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Das alte Sündenverständnis, Sünde als Verstoß gegen ein göttliches Gebot, ist zu eng und einseitig. Wie kann eine christliche Moral und Theologie aussehen, die diese Enge hinter sich lässt? Die Suche nach einer immanenten christlichen Ethik wird sowohl fündig bei Jesus selbst als auch bei verschiedenen Philosophen und Theologen. Der 1. Band behandelt insbesondere die Goldene Regel, Spinozas Ethik, die gewaltfreie Kommunikation, Bergsons Moralphilosophie, Whiteheads Prozessphilosophie, beinhaltet aber auch eine kritische Analyse der Paradiesgeschichte, der Kreuzestheologie und der Identitätsideologie. Auch aktuelle Moralphilosophien wie Omri Boehms radikaler Universalismus oder Rainer Forsts Rechtfertigungsphilosophie werden behandelt.
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Seitenzahl: 458
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VORWORT
DIE PROBLEMATIK: IN DER ENGE DES TRADITIONELLEN SÜNDENBEGRIFFS
Kritik der klassischen Definition von Sünde
Die Aktualität dieses alten, engen Sündenbegriffs
Erkundungen der möglichen Wirkungen des Begriffs „Sünde“
Das Problem des unklaren Mischmaschs
Betrachtung zum Gleichnis vom verlorenen Sohn
ERSTE KORREKTUREN IN DER THEOLOGIE: DIE ABSCHAFFUNG DREIER TRANSZENDENZ-VORSTELLUNGEN
Ein neues Offenbarungsverständnis
Die Meta-Sünde der augustinischen Erbsündenlehre
Bestrafen auf ewig?
IMMANENTE ETHIK
Das Schiff auf dem Meer
Spuren einer immanenten Ethik im Christentum
Ein spinozistisches Unternehmen
DIE GOLDENE REGEL – EINE IMMANENTE ETHIK, DIE JESUS EMPFIEHLT
WIE KÖNNEN WIR DIE PARADIESGESCHICHTE LEBENSFÖRDERLICH DEUTEN?
Deutung der Schöpfungsgeschichte mit „Richtet nicht!“
Deutung der Schöpfungsgeschichte – die Anmaßung nach eigenem Gutdünken
Weitere „Sünden“ in der Paradiesgeschichte
ZUR AUSLEGUNG DES NEUEN TESTAMENTS
Von Schuld zurück zu Schulden – Nietzsches Kritik und Jesu Blick auf die Schulden
Die problematische Suche nach dem ursprünglichen Sinn am Beispiel der Jüngerregel
Der ambivalente Paulus
Predigt: Paulus nach Alain Badiou
Predigt: Paulus schreibt den Korinthern
Predigt: Paulus – Garant von Ostern! Zeuge der Trotzdem-Liebe Gottes! Offenbarer des inneren Lehrers
Der problematische Paulus
Das Kreuz anders verstehen
Unbrauchbare Deutungen des Kreuzestodes Jesu
Das damalige Verständnis von Sünde und Sühne
Einige wertvolle Zugänge zum Kreuz Jesu Christi
Paulus für eine Überraschung gut: Gott bittet um Versöhnung
Kriterien für die Unterscheidung der Geister
GOTTES GNADE WIRKT IN DER WELT – PEIRCES KATEGORIENLEHRE
Vorbemerkungen
Die drei Ebenen, Gottes Gegenwart zu betrachten
Mit Peirces Kategorienlehre die drei Betrachtungsebenen analysiert
Keine Sünde zerstört die Gegenwart Gottes an sich
Sakramente sind in der Lebenswelt verortet
Eine positive Aussage ist keine exklusive - Sakramente verweisen auf die Gegenwart Gottes an sich
Konkretisierung und Gestaltwerdung
Die Kraft des Zeichens, auf die Gegenwart Gottes zu zeigen
Die Erstheit entzieht sich dem Zugriff - die Gegenwart Gottes ist Geschenk
Folgerungen für den Sündenbegriff
EINE IMMANENTE ETHIK – DIE GEWALTFREIE KOMMUNIKATION UND SPINOZAS ETHIK
Rosenbergs persönliche Erfahrungen
Kurzeinführung in die gewaltfreie Kommunikation anhand eines Beispiels
Eine neue ethische Differenz anhand Spinozas Sündenfall-Deutung
Die gegnerische Position
Die Bedürfnisse sind uns gemeinsam
Mischmasch auftrennen
Wir beginnen immer mit Mischmasch und Verzerrungen
„… immer ein bisschen weniger dumm“
Empathie mit dem anderen Menschen
Denkt die GfK den Menschen altruistisch oder egoistisch?
Kritik des Kontraktualismus bei Tugendhat und Aufbau einer autonomen Moral
Edelsinn bei Spinoza
Reue, Bedauern und Sakrament der Versöhnung
BIASES UND CO
Biases - wie die moderne Psychologie Spinozas Entdeckung weiter erforschte
Unbewusste Biases sind ein Grund für die Untauglichkeit des Sündenbegriffs
Beispiele für Biases
Biases erkennen und überwinden mit GfK, Naikan und The Work
Abwehrmechanismen und Fehlschlüsse
Problematische Menschenbilder entlang des Enneagramms
Kritischer Rückblick und Übergang zu Bergson
DIE ZWEI QUELLEN DER MORAL UND DER RELIGION NACH BERGSON
Grundaussagen aus „Schöpferische Entwicklung“
Grundaussagen aus „Die beiden Quellen der Moral und der Religion“
Die schöpferische Emotion
Unterschiede zwischen den zwei Quellen der Moral
Das problematische Verhältnis zwischen dynamischer und statischer Moral und Religion
Sünde bei den beiden Quellen der Moral und der Religion
Die Öffnung zur ganzen Menschheit und zur ganzen Welt
Bergsons Gesellschaftsphilosophie und andere Philosophen
Bergson und Tugendhat: Die kleine Flamme der Menschheitsliebe
MIT DELEUZE DIE IDENTITÄTSPOLITIK KRITISIEREN
Seid wachsam! Ruft Jesus zur Wokeness auf?
Jenseits der Gattungsidentität
Glissants rhizomatisches Denken
Majorität und Minorität
Die Seligpreisungen
Der Sündenfall – Beginn des Holzweges
Die fünf Elemente der Identitätsideologie
Warum ist die Kritik an der Identitätsideologie so wichtig?
Zynische Unterstellung von Eigeninteressen
Die Identitätsideologie als moderne Sünden-Religion
RECHTFERTIGUNGSPROZESSE IN DEMOKRATIEN STATT IDENTITÄTSIDEOLOGIE
DIE PROZESSPHILOSOPHIE VON WHITEHEAD
Verabschiedung alter Gottesbilder
Die Grundstruktur der Prozessphilosophie anhand eines Beispiels
Die Grundzüge der Prozessphilosophie
Gott in der Prozessphilosophie
Spinoza und Whitehead
Das Böse in der Prozessphilosophie:
Vergleich mit Werbicks Verständnis von Sünde
Drachen der Untätigkeit
Tragik, dass man nie immer alle einbeziehen kann
SCHLUSS: GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG ALS BASIS FÜR DIE DEMOKRATIE
LITERATUR
LITERATURNACHWEISE UND ANMERKUNGEN
Ich schreibe dieses Buch für Christen, denen die Lasten im alten Christentum leid sind. Gemäß dem Lied „Wenn der Geist sich regt“: „Füllt den jungen Wein nicht in die alten Schläuche! Zwängt die junge Kirche nicht in alte Bräuche!“ – und zwängt die junge Kirche nicht in alte Denkweisen.
Lasten In meiner neuen Pfarrstelle in Herzogenaurach ergab es sich, dass ich einen Philosophiegesprächskreis für Erwachsene anbot. (In den Stellen davor konnte ich Jugendliche für so einen Gesprächskreis immer wieder begeistern. Aber jeder wird älter…) Bei diesem Gesprächskreis konnte ich erleben, dass Menschen, die schon lange in der Kirche engagiert sind, es genießen, wenn in so einem Kreis auch alte belastete Begriffe und Vorstellungen aus dem Christentum ohne Samthandschuhe kritisiert werden dürfen. Sie haben oft genug in Gottesdiensten erlebt, dass solche Begriffe und Vorstellungen einfach unreflektiert benutzt wurden. Und sie haben bei sich selbst gemerkt, wie diese oft sie und/oder andere Menschen belastet haben…
In der Tradition Spinozas Insofern kann man sagen: Die Aufgabe, Gläubige aufzuklären und von alten Lasten zu befreien, hat zwar Spinoza mit seinem Werk „Theologisch-politischer Traktat“ begonnen. Aber diese Aufgabe ist auch heute noch nicht erledigt. So sehe ich mich mit diesem Buch auch in der Tradition von Spinoza, der alte Glaubensvorstellungen kritisch analysierte. Ich sehe mich mit diesem Buch aber auch in der Tradition von Spinozas Ethik. Spinoza wollte durch das Studium des Menschen und seines Körpers, seiner Affekte und seines Denkens Ratschläge und Einsichten weitergeben, damit man in größerer Freiheit und Tugend leben kann.
