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Wer einmal versucht hat, Deleuze zu lesen und ihn frustriert weggelegt hat, weil seine Texte aufs erste Lesen zu schwer zu verstehen sind, der kann mit diesen Einsteigerbänden neu beginnen. Band 1 und 2 bieten einen anschaulichen, verständlichen Kommentar zu den zwei Hauptwerken "Differenz und Wiederholung" und "Logik des Sinns", den ersten Gesamtkommentar in Deutsch zu beiden Werken. Dieser 2. Band führt außerdem in Deleuzes Darstellung von Spinoza, Nietzsche, Bergson und Strukturalismus ein. Viele Beispiele, Begriffs-skizzen, Detailkommentierungen wichtiger Passagen und Hintergrundinformationen machen Deleuzes philosophische Welten für Einsteiger zugänglich, wie einige Leserstimmen zum 1. Band schon bestätigt haben.
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Seitenzahl: 1204
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Das reine Ereignis ist Erzählung und Novelle, nie Aktualität.
Genau in diesem Sinne sind die Ereignisse Zeichen. LdS, S. 89
1. Teil: Strukturalismus, Psychoanalyse mit Deleuze kennenlernen und „Logik des Sinns“
Strukturalismus mit Deleuze
„Logik des Sinns
“
2. Teil: Bergson, Spinoza, Nietzsche mit Deleuze kennenlernen und „Differenz und Wiederholung“
Bergson mit Deleuze
Spinoza mit Deleuze
Nietzsche mit Deleuze
1. Kapitel von „Differenz und Wiederholung“
Schluss von „Differenz und Wiederholung“
2. Kapitel von „Differenz und Wiederholung“
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Das Universum dauert.
Je tiefer ins Wesen der Zeit wir eindringen, desto tiefer begreifen wir, dass Dauer, Erfindung, Schöpfung von Formen bedeutet, ununterbrochenes Hervortreiben von absolut Neuem.
SE, S. 57
Im Text verwendete Kürzel:
Gott ist die immanente, nicht aber in anderes übergehende Ursache aller Dinge. EI 18.LS
Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns derselben nicht, weil wir die Lüste einschränken, sondern umgekehrt, weil wir uns derselben erfreuen, können wir die Lüste einschränken. EV 42.LS
Dieser 2. Band setzt den 1. Band voraus. LeserInnen, die Einsteiger in Philosophie allgemein bzw. in Deleuzes Philosophie speziell sind, empfehle ich, erst einmal den 1. Band zu lesen.
Er hat wie der 1. Band zwei Teile: Der erste Teil widmet sich dem Strukturalismus und insbesondere Lacan, um mit diesem Vorwissen intensiv „Logik des Sinns“ studieren zu können. Der zweite Teil führt in die drei vitalistischen Immanenz- und Differenzphilosophen Bergson, Spinoza und Nietzsche ein, die Deleuze wesentlich geprägt haben. Daraus ergibt sich Vorwissen, um das 1. Kapitel, das 2. Kapitel und das Schlusskapitel von „Differenz und Wiederholung“ besprechen zu können.
Wer Verständnisschwierigkeiten im 1. Teil hat, kann zwischendurch das Kapitel zu Bergson und auch das Kapitel zu Spinoza lesen. Diese sind größtenteils einfacher und fast ohne jede Voraussetzung lesbar.
Mir war wichtig, Henri Bergson besonders ausführlich darzustellen. Aus drei Gründen: 1. Bergsons Philosophie ist zentral für das Verständnis von Deleuzes Philosophie. 2. Trotzdem wird Bergson in der deutschen Sekundärliteratur zu Deleuze fast gar nicht beachtet. 3. Ich habe große Freude an Bergson. Dafür konnten andere Themen nicht mehr ausführlich behandelt werden wie z. B. Deleuzes Hume-Buch oder der psychoanalytische Teil im 2. Kapitel von DW.
Im 3. Band plane ich folgende Werke besonders zu behandeln: Anti-Ödipus, Tausend Plateaus, Kafka, Kinobücher, Was ist Philosophie? (Von WPh haben wir einige wichtige Passagen schon im 1. und 2. Band erwähnt und erläutert.)
Folgende Bücher bzw. Kapitel aus Büchern von Deleuze werden mit diesem Band besser verständlich:
„Woran erkennt man den Strukturalismus?“
„Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie“
„Spinoza. Praktische Philosophie“
„Bergson zur Einführung“
„Der Begriff Differenz bei Bergson“
„Nietzsche und die Philosophie“
„Nietzsche. Ein Lesebuch von Gilles Deleuze“
„Logik des Sinns“
„Differenz und Wiederholung“: 1., 2. Kapitel und das Schlusskapitel
Was ist das zentrale Thema, das die Analysen zu Kant, Bergson, Spinoza, Nietzsche und die philosophischen Werke DW und LdS verbindet? „Das philosophische System von Deleuze enthält eine Philosophie des Geistes und seinen Platz in der Realität. [...] Deleuzes Philosophie ist somit auch eine Kritik des Subjektbegriffs.“1
Deleuze geht es um eine neue Philosophie des Geistes, der Realität und der Zeichen bzw. Sprache. Wenn man die Philosophie in drei Epochen einteilt, Philosophie des Seins (Altertum, Mittelalter), Philosophie des Subjekts (Neuzeit), Philosophie der Sprache (Moderne), dann kann man sagen: Deleuze verbindet alles drei und kritisiert die gängigen Lösungen dieser drei Epochen. Dagegen macht er die Randwege in diesen Epochen stark.
Deleuzes Philosophie zeichnet sich damit durch zentrale Umkehrungen aus: 1. Das aktive Ich kann nicht Ausgangspunkt sein, sondern entsteht aus einem Untergrund. Das zeigen auf verschiedene Weise Hume, Bergson, Spinoza und Nietzsche. „Die frühen historischen Werke präsentieren eine Kritik des cartesianischen und kantischen Bewusstseinssubjekts und schlagen eine alternative Philosophie der mentalen Aktivität vor, die als Affekt [Spinoza], Gedächtnis [Bergson] und Ausdruck von Kräften [Nietzsche] betrachtet wird.“2
Affiziert werden, Affekte sind die grundlegenden Komponenten von mentaler Aktivität. Das gilt sowohl für Hume als auch für Spinoza. Ein Affekt kann man als eine Kraft sehen, dazu braucht es kein Selbstbewusstsein. (Das führt uns zu Nietzsche). So ergibt sich die Frage, wie sich die Affekte kombinieren. Warum werden Gedanken durch Affekte hervorgebracht? So kann man gar nicht mehr sagen, es sind meine Gedanken, die ich aktiv produziert habe… „Deleuzes Bücher über Hume, Nietzsche und Spinoza entwickeln jeweils einen bestimmten Aspekt dieser Affektpsychologie und attackieren jeweils eine spezifische Dimension des Konzepts von Subjekt bei Descartes oder Kant.“3
2. Auch die aktive Sprache ist in einen Untergrund eingebettet. „Gemäß Lacan bezieht sich die Psyche auf die Welt und auf sich selbst durch das Medium von Sprache. Anti-Ödipus präsentiert eine semiotische Theorie, die eine Alternative zu Lacans Theorie der sprachlichen Vermittlung darstellt.“4 Aber schon in LdS erarbeitet Deleuze einen genetischen Untergrund für die konkrete Sprache, es ist die Sinnebene: „Bedeutung bzw. Sinn ist hier weder ein mentales Ereignis noch eine soziale Konvention. Noch ist Sinn ein materielles Ding. Es ist weder mental, materiell noch sozial. Sinn hat seinen einzigartigen Platz in der Realität, seinen eigenen ontologischen Status.“5 Und dieser Status ist virtueller Natur!
3. Auch das Sein selbst hat eine Tiefendimension, nämlich die Virtualität. Es ist nicht einfach so, sondern auch die Dinge kommen aus einem Untergrund: „Für Deleuze ist ein Objekt, ein Gegenstand etwas, das einen innergenetischen Grund hat.“6
Wenn wir diese Punkte zusammen nehmen, müssen wir das Denken in die Dynamik des Seins einbetten. „Denken ist für Deleuze eine Aktivität, die innerhalb der Realität verortet ist; es ist ein Prozess, der sich eingebettet in anderen Prozessen entfaltet. Die höchste Form von Denken ist die genetische Artikulation von immanenten Prozessen.“7
So ergibt sich eine Immanenz in Bezug auf den Geist: „Man kann das Subjekt nicht außerhalb des natürlichen Systems von Kausalitäten stellen (so wie es z. B. Kant mit dem transzendentalen Subjekt gemacht hat). In Anlehnung an Nietzsche und Bergson versucht die Philosophie von Deleuze ein Subjekt in den konkreten zeitlichen Prozessen, im Werden (Bergson) und als ein Subjekt von aktiven Affekten (Spinoza) und Selbstbejahung (Nietzsche) zu definieren.“8
Für die Erkenntnistheorie ergibt sich daraus: Deleuze geht nicht davon aus, dass ein Gedanke ein Bild, eine Abbildung von Objekten der Welt ist. Denken ist eingebettet, immanent zu den Prozessen der Realität. Sie entwickeln sich entlang der Realität, die sie zu ergreifen suchen.9
Die Subjektphilosophie von Brentano, von Husserl oder von Searle geht davon aus, dass das bewusste Denken intentional ist. Ein Subjekt bezieht sich bewusst und aktiv auf ein Objekt außerhalb seiner selbst. Es kann aktiv eine Intention aufbauen: Ich beziehe mich bewusst auf das Objekt, um es entweder zu erkennen oder aktiv zu verändern. Deleuze dagegen hat eine Philosophie der Einbettung und Teilhabe: „Die Aktivität des Denkens ist nicht geprägt von seinem Inhalt, sondern durch die Kräfte, die in ihm aktiv sind. Dieser Bezug zur Welt ist somit nicht eine Relation der Intentionalität, sondern eine Relation der Teilhabe, in welcher dieselben Kräfte, die die Welt strukturieren, auch auf der Ebene des Bewusstseins aktiv sind.“10 Das zeigt Deleuze auch in „Differenz und Wiederholung“, wie wir besonders durch die Analyse der drei Zeitsynthesen sehen werden. Und er zeigt es in LdS, indem er aufzeigt, wie Sinn und Ereignisse zusammenhängen und wie der Sinn Bezüge der Sprache zu Sachverhalten erst ermöglicht.
