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Das Verhältnis von Körper und Geist wird oft nur in abgeschlossenen Philosophiezirkeln diskutiert. Aber die Polyvagal-Theorie des Mediziners Porges, die viele Traumatherapien beeinflusst hat, kann neue Impulse für das Verständnis von Körper und Geist bieten. Ebenso die neuroaffektive Entwicklungstheorie der Therapeuten Bentzen und Hart. Gesamtkonzepte wie die psychologische PSI-Theorie von Julius Kuhl oder die neurowissenschaftliche Theorie des Selbst von Antonio Damasio erscheinen im neuen Licht. Sowohl praktische Anwendungen in vielen Therapien werden durch diese grundlegenden Betrachtungen verständlich als auch die Kritik der Philosophen Dreyfus, Taylor und Deleuze an Descartes und Kant kann man besser verstehen. Das Werk stellt sich auch provozierenden Phänomenen wie den Nahtoderfahrungen oder den repräsentierenden Wahrnehmungen von Aufstellungen.
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Seitenzahl: 701
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Einführung
Wer sitzt zusammen?
Warum diese und nicht andere?
Fundgruben
Betrachtungsweisen
Warum sich mit diesen Theorien beschäftigen?
Dieses Buch lesen…
Die Polyvagal-Theorie
Einführung in die Polyvagal-Theorie mit Moses und Josef
Moses Jugend: Kampf und Flucht
Josef, der Traumatisierte und Versöhnende
Die Polyvagal-Theorie: Die drei Lebensmodi
Die herkömmliche Vorstellung und das Neue der Polyvagal-Theorie
Die drei Nervenbahnen und die drei Modi
Neurozeption, Hierarchie, Vagusbremse, Co-Regulation, Spielen
Drei Nervenbahnen und drei Gehirne
Das Ziel des ANS und was Säugetiere brauchen
Praktische bzw. seelsorgerische Bedeutung der Polyvagal-Theorie
Chronisches Defensivsystem bewirkt Wolfsverhalten
Schulsystem
Kommunikationswege
Neurozeption, Doppelbotschaften und Co-Regulation
Zuhören, Sprechen, Singen und die Prosodie
Reziprozität und Naikan
Wie Konservative liberal werden können
Traumatisierte
Interozeption, somatische Marker und Focusing
Übungen
Philosophische Überlegungen zur Polyvagal-Theorie
Adaptive Reaktion mit dem Ziel Sicherheit und Conatus
Moralische Entrüstung und was ein Körper vermag
Bidirektionalität und der eingebettete Geist
Synthese von Sicherheit und Verbindung angestrebt
Verkrampft sozial zugewandt
Die IFS-Therapie und die Polyvagal-Theorie
Modi nicht scharf getrennt behandeln
Moderne Wirtschaft mit der Polyvagal-Theorie betrachtet
Ist der Mensch gut oder böse? Mit der Polyvagal-Theorie betrachtet
Theologische Überlegungen zur Polyvagal-Theorie
Augustinus´ Erbsündenlehre
Predigt am Gründonnerstag: Jesus – das Lamm Gottes
Eine Pfingstpredigt zum sexuellen Missbrauch in der Kirche und zur Kirchenkrise
Cartesianischer Irrweg und Wiedergewinnung der Einbettung
Descartes – der Irrweg des modernen Subjekts beginnt
Descartes´ philosophische Herausforderung: Die Entwicklung der Philosophie im Spätmittelalter
Descartes´ Überwindung des Zweifels durch klare Trennung von Innen und Außen
Selbstgewissheit und Wahrheit
Reines Ich bei Descartes
Neues Verständnis von Spekulation: Ich übernimmt Gottes Aufgaben
Irrwege der Vermittlungstheorie
Vermittlungstheorie kompakt: Gehirn als Computer
Vermittlungstheorie kompakt bei John Locke
Wege zu einem neuen Denkrahmen
Kann man überhaupt anders denken?
Die Kontakttheorie – drei Zugänge
Leibniz und James: Von unbewussten zu bewussten Perzeptionen und Affekten
Die drei Gehirne der neuroaffektiven Entwicklungspsychologie
Übersicht über die neuroaffektive Entwicklung
Das Gehirn – wie meine Faust
Das Reptiliengehirn
Martha Nussbaum: „Königreich der Angst“ I. Teil:
Was bleibt uns vom Reptiliengehirn?