Ein Begriff, der mit vielen Lasten des alten Christentums direkt oder indirekt verbunden ist, ist der Begriff Sünde. Deswegen soll er im Zentrum der kritischen Reflexion stehen.
„Sünde“ ist ein schwieriger Begriff. Die Assoziationen, die Menschen mit diesem Begriff haben, sind einerseits vielfältig und oft auch verworren, andererseits kann er toxische Wirkungen entfalten und zum Machterhalt eingesetzt werden. Nietzsche hat nicht ganz Unrecht, wenn er empathisch ausruft: „Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der Strafe bald hinterdrein!“1 Diese Betrachtungen wollen die Problematik dieses Begriffes ein wenig erkunden und nach Alternativen Ausschau halten. Dabei soll aber nicht das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet werden.
Was klar ist, drücke ich salopp erst einmal so aus: Menschen machen auch „Mist“. Sie verhalten sich immer wieder lebenshemmend, lebensverhindernd bis lebenszerstörend. Aber wie nennt man das? Sünde ist nicht der einzig mögliche Begriff dafür und auch der Sündenbegriff selbst kann unterschiedlich verstanden werden. Wenn man dagegen den Sündenbegriff traditionell, „klassisch“ versteht, führt er in eine Enge, ja letztlich oft in die Irre und macht blind für viele andere „Probleme“, die wir mit diesem Begriff nicht in den Blick nehmen können. Der Begriff kann sogar selbst negative Wirkungen bei den Zuhörenden und bei den Gläubigen hervorbringen.
Das sind Gründe genug, um diesen traditionellen Sündenbegriff zu kritisieren und nach neuen Wegen Ausschau zu halten, um den „Mist“, den Menschen immer wieder fabrizieren, zu benennen und denkerisch zu durchdringen. Vielleicht ist Sünde ein zu allgemeiner Begriff. Bergson verglich solche allgemeinen Begriffe mit Konfektionsgrößen im Kleidungsbereich. Im Gegensatz zu maßgeschneiderten Kleidungen passen Konfektionsgrößen nie so ganz richtig. Vielleicht brauchen wir viele Begriffe für das Leben Verhindernde, Hemmende bzw. Zerstörende, weil der „Mist“ viele Gesichter hat, viele Ursachen haben kann, und man auch auf unterschiedlichen „Mist“ verschieden reagieren muss.
Immanente Ethik Das führt uns zwangsläufig zu einer weiteren Aufgabe: Wie können wir eine immanente Ethik für Christen formulieren? Denn der alte Sündenbegriff ging davon aus, dass ein transzendenter Gott Gebote nach seinem Gutdünken erlässt, wie ein absolutistischer Fürst frei Gesetze beschließt. Aber das ist nicht mehr haltbar. Man kann heute Gott nicht so denken, als sei er ein absolutistischer Fürst. Und man kann heute in einer pluralistischen Welt die eigenen ethischen Maßstäbe nicht allein transzendent als Gebote Gottes begründen, wenn man eine ernstzunehmende Stimme in dieser modernen Welt sein will. Was kommt an die Stelle dieses Denkens? Ein Text von Whitehead kann eine solche Ethik schon zu Beginn erahnen lassen: „Es gibt jedoch im galiläischen Ursprung des Christentums noch eine andere Anregung, die zu keinem der drei Hauptstränge des Denkens so richtig passt. Sie legt das Schwergewicht weder auf den herrschenden Kaiser, noch auf den erbarmungslosen Moralisten oder den unbewegten Beweger. Sie hält fest an den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft: denn sie findet ihre unmittelbare Belohnung in der Gegenwart.“ 2 Eine immanente Ethik für Christen verlässt die drei alten Gottesbilder: Gott als herrschender Kaiser, als erbarmungsloser Moralist, als unbewegter Beweger. Es sind die drei prägenden Gottesbilder für eine transzendente Gottesvorstellung. Aber Whitehead behauptet, dass im galiläischen Ursprung des Christentums, also bei Jesus und seiner Verkündigung selbst, eine andere Anregung bekommen… Dieser wollen wir nachgehen und sie für die heutige Zeit entfalten.
Machen wir uns auf und beginnen eine Entdeckungsreise…
Dieses Buch ist gewissermaßen aus meinen vorherigen Büchern entstanden. Entlang der Frage nach einer immanenten Ethik anstelle des alten Sünden-Christentums unterstützt durch das Bild „Schiff auf dem Meer“ konnte ich verschiedene Teile aus anderen Büchern zu diesem Buch neu zusammenfügen. Dabei habe ich viele eigene Einsichten, die ich in meiner Dissertation, in meinen Exerzitienbüchern und Predigtbüchern usw. dargelegt, in neuer Weise angeordnet und ergänzt und erweitert.
Aristoteles´ Tugendlehre ordnete Tugenden als mittleres Maß zwischen zwei Extremen an, also zwischen zwei Straßengräben. Der Tapfere ist zwischen dem Waghalsigen und dem Verzagten. In diesem Buch suchen wir auch nach verschiedensten Straßengräben, die es zu vermeiden gilt, deren Beachtung das Leben verbessern kann. Denn Ethik versucht, Straßengräben aufzuzeigen, damit man sie vermeiden kann.
Dieses Buch ist eine Collage aus verschiedenen Bausteinen, wie ein Mosaik. Diese Mannigfaltigkeit ist aber kein Makel, vielmehr eine adäquate Antwort auf die Herausforderungen in einer pluralen Welt. Ich greife viele Theorien auf, die in einer „normalen katholischen Moraltheologie“ nicht (oder nur am Rande) vorkommen. Z. B. Spinoza, Bergson, Whitehead und Deleuze aus der Philosophie, Polyvagaltheorie, Inneres Familiensystem und PSI.Theorie aus der Psychologie bzw. Therapie. Und ich will die Aktualität der hier erörterten Gedanken dadurch aufweisen, dass ich sie auf jetzige gesellschaftspolitische Themen beziehe, wie z. B. die Identitätspolitik. Gerade bei dieser modernen Ideologie sieht man die Herausforderung, der ich mich in diesem Buch stellen möchte: Wir Christen müssen diesem hochgefährlichen Denken eine immanente Ethik in einer pluralen Welt entgegenstellen.
Das Buch veröffentliche ich in zwei Bänden.
Der erste Band beginnt mit der Kritik des Sündenbegriffs, behandelt theologisch wichtige Korrekturen zu den Themen Offenbarung, Erbsündenlehre, Eschatologie, Paradiesgeschichte, Deutungen des Kreuzestodes und erkundet dann Möglichkeiten einer immanenten Ethik. Im ersten Band kommen deswegen hauptsächlich Theologen und Philosophen zu Wort. Für den Aufbau einer immanenten Ethik beziehe ich mich auf fünf Philosophen der Immanenz (Spinoza, Whitehead, Bergson, Peirce, Deleuze/Guattari) und drei weitere Philosophen, die für eine autonome, allgemeine Moral plädieren (Tugendhat, Forst, Boehm). Die gewaltfreie Kommunikation wird im ersten Band als Explikation der Ethik Spinozas vorgestellt.
Der zweite Band wird bei dieser Suche nach einer immanenten Ethik weitere psychologische und therapeutische Inspirationen aufnehmen, wie z. B. die Polyvagaltheorie das innere Familiensystem, das Enneagramm, PSI-Theorie. Gerade die Polyvagaltheorie und das innere Familiensystem zeigen uns Wege, wie wir eine trauma-sensible Ethik gestalten müssten. Gesellschaftliche Konstellationen, Unterdrückungen, auch spiritueller Missbrauch lassen sich dadurch genauer benennen. Das Enneagramm kann außerdem auch noch eine neue wertvolle Sicht auf den Sündenbegriff liefern.
Bei dieser Analyse der Problematik des Sündenbegriffs kam ich mir oft wie ein Gärtner vor, der den Giersch im Garten beseitigt. Es reicht nicht, nur das Grün oberhalb des Bodens wegzureißen. Man muss mit der Gartengabel den Boden ausheben und sieht dann, wie unterirdisch die Wurzeln in alle Richtungen weiterwachsen und mit anderen Gierschpflanzen verbunden sind. So ist es auch mit dem Sündenbegriff. Er ist eng mit anderen Vorstellungen der Theologie verbunden, die man gleich mit kritisch betrachten muss.
Deswegen müssen wir auch auf verschiedene Weise das klassische Sündenverständnis kritisieren. Erstens betrachten wir die klassische Definition von Sünde und hinterfragen sie. Wir zeigen zweitens an Beispielen auf, dass dieser Begriff immer noch aktuell wirksam ist. Drittens erkunden wir die pragmatische Seite: Welche Wirkung kann dieses klassische Verständnis von Sünde auf die Menschen haben? Nach dieser Erkundung des Problemfeldes nehmen wir das Theorie-Umfeld dieser klassischen Definition in Blick und überwinden dies in einem ersten Anlauf mit drei Korrekturen.