Deleuze schrieb für das mehrbändige Werk „Geschichte der Philosophie“, das Châtelet herausgab, das Kapitel „Woran erkennt man den Strukturalismus?“ Er beschreibt den Strukturalismus anhand sieben zentraler Merkmale bzw. Kriterien. Aber man entdeckt auch in seinen zwei Hauptwerken DW und LdS immer wieder Gedankengänge des Strukturalismus, die Deleuze mit anderen philosophischen Lehren verknüpft. In diesem Kapitel will ich nicht nur die sieben Kriterien vorstellen, sondern auch knappe Einführungen in vier zentrale Vertreter des Strukturalismus präsentieren.
Drei Vorlesungen von Saussure im Zeitraum zwischen 1906 und 1911 bilden die Geburtsstunde des Strukturalismus. In diesen drei Vorlesungen stellt Saussure seine strukturalistische Linguistik vor. Seine Grundthesen wird Lévi-Strauss aufgreifen und eine strukturalistische Anthropologie entwickeln; ebenso wird Jacques Lacan eine strukturalistische Deutung der Psychoanalyse vorlegen; gleichfalls Roland Barthes wird die Mode mit strukturalistischen Mitteln untersuchen und eine allgemeine Semiologie, eine kulturelle Zeichenlehre entwickeln.
Ausgangsfrage Saussure beginnt mit der Frage: „Wie ist eine einzelne Sprache aufgebaut, und wie muss sie beschrieben werden?“ Mit dieser Frage entscheidet sich Saussure, tatsächliche, lebendige Sprachen zu untersuchen. (Verständlich, denn er ist ja Sprachwissenschaftler) Er will also keine ideale Wissenschaftssprache wie der Wiener Kreis entwerfen oder die logische Struktur der Sprache und des Denkens wie Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ untersuchen. Er will ähnlich wie Wittgenstein in seinen späteren „Philosophischen Untersuchungen“ die normalmenschlichen Sprachen und ihr Funktionieren untersuchen. Dafür unterscheidet Saussure drei Kategorien:
Langage, Langue, ParoleLangage, ein Wortneuschöpfung von Saussure, bezeichnet das Vermögen des Menschen, sprechen zu können. Parole ist die konkrete Verwendung der Sprache, der einzelne Akt des Sprechens. Leute unterhalten sich, schreiben Emails, streiten sich mit Worten usw.
Langue ist die Sprache selbst in ihrer Struktur, z. B. mit ihren grammatikalischen Regeln usw.
Saussure entscheidet sich, Langue wissenschaftlich zu untersuchen. Denn Parole ist zu flüchtig, zu singulär, zu wechselhaft, um sie wissenschaftlich untersuchen zu können. Die Sprachkompetenz des Menschen betrifft so viele Bereiche, wie z. B. Biologie, Gehirnforschung, Soziologie, dass sie als Forschungsbereich auch schnell überfordert. Bleibt die Struktur der Sprache selbst übrig, die sich Saussure zuwendet.11 Und diese Sprachstruktur untersucht Saussure nicht geschichtlich, also diachron, sondern er untersucht das jetzt vorliegende System, also synchron.
Struktur des Zeichens – Signifikant und Signifikat Saussure beginnt mit der Untersuchung der kleinsten, bedeutsamen Elemente des Sprachsystems, nämlich dem Zeichen. Ein Zeichen ist z. B. ein Phonem wie „es“. Ich höre oder spreche dieses kleine Phonem bzw. kleine Wörtchen. Ich meine damit ein Ding oder ein kleines Kind. Ich beziehe mich mit dem Wort auf ein Ding oder auf ein kleines Kind. So habe ich dieser Beschreibung schon die zwei Seiten eines Zeichens verwendet:
Signifikant, das Bezeichnende, ist der Laut bzw. das Lautbild.
Signifikat, das Bezeichnete, die Vorstellung, die das Bezeichnende bezeichnet. Oder auch der Gegenstand, auf den sich das Zeichen bezieht.
So ist „Ina“ einerseits das klingende Wort, ein Name und andererseits bezeichnet es eine Frau. (Wer Schwierigkeiten hat, Signifikat und Signifikant auseinander zu halten, merke sich folgende Eselsbrücke: Signifikat und Bezeichnete haben beide das t. Signifikant und Bezeichnende haben beide das n.)
Arbitrarität Signifikant und Signifikat gehören zwar untrennbar zusammen, aber ihre Relation ist nach Saussure zufällig. Das Wort „Baum“ hat nicht in sich einen Bezug auf Bäume. Das Kind lernt durch den Gebrauch der Sprache, dass die Mutter Bäume meint, wenn sie das Wort „Baum“ ausspricht. „Schau mal, der große Baum“ und die Mutter deutet auf den Baum und berührt ihn usw. Es ist eine Konvention, dass das Wort „Baum“ sich auf Bäume bezieht. Im Englischen ist es das Wort tree“, das sich auf Bäume bezieht. Wir werden in diese Sprachstruktur hineingeworfen und wachsen mit ihr auf. Ich kann als Einzelner in einer Sprachgemeinschaft nicht plötzlich die Bezüge zwischen den Signifikanten und Signifikaten grundsätzlich umändern. (Nur kleine Änderungen, also z. B. einzelne neue Worte kann ein Einzelner einführen.) Fazit: Die Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikaten ist nicht natürlich sondern sozial gewachsen und vom Willen des Einzelnen unabhängig.12
In Platons Dialog Kratylos streiten Hermogenes und Kratylos miteinander, ob sich die Namen zufällig und kulturell bedingt auf Dinge beziehen oder ob die Namen eine naturgegebene Beziehung auf die Dinge haben. Saussure gibt Hermogenes Recht. Aber wie entsteht nun der Bezug zwischen Signifikanten und Signifikaten? Die Kurzantwort: Durch die Struktur bzw. das System.
System bzw. Struktur Saussure selbst benutzt nicht das Wort „Struktur“, dafür den Begriff „System“. Saussure betrachtet die Signifikanten und stellt fest: Diese strukturieren sich gegenseitig, wechselseitig zu einem System. Das erinnert uns an Deleuze und sein 4. Kapitel in DW:
Unbestimmt -> Wechselbestimmung -> durchgängige Bestimmung.
Beschreiben wir mit diesem Schema Saussures Linguistik:
Die Signifikanten sind erst einmal unbestimmt. Es ist zufällig, arbiträr, auf welche Signifikate sie sich beziehen. Untereinander bestimmen sich die Signifikanten wechselseitig, so dass grammatikalische Strukturen entstehen. Z. B. Die Struktur -e, -st, -t, -en, -t, -en bildet die Konjugation eines Verbs: Ich geh-e, Du geh-st, Sie/Er/Es geh-t, Wir geh-en, Ihr geh-t, Sie geh-en.
Dadurch entsteht eine durchgängige Bestimmung, die ein System der Signifikanten bildet, so dass sich in diesem System Verben auf Tätigkeiten, Adjektive auf Eigenschaften und Substantive auf Dinge usw. beziehen. Der einzelne Buchstabe t ist unbestimmt. Aber in der Struktur der Verbkonjugation besetzt er den Platz für 3. Person Singular und für 2. Person Plural. Diesen Platz besetzt das –t in der aktuellen Sprachstruktur der deutschen Sprache nur durch die virtuellen Wechselbestimmungen der Phoneme, die eine grammatikalische Struktur aufbauen.
(Es ist bemerkenswert für Deleuzes Philosophie: Wir haben im 1. Band den Strukturalismus nicht ausführlich ansprechen müssen, weil Deleuze wichtige Einsichten des Strukturalismus, die er aufgreift, auch z. B. bei Leibniz´ Infinitesimalrechnung in ähnlicher Weise entdeckte.)
Linguistic Turn Richard Rorty beschrieb in seinem Essayband mit diesem Begriff das Neue der Philosophen Wittgenstein, Carnap oder Quine. Sie gehen nicht mehr vom Sein aus, nicht mehr vom Bewusstsein sondern von der Sprache. Wittgenstein und Quine gehen sogar von tatsächlichen, lebendigen Sprachen aus und nicht von irgendwie ideal konstruierten Wissenschaftssprachen wie Carnap. Diesen linguistic turn hat Saussure und seine Linguistik in der französischen Philosophie bewirkt und den Strukturalismus hervorgebracht.
Saussure bezog sich mit seinen Überlegungen nur auf die Sprache: Nicht das Sein begründet, wie sich der Signifikant auf den Signifikaten bezieht. Auch das Bewusstsein begründet diesen Bezug nicht. Sondern das Sprachsystem entsteht intern durch die Wechselbestimmung von Differenzen und bildet eine Struktur der Signifikanten. Diese Struktur ermöglicht die Bezüge zu den Signifikaten. Grob gesprochen:
Die antike und mittelalterliche Philosophie ging vom Sein aus. Vom irdischen Sein gingen die Vorsokratiker, vom himmlischen Sein der Ideen Platon und vom göttlichen Sein die christlichen Philosophen des Mittelalters. Die neuzeitlichen Philosophen gingen vom Bewusstsein aus. Dass sich Wörter auf Dinge beziehen, muss z. B. für Descartes im Denken des Ich begründet sein. „Ich denke, also bin ich“ ist der Ausgangspunkt.
Im Foucaultkapitel, als wir „Ordnung der Dinge“ untersuchten, lernten wir diese Einsicht der Moderne schon kennen: Ich werde in diese Sprachstruktur, die vor mir ist, hineingeworfen. Das entmachtet das Subjekt, von dem Descartes ausging. Saussure ist ein wichtiger Vertreter für diese Einsicht und Wende in der Philosophie.
Der Sinn bzw. die Bedeutung eines Satzes ergibt sich nach Saussure aus der Sprachstruktur. Wird Deleuze in „Logik des Sinns“ dieser These folgen? Deleuze untersucht jedenfalls in „Logik des Sinns“ auch, wie die Sprache funktioniert. Aber er geht dabei über Saussure und die Strukturalisten hinaus, ohne den Sinn im Bewusstsein oder im geordneten Sein wieder zu verankern… Deleuze wendet sich gegen eine reine arbiträre Struktur: „Es stimmt zwar, dass die „Phoneme“ jede mögliche linguistische Unterscheidung in den „Morpheme“ und „Semantemen“ sicherstellen, doch sind es umgekehrt die bedeutungsstiftenden und morphologischen Einheiten, die in den phonematischen Unterscheidungen diejenigen bestimmen, die für eine fragliche Sprache relevant sind. Das Ganze lässt sich also nicht anhand einer einfachen Bewegung beschreiben, sondern anhand einer Bewegung des Hin und zurück [...]. Und bildet die Lautaktion einen offenen Sprachraum, so die semantische Reaktion eine innere Zeit, ohne die der Raum nicht entsprechend dieser oder jener Sprache festgelegt wäre.“ (LdS, S. 229)
1926 wird in Prag ein Linguistenkreis gegründet. Dieser Prager Kreis setzt den Forschungsansatz von Saussure fort, wenngleich er auch in einigen Punkten Saussure kritisiert, wie z. B. die scharfe Trennung von synchroner und diachroner Betrachtung oder die Behauptung einer absoluten Arbitrarität. Trubetzky verfasst z. B. 1939 das Standardwerk „Grundzüge der Phonologie“. „Darin definiert er den Laut über seine Stellung im phonologischen System; die Methode besteht in der Ermittlung der lautlichen Oppositionen über vier distinktive Merkmale: Nasalität, Artikulationspunkt, Labialisierung und Öffnungsgrad. Somit findet sich Saussures Prinzip der pertinenten [= relevanten] Differenz wieder, die Suche nach pertinenten Minimaleinheiten – hier das Phonem. Von Saussure wird das Wegrücken des Referenten und die Suche nach den inneren Gesetzen des Sprachcodes übernommen. Die Phonologie hält sich von jeder außersprachlichen Realität fern. Die von ihr angestrebte Beschreibung des Lautmaterials mündet bei Jacobson in ein Tableau, worin er sämtliche pertinenten Merkmale anhand von zwölf binären Opposition versammelt, die allen Opposition in allen Sprachen der Welt Rechnung tragen und so den Traum von der Universalität erfüllen sollen, von dem die strukturalistischen Strömung beseelt ist. Kerngedanken des Phonologen bleibt die Suche nach der Invarianz hinter der Variabilität.“13 Wie schon im 1. Band behandelt, kritisiert Deleuze die strukturalistische Linguistik von Saussure und von Trubetzky, weil sie die sprachliche Struktur allein durch gegensätzliche Differenzen aufbauen. „Wenn man die Differenz als einen Gegensatz liest, hat man sie bereits der ihr eigentümlichen Dichte beraubt, in der sie ihre Positivität bejaht.“ (DW, S. 260) Auch einen weiteren Punkt sollten wir kritisch anmerken: Ist die sprachliche Struktur, die sich in verschiedenen Formen aktualisiert, wirklich ewig unwandelbar? Auch Lévi-Strauss postulierte ahistorische und allgemeinste Strukturen. Aber gibt es diese wirklich? Foucault ist Poststrukturalist, weil er nicht mehr nach ewigen Strukturen suchte, sondern historische Aprioris und Epochenbrüche untersuchte.
1942 lernen sich Jakobson und Lévi-Strauss in New York kennen. Roman Jakobson wird für Lévi-Strauss der entscheidende Inspirator, um eine strukturalistische Anthropologie zu entwickeln. 1950 lernt Lacan Jakobson kennen und greift besonders folgende Gedanken von Jakobson auf: Roman Jakobson beschrieb in dem Artikel „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störung“ die zwei Seiten der Sprache, nämlich Metonymie und Metapher, anhand der zwei Typen aphatischer Störungen. Ein Sprecher braucht zwei Vermögen: Kontextbildung und Selektionsfähigkeit. Saussure hat die zwei Seiten mit Syntagma und Assoziation bezeichnet.
Kontextbildung: Er kombiniert Zeichen mit anderen Zeichen und erstellt damit größere Einheiten und Kontexte. So entstehen Kontiguitätsbeziehungen, die dann das semantische Gerüst eines Textes bilden. („contiguus“ bedeutet „angrenzend“) Z. B. logische Kontiguitäten wie auf eine Frage folgt eine Antwort, auf den Start eine Landung. Oder ontologische Kontiguität wie eine Wurzel bringt eine Pflanze hervor. Die Metonymie als Stilfigur benutzt solche Kontiguitäten wie z. B.: „Ich lese Tolstoi.“ Jeder versteht, dass ich die Bücher von Tolstoi lese.
Selektionsfähigkeit: Der Sprecher wählt aber auch aus einem Fundus möglicher Zeichen, die ihm zu Verfügung stehen, aus. Ich kann z. B. die Verben „laufen“ und „joggen“ oder „aufzeigen“ und „darlegen“ untereinander austauschen.14 „aufzeigen“ ist zu „darlegen“ ähnlich. Das eine Wort ist Metapher für das andere Wort.
Die Aphasie besteht im Ausfall oder großen Mangel eines dieser beiden Vermögen. Entweder kann der Kranke nicht hinreichend kombinieren oder nicht hinreichend selektieren.
Wenn die Selektionsfähigkeit ausfällt, kann der Patient jederzeit in eine Diskussion einsteigen. Er braucht aber einen Kontext. Er kann schwer ein Gespräch beginnen. Ebenso kann er schwer Synonyme austauschen. Wenn man ihn fragt, was ein Junggeselle ist, kann er nicht antworten: ein unverheirateter Mann. Er ist also nicht zur Metapher fähig, die z. B. ein Wechsel von der Objektsprache zur Metasprache bedeutet.15
Wer nicht fähig ist, einen Kontext zu bilden, verfällt in einen Agrammatismus. Der Patient kann nicht mehr ganze Sätze bilden, sondern
nur noch Wortanhäufungen. Konjunktionen, Präpositionen, Artikel usw. fallen mehr und mehr weg. Es entsteht ein Telegrammstil, im Extremfall
Ein-Wort-Sätze. Diese Kranken sind zur Metonymie unfähig.16 Gerade in den zwei Krankheitsbildern zeigt sich die bipolare Struktur der Sprache: Metapher und Metonymie. „Jacques Lacan […] greift auf diese Unterscheidung zurück und bezieht sie, um die Funktionsweise des Unbewussten zu erklären, auf Freuds Begriffe der Verdichtung und der Verschiebung.“17
Lévi-Strauss war der erste, der die strukturalistische Linguistik auf ein anderes Forschungsgebiet anwendete, nämlich auf die Anthropologie. Drei Beispiele aus seinem Werk schauen wir uns an.
Das kulinarische Dreieck Was essbar und was nicht essbar ist, bestimmt nicht allein die „biologische Verträglichkeit“. Die kulturellen Unterschiede, was man nach einer Kultur essen kann, sind teilweise erheblich. In der europäischen Küche verzichten wir zum Beispiel auf die Zubereitung von Hunden, Katzen oder Ratten. Und der Schimmel auf einem Schimmelkäse ist für asiatische Kulturen erst einmal befremdlich bis ungenießbar verfault. Das kulinarische Dreieck kennt drei Zubereitungsarten: Braten, Räuchern und Sieden. Jede Kultur vollzieht andere Grenzziehungen zwischen den Polen Natur und Kultur, essbar und ungenießbar und konkretisiert sie in diesem Dreieck der drei Zubereitungsarten verschieden.18 Wir sehen an diesem Beispiel: Eine Grundunterscheidung essbar/ungenießbar ist eine „Struktur“, die in Kulturen verschieden aktualisiert wird. Diese Aktualisierung kann man anhand des kulinarischen Dreiecks spezifizieren.
Heiratsregeln Berühmt wurde Lévi-Strauss besonders mit seinem Buch „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“. Er hat darin die Theorie des Gabentausches von Marcel Mauss erweitert. Lévi-Strauss greift Marcel Mauss´ anthropologische Untersuchungen über die Gesetzmäßigkeiten des Gabentausches auf und überträgt dessen Einsichten auf die Regeln der Heirat. In den Heiratsregeln herrscht nach Lévi-Strauss eine unbewusste Struktur.
Einige Vorbemerkungen: Wir meinen, dass Verwandtschaftsbegriffe eineindeutig sind. Es ist doch klar, was Vater, Mutter, Kind, Onkel, Tante usw. bedeuten. Aber so eineindeutig sind diese Kategorien bei weitem nicht. Sie sind nicht in jeder Kultur identisch. Manche Sprachen unterscheiden zum Beispiel den Onkel mütterlicherseits strikt vom Onkel väterlicherseits. Dann gibt es auch angeheiratete Onkels und Tanten. „Auch das Mittelhochdeutsche unterschied strikt zwischen Verwandten mütterlicher- und väterlicherseits (Oheim/Vetter bzw. Muome/Base).“19 Auch der Begriff Mutter ist nicht eineindeutig. Ein Kind, das adoptiert wurde, nennt seine Adoptivmutter auch einfach Mutter.
„Die Frage, die sich Lévi-Strauss nun stellte, war: Wenn der Bereich Verwandtschaft der Sprache darin ähnelt, dass es in ihm keine positiven Glieder gibt [keine eineindeutigen Zuordnungen, die kulturübergreifend sind], sollte man sich ihm dann nicht vielleicht in ähnlicher Weise nähern wie dieser und nach unbewussten Strukturen suchen, die der Vielfalt der sichtbaren Erscheinungen zugrunde liegen? Lässt sich, mit anderen Worten, so etwas wie eine Grammatik der Heiratsregeln erstellen?“20 Gibt es eine allgemeine Struktur, die sich in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aktualisiert?
Im Zentrum der Analyse steht die Ehe, die in der strukturalistischen Analyse von Lévi-Strauss als Tauschhandel zwischen Gruppen von Männern angesehen wird. Lévi-Strauss hat öfters betont, dass dies keine patriarchale Sichtweise von ihm aus impliziere. Man käme zu gleichen Ergebnissen, würde man Eheschließungen als den Austausch von Männern zwischen zwei oder mehr Gruppen von Frauen beschreiben. „Allerdings zeige die überwältigende Mehrheit der ethnographischen Beispiele auch, dass es Männer sein, die Frauen tauschen und nicht umgekehrt.“21 Wir müssen bei weitem nicht alle Details von Lévi-Strauss´ Analyse studieren. Interessant für unser Verständnis von Strukturalismus scheint mir zweierlei:
Lévi-Strauss schaut sich nicht die einzelnen Menschen an. Seine Grundeinheit, das „Verwandtschaftsatom“ beschreibt eine Position in einem Verwandtschaftssystem. D.h. die Relationen bestimmen die Position und damit auch die Person, die diese Position einnimmt. (Das erinnert an Whitehead: das actual entity wird durch seine Relationen zu anderen actual entities.) Das Verwandtschaftselement „Frau“ besteht aus drei Relationen:
Der Bruder gibt seine Schwester weg.
Der Ehemann empfängt seine Frau.
Die Frau wird Mutter und hat ein Kind.
Es sind die drei Relationen: das Verhältnis der Blutsverwandtschaft (zwischen Schwester und Bruder), der Allianz (Ehepartner) und der Abstammung (Mutter-Kind). Wir haben also mit diesen Relationen ein Netzwerk vorliegen, ähnlich der binären Oppositionen bei den Phonemen.
Die Grundregel in allen Verwandtschaftssystemen ist das Inzestverbot. Es ist für Lévi-Strauss die Nahtstelle zwischen Natur und Kultur. Denn einerseits beherzigen alle Menschen das Inzestverbot. Andererseits wird dieses Verbot von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden umgesetzt, aktualisiert. Erstaunlich ist, dass auch die Gründe für das Inzestverbot keineswegs immer moralischer Art sind auch wenn man das vermuten mag. Als man Ureinwohner in Neuguinea fragte, warum sie das Inzestverbot einhalten, antworteten sie: „Was, du möchtest deine Schwester heiraten? Bist du denn nicht ganz richtig im Kopf? Möchtest du denn keinen Schwager? Siehst du denn nicht ein, dass du wenigstens zwei Schwager bekommst, wenn du die Schwester eines anderen Mannes heiratest und ein anderer Mann deine eigene Schwester bekommt? Mit wem willst du denn auf die Jagd oder in den Garten ziehen, und wen willst du besuchen?“22 Die Argumentation ist also sehr pragmatisch. Es geht nicht darum, dass es unsittlich sei oder dass es kranke oder schwachsinnige Kinder hervorbringen könnte. Die Vielfalt der Begründungen für das Inzestverbot zeigen, dass die eigentliche grundlegende Struktur unbewusst ist.
Das Inzestverbot kann nun in den konkreten Regeln verschieden ausbuchstabiert werden. Es kann negativ formuliert sein: bestimmte Personen werden als Ehepartner ausgeschlossen. Oder das Verbot wird positiv formuliert: nur bestimmte Personen kommen als Gatten infrage. Die Zirkulation von Frauen zwischen den unterschiedlichen Gruppen, Clans, Familien usw. ist also eine Zirkulation von Zeichen: Es signalisiert, wer wen heiraten darf und wer wen nicht.
Der Sprung von Natur zur Kultur geht also bzw. muss über das Inzestverbot gehen. Die Kultur benutzt die natürlichen Körperorgane und verwandelt sie in kulturell-sexuelle Differenzen. (Wir sehen die kulturelle Ausprägung von Geschlechterdifferenzen z. B. daran, dass sich im Verlauf der Geschichte die „Mädchenfarbe“ veränderte. Früher trugen Mädchen bzw. Frauen bevorzugt blau, weil die Gottesmutter Maria mit blauen Umhang auf Bildern gezeigt wurde. Als aber die Mode aufkam, dass Jungs blaue Matrosenkleider trugen, wurde die „Mädchenfarbe“ rosa.)
Totemismus Im Totemismus haben wir zwei Serien. Wir haben einerseits eine gesellschaftliche Gruppe bzw. mehrere gesellschaftliche Gruppen oder Personen. Andererseits haben wir Tiere, Pflanzen aber auch andere beobachtbare natürliche Phänomene. Ein Totem erschien vielen Forschern als ein Symbol für eine gesellschaftliche Gruppe. Der Stamm hieß z. B. „großer Bär“ und die Kraft des Bären möge in ihnen walten usw.
Lévi-Strauss korrigiert strukturalistisch diese Deutung früherer Anthropologen: „Er löst sich zunächst von der Vorstellung, zwischen einer Gruppe und ihrem Totem bestünde eine inhaltlich motivierte Beziehung, und behandelt Totems wie willkürliche Elemente einer Struktur. Nichts also, so der zugrunde liegende Gedanke, bindet ein Totem essenziell an die sich darauf beziehende Gruppe.“23 So gibt es Kulturen, die ein einzelnes Tier auf eine Einzelperson beziehen, andere Kulturen auf eine Gruppe. Und es gibt wieder andere Kulturen, die Tiergattungen auf eine Einzelperson beziehen, und andere Kulturen auf eine Gruppe. Diese Vielfalt offenbart nach Lévi-Strauss, dass die Zuordnungen nicht aus inhaltlichen Gründen getroffen werden. Vielmehr repräsentieren sie wiederum Relationen: Die Gruppe in Bezug zu einer anderen Gruppe oder die Person in Bezug zu anderen Personen wird durch unterschiedliche Totems charakterisiert. Durch das Totem weiß ich um meine gesellschaftliche Position.