Das alte Säugetiergehirn oder das limbische System
Die Enneagrammlehre aufbauen, I. Teil
Kritik an anderen Erklärungen des Enneagramms
Das Primatengehirn oder der Neocortex
Martha Nussbaum: „Königreich der Angst“ II. Teil
Die Enneagrammlehre aufbauen, II. Teil
Übersicht über den zweiten Entwicklungsschub
Die vier sozialen Motivationsdimensionen und die Mentalisierung
Verkörperung, Symbolisierung, Mentalisierung
Focusing: Von Verkörperung über Symbolisierung zur Mentalisierung
Gute und schlechte Bedingungen der Reifung
Kants Lehre vom Schönen und Erhabenen
Ein Gleichnis über Kants Philosophie
Die Vermögen bei Kant
Das Schöne
Das Erhabene
Was zu denken anregt – diskordantes Zusammenspiel
Neuroaffektive Therapien
Theraplay für das limbische System
Diskordante Provokation in einer Multifamilientherapiesitzung
Aus der Erstarrung über Defensivreaktionen zur gesunden Funktionalität – Somatic Experiencing
Gedanken zur Ambivalenz des Menschen
Beispiel Scham
Melanie Klein: ambivalente Erfahrungen mit der Mutter
Waldenfels: Fremdheit des Anderen und Fremdheit in mir
Die Fremdheit des Anderen bei Deleuze
Störereignisse und die Fremdheit verdrängen oder bändigen wollen
Urvertauen und diskordantes Zusammenspiel der Vermögen
Kontakt wiederherstellen mit NARM
Gedanken zur Leiblichkeit des Menschen
Die PSI-Theorie
Einführung in die PSI-Theorie mit sieben biblischen Personen
König Saul, der Ängstliche
König David, der Spontane
Josua, der Planer
König Salomo, der Weise
Ruth und Noomi – von der Pflicht zur Freude und von der Klagenden zur weisheitlichen Ratgeberin
Moses Jugend und Berufung: Entdeckung des eigenen Selbst und der Gegenwart Gottes
Die PSI-Theorie
Lust und Unlust - Basisaffekte
Intuitive Verhaltenssteuerung (IVS)
Objekterkennungssystem (OES)
Intentionsgedächtnis (IG)
Extensionsgedächtnis (EG) und das Selbst
Modulationen: Wie wechsle ich die Systeme?
Wer dirigiert? Zentrale Stellung des Selbst
Auf die Zweitreaktion kommt es an
Die sieben Ebenen
Zusammenfassung der psychologischen Forschung und Stufen wachsender Freiheit
1. Ebene: Gewohnheiten
2. Ebene: Temperament bzw. Energie
3. Ebene: positive versus negative Affekte
4. Ebene: Bewältigungsformen – Progression versus Regression
5. Ebene: Motive – Bedürfnisse und Umsetzungsstile
6. Ebene: Höhere Kognition – Denken und Fühlen
7. Ebene: Selbststeuerung, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung
Ich und Selbst unterscheiden
Zwei Arten, die Freiheit zu verlieren
Einige Erkenntnisgewinne und praktische Folgerungen
PSI-Theorie und Daniel Siegels Tipps
GfK mit der PSI-Theorie betrachtet
Naikan und The Work mit der PSI-Theorie betrachten
Von OES zum EG – vom Mangelland zum Fülleland
Predigen – Spinoza und vier Systeme
Vier Krisenherde
Die Einbildungskraft in der PSI-Theorie
Vom EG und IG zum IVS – Ziele finden und sich motivieren
Das IVS bremsen
Diskordantes Zusammenspiel der Systeme
Verbindung von Polyvagal-Theorie, drei Gehirne und PSI-Theorie
Theologische und spirituelle Erkenntnisgewinne durch die PSI-Theorie
Weltbilder
Zwei Fronten
Verbindung Weltbild und Bild der menschlichen Psyche
Kleine und große Transzendenz
Einige Folgerungen
Kritik an spiritueller Egokritik mit der PSI-Theorie
Damasios Selbst-Theorie
Vorbemerkungen
Der Bogen der Evolutionsgeschichte und der Conatus aller Lebewesen
Der Lebenswille steht am Anfang
Damasio und Bergson
Homöostase, Conatus und Wert
Kontrolle und Korrektur im Dienst des Conatus
Körper und Geist
Von Karten, Bidirektionalität, dem Hirnstamm und dem Proto-Selbst
Karten
Als-ob-Karten
Der Hirnstamm ist notwendig für den Geist!
Bidirektionalität, Eingebettetsein und Kontakttheorie
Das Proto-Selbst
Emotionen und Gefühle
Damasios Definitionen
Wie fühlen wir eine Emotion?
Gefühle sind körperbezogen und entstehen subkortikal
Von Emotionen zu Gefühlen in 5 Schritten
Hintergrundemotionen
Soziale Emotionen
Zwei Wege der Gefühlentstehung
Somatische Marker
Ein bewusstes Selbst entsteht
Überblick über den Aufbau des Kern-Selbst
1. Durchgang: die Zutaten
2. Durchgang: der Protagonist einer Erzählung ersteht
3. Durchgang: das Kern-Selbst erleben
Das Kern-Selbst ist nicht sprachlich
Introspektion reicht nicht
Körperlich und räumlich
Gedächtnis und autobiographisches Selbst
Ein autobiographisches Selbst entsteht durch das Gedächtnis
Bottom up und top down der drei Selbste
Wie entsteht das Gedächtnis und wie erinnern wir uns?