Beginnen wir mit einer klassischen Definition von Sünde, die man in einem vorkonziliaren Dogmatik-Lehrbuch finden kann. Sie lautet knapp und bündig:
„Freiwillige Abweichung vom göttlichen Gesetz.“3
Jedes Wort ist hier würdig, kritisch untersucht zu werden. Dabei sei vorab angemerkt: Diese erste Betrachtung skizziert verschiedene Gedankengänge, die wir später noch detaillierter ausführen und weiterdenken werden.
„Göttliches Gesetz“:
Beginnen wir damit zu bezweifeln, ob wir den Inhalt des göttlichen Gesetzes überhaupt wissen. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Ansichten darüber, was sittlich und richtig sei. Aber auch innerhalb der christlichen Religion gehen die Ansichten weit auseinander. Philosophen und Theologen konnten sich nicht einigen, was der genaue Inhalt eines Naturrechts sei, also des göttlichen Gesetzes, das wir Menschen allein durch unsere Vernunft ohne Offenbarung erkennen können. Die Religionen widersprechen sich nicht nur untereinander, sondern auch innerhalb der eigenen Tradition. Z. B. Ist die Frau mit dem Mann gleichberechtigt, wie Johannes Chrysostomos betont, oder ist die Frau dem Mann untergeordnet, wie einige Stellen in den sekundären Paulusbriefen behaupten? Man kann nach den Ergebnissen der historisch-kritischen Methode auch die 10 Gebote nicht als DAS göttliche Gesetz ansehen. So wertvoll sie - gut interpretiert - für das menschliche Zusammenleben als Richtschnur sein mögen, sie sind nicht wortwörtlich das göttliche Gesetz. Es scheint aufgrund dieser Vielfalt unmöglich zu sein, genau zu bestimmen, was das göttliche Gesetz ist, wenn man das Gesetz Gottes so versteht, dass ein transzendenter Gott diese Gesetze irgendwie erlassen hat und den Menschen mitgeteilt hat, ob durch Offenbarung oder durch die Vernunft.
Aber wir können mit Spinoza noch grundsätzlicher hinterfragen: Das ganze Weltbild ist irgendwie schräg. Gott wird vorgestellt als ein Gesetzgeber, der Regeln frei aufstellt. Gott ist wie ein Fürst, der willkürlich Gesetze erlassen kann. Nach Spinoza denken wir hier zu menschlich. Wir projizieren eine Illusion, dass ein Fürst absolut frei ist und willkürlich Gesetze erlassen kann, auf Gott. Diese Gesetze sind dann transzendent, kommen von Gott, der sie aufgrund seines Willens erlassen hat.
Jesus hinterfragte selbst, kritisierte das zu seiner Zeit übliche Verständnis der Sabbatregeln, denen man unbedingt folgen müsse: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Jesus fordert also: Eine Regel muss lebensförderlich sein. Damit ist die Regel aber nicht mehr transzendent, von einem transzendenten Gott beschlossen, sondern muss immanent bestimmt und begründet werden: Was ist lebensförderlich?
„Freiwillige Abweichung“:
Ist jede Tat, Rede, Verhalten, die man traditionell als Sünde bezeichnet, eine freiwillige Abweichung bzw. Übertretung eines Gesetzes? Liegen dieser Ansicht nicht mehrere Illusionen und falsche Vorstellungen zugrunde?
Die alltägliche Erfahrung zeigt vielmehr: Mein Wille ist nicht so eindeutig. Ich will abnehmen und esse doch gerne Süßigkeiten. Wir erleben innere Zerrissenheit zwischen inneren Seiten von uns. Kann man da von freiwilliger Abweichung sprechen? Was ich mal gewollt habe, kann ich Tage danach schon nicht mehr wollen. Wer mit dem „Inneren Familiensystem“ von Richard Schwartz (IFS) arbeitet, erkennt schnell, dass unsere inneren Seiten auch belastet sein können, verzerrte Ansichten haben können. Wer z. B. als Junge gelehrt bekommt, dass ein Mann immer stark sein müsse, hat eine verzerrte Sichtweise auf seine Männerrolle. Kann man dann von einer freiwilligen Abweichung sprechen, wenn diese verzerrte Sichtweise bei der sündigen Handlung unbewusst mit hineinwirkt? Man möge jetzt nicht aus einer Schwarz-Weiß-Denkweise heraus folgern, dass ich meine, der Mensch sei eigentlich unfrei. Dann unterschlägt man den großen Graubereich mit seinen vielen Schattierungen. Ich habe in meiner Dissertation ausführlich für die Freiheit des Menschen plädiert. Aber diese ist immer eingebettet und deswegen gibt es immer auch Abstufungen von mehr und weniger frei.
Spinoza kritisierte die Moralphilosophen, weil sie die Freiheit des Menschen als absolut und nicht eingebettet verstehen. (Eine ähnliche Kritik äußert auch Bieri in seinem Buch „Handwerkszeug der Freiheit“.) Die Moralphilosophen (die Spinoza vor Augen hatte) stellen sich den Menschen als „Staat im Staate“ vor, als einen absoluten Monarchen über den eigenen Körper und den eigenen Geist. Hier wird die Freiheit zu idealistisch gesehen und nicht eingebettet in das Umfeld, ebenso wird das Unbewusste übersehen usw. Es ist der gleiche Fehler wie bei der Vorstellung, dass Gott willkürlich frei Gesetze erlassen könne.
Aber dann passiert etwas Erstaunliches. Die absolute Freiheit, die angenommen wurde, schlägt bei den Theologen ins totale Gegenteil um! Durch die Erbsünde ist der Mensch total verderbt und total unfähig zum Guten. Nur eine Gnade von außen kann ihn retten, wieder befreien und zum Guten fähig machen. Das ist eine Schwarz-Weiß-Malerei. Hier gibt es nur „ganz“ oder „gar nicht“. Es gibt keine Zwischentöne.
Durch diesen Umschlag ins andere Extrem wird die Definition widersprüchlich. Eigentlich kann es gar keine freiwillige Abweichung geben, weil wir durch die Erbsünde unfrei geworden sind… So wirkt das ganze Theoriegebäude in sich widersprüchlich.
„Freiwillige Abweichung“:
Der Begriff „Abweichung“ geht davon aus, dass mein Wille und der Wille Gottes bei der Sündentat im Widerstreit liegen. Ein Witz bringt dies auf den Punkt: Fragt ein Gläubiger den Priester im Beichtstuhl: Ist das Sünde? Fragt der Priester zurück: Macht es Spaß? Ja, antwortet der Gläubige. Sogleich das Urteil des Priesters: Dann ist es Sünde!
Warum ist diese Sichtweise problematisch? Drei Aspekte führe ich hier an:
1. Es ist eine zu enge Sichtweise: Die Sünde wird nur als Absonderung von Gott, als Abweichung von Gottes Willen verstanden. Die anderen Absonderungen werden übersehen und damit in ihrem Eigenwert geleugnet: Die Absonderung vom Mitmenschen, die Absonderung von mir selbst (Entfremdung), die Absonderung von der Natur. Die Absonderungen vom Mitmenschen, von sich selbst und von der Natur können nicht unverzerrt aus dieser Engführung in den Blick genommen werden, insbesondere wenn man Sünde als Übertretung göttlicher Gesetze sieht. Diese Engführung ist somit eine „Meta-Sünde“: Damit meine ich, dass diese besondere Rede über Sünde, dieses spezielle „Sprachspiel“ selbst verdunkelt und nicht förderlich ist. Ein Beispiel macht diese allgemeinen Aussagen deutlicher:
Jesus selbst hat die Engführung der Sünde als Absonderung von Gott indirekt immer wieder kritisiert, z. B. in Mk 2,23-3,6. Wenn es nur darum ginge, Gebote Gottes zu erfüllen, dann wäre der Mensch dafür da, die Sabbatgebote zu halten. Wenn aber Jesus sagt, der Sabbat ist für den Menschen da, dann geht es immer auch um meine Beziehung zu mir und zu meinen Mitmenschen. Wenn ich den Ruhetag nicht einhalte und immer durcharbeite, entfremde ich mich von mir selbst, werde zu einem Workaholic, und entfremde mich auch von meinen Mitmenschen. Deswegen hilft es mir selbst, meiner Beziehung zu mir selbst und zu meinem Mitmenschen, wenn ich den Ruhetag, den Sabbat halte. Wenn aber die Sabbatgebote nur als Gebote Gottes verstanden werden, die strikt einzuhalten sind, dann kommen diese Aspekte nicht in Sicht. Man erfüllt das Sabbatgebot, um Gott zu gefallen, um nicht gegen Gott zu sündigen, und verfehlt damit den Sinn der Empfehlung, einen Ruhetag zu halten.
2. Es fehlt der Aspekt der strukturellen Sünde. Besonders die Befreiungstheologie hat die Bedeutung der strukturellen Sünde herausgearbeitet. Menschen werden in ganz unterschiedliche Strukturen, Milieus, Gesellschaften hineingeboren. Ich denke mir manchmal: Was wäre aus mir geworden, wenn ich in eine Mafia-Familie hineingeboren wäre?
3. Diese Definition reflektiert sich nicht selbst kritisch. Es fehlt also das Bewusstsein einer „Meta-Sünde“: Dass das Sprachspiel X über die Sünde selbst Sünde sein kann, nämlich auf einer Meta-Ebene, weil sie selbst zu wenig lebensförderliche Wirkungen und zu viel lebenszerstörende Wirkungen aufzeigt.
Man könnte ja nun meinen oder hoffen, dass über 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil, im 21. Jahrhundert dieser Sündenbegriff nicht mehr gelehrt wird, dass er überwunden ist. Aber dem ist nicht so. Dafür will ich einerseits die Messgebete im Messbuch und andererseits Liedtexte aus der Lobpreis-Szene als Beleg anführen.
In den Tagesgebeten, Gabengebeten und Schlussgebeten im Messbuch kommen immer wieder folgende Gedanken vor:
Man muss die Gebote Gottes befolgen, ihm gehorchen.
Damit man in der Ewigkeit in den Himmel kommt.
Sünde macht unrein.
Es dominiert eine Wenn-dann-Logik; Gottes Gnade ist nicht bedingungslos, grenzenlos.
Grundlegend ist hier eine Wenn-dann-Logik, die am treffendsten in Kindersprache ausgedrückt wird: Papa und Mama haben mich lieb, wenn ich brav bin. Impliziert: Und wenn ich nicht brav bin, haben sie mich weniger lieb bzw. haben sie mich nicht mehr lieb. Oder im Kontext der Leistungsgesellschaft lautet diese Logik: Du bist für uns wertvoll, wenn Du etwas leistest. In der Messbuch-Sprache auf Gott bezogen lautet es dann so: „Erneuere deine Gnade in uns, damit wir dir gefallen.“4
Man kann die Wenn-Dann-Logik auch mit der Unterscheidung rein/unrein verbinden und auf den Sakramentenempfang beziehen, so dass eine völlig umgedrehte Ordnung als die von Jesus beabsichtigte dabei herauskommt: „Reinige uns durch deine Gnade, damit wir fähig werden, das Sakrament deiner großen Liebe zu empfangen.“5 Oder: „Barmherziger Gott, schau gütig auf die Gaben deines Volkes und sende uns den Heiligen Geist. Er reinige unsere Herzen, damit dir gefallen kann, was wir darbringen.“6 Jesus hat sich beim Zöllner Zachäus eingeladen, ohne dass er eine Bedingung gesetzt hat. Jesus hat nicht gesagt: Gebe dein zu viel angehäuftes Geld zurück, erst dann besuche ich dich. Jesus hat sich einfach beim Zöllner eingeladen. Er hat mit der Frau am Jakobsbrunnen gesprochen, ohne sie aufzufordern, sie solle sich erst einmal rein machen. Als er mit dem Zöllner Matthäus und seinen Freunden aß und die Pharisäer Anstoß nahmen („Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?“), sagte er: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ Mt 9,12 Wenn die Begegnung mit Jesus im Sakrament mich aufbaut, warum soll ich mich also vorher „rein“ machen? Ich darf doch zu Jesus kommen mit all meinen Seiten, auch meinen Ecken, Kanten und Abgründen!
Auch wenn nicht explizit in den Gebeten der Begriff Hölle oder ewige Verdammnis genannt wird, so wird doch auch in Bezug auf die Ewigkeit eine Wenn-dann-Logik angewendet, wie zum Beispiel in folgendem Satz: „Gib uns die Gnade, dass auch wir deinem Willen gehorchen und einst in Herrlichkeit auferstehen.“7 Und wenn ich nicht dem göttlichen Willen gehorche? Werde ich dann nicht in Herrlichkeit auferstehen? Komme ich dann in die Hölle? Das wird nicht direkt angesprochen, kann aber leicht beim Zuhörenden mitschwingen. Und wie passt das zum Gleichnis vom barmherzigen Vater oder vom Hirten, der dem entlaufenen Schaf nachläuft? Der verlorene Sohn hat nicht gehorcht. Das Schaf hat sich verirrt und musste irgendwo gefunden werden…
Aber nicht nur im katholischen Messbuch ist die enge traditionelle Sündenvorstellung lebendig, auch in Liedern aus der Lobpreisszene, Liedern aus den Freikirchen. Der Hintergrund ist zwar eine etwas andere Theologie, aber auch diese bewirkt bei mir „Störgefühle“. Ich werde nach den Texten ausführen, warum ich bei Passagen irritiert bin. Jetzt erst einmal Ausschnitte aus den zwei Beispielen:
Der Löwe und das Lamm ist ein modernes christliches Lied. In diesem Lied geht es um Jesus, der auf der einen Seite der mächtige Löwe ist und auf der anderen Seite das Lamm, das geschlachtet wurde. Er musste als Lamm für unsere Schuld sterben, hat den Kampf gegen den Teufel aber als mächtiger Löwe gewonnen.
Vers 1: Wenn Jesus wiederkommt, beugt sich alle Welt vor ihm.
Ketten brechen, wenn zerbrochne Herzen ihn verehrn.
Denn wer kann unsern Gott aufhalten?
Chorus: Denn er ist der Löwe, der Löwe von Juda.
Sein Brüllen ist mächtig, er kämpft unsre Kämpfe.
Und jeder wird sich vor ihm beugen.
Denn er ist das Lamm, geschlachtet für uns,
für die Sünden der Welt, und sein Blut befreit.
Und jeder wird sich beugen
vor dem Löwen und dem Lamm.
Jeder wird sich vor ihm beugen.
Vers 2: Kommt, öffnet ihm das Tor
und bahnt den Weg dem Herrn der Herrn.
Der Gott, der uns erlöst,
ist hier und setzt Gefangne frei.
Denn wer kann unsern Gott aufhalten?
Das andere Lied hat den Titel „Mutig komm ich vor den Thron“ und wird vollständig zitiert
V1: Allein durch Gnade steh ich hier
vor Deinem Thron, mein Gott, bei Dir.
Der mich erlöst hat, lädt mich ein,
ganz nah an seinem Herzen zu sein.
Durchbohrte Hände halten mich.
Ich darf bei Dir sein ewiglich.
V2: Will mich mein Herz erneut verdamm'n,
und Satan flößt mir Zweifel ein,
hör ich die Stimme meines Herrn,
die Furcht muss fliehen, denn ich bin sein.
Oh preist den Herrn, der für mich kämpft,
und meine Seele ewig schützt.
Chorus: Mutig komm ich vor den Thron,
freigesprochen durch den Sohn.
Dein Blut macht mich rein,
Du nennst mich ganz Dein,
in Deinen Armen darf ich sein.
V3: Sieht doch wie herrlich Jesus ist,
der alle Schönheit übertrifft.
Die Liebe in Person ist hier,
gerecht und treu steht er zu mir.
All unser Lob reicht niemals aus,
ihn so zu ehrn, wie's ihm gebührt.
V4: Das ist der Grund, warum wir feiern,
wir sind befreit, er trug das Urteil.
Preist den Herrn, preist den Herrn,
er hat für meine Schuld bezahlt.
Beide Lieder zeigen eine große Problematik auf, wenn man beginnt, den traditionellen Sündenbegriff kritisch zu reflektieren. Denn dieses traditionelle Sündenverständnis ist eng verwoben mit traditionellen Theologien, die wiederum das Vokabular aus dem Neuen Testament benutzen. Deswegen müssen wir im Verlauf des Buches auch die Theologien im Neuen Testament selbst kritisch reflektieren, z. B. die Theologie in den Paulusbriefen usw.
An dieser Stelle möchte ich nur die Theologie, die ich hinter diesen beiden Liedern sehe, skizzieren.
Ich besuchte einmal einen freikirchlichen Gottesdienst für Jugendliche und der Prediger hat diese Theologie kompakt und einfach so dargestellt: Die Sünde hat seit Adam einen Graben zwischen Gott und Menschen geschaffen. Durch die Sünden der Menschen besteht der Graben weiterhin. Das Kreuz ist die Brücke, die diesen Graben überbrückt. So ist Jesus einerseits unser Held, der wie „Superman“, wie ein Löwe gegen das Böse kämpft. Andererseits ist er das Lamm, das als Sühne für unsere Sünden (anstelle des alttestamentarischen Opferlamms) geopfert wird.
Hier schwingt die augustinische Erbsündenlehre mit: Wir sind durch die Sünde von Adam von Natur aus böse, und nur die Gnade von außen macht uns gut. Viele andere Theologen, ob Thomas von Aquin, Hugo von St. Viktor, Erasmus von Rotterdam oder Karl Rahner sahen das anders. Die Sünde hat für sie den guten Kern nicht zerstört, sondern nur verdunkelt, den Zugang dazu erschwert. Unterirdisch zieht sich durch die ganze Geschichte der Christen dieser „anthropologische“ Streit: Ist der Mensch durch die Sünde in seiner Wurzel verdorben und böse, oder ist der gute Kern verdeckt? Erasmus sagte, die Seele ist krank; Luther dagegen, die Seele ist tot. Für Luther kann ohne Gnade der Mensch nur sündigen, die „Freiheit“ gibt es eigentlich nicht. Erasmus kritisiert diese Sichtweise: „Wenn man sagt, es gebe so wenig ein Verdienst des Menschen, dass alle Werke desselben Sünde seien, wenn man sagt, unser Wille könne nicht mehr leisten als der Ton in der Hand des Töpfers, und wenn man alles, was wir tun oder wollen, auf unbedingte Notwendigkeit zurückführt, dann stoße ich auf viele Bedenken.“
Positiv theologisch ausgedrückt vertrete ich mit vielen anderen die Position: Zu jeder Zeit wirkte und wirkt der Heilige Geist in den Seelen aller Menschen, trotz der Sünde. Im einen kann er mehr bewirken, im anderen weniger, im dritten fast gar nichts. Das ist das positive Menschenbild, dem ich in diesem Buch nachfolge, und nicht das negative Menschenbild von Augustinus, Martin Luther oder Karl Barth.
Diese augustinisch-lutherische Theologie ist der dunkle Hintergrund dieser freudig hellen Lobpreislieder. Auf den ersten Blick erscheinen sie vielleicht vielen als erfrischend und aufbauend, als Vertrauen stärkend. Aber es scheint klar, dass in mir nichts Gutes ist: „Allein durch Gnade steh ich hier“, alles Gute kommt von Jesus Christus, der meine Schuld bezahlt hat.
Gibt es alternative Vorstellungen zum engen Sündenbegriff der Tradition? Ja, sogar im Messbuch kann man andere Vorstellungen von Sünde finden: Sünde z. B. als Verstrickung oder als Verwirrung oder als Anhänglichkeit. Diesen Spuren werden wir später nachgehen. Hier nur Beispiele: „Gott, du bist unser Ziel, du zeigst den Irrenden das Licht der Wahrheit und führst sie auf den rechten Weg zurück. Gib allen, die sich Christen nennen, die Kraft, zu meiden, was diesen Namen widerspricht, und zu tun, was unserem Glauben entspricht.“8 Bei diesem Gebet habe ich keine „Störgefühle“, das würde ich auch im Gemeindegottesdienst unverändert so beten. Irrende gibt es wahrlich viele heutzutage: Durch irrige Vorstellungen und Glaubenssätze, durch Irrlehren im Internet, durch Irrfahrten verschiedener Süchte…
"Löse uns durch diese Feier aus aller Verstrickung, damit wir in freier Hingabe ganz dir angehören.“9 Natürlich erleben wir Verstrickungen, sowohl innerpsychisch, Gewohnheiten, Süchte, aber auch gesellschaftliche Verstrickungen, zwischenmenschliche Verstrickungen usw.
Und ein Alkoholiker z. B. kann sicherlich bei dem folgenden Satz inbrünstig mitbeten: „Befreie uns von der alten Anhänglichkeit an das Böse und lass das neue Leben der Gnade in uns wachsen."10 Im Einschub des Priesters im Vaterunser steht der Satz: „Und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde“ Das gibt uns den Impuls zu fragen, wie sich das traditionelle enge Verständnis von Sünde verändert, wenn wir Sünde z. B. als Verwirrung versuchen zu verstehen…
Worte haben Wirkungen! Sie lassen Assoziationen, Bilder, Geschichten, Weltmodelle lebendig werden, explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst. Wer bei Steuern von „Steuerlast“ redet, bewirkt etwas ganz anderes bei den Zuhörenden als der, der vom „Beitrag zum Gemeinwohl“ spricht.
Was kann der Begriff „Sünde“ auslösen? Das ist natürlich bei jedem Menschen unterschiedlich. Trotzdem ist offensichtlich, dass der Begriff mit einem Jahrtausend alten Lastenpacket beladen ist. Einige erste tastende Versuche, wie der Begriff wirken kann:
Unreinheit: Ich muss von der Sünde reingewaschen werden. Sünde ist was Schmutziges. So schreibt die vorkonziliare Dogmatik: „Der Sünder befindet sich Gott gegenüber im Zustand der Schuld und im Zustand der Strafwürdigkeit. Die Sündenschuld wird auch als ein der Seele anhaftender Makel bezeichnet.“11 Die Wirkung kann sein: Ich fühle mich befleckt, schmutzig. Ich schäme mich. Die Wirkung kann sogar sein: Ich habe den Eindruck, ich bin in meiner innersten Natur falsch. Das kann zu Selbsthass führen.
Nur die Beziehung zu Gott wird betrachtet. Das ist eine problematische Engführung. Denn dann fehlen die Fragen: Sondere ich mich von mir selbst ab? Entfremdung… Sondere ich mich von der Schöpfung, der Natur ob? Ausbeutung… Sondere ich mich von meinen Mitmenschen ab? Hass, Neid usw.…
Gerade die erste Frage „Sondere ich mich von mir selbst ab?“ relativiert eine falsche verkrampfte Konzentration auf die Gottesbeziehung. Jesus lädt uns zur Selbstliebe indirekt ein, wenn er sagt: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Ein Ruhetag hilft mir, einer Selbstentfremdung entgegenzuwirken. Aber wenn ich den Sabbat halte, nur um das Gebot Gottes einzuhalten, bleibe ich verkrampft. Das kann dann dazu führen, dass man wie Luther sich nur ängstlich fragt: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Das kann sogar zu Krankheiten führen wie Depression oder zwanghaftes Verhalten.
Nun könnte man einwenden, dass doch immer im Christentum auch die Nächstenliebe gelehrt wurde. Es wurde doch nie allein die Beziehung zu Gott betrachtet. Aber dieser Einwand reflektiert noch nicht das Verhältnis beider Liebesgebote. Liebe ich meinen Nächsten, weil ich dadurch das Gebot Gottes erfülle und in den Himmel komme? Oder liebe ich meinen Nächsten, weil sie/er ein Mensch ist mit ähnlichen Bedürfnissen, ein Geschöpf Gottes? Franz Jalics hat in seinen „Kontemplativen Exerzitien“ immer betont: In der Liebe zu Gott können wir uns leicht etwas einbilden. Aber unsere Mitmenschen zeigen uns deutlich, ob wir in der Nächstenliebe wirklich gewachsen sind. Da aber nach dem Johannesbrief beide Beziehungslinien nicht getrennt betrachtet werden können, zeigt mir die Nächstenliebe, wie weit ich in der Gottesliebe bin.
Ich fühle mich falsch. Wenn ich mich in meiner Natur falsch fühle, dann weiß ich nicht, wie ich da rauskomme. Ich muss ganz auf einen Heiland vertrauen, der mir von außen die Gnade schenkt.
Wenn die Regel nicht begründet wird. JedeR in leitender Position weiß, dass Mitarbeitende mit größerer Motivation etwas ausführen, wenn sie wissen, warum es gemacht werden soll. Wenn aber Sünde als Regelverstoß gegen göttliche Gebote definiert werden, die gelten, weil Gott es so sagt, dann hat man noch keinen Grund angegeben, warum das lebensdienlich sein soll. Die Regeln sind vielleicht gar nicht lebensdienlich… Und man fühlt sich nicht ernst genommen. Soll man nicht nach Kant sich seines eigenen Verstandes bedienen?!
Ich fühle mich ausgeschlossen Wie oft fühlen sich evangelische Christen ausgeschlossen, wenn in Gottesdiensten wie z. B. am Weltjugendtag in Köln kurz vor der Kommunion der Hinweis gegeben wird, dass nur katholische Christen, die an die Eucharistie ernsthaft glauben, die Kommunion empfangen dürfen.
Komme ich in die Hölle? Leider schon im Johannesevangelium finden wir Wenn-dann-Sätze. Eigentlich ist das Bildwort vom Weinstock und den Rebzweigen wunderbar. Der Text aber trübt dieses aufbauende Bild. Der Vater schneidet die Reben ab, die keine Frucht bringen. Was ist, wenn ich keine Frucht bringe? Das macht Leistungsdruck und baut Angst auf. Oder: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr meine Gebote achtet. Und wenn ich die Gebote nicht achte, bin ich nicht mehr Jesu Freund? Komme ich dann in die Hölle? Durch solche Formulierungen hat Johannes das Tröstliche des Bildwortes wieder abgeschwächt. (Aus der Forschung wissen wir, dass die johanneische Gemeinde frustriert war, weil einige, evtl. auch reiche Mitglieder die Gemeinde verlassen haben. Aber es ist trotzdem problematisch, wenn man seine Frusterfahrungen verallgemeinert. Die irritierende Wirkung auf unbedarfte LeserInnen bleibt.)