Lévi-Strauss verdrängte in den 60er Jahren Sartre als intellektuellen „Superstar“. Und der Strukturalismus verdrängte gleichzeitig den Existentialismus als Leitphilosophie in Frankreich. Dies drückt Deleuze in seinem ersten Satz des Aufsatzes „Woran erkennt man den Strukturalismus“, der 1967 erschienen ist, aus: „Noch vor kurzem fragte man: „Was ist der Existenzialismus?“ Heute: „Was ist der Strukturalismus?“„ (Insel, S. 248)
Der Strukturalismus geht nicht mehr von der Existenz, vom einzelnen Menschen aus, sondern von den sprachlichen Strukturen. Dass die Linguistik mit Saussure der Ursprung des Strukturalismus ist, gilt nicht nur historisch sondern „systemisch“. So sagen die Strukturalisten: Es gibt keine Struktur außerhalb dessen, was Sprache ist. Aber mit Sprache meinen sie nicht nur die gesprochenen Sprachen. Auch das Unbewusste ist Sprache: „Es gibt nur insofern Struktur des Unbewussten, als das Unbewusste spricht und Sprache ist. Sogar die Dinge haben nur insofern eine Struktur, als sie eine stumme Rede halten, nämlich die der Zeichen.“ (Insel, S. 249) (Denken wir wieder an Simondons Beispiel: Ein Dreckpartikel kann in einer Mutterlösung ein Zeichen sein, so dass ein Kristall beginnt zu wachsen. Wohlgemerkt: Simondon wird nicht zu den Strukturalisten gezählt.) Welche Kriterien und Elemente muss man postulieren, um eine Struktur bzw. System beschreiben zu können? Deleuze untersucht gewissermaßen den Strukturalismus strukturalistisch, indem er seine sieben Kriterien angibt. Wir wollen dabei auch beachten, an welchen Stellen von Deleuzes Beschreibung Ansätze sind, durch die sich der Strukturalismus weiter zum „Poststrukturalismus“ entwickelt.
Die sieben Kriterien des Strukturalismus sind nach Deleuze:
Das Symbolische neben dem Realen und Imaginären
Die Position
Die differentielle Wechselbestimmung
Differenzierung und Aktualisierung
Mehrere Serien
Zwischen den Serien das flottierende leere Feld
Das nomadische Subjekt
(Die differentielle Wechselbestimmung und die Differenzierung bzw. Aktualisierung kennen wir schon aus der Besprechung von DW im 1. Band. Das leere Feld ist eine Differenz an sich selbst.)
Die Kategorie des Realen kennen wir: Es sind die realen Dinge, die wir wahrnehmen. In das Imaginäre treten wir ein, wenn wir mit der Einbildungskraft uns etwas ausmalen. In meinem inneren Kinofilm kann ich mir eine imaginäre Welt erschaffen.
Mit diesen zwei Kategorien arbeitet auch Freud: Das Lustprinzip hat das Vermögen, sich durch Imagination Lust zu verschaffen. Ich kann mir vorstellen, dass eine begehrte Person mich liebt. Das Realitätsprinzip ist die Enttäuschungskraft, die die Halluzination als nicht real entlarvt. Die begehrte Person beachtet mich in der Realität gar nicht. Das Seelenleben bewegt sich nach Freud in diesem Spannungsfeld. (Vgl. Insel, S. 250)
Deleuze betont, dass auch die klassische Philosophie mit dem Verhältnis des Realen und Imaginären ringt: Inwieweit muss man es getrennt betrachten oder auch miteinander vernetzt denken? Z. B. inwieweit beeinflusst das Imaginäre die Wahrnehmung des Realen?
Die Strukturalisten haben nun einen dritten Bereich entdeckt: das Symbolische. Was ist dieses Symbolische eigentlich? Das werden die weiteren Strukturelemente ausfalten. Im ersten Schritt bestimmt Deleuze das Symbolische nur in Abgrenzung zum Realen und Imaginären. Schauen wir uns die aufgeführten Beispiele dazu an:
Beispiel Geschichtsforschung:
Realer Bereich der Geschichte: Die Tatsachen hintereinander erzählen. Wann ist was passiert?
Imaginärer Bereich der Geschichte: Welche Ideen haben Geschichte geprägt?
Symbolischer Bereich der Geschichte: Die Aussagenebenen und die Sichtbarkeitsformen und die Machtstrukturen, die Michel Foucault untersuchte.
Beispiel Sprache:
Das reale Wort mit seinem Klang oder seinen Buchstaben
Die imaginäre Bedeutung des Wortes
Die symbolische Ordnung hinter dem einzelnen Signifikanten und Signifikaten.
Wir wissen schon, dass diese symbolische Ordnung durch die wechselseitige Bestimmung der kleinsten bedeutsamen Einheiten, Phonemen entsteht. Aber das kann Deleuze im ersten Kapitel noch nicht sagen, weil er das in den folgenden Kapiteln entwickeln will.
Deleuze verbindet die drei Begriffe auch mit den Zahlen 1, 2 und 3:
1. Das Reale: Die Tatsache ist, wie sie ist. Einfach eins.
2. Das Imaginäre bezieht sich auf das Reale: Das Imaginäre will es z. B. anders, als das Reale gerade ist, und malt sich eine alternative Realität aus. Oder das Imaginäre ist das Bild, das ich mir von einem Menschen innerlich gemacht habe. Deswegen hat das Imaginäre eine doppelte „Struktur“, steht an 2. Stelle, weil es sich immer auch auf das Reale, das Erste bezieht.
3. Das Symbolische ist triadisch. Aber Deleuze verrät noch nicht inwiefern. Nur so viel verrät er, was das Symbolische nicht ist:
Das Symbolische lässt sich nicht auf das Reale oder Imaginäre zurückführen, sondern liegt tiefer als das Reale und Imaginäre.
Das Symbolische ist keine Form, die einer Materie aufgedrückt wird.
Das Symbolische ist auch keine Essenz, Idee oder einheitliches Ganzes. Wir müssen von den symbolischen Elementen ausgehen:
Was ist das symbolische Element der Struktur, worin besteht es? Das symbolische Element bestimmt sich durch seine Position, die es in der Struktur einnimmt. Dazu möchte ich ein tatsächliches Beispiel anführen. Auf wie viel verschiedenen Ebenen Systeme sich ähneln können, zeigt folgendes Beispiel:
Person A wächst in einer Familie mit sehr viel Leistungsdruck auf. Die Mutter treibt mit viel Disziplin und auch Schlägen ihre Kinder an, dass sie gute Noten in der Schule bekommen. Die Person A ist dann immer wieder auch Vermittler zwischen den rebellierenden Geschwistern und der Mutter, quasi der ausgleichende Puffer. Wir haben also in dem Familiensystem folgende Positionen: Antreiber/Kritiker, Rebell, Ausgleicher/Vermittler. Person A besetzt den Platz des Ausgleichenden und Vermittlers.
Nach dem Studium kann A sich hocharbeiten und hat inzwischen in einem großen Aktienunternehmen eine Abteilungsleiterstelle inne. Von den Vorgesetzten bekommt er immer neuen Druck, die Abteilung muss Höchstleistungen vollbringen. Andererseits wird ihm in seiner Abteilung Personal gestrichen. Seine Mitarbeiter sind überlastet. Auch in diesem System verhält sich A als ausgleichender Puffer und Vermittler zwischen Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern.
In seiner eigenen Familie ist die Struktur, die Konstellation gleich, doch er übernimmt einen anderen Platz. Hier ist er der disziplinierende Antreiber und seine Frau ist in Polarisation dazu: Sie ist ausgleichender Puffer und Vermittlerin in Bezug auf die Kinder, die nach seiner Ansicht zu wenig Leistung bringen und zu wenig lernen.
Als ich ihm diese Ähnlichkeit in der Struktur aufzeige, schüttelt er den Kopf: Nein, ich verstehe das alles falsch. Seine Mitarbeiter machen ja gute Arbeit. Hinter die müsse er sich stellen. Aber seine Kinder seien zu faul, weil seine Frau sie zu lasch erzogen habe. Er durchschaut nicht, auf welchen Platz er in welchem System steht und wie dieser Platz sein Verhalten und sogar sein Denken bestimmt.
Sogar in seinem Körper zeigt sich ein ähnliches System: in den inneren Organen zeigen sich Komplikationen, deren Ursache die Ärzte nicht herausbekommen. Der ganze Körper wirkt angespannt. Man erahnt wieder drei Teile: der Verstand im Kopf ist quasi der kritische Antreiber. Die inneren Organe, die als ausgleichender Puffer und Vermittler dienen und deswegen psychosomatische Beschwerden zeigen. Und der restliche Körper versucht das Soll zu erfüllen. Die Krankheit ist ein Symptom einer unbewussten Rebellion?
Dieses Beispiel zeigt uns vier bemerkenswerte Punkte:
1. Das Verhalten wird vom Platz beeinflusst, auf dem man steht.
2. Die Geschichte zeigt auf eindrückliche Weise, wie der Platz in einem System bzw. Struktur unbewusst wirkt.
3. Der Platz definiert sich aber nur in Relationen zu anderen Plätzen.
4. Dies ist ein Beispiel, das ich mit dem System der inneren Familie und der systemischen Familientherapie gedeutet habe. Doch es kann auch als Beispiel für die Kriterien des französischen Strukturalismus angeführt werden. Gerade weil es zwischen dem französischen Strukturalismus einerseits und der systemischen Arbeit von Virgina Satir, dem IFS-Modell von Richard Schwartz oder der systemischen Strukturaufstellung von Kibéd und Sparrer andererseits keinen intellektuellen Austausch gab, so erstaunt es umso mehr, dass einige Kriterien, die Deleuze für den französischen Strukturalismus angibt, auf beide Strömungen zutreffen.
Das Verhalten wird vom Platz beeinflusst, auf dem man steht. Dies zeigt auch die Geschichte „Der entwendete Brief“ von Edgar A. Poe.
Die Königin bekommt einen Brief, den der König nicht sehen darf, weil dies Nachteile für die Königin ergäbe. Als sie den Brief liest, kommt der König ins Zimmer. Da die Königin den Brief nicht verstecken kann, legt sie ihn - als ob es ein gewöhnlicher Brief wäre - auf den Tisch. Der Minister D erkennt, als er den Raum betritt, die Situation und tauscht den Brief auf den Tisch mit einem ähnlichen, ihm gehörenden Brief aus. Die Königin, die den Betrug sieht, kann nicht protestieren, da der König dabei ist.
Die Königin beauftragt einige vertraute Polizisten. Diese durchsuchen das Haus des Ministers, um für die Königin den Brief zu finden, sind aber erfolglos. Der Minister hat nämlich den Brief gut versteckt, indem er ihn wie einen gewöhnlichen Brief auffällig liegengelassen hat. Daraufhin beauftragt die Königin den Meisterdetektiv Dupin. Dupin erkennt die Strategie des Ministers und nimmt den Brief, als er den Minister besucht, an sich, um ihn der Königin zurückzugeben.
Wir haben bei beiden Ereignissen die gleichen Plätze: Der Ahnungslosen. Der Briefbesitzer, der bestohlen wird. Der Dieb, der die Strategie des Briefbesitzers durchschaut. Doch bei den zwei Ereignissen der Geschichte belegen unterschiedliche Personen die Plätze. Die Polizei übernimmt im zweiten Teil der Geschichte den Platz, den der König im ersten Teil inne hatte usw. Der Dieb ist im 1. Teil der Minister, im 2. Teil ist er jedoch der Besitzer, der nichts gegen den Diebstahl machen kann. Usw.
Besonders für „Logik des Sinns“ ist nun folgende Feststellung von Deleuze wichtig: Das symbolische Element hat keinen realen Referenten, keine imaginäre Bedeutung sondern einen Sinn. Und dieser Sinn ergibt sich „notwendig und einzig aus der Position“. (Insel, S. 253) Der Sinn ist Auswirkung und Resultat der Position des symbolischen Elements in der Struktur. Und die Struktur wird durch die gegenseitigen Relationen der Elemente zueinander aufgebaut. Und weil diese Struktur selbst dynamisch ist und entsteht, gilt auch: „Hinter jedem Sinn gibt es einen Unsinn, aus dem der Sinn selbst resultiert.“ (Insel, S. 255)
Da uns dieses Denkschema schon vom 1. Band bekannt ist, wundert es uns nicht, wenn Deleuze schreibt: „Deshalb kann Foucault eine neue Verteilung des Empirischen und des Transzendentalen vorschlagen, wobei letzteres durch eine Ordnung von Orten unabhängig von denjenigen definiert ist, die sie empirisch einnehmen. Der Strukturalismus ist nicht von einer neuen Transzendentalphilosophie zu trennen, in der die Orte wichtiger sind als das, was sie ausfüllt.“ (Insel, S. 254)
In der Skizze ist „Positionen und deren Relationen bewirken Sinn“ die transzendentale Ebene, die das Reale und Imaginäre begründet. Sinn und Unsinn werden hier völlig anders verstanden als im Existentialismus. Der Unsinn wurde im Existentialismus eines Camus negativ als Fehlen von Sinn definiert. „Für den Strukturalismus dagegen gibt es immer zuviel Sinn, eine Überproduktion, eine Überdetermination des Sinns, der durch die Kombination von Orten in der Struktur stets im Übermaß erzeugt wird.“ (Insel, S. 255)
Die Plätze, Orte und ihre relationale Ordnung errichten eine Topologie. Das Schachspiel weißt eine Topologie auf, die den ganzen Sinn des Spiels bewirkt: Das Schachbrett hat reale Ausmaße, jedes Feld hat eine bestimmte Fläche. Die Figuren haben eine imaginäre Ausdehnung: Das Pferd kann vier verschiedene L-Sprünge vollziehen. Der Bauer kann nur einen Schritt voraus gehen. Das Imaginäre zeigt die einzelnen Möglichkeiten auf. Das Schachspiel selbst vollzieht sich aber in einer Kombinatorik von Orten. Dieses Spatium zu ergründen kennzeichnet einen guten Schachspieler aus.
Es ist schon erstaunlich, dass Deleuze sehr viele Aspekte des Strukturalismus auch schon bei anderen Philosophien entdeckt hat und in sein Hauptwerk DW eingebaut hat. Im 1. Band bin ich ja gar nicht auf den Strukturalismus eingegangen und trotzdem entdecken die LeserInnen nun vieles wieder, was wir schon im 1. Band besprochen haben. Wie z. B. folgendes: Deleuze unterscheidet drei Typen von Relationen: reale, imaginäre und symbolisch Relationen.
1. Reale Relationen: Peter ist größer als Paul, weil 1,80m > 1,75m.
2. Imaginäre Relationen: Wenn mein Auto 5 l/100km Diesel verbraucht, ergibt sich folgende Funktion für meinen Verbrauch:
3. Symbolische Relationen sind nach Deleuze eine differentielle Wechselbestimmung: dy/dx. Wenn ich die Ableitungsfunktion habe, weiß ich bei einem bestimmten Wert von x nur, wie die Steigung an diesem Punkt ist, aber nicht, welcher y-Wert zu x gehört.
Einige konkrete Beispiele machen das deutlich: Wenn ich weiß, dass ein Auto gerade 50 km/h fährt, weiß ich nicht wieviel das Auto insgesamt an Diesel verbraucht hat. Denn ich weiß nicht, wie lang das Auto schon fährt.
Nehmen wir noch eine Stufe weiter betrachtet an, wir wissen nur, wie gerade die Beschleunigung ist. Wir wissen nur, ob die Geschwindigkeit ansteigt, gleichbleibt oder sinkt und wie stark dieser Anstieg oder das Bremsen ist. Mit dieser Steigungsinformation wissen wir nicht, welche Geschwindigkeit der Körper im Moment tatsächlich hat. Erst recht wissen wir nicht, wieviel Wegstrecke der Körper zurückgelegt hat. Ein ganz einfaches Beispiel: Ein Kind beginnt zu laufen und wird in den ersten 5 Sekunden immer schneller und stoppt dann plötzlich. Das Kind kann das auf dem Sportplatz machen oder in einem fahrenden Zug mit konstanter Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeitsveränderungen sind bei beiden Fällen gleich. Aber die Geschwindigkeiten selbst sind in beiden Fällen unterschiedlich.
Die ganze symbolische Struktur entsteht für Deleuze durch differentielle Wechselbestimmungen gemäß dy/dx. Alles, was Deleuze im 4. Kapitel von DW anhand von Leibniz, Kant, Lautmann und den Begriffen Differentialrechnung, ideeller Synthese, problematisches Feld usw. entwickelt hat, können wir nun mit seinem Verständnis von Struktur verbinden.
1. Jede Struktur ist eine Mannigfaltigkeit.
2. Jede Struktur ist ein System von Differentialverhältnissen.
3. Jede Struktur bildet eine Singularitätsverteilung aus. Die Positionen entsprechen den Verteilungen der Singularitäten. Aber wir müssen die virtuelle Seite und aktualisierte Seite unterscheiden.
Die Unterscheidung zwischen virtuellem Feld und verschiedenen Aktualisierungen ist ebenso ein zentrales Element im Strukturalismus. (Aber das kann Deleuze wiederum gut mit Leibniz´ Differentialgleichung, Monadenlehre oder mit Bergsons Philosophie verbinden.)
Wie das Vektorfeld virtuell verschiedenste aktuelle Kurven enthält, so besteht in einer Struktur „alles virtuell nebeneinander“. (Insel, S. 261)
Die virtuelle Totalität der Sprache aktualisiert sich in verschiedenen Sprachen: „Sprachen, die jeweils bestimmte Verhältnisse, bestimmte Verhältniswerte und bestimmte Singularitäten verkörpern.“ (Insel, S. 261) Die Sprachen sind sozusagen verschiedene „Arten“, Arten der Aktualisierung, die unterschiedlich ihre Teile (Worte und grammatikalische Regeln) zusammensetzen. Die Sprachen unterscheiden sich in den Teilen: Das Deutsche benutzt die Differenzen zwischen Zäpfchen-r, Zungen-r und stark gerolltem Zungen-r nicht, um Bedeutungen zu unterscheiden. Andere Sprache benutzen teilweise oder komplett diese Differenzen.
In der Virtualität besteht alles nebeneinander, indem sich die Plätze gegenseitig in verschiedenen Distanzen zueinander bestimmen. Die Aktualisierung dagegen schließt immer aus, macht eine unbewusste Auswahl und wählt eine partielle Kombination. Negationen, Beschränkungen und Gegensätze gehören deswegen für Deleuze in den Bereich der Aktualisierung. In der Virtualität koexistieren die Differenzen.