Dispositionen und Karten
Zwei Räume und Konvergenz-Divergenz-Zonen
Die posteromedialen Rindenfelder als Superkoordinatoren
Koordinationsmechanismen bauen das autobiographische Selbst auf
Wie erfahre ich mein autobiographisches Selbst?
Peirce und Damasio
Mit Damasio und Kuhl Deleuze und Kant lesen
Mit Damasio und Kuhl „Differenz und Wiederholung“ von Deleuze lesen
Überschriften und Begriffe in „Differenz und Wiederholung“
Differenz und Wiederholung in der Evolution
Asymmetrische Synthese
Asymmetrische Synthese des Sinnlichen
Intensitäten erahnen
Lernen
1. Synthese der Zeit: Gewohnheiten. Kernselbst und Gegenwart
2. Synthese der Zeit: Gedächtnis
3. Synthese der Zeit: das Neue und die Wirkung
Ideelle Synthese
Mit Deleuze, Damasio und Kuhl Kants Philosophie erneuern
Kants Vermögenlehre
Kant will Rationalismus und Empirismus verbinden
Descartes versus Hume
Kant will Descartes und Hume verbinden
Kants Vermögenlehre aufbrechen mit Deleuze und PSI-Theorie
Wie Deleuze Kant aufgreift: „Ich ist ein Anderer“ – das gespaltene Ich interiorisieren
Der leidende und zerrissene Gott und der Riss im Ich
Deleuzes Überwindung des vermittelnden Bildes
Damasio und Kant. Eine verkörperte transzendentale Apperzeption?
Zusatz: Untersuchung des innere Sinns
Ein philosophisches Bild
Predigt: Demut und Körper
Nahtoderfahrungen, Christologie und Körper-Geist-Verhältnis
Herausforderung Nahtoderfahrungen
Die Nahtoderfahrung von Pamela Reynolds
Die zwei Naturen in der Christologie – eine Antwort auf die Herausforderung
Die zwei Wege: Christologie von unten und von oben
Deleuzes Logik der zwei divergenten Serien und die Emmausgeschichte
Zwei Wege beim Körper-Geist-Thema
Fragen und Konsequenzen aus den zwei Wegen des Körper-Geist-Verhältnisses
Dualismus oder Monismus?
Warum hat sich bei der Schöpfung eine Gabelung in Bewusstsein und Materie ereignet?
Verhältnis der beiden Wege?
Panpsychismus?
Warum so ausführlich den Körper-Geist-Weg von unten in diesem Buch?
Auferstehung des Leibes?
Zizeks Kritik an Neurowissenschaftler
Die Emmausgeschichte neu erzählt, das Tetralemma von Körper und Geist und das Licht Christi
Rätsel Aufstellungen
Was ist überhaupt eine Aufstellung?
Bezeichnung, Manifestation, Bedeutung und Sinn
Bemerkenswerte Phänomene bei Aufstellungen
Deleuzes „Logik des Sinns“ und Struktur-aufstellungen
Vielleicht die falschen Fragen
Focusing: Der Körper weiß mehr über Sinn und Ereignis
Strukturaufstellungen und Deleuzes Strukturphilosophie
Das transzendentale Feld muss intersubjektiv sein
Das Feld des Transzendentalen erkunden
Problem und Lösung bei Deleuze und bei der Strukturaufstellung
Gott suchen in allen Dingen und allen Ereignissen
Literatur und Anmerkungen
Gott ist Geist
Joh 4,24
Freilich, was der Körper vermag,
hat bisher noch niemand festgestellt
Spinoza „Ethik“
Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein
Tempel des Heiligen Geistes ist
1 Kor 6,19
Ein Mediziner, zwei Psychotherapeutinnen, ein Psychologe und ein Gehirnforscher sitzen zusammen und philosophieren über Körper und Geist… So könnte ein Witz beginnen, aber dieser Satz fasst gut den Inhalt dieses Buches zusammen.
Vier Wissenschaftler habe ich ausgewählt, die mit ihren Theorien auf verschiedene Weise das Zusammenspiel von Körper und Geist beleuchten:
Stephen W. Porges, Mediziner, entwickelte aufgrund seiner Forschungen die Polyvagal-Theorie.
Susan Hart und Marianne Bentzen, zwei Psychotherapeutinnen, entwickelten eine neuroaffektive Entwicklungstheