzig, weil diese neuen Wege für sie ungewöhnlich sind. Heute lernen Kinder durch den Computer und das Internet ganz anders als noch vor 20 Jahren. Wichtig ist zu sehen: Sie lernen nicht unbedingt schlechter sondern anders. Und dieses „Anders“ schafft Missverständnisse.
Ist das nicht genau auch das Missverständnis zwischen Jesus und seinen Eltern? Jesus geht seinen eigenen Lernweg. Er sucht nach seiner eigenen Beziehung zu Gottvater und sucht das Gespräch mit den Glaubensexperten im Tempel. Aber das verstehen seine Eltern nicht.
Die Missverständnisse in der Heiligen Familie steigern sich noch, nachdem Jesus seine Predigttätigkeit beginnt. Im Markusevangelium wird berichtet, dass Verwandte Jesus mit Gewalt in die Großfamilie zurückholen wollten, weil sie dachten, Jesus sei verrückt geworden.
Die heilige Familie ist also nicht heilig, weil es in ihr keine Missverständnisse gäbe und alles idyllisch ist. Die Heilige Familie ist heilig in der Art und Weise, wie sie mit den Missverständnissen umgeht:
Maria lässt ihren Sohn nicht allein, als er das schwere Kreuz tragen muss. Sie leidet mit und verlässt ihn in seiner schwersten Stunde nicht.
Und auch die Großfamilie lernt aus den Missverständnissen: der Herrenbruder Jakobus wird nach Ostern neben Petrus Gemeindeleiter in der Jerusalemer Urgemeinde.
Die Heiligkeit zeigt sich also darin, bereit zu sein mitzuleiden, und bereit zu sein, dazu zu lernen. Und diese so verstandene Heiligkeit ist wirklich ein wertvolles Vorbild auch für heutige Familien: Seien wir bereit bei allen Missverständnissen und Streitigkeiten, uns wieder zu öffnen, zuzuhören, seien wir bereit, dazu zu lernen. Und stützen wir uns gegenseitig, bereit das Leid anderer in unseren Familien mitzutragen. Darin ist die Heilige Familie uns wirklich ein aufbauendes Vorbild, das uns immer wieder Kraft geben kann.
Joh 1,1-18
Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt! Ja Jesus hat unter den Menschen gewohnt, gepredigt, geheilt, gestritten, ist durch Galiläa gewandert. Seine Worte und Taten, seine Begegnungen und Lebensetappen, insgesamt seine Lebensgeschichte offenbaren ihn als den Christus. Das göttliche Wort zeigt sich, weil es Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat: Weil es Geschichte gemacht hat!
Seltsam ist dann schon, dass im Credo, das im Konzil von Nicäa verabschiedet wurde, diese Geschichte fast nicht vorkommt. Da steht nicht: Jesus hat das anbrechende Reich Gottes verkündet, Kranke geheilt, mit Zöllnern und Sündern gegessen und sich mit Pharisäern gestritten! Und Chalcedon spricht davon, dass in Jesus Christus die göttliche Natur und die menschliche Natur unvermischt und ungetrennt vereinigt sind.