Schuldbekenntnis bei jeder Messe Eine Frau, deren Mutter durch narzisstische Persönlichkeitsstörung angetrieben ihre Kinder für alles, was ihr gegen den Strich ging, die Schuld gab, ihre Kinder mit Liebesentzug und Schlägen strafte, erzählte mir, dass sie das Schuldbekenntnis als beklemmend empfindet. Wenn die eigene Mutter den Kindern immer an allem die Schuld gegeben hatte, entsteht ein innerer Teil, der in verzerrter Sichtweise immer Schuld bei sich sucht. Dieser Teil und seine verzerrte Sichtweise werden durch das Schuldbekenntnis aktiviert. Sie erzählte mir, dass sie einige Tage in einem Benediktinerorden übernachtete und in den ersten Tagen zur Frühmesse ging. Als sie merkte, dass dort in jedem Gottesdienst das Schuldbekenntnis gesprochen wurde, entschied sie – zum Glück so aktiv fürsorgend für sich selbst –, in den nächsten Tagen nicht mehr zur Messe zu gehen.
Natürlich verletzen, vernachlässigen oder missachten wir immer wieder andere Menschen. Wir machen Wertvolles kaputt und sind verantwortlich für unsere Taten. Deswegen kann das Schulbekenntnis auch erleichternde Wirkung haben, aber nicht immer. Ein Zelebrant hat immer unterschiedliche Menschen vor sich und kann nie genau wissen, ob seine Worte stärkend oder verwirrend oder sogar destruktiv wirken. Aber – und das ist der entscheidende Punkt – wenn man als Zelebrant bei jedem Gottesdienst ein ausführliches Schuldbekenntnis spricht, dann entsteht eine Schieflage. Wir müssen uns nicht bei jeder Messe zuerst als Sünder, unreiner Schuldner zerknirscht vor Gott stellen. Diese Schieflage zieht sich weiter im klassischen Verlauf der Messe durch:
Beim Friedensgruß: „Der Herr hat zu seinen Aposteln gesagt: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Darum bitten wir: Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden.“ Dieser Text suggeriert doch, dass Jesus Christus uns im ersten spontanen Akt kritisch analysiert, wo wir Sünden haben – wie der kritische Blick der Eltern, die sehen, dass die Wohnung unaufgeräumt ist oder ein Fleck auf dem Hemd ist. Und dann bitten wir Jesus nicht, dass er vielleicht auf unsere Charismen schaut, die der Heilige Geist und geschenkt hat. Nein, er soll auf die Kirche und ihren Glauben schauen. Am Einzelnen ist nichts Gutes zu finden… Ich habe als Priester diesen Text nie so in der Messe gesprochen.
Beim Vaterunser: Anstatt einfach den Text von Jesus unkommentiert zu übernehmen, weitet man dieses schöne Gebet mit folgenden Worten aus, dem sogenannten Embolismus: „Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten.“ Auch diesen Text habe ich als Priester in der Messe immer weggelassen, weil es das Sündenthema im Vaterunser mit der Wucht eines Einschubs überbetont.
Natürlich muss man nicht und soll man auch nicht alles über Bord werfen. Einige kritische Gläubige fragten mich, als ich neu in einer Pfarrei anfing, warum ich immer noch beten lasse: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Dieses Gebet vor dem Austeilen der Kommunion ist etwas abgewandelt das Wort des Hauptmanns von Kafarnaum an Jesus, als er ihn bittet, seinen Diener zu heilen. Diese kritischen Christen hörten darin, dass man sich als armer, zerknirschter Sünder vor Gott stellen solle. Ich erwiderte, dass dieser Text erstens ein abgewandelter Bibeltext ist und nicht wie z. B. der Einschub beim Vaterunser unbiblischen Ursprungs. Zweitens lese ich diesen Text eher als eine Einladung in eine innere Haltung zu kommen, die Ignatius in seinen Exerzitien so beschreibt: Betrachte den Abstand zwischen Dir, als Mensch, und den unendlich großen unbegreiflichen Gott. In dieser Betrachtung spielt Sünde überhaupt keine Rolle. Das akzeptierten sie und Monate später sagten sie, sie hätten sich mit meiner Erklärung nun mit diesem Gebet in der Messe angefreundet.
Um der Frage, wie der alte Sündenbegriff auf Menschen wirken kann, noch vertiefter nachzugehen, machen wir ein Gedankenexperiment. Welche Wirkung könnte der Weltkatechismus auf einen Jugendlichen haben? Der Weltkatechismus ist der offizielle Katechismus der katholischen Kirche. Also leisten wir uns einige Streifzüge durch den Katechismus der katholischen Kirche mit der Frage: Wie wirkt er auf unbedarfte LeserInnen?
Mein Fazit gleich vorweg: Es ist ein Mischmasch-Text mit viel Potential zur Irritation. Es ist traditionelle Theologie vor dem II. Vatikanum mit Konzilstheologie gemischt. Gerade dieses Gemisch birgt viel Potential zur Verwirrung. Warum gerade dieser Mischmasch ein Problem ist, zeigt uns eine Einsicht des Philosophen Tugendhat.
Der Philosoph Ernst Tugendhat führt in seinem Vortrag „Das Problem einer autonomen Moral“ aus, dass wir uns heute in einer moralischen Desorientierung befinden, weil wir in einem unklaren Mischmasch von heteronomen und autonomen Begründungen von Moral verfangen sind. "Diese Desorientierung gründet darin, dass die Moral früher, in unserer wie in anderen Kulturen, stets religiös oder durch das Herkommen begründet war und eine solche Begründung heute nicht mehr überzeugt. Frühere Moralen waren in einer Autorität begründet, an die geglaubt werden musste, die Autorität eines Gottes oder Herkommens oder beiden. Sie waren also heteronom, nicht autonom, sie gründeten in einem Glauben und einem Gehorsam, nicht im eigenen Einsehen und Wollen. Die heutige Desorientierung ergibt sich dadurch, dass auf der einen Seite eine heteronome Moral nicht mehr überzeugen kann und man sich auf der anderen auf eine autonome Moralbegründung nicht geeinigt hat. Das heutige Moralbewusstsein bewegt sich also zwischen einer religiösen und einer aufgeklärten Moralvorstellung, es besteht in einem Gemisch von Faktoren verschiedener Provenienz.“12
Der Weltkatechismus sucht nicht aktiv nach einer modernen autonomen Begründung der katholischen Moral. Diesen Weg versuchte eher der Holländische Erwachsenenkatechismus zu gehen. Der Katechismus des Vatikans dagegen sollte vielmehr – aus der Sicht des Vatikans – die unkontrollierten Irrwege moderner Theologien begrenzen und einhegen. Aber natürlich musste das II. Vatikanische Konzil als Lehre der Kirche eingebaut werden. So entstand ein problematisches Gemisch.
Zum Beispiel habe ich im Studium gelernt, dass das II. Vatikanum den Satz „Außerhalb der Kirche kein Heil“ gestrichen hatte. Die Kirche streicht natürlich in offiziellen Dokumenten einen solchen Satz nicht so, dass sie explizit schreibt: „Wir streichen diesen Satz.“ Aber die ganze Konzilstheologie funktioniert nur, wenn dieser Satz gestrichen ist. Trotzdem steht dieser Satz immer noch im Weltkatechismus und wird in einem Unterkapitel ausgeführt. Unbedarfte LeserInnen fragen sich, ob dann die muslimische Freundin oder der atheistische Kumpel in den Himmel kommen kann. Der Katechismus versucht mit einer Formulierung, die Formel positiv zu wenden: „Wie ist diese von den Kirchenvätern wiederholte Aussage zu verstehen? Positiv formuliert, besagt sie, dass alles heil durch die Kirche, die sein Leib ist, von Christus dem Haupt herkommt. Diese Feststellung bezieht sich nicht auf solche, die ohne ihre Schuld Christus und seine Kirche nicht kennen.“13 Aber wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, kann man es schwer wieder herausholen.
Ein weiteres Beispiel ist folgender Satz: „In Todsünde sterben, ohne diese bereut zu haben und ohne die barmherzige Liebe Gottes anzunehmen, bedeutet, durch eigenen freien Entschluss für immer von ihm getrennt zu bleiben. Diesen Zustand der endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen nennt man „Hölle".“14
Hier haben wir leider nicht einmal Gemisch, sondern die alte Lehre wird unkommentiert und unreflektiert weiter gelehrt. Die Unterscheidung von Todsünde und lässlicher Sünde führt bei den Lesenden zur Angst, ob man in die Hölle kommen könne.
Weiterhin enthält der Weltkatechismus transzendente Ursachen-Wirkungs-Vorstellungen:
1. Der Teufel ist ein gefallener Engel, der aus der Transzendenz das Böse und die Sünde bewirkt.
2. Die Ursünde, aus der die Erbsünde kommt, ist in „transzendent, mythische“ Urzeiten versetzt, jenseits menschlicher Geschichte.
3. Die Hölle ist der jenseitig transzendente Ort, der uns mit Angst motivieren soll, gut zu sein.
Diese Vorstellungen werden wir im nächsten Kapitel ausführlicher kritisieren. Das Einführungsbuch „Moraltheologie kompakt“ ist sich im Gegensatz zum Weltkatechismus bewusst, dass Sünde und Schuld problematische Begriffe sind. „Der Moraltheologie ureigen, aber aufgrund starker Fixierungen auf Schuldtatbestände in der Vergangenheit überzogen, ist das Thema Schuld und Sünde in unterschiedlicher Weise vorbelastet und ein gewisser Grad an Fremdheit für die heutigen LeserInnen ist zu konstatieren."15 Aber zwei Seiten später werden einfach nur die alten Unterscheidungen zwischen Todsünden und lässlichen Sünden unhinterfragt eingeführt.
Nach diesem kurzen Streifzug, die zusammenfassende Frage. Was kann die Lektüre dieser Texte eventuell bewirken? Ein scharfer innerer Richter kann Angst, Ohnmachtsgefühle hervorrufen. Wir können alle beim jungen Luther studieren, dass diese Lehren einen Menschen in eine ohnmächtige Zwickmühle führen kann, in der er sich selbst mit Vorwürfen und Skrupeln kasteit. Diese Lehren können auch von einem Lehrenden benutzt werden, um spirituellen Missbrauch beim Lernenden auszuüben, der dann auch in Machtmissbrauch und/oder sexuellen Missbrauch münden kann.
Viele Priester in der Verkündigung vor Ort predigen nicht mehr einschüchternd über Hölle und Todsünde. Die Botschaft „Gott liebt Dich!“ steht im Vordergrund. Aber es reicht nicht, die problematischen Vorstellungen unter den Tisch fallen zu lassen. Meine Erfahrung nach über 25 Jahren in der Seelsorge zeigen mir, dass wir aktiver in Predigten, Vorträgen und in Einzelgesprächen die alten problematischen Vorstellungen kritisieren müssen und adäquatere Vorstellungen als Alternative aufzeigen müssen. Nur eine seichte „Gott liebt Dich!“- Verkündigung ohne kritische Auseinandersetzung führt zu einer geistigen Leere und Desorientierung, die Tugendhat allgemein beschrieben hat.
Dieses Buch möchte einen Beitrag für diese Auseinandersetzung und für die Suche nach modernen adäquateren Alternativen leisten.
Zum Schluss eine zusammenfassende Betrachtung:
Was ist das Schlimmste für ein Kind? Aus der Familie ausgeschlossen zu werden. In der Wildnis kann ein Kind nicht allein überleben. (Auch ein Kind in der Großstadt kann allein nicht überleben. Das ist schon für obdachlose Erwachsene eine brutale Herausforderung.)
Als der verlorene Sohn die Schweine hütet und hungert, geht er davon aus, dass er höchstens als Tagelöhner beim Vater arbeiten kann. Er ist sich gewiss, dass er ausgestoßen ist, nicht mehr Sohn sich nennen darf.
Bis dahin stimmt alles mit der Definition von Sünde, die man in vorkonziliaren Dogmatiken findet, überein: Der Sohn ist freiwillig abgewichen, hat sich vom Vater abgesondert, ist schuldig, hat das Geld des Vaters verschleudert und verdient Strafe. Die Strafe kann in der Logik des Sohnes nur Ausschluss sein.
Der barmherzige Vater aber freut sich, umarmt ihn und feiert ein Fest. Diese Wende kann man nun auf zwei Weisen verstehen. Entweder man bleibt in der Denklogik „Sünde“, oder man übersteigt diese Denklogik, dieses Sprachspiel bzw. „Denk-Rahmen“.
Wenn man in der Denklogik bleibt, dann ist Gott unendlich barmherzig und verzeiht uns unsere Sünden. Das können wir z. B. in der Beichte erfahren. Gott möchte auch, dass wir uns gegenseitig verzeihen. Das drückt das Gespräch mit dem anderen Sohn aus oder das Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner. Jesus lässt diese Barmherzigkeit ganz konkret z. B. dem Zöllner Zachäus zukommen.
Wir können aber auch vielleicht dieses Gleichnis so deuten, dass wir von Jesus eingeladen werden, unsere Denklogik „Sünde“ zu überschreiten. Das Faszinierende an Jesu Gleichnissen ist, dass sie Potential haben, vielfältig gedeutet zu werden, das Denken immer neu anzuregen. Dann wäre Jesu Botschaft mit diesem Gleichnis folgende: Eure Rede von „Sünde“ bewirkt, dass ihr Euch wie Kinder seht, die Angst haben, ausgeschlossen zu werden. Diese Angst vor dem Ausschluss verhindert, dass ihr erwachsen, selbstbewusst, vernünftig mit euch umgeht. Diese Angst bewirkt, dass ihr wie verschreckte und verängstigte Kinder lebt, die auch anfällig sind für Seelenfänger, die euch unterjochen und manipulieren.
Die erste Deutung ist die übliche und die naheliegendste. Aber die zweite Deutung ist auch möglich… Dann würde das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Vater uns einladen, die Denklogik „Sünde“ zu übersteigen.
Verbinde neun Punkte, die in drei Dreierreihen angeordnet sind, mit einem Stift, ohne den Stift abzusetzen. Jeder Punkt darf nur einmal „durchquert“ werden. Wenn man innerhalb der Fläche der neun Punkte bleibt, funktioniert es nicht. Man muss einige Linien länger ziehen, so dass sie über diese Fläche hinausreichen. Genauso lädt uns die zweite Deutung ein, über den Tellerrand zu schauen.
Jenseits des Tellerrands zeigt sich im Rückblick: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt uns vielleicht die tiefste seelische Erschütterung auf, die die Denklogik „Sünde“ bei Menschen bewirkt: Die panische, untergründige Angst eines Kindes oder unserer kindlichen Teile in uns, ausgestoßen zu werden und nicht überleben zu können. Dann lebt man zutiefst verunsichert …
Man sieht aus dem Blick der zweiten Deutung die Engführung auf eine Beziehungslinie, auf die Beziehung zu Gott: Es geht angeblich nur darum, die Beziehung zu Gott in Ordnung zu bringen. Dafür hat sich Christus „geopfert“ am Kreuz. Wenn ich aber wie Luther allein darauf fixiert bin, wie ich „einen gnädigen Gott“ bekomme, dann vernachlässige ich alle anderen Beziehungslinien: Meine Beziehung zu mir selbst, zur Natur, zu meinem Körper, zu meinen Mitmenschen. Diese Situation ist vergleichbar mit einem Kind, das mit Eltern zusammenlebt, die unberechenbar sind und dem Kind immer wieder sagen „Du bist böse!“ Das Kind muss ein Großteil seiner Energie, Aufmerksamkeit und Zeit dafür verwenden, um die Eltern gütig zu stimmen, weil es abhängig von ihnen ist. Diese Energie, Aufmerksamkeit und Zeit fehlt dann für die eigene Entwicklung! In dieser Logik ist der zweite Sohn noch gefangen. Der Vater will ihn aus diesem Denkrahmen befreien…
Wenn wir uns aus dem Denkrahmen des alten Sünden-Verständnisses befreien wollen, braucht es mehrere Korrekturen. Die erste Korrektur an dem traditionell engen Sündenbegriff wollen wir vornehmen, indem wir drei Transzendenz-Vorstellungen der traditionellen Theologie abschaffen:
Die Vorstellung, dass Gott „vom Himmel“, von der Transzendenz aus sein Wort offenbart und seine Gebote und Weisungen „rein“ in der Schrift niedergelegt sind. Diese Vorstellung hat das II. Vatikanum überwunden und damit ganz offiziell den Weg frei gemacht für einen aufklärerischen Umgang mit der Heiligen Schrift.
Die Vorstellung, dass es einen geschichtlichen Anfang mit Adam und Eva gab, durch deren Sündenfall die Erbsünde in die Welt kam. Diese Vorstellung des Augustinus müssen wir aus mehreren Gründen streichen: Weil sie historisch falsch ist und weil sie theologisch ein Desaster ist.
Die Vorstellung, dass es eine jenseitige, ewige Hölle gibt, in der Menschenseelen auf ewig Strafen erleiden werden. Natürlich wollen wir Gerechtigkeit und Heilung für die vielen Leidenden der Menschheitsgeschichte. Aber diese Höllen-vorstellung ist sowohl theologisch eine Sackgasse als auch für uns existentiell als Gläubige ungesund.
Das Theorie-Umfeld des alten engen Sündenbegriffs hat die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums hinsichtlich des Verständnisses von Offenbarung überwunden. Es war eine der zentralen Erfolge dieses Konzils, Ottavianis Entwurf, der vom traditionellen Denken ausging, abzulehnen und eine eigene neue Position zur Offenbarung zu erarbeiten.
Wenn wir die Entstehung der Offenbarungskonstitution in einem Theaterstück darstellen wollten, dann würde im ersten Akt der Höhepunkt ein riesiger Tumult sein. Einen Aufstand der Bischöfe müsste man zeigen, die empört den ersten Entwurf für die Offenbarungskonstitution ablehnen. Die theologische Kommission unter der Leitung von Kardinal Ottaviani legte ihren Entwurf vor. Ottaviani, der Leiter des heiligen Offiziums bzw. heutiger Name der Glaubenskongregation, hatte im Hinterkopf für das ganze Konzil folgenden Plan: die Kurie bereitet die Texte vor, die Bischöfe machen einige kleine Änderungen, und nach kurzer Zeit ist das Konzil beendet und wir können wie gehabt weitermachen.
Am 14.11.1962 merkte er, dass sein Plan nicht aufging: Die Bischöfe zerrissen in ihren Kommentaren das Schema in der Luft. Einige Kostproben: Bischof Lienart aus Frankreich: Der Stil ist frostig, in seinem ganzen Gedankengang ist der Entwurf für das Thema völlig unangemessen.
Kardinal Frings aus Köln: Das Schema, wenn ich offen sprechen darf, gefällt mir nicht. Es ist der Ton, der die Musik macht. Die gleiche Wahrheit kann so verkündet werden, dass die Menschen zu ihr hingezogen werden, und die gleiche Wahrheit so, dass sie von ihr abgeschreckt werden.
Kardinal Bea: Papst Johannes XXIII hat in seiner Eröffnungsansprache eine pastorale Zielsetzung für das Konzil gefordert. Das Schema entspricht dem nicht. Das Schema erreicht die modernen Menschen nicht. Es löst die Fragen um die moderne kritische Bibelauslegung nicht. Und es ist nicht ökumenisch tauglich. Ein neues Schema müsse kürzer, klar, eindeutiger, pastoraler und ökumenischer sein.
Kardinal Ottaviani wollte nicht zulassen, dass der komplette Entwurf abgelehnt würde. Er argumentierte: Wir haben ja keinen alternativen Text, über den wir beraten könnten. Da beauftragte Kardinal König Karl Rahner einen Alternativtext zu entwerfen. Quasi über Nacht entstand er und wurde vervielfältigt und unter den Bischöfen verteilt. Durch diesen Schachzug war Ottavianis Gesamtplan vereitelt.
Um jedoch auch ökumenisch voranzukommen, kam Papst Johannes XXIII auf eine Idee: Damit alle Konzilstexte die anderen christlichen Kirchen nicht verärgerten, vielmehr wohlwollend zum Dialog einladen, gründete er das Einheitssekretariat. Dieses sollte alle Texte auf die Ökumenetauglichkeit überprüfen.
Mit dem Einheitssekretariat hat Johannes XXIII ein Gegengewicht zum Heiligen Officium geschaffen. Dieses schaute auf die Übereinstimmung der Beschlüsse mit der Tradition, das andere auf die Akzeptanz der Beschlüsse bei anderen Christen.
Um das Schema der Offenbarung zu überarbeiten, gründete Johannes XXIII die gemischte Kommission, bestehend aus Mitgliedern der theologischen Kommission und des Einheitssekretariats. Jetzt waren die verschiedenen Positionen gezwungen, sich zusammenzuraufen.
Bis zur vierten und letzten Sitzungsperiode rangen die Bischöfe und Theologen, bis endlich die endgültige Fassung verabschiedet wurde.
Wenn wir verstehen wollen, warum die Offenbarungskonstitution ein echter Fortschritt in der Lehre der Kirche ist, dann ist es wertvoll, die wichtigsten Aussagen des Entwurfs von der theologischen Kommission zu wissen. Denn genau diese theologische Position wurde durch viele selbstbewusste Bischöfe im Konzil überwunden:
Etwas holzschnitzartig und überspitzt in 10 Sätzen steht im Entwurf folgendes: Wenn ich diese 10 Sätze nun vorlese, können Sie bei sich etwas nachsinnen und nachspüren. Wenn ich das so höre, was gefällt mir nicht, was entspricht nicht meinem Verständnis?
Gott gibt wahre Sätze. Das ist die Offenbarung.
Die Offenbarung besteht aus Sätzen, die unsere Vernunft teilweise übersteigen.
Insbesondere durch Jesus Christus wissen wir um diese Sätze.
Wunder beweisen, dass Jesus wahre Sätze von Gott offenbart und Gottes Sohn ist.
Jesus gibt die wahren Sätze an die Apostel weiter und gründet eine Stiftung: die Kirche.
Vollmacht, die Stiftung weiterzuführen, haben der Papst und unter ihm die Bischöfe.
Die wahren Sätze stehen einerseits in der Bibel. Die Autoren waren Werkzeuge des Hl. Geistes und schrieben auf, was dieser ihnen eingibt. Die Heilige Schrift ist komplett wahr und ohne Irrtum.
Andererseits gibt es auch wahre Sätze, die die Tradition weitergibt.
Das Lehramt verwaltet die Tradition und legt die Schrift aus und steht damit über der Hl. Schrift.
Die Gläubigen nehmen das alles im Gehorsam an und folgen den Geboten aus der Offenbarung, dargelegt durch das Lehramt.
Um den entscheidenden Unterschied zwischen Ottavianis Entwurf und der heutigen Konstitution zu verdeutlichen, möchte ich Sie kurz entführen in die Welt des „Fliegenden Klassenzimmers“ von Erich Kästner. Wir befinden uns in einem Jungeninternat. Der wichtigste Lehrer und Bezugspunkt für die Jungen ist ihr Hauslehrer „Justus“. Er ist ein Lehrer, der durch sein Vorbild die Jungen prägt. Er ist gerecht, gütig, barmherzig. Er lebt vor, was er sagt.
Der Hauslehrer hätte ja auch die Möglichkeit, einem neuen Schüler einfach die Hausordnung in die Hand zu drücken und zu sagen: Lese das durch, halte dich an alle Regeln, dann bist du ein braver Schüler und gehörst zu uns.
In Ottavianis Entwurf wird Gott so dargestellt, als ob er dem Menschen in Schrift und Tradition die Hausordnung für das Leben in der Welt in die Hand drückt und sagt: Das ist die Wahrheit! Halte dich daran!
In der verabschiedeten Konstitution über die göttliche Offenbarung hat Gott Ähnlichkeiten mit dem Hauslehrer „Justus“: Gott offenbart sich selbst. Der unsichtbare Gott redet mit den Menschen wie mit Freunden. In Jesus Christus offenbart sich Gott selbst: Was Jesus tut, passt zu dem, was er sagt, und umgekehrt, und Worte und Taten zeigen zusammen, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist. Auf dem Berg Tabor zeigt sich, dass Jesus Christus Sohn Gottes ist: Gott offenbart sich selbst.
Daraus folgt, dass es nicht zwei Quellen der Offenbarung, nämlich Schrift und Tradition, gibt sondern nur eine Offenbarung, nämlich Jesus Christus. Er ist der Maßstab für das Christentum.
Wie nimmt die Konstitution Stellung zu der modernen historisch-kritischen Bibelauslegung, zur Frage, ob die Heilige Schrift ohne Irrtum ist und wie sie inspiriert ist, und zuletzt zum protestantischen Prinzip: Sola scriptura, allein die Heilige Schrift ist Offenbarung und Maßstab?
Die heiligen Schriftsteller, wie z.B. die vier Evangelisten oder Paulus oder die Propheten im Alten Testament, sind keine willenlosen Sekretäre der eingeflüsterten Worte des Heiligen Geistes. Vielmehr durch ihre menschlichen Fähigkeiten hindurch wirkt der Heilige Geist. Er beseelt ihren Verstand und ihren Willen. Deswegen schreiben die Autoren der Heiligen Schrift auch im Kontext ihrer Zeit und können auch nur in diesem Kontext verstanden werden. Karl Rahner beschreibt in seinem Entwurf dieses Verständnis so: Die Schriften der Bibel sind zugleich göttlich als auch menschlich, so wie der Herr Jesus zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch ist, unvermischt und ungeteilt. Wenn die Autoren willenlose Sekretäre des Heiligen Geistes wären, wäre das Menschliche völlig im Göttlichen aufgelöst.
Und gibt es Irrtum in der Bibel? Irren ist doch menschlich! Kardinal König gibt in der Konzilsaula selbst ein Beispiel eines Irrtums in der Bibel: im Markus-Evangelium steht, dass König David zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar die heiligen Brote im Tempel gegessen hat, weil er Hunger hatte. Wenn man aber im 1. Buch Samuel nachliest, merkt man, dass der Hohepriester in Wirklichkeit Abimelech hieß. Markus hat sich also an den falschen Namen erinnert. Solche Irrtümer unterstreichen nur die Menschlichkeit unserer heiligen Autoren und trüben nicht die Wirksamkeit des Heiligen Geistes.