Die Unterscheidung zwischen virtueller Struktur und verschiedenen Aktualisierungen verändert die Forschung. Georges Dumézil untersuchte z. B. strukturalistisch die Götterhimmel verschiedener Kulturen. Wenn man mit der imaginären Perspektive die Götter verschiedener Kulturen untersucht, schaut man auf Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Göttern und parallelisiert dann diesen Gott aus der Kultur A mit jenem Gott aus der Kultur B. Dumézil dagegen ging davon aus, dass die Götterhimmel verschiedener Kulturen ein virtuelle Beziehungsstruktur unterschiedlich aktualisieren. Und diese virtuelle Beziehungsstruktur entspricht der virtuellen Gesellschaftsstruktur von Priesterstand, Kriegerstand und Bauerstand, die sich ja auch in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich aktualisiert. So kann man nun Gott A aus Kultur X mit Gott B aus Kultur Y in Zusammenhang bringen, weil beide im System Götterhimmel denselben Platz belegen und nicht, weil beide sich in Eigenschaften ähneln.
Bemerkenswert sind auch Deleuzes Aussagen zum Zusammenhang von Zeit und Aktualisierung: „Es zeigt sich, dass der Aktualisierungsprozess stets eine innere Zeitlichkeit impliziert, die je nachdem, was sich aktualisiert, variiert. [...] Die Position des Strukturalismus gegenüber der Zeit ist also sehr klar: die Zeit ist für ihn immer eine Zeit der Aktualisierung, der gemäß sich die Elemente virtueller Koexistenz in verschiedenen Rhythmen verwirklichen. Die Zeit geht vom Virtuellen zum Aktuellen [...] Und gerade weil die Struktur sich nicht aktualisiert, ohne sich im Raum und in der Zeit zu differenzieren, ohne eben dadurch Arten und Teile zu differenzieren, müssen wir in diesem Sinne sagen, dass die Strukturen eben diese Arten und diese Teile produzieren. [...] Wie die Zeit geht die Genese vom Virtuellen zum Aktuellen, von der Struktur zu ihrer Aktualisierung; die beiden Begriffe der vielfachen inneren Zeitlichkeit und der statischen ordinalen Genese sind in diesem Sinne vom Spiel der Strukturen nicht zu trennen.“ (Insel, S. 262)
Die Glieder, Teile und Relationen der Aktualisierung sind Ausdrücke der Struktur, aber sie verdecken auch. Die Strukturen sind unbewusst: Der Deutsche kann den Klang der deutschen Sprache nicht beschreiben, sie ist für ihn unbewusst. „Eine ökonomische Struktur existiert niemals rein, sondern verdeckt von den rechtlichen, politischen, ideologischen Beziehungen, in denen sie sich verkörpert. Man kann die Strukturen nur anhand dieser Wirkungen lesen, finden, wiederfinden.“ (Insel, S. 264) Der Strukturalismus versteht das Unbewusste nach Deleuze eher wie Leibniz als ein differentielles Unbewusstes und nicht wie Freud als einen Konflikt zwischen verschiedenen Kräften und Wünschen.
Ebenso sind die Strukturen problematisch. Die Aktualisierungen sind immer Lösungen. Das Unbewusste „schafft vielmehr selbst die Probleme und die Fragen, die sich nur in dem Maße lösen, wie die entsprechende Struktur sich verwirklicht, und die sich immer in der Art und Weise lösen, in der sie sich verwirklicht.“ (Insel, S. 265)
Wenn eine Struktur allein aus einem abgeschlossenen System von differentiellen Beziehungen bestehen würde, dann gäbe es zwar eine Aktualisierung, aber es gäbe keine Dynamik. Nun erleben wir aber ständig Dynamiken. Woher kommt diese Dynamik?
Ein differentielles, virtuelles Beziehungsnetz bildet eine Serie. Aber diese eine Serie ist immer in Kontakt und Kommunikation mit mindestens einer anderen Serie. Nehmen wir z. B. eine Sprache: die Phoneme bilden ein differentielles System, eine Serie. Aber diese eine Serie wäre unnütz, wenn diese Signifikantenserie nicht auf eine Signifikatenserie verweisen würde. Wörter, Sätze, Texte bedeuten ja etwas.
Lévi-Strauss hat zwei Serien in seiner Untersuchung des Totemismus nachgewiesen. Die imaginäre Betrachtungsweise versteht das Totemtier als Vorbild, Schutzgeist, das den Menschen zu einer gewissen Verhaltensweise führen soll. Lévi-Strauss dagegen führt die symbolische differentielle Betrachtungsweise ein. Die Serie der Tierarten mit ihren Differentialverhältnissen wird mit der Serie gesellschaftlicher Positionen verkoppelt, so dass einer gesellschaftlichen Position ein bestimmtes Totemtier entspricht, gemäß der differentiellen Ordnung in der Tierserie.
Foucault hat in „Ordnung der Dinge“ drei Serien untersucht: die linguistische, die ökonomische und die biologische Serie. Die Humanwissenschaften entstanden aus der „Aktualisierung“ der Kommunikation dieser drei Serien.
Aber die miteinander kommunizierenden Serien bilden kein eindeutiges Abbildungsverhältnis. Ansonsten würde die gesamte Struktur in eine Figur der Imagination zurückfallen.
Zusammenfassend schreibt Deleuze: „Die Bestimmung einer Struktur geschieht nicht allein durch eine Auswahl der symbolischen Grundelemente und Differentialverhältnisse, in der sie eintreten, auch nicht allein durch eine Verteilung der singulären Punkte, die ihnen entsprechen; sondern darüber hinaus durch die Konstituierung mindestens einer zweiten Serie, die komplexe Beziehungen zur ersten unterhält.“ (Insel, S. 268)
Auch das innere Familiensystem von Richard Schwartz arbeitet mit mindestens zwei Serien. Das innere Familiensystem mit seinen Managern, Verbannten und Feuerbekämpfern ist eine Serie. Aber diese kommuniziert mit anderen Systemen bzw. Serien, z. B. mit dem Familiensystem oder mit der Struktur der Clique, die einen prägt usw. Das Beispiel der Person A lässt sogar vier Serien miteinander kommunizieren: Die Herkunftsfamilie, die jetzige Familie, das Firmensystem und das innere Familiensystem von A.
Auf den Strukturalismus an sich angewendet bedeutet dann Metapher Verschiebung innerhalb einer Serie und Metonymie Kommunikation bzw. Verschiebung zwischen den Serien. Bei Poes Geschichte hängt beides zusammen: Die zweite Serie entsteht durch eine Verschiebung in der ersten Serie. Der Minister ist in der ersten Serie der Dieb und in der zweiten Serie der Bestohlene.
Aber was bewirkt zwischen den Serien diese Dynamik und verhindert, dass sich zwei Serien in ein gleichbleibendes Spiegelverhältnis einrichten?
Es ist der leere Platz zwischen den Serien! In der Geschichte von Poe ist der Brief das Element, das zwischen den Serien vermittelt. Aber der Brief ist auch ein paradoxes Element: Der Brief ist „versteckt“, indem er offen da liegt und übersehen wird. So ist der Brief ein leerer Platz.
In „Logik des Sinns“ untersucht Deleuze ausführlich Lewis Carrolls Kinderliteratur. Dort findet er genügend Beispiele, wie Unsinnswörter verschiedene Serien beleben und somit Sinn erzeugen. „Es ist der Unsinn, der zumindest die beiden Serien beseelt, sie jedoch mit Sinn versieht, indem er durch sie hindurch zirkuliert.“ (Insel, S. 273) (Beispiele dazu später)
Im Existentialismus wird Sinn an die selbstbewusste Person gekoppelt: Der einzelne Mensch muss seinem Handeln Sinn geben. Er hat in seiner Existenz die Aufgabe, sich zu entwerfen und einen Lebenssinn zu entwickeln. Und wenn das Schicksal des Menschen Sinnpläne durchkreuzt, erlebt er Sinnleere wie Sisyphus. Für Camus bleibt nur die ständige Revolte gegen die Sinnzerstörung, die der Weltenlauf den Sinnentwürfen des Menschen zufügt. Der Strukturalismus versteht Sinn völlig anders:
1. Sinn produziert die selbstbewusste Person nicht selber. Sinn ist vorgängig zum Selbstbewusstsein und entsteht im Virtuellen präindividuell.
2. Unsinn ist nicht einfach die Negation von Sinn, die Abwesenheit von Sinn. Ganz im Gegenteil herrscht zwischen Sinn und Unsinn ein inneres Bedingungsverhältnis. Unsinn produziert Sinn.
3. Die Produktion von Sinn im Virtuellen geschieht im Übermaß. Denn die Aktualisierung kann ja immer nur einen Teil des virtuellen Feldes verwirklichen. Das virtuelle Vektorfeld ist immer größer und reichhaltiger als die einzelne aktuelle Kurve.
Deswegen behandelt Deleuze in „Logik des Sinns“ Lewis Carroll und nicht Camus. Deswegen wählt Deleuze für die ethischen Konsequenzen in „Logik des Sinns“ nicht Camus sondern die Stoiker aus, denen eine Bejahung der Ereignisse gelingt, die nicht verzweifelt ankämpfend ist wie der Existentialismus von Camus.
Wenn es viele Serien gibt, die sich gegenseitig beeinflussen, gibt es dann eine Serie, die die grundlegende ist? Das gibt es für den Strukturalismus nicht. Denn der leere Platz wäre dann keine Differenz an sich selbst mehr sondern ein identitärer Transformer.
1. über die Art und Weise, wie es sich in seiner Ordnung die anderen Strukturordnungen unterordnet, so dass diese dann nur als Aktualisierungsdimensionen auftreten;
2. über die Art und Weise, wie es selbst den anderen Ordnungen in der ihrigen untergeordnet ist (und nur noch in deren eigener Aktualisierung auftritt);
4. über die Bedingungen, unter denen in einem bestimmten Augenblick der Geschichte oder in einem bestimmten Fall eine bestimmte Dimension, die einer bestimmten Strukturordnung entspricht, sich nicht für sich selbst entfaltet und der Aktualisierung einer anderen Ordnung unterworfen bleibt (hier wäre wieder der Lacansche Begriff der „Verwerfung“ von entscheidender Bedeutung).“ (Insel, S. 277)
Beginnen wir mit Althusser: Sein Strukturalismus betrachtet die ökonomische Serie als problematisches Feld und analysiert, wie sich diese Serie in anderen Serien, wie dem juristischen, politischen und ideologischen Bereich, aktualisiert und Lösungen findet. Aber er betrachtet nicht umgekehrt z. B. die juristische Serie als problematisches Feld, die sich wiederum in anderen Serien wie dem ökonomischen oder politischen Bereich aktualisiert und dort Lösungen findet. Deleuze geht hier mit seinen ersten zwei Punkten also über Althusser hinaus, ohne das deutlich zu thematisieren.
Wenn man Deleuzes Strukturalismusartikel bis zu dieser Stelle liest, ist einem nicht klar, in welchem Verhältnis die zwei Serien stehen. Denn es gibt ja zwei Möglichkeiten: 1. Beide kommunizierende Serien gehören zur virtuellen Ebene. 2. Eine Serie ist die virtuelle Serie und die andere Serie die Aktualisierung der virtuellen Serie.
Die vier Punkte lösen die Frage: Beide Möglichkeiten gibt es. Häufig betrachtet man die eine Serie als die virtuelle Serie und die andere als deren Aktualisierung. Aber es gibt auch Kommunikation zwischen virtuellen Serien. (Weil häufig die eine Serie die virtuelle ist, und die andere die Aktualisierung der virtuellen Serie, musste Deleuze im 4. Kapitel von DW den Begriff Serien gar nicht verwenden.)
Nun kann es aber passieren, dass eine Serie zu einer dominanten Serie mutiert und andere Serien unterwirft, so dass die Wechselseitigkeit, die Deleuze in den ersten zwei Punkten ausgedrückt hat, nicht mehr stattfindet. Dann entsteht eine festgezurrte Hierarchie, die man wieder aufbrechen sollte. Deswegen gibt es ja in der modernen Demokratie Gewaltenteilung.
Folgende Aussage wendet sich auch an Kritiker wie Habermas oder an Bewusstseinsphilosophen: „Der Strukturalismus ist keineswegs ein Denken, welches das Subjekt beseitigt, sondern ein Denken, das es zerbröselt und systematisch verteilt, das die Identität des Subjekts bestreitet, es auflöst und von Platz zu Platz schickt, ein Subjekt, das immer Nomade bleibt, aus Individuationen besteht, jedoch unpersönlichen, oder aus Singularitäten, jedoch präindividuellen.“ (Insel, S. 278)
Wenn man nur den König köpft, bleibt der Platz des Königs bestehen und jemand anderes setzt sich darauf. Nach Ludwig XIV kam Napoleon. Nach der christlichen Philosophie kam Feuerbach, der auf den Stuhl Gottes den Menschen setzte. Aber das verändert nicht wirklich das Denken, weil der Rahmen gleich geblieben ist: das Identitätsdenken. Wenn man aber divergente Serien bejaht und das Subjekt durch diese Divergenz begründet, tritt man in ein Differenzdenken ein.
Das Differenzdenken kann durch zwei Unfälle beendet werden: „Nun lassen sich zwei große Unfälle der Struktur definieren. Entweder wird das leere und bewegliche Feld nicht mehr von einem Nomadensubjekt begleitet, das seinen Weg hervorhebt; dann wird seine Leere zu einem wirklichen Manko, einer Lücke.“ Das erleben wir bei Camus: Der Mensch kann den Unsinn der Welt nicht bejahen sondern nur als unerbittlichen Mangel an Sinn verstehen. „Oder es wird im Gegenteil erfüllt, besetzt von dem, was es begleitet, und dann verliert sich seine Beweglichkeit in der Auswirkung einer seßhaften oder erstarrten Fülle.“ S. 279 Das erleben wir bei den Freunden von Hiob, die ihm die Welt und Gott genau erklären und ihm nachweisen wollen: Du musst irgendwann irgendwie gesündigt haben, so dass deine Strafe völlig der göttlichen, festen Ordnung entspricht. Beide Unfälle verfallen wieder dem Identitätsdenken.
Nun betont Deleuze ähnlich wie in DW: Diese Tilgung der Differenz passiert zwangsläufig. Das Repräsentationsdenken verdeckt das Brodeln, aus dem es hervorgeht. Deswegen nimmt die Wissenschaftsgeschichte z. B. den Verlauf, den Kuhn, Sneed und Foucault auf unterschiedliche Weise beschrieben haben: Es gibt eine Zeit, in der Neues, ein neuer Denkrahmen entsteht. Und dann gibt es eine Zeit, in der ein gewisses Paradigma herrscht und die Welt anscheinend recht geordnet erklären kann. In TP benutzen Deleuze und Guattari dafür die Begriffe: Deterritorialisierung und Reterritorialisierung.
Deswegen braucht es immer auch eine Deterritorialisierung, die die Verkrustungen aufbricht und das Dynamische der Virtualität freisetzt. Das nennt Deleuze in seinem Strukturalismusartikel Praxis: Es ist eine aufbrechende Praxis, weil es verkrustete Aktualisierungen und alte Lösungen aufbricht. Und es ist eine aufbrechende Praxis, weil das Subjekt wieder aufbricht, nomadisch wird, dem leeren und florierendem Platz folgt: „Daher gibt es einen strukturalistischen Helden […]. Er sorgt für das Aufbrechen einer an Überfluss oder Mangel leidenden Struktur [...]. Ob es einer neuen Struktur gelingt, sich nicht erneut auf Abenteuer einzulassen, die denen der alten Struktur ähneln, nicht von neuem tödlichen Widersprüche entstehen zu lassen, hängt von der Widerstands- und Schöpferkraft dieses Helden ab, von seiner Gewandtheit, den Verschiebungen zu folgen und sie zu schützen, von seiner Fähigkeit, die Verhältnisse variieren zu lassen und die Singularitäten neu zu verteilen, indem er die Würfel immer wieder wirft. Genau dieser Veränderungspunkt definiert eine Praxis oder vielmehr den Ort selbst, an dem die Praxis sich niederlassen muss.“ (Insel, S. 281)
Genau das, was hier Deleuze vom strukturalistischen Helden fordert, setzt er in seinem Werk „Logik des Sinns“ virtuos um. Er folgt in 34 Serien der genetischen Kraft des Unsinns und des Sinns. Er erkundet die zwei Seiten aller Ereignisse, die virtuelle und die aktuelle Seite. Er baut kein geschlossenes philosophisches Gebäude auf, sondern treibt die LeserInnen durch 34 Paradoxa.
Aber auch das ist Deleuze nicht genug. Er sucht sich ein anderes nomadisches Subjekt und findet dieses in Felix Guattari. Sie werden kreativ kommunizierende divergente Serien, die neue Begriffe erschaffen, um neue Felder der Virtualität zu erkunden.
Deleuze wirft bei jedem Werk die Würfel neu und ähnelt damit Beethoven, der für jede Klaviersonate, die er schrieb, eine neue Genese, eine Neuschöpfung durchlitten hat. Kein Wunder also, dass Deleuze bei jedem Buch uns auch neue Begriffe präsentiert…
„Der Poststrukturalismus ist kein Antistrukturalismus.“24 Vielmehr haben Poststrukturalisten wie Deleuze, Derrida oder Foucault auf engführende Tendenzen der Strukturalisten reagiert und diese korrigiert. Der Text „Woran erkennt man den Strukturalismus?“ ist bemerkenswert, weil er diese engführenden Tendenzen schon beseitigt hat. Insofern darf man sich fragen, ob der Titel nicht auch lauten könnte: „Woran erkennt man den Poststrukturalismus?“
Welche engführenden Tendenzen der „älteren“ Strukturalisten will Deleuze verhindern?
1. Abgeschlossene Strukturen
2. Eine Leitstruktur
3. Binarismus, Relationen durch Gegensätze und Negationen beschreiben
4. Unwandelbare, „ewige“ Strukturen
Dazu einige Erläuterungen: „Einer der zentralen Kritikpunkte am Strukturalismus betrifft dessen Festhalten an einem starren Modell, das die Zuordnung Signifikat-Signifikant wie ein feststehender Code ein für alle Mal rigide reguliert. [...] Die alltäglichen Missverständnisse in unserer Kommunikationspraxis zeigen jedoch sehr schnell die Grenzen dieser Auffassung. Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Bedeutung von Ausdrücken eindeutig geregelt wäre, dann sollten sprachliche Missverständnisse eigentlich gar nicht erst auftreten.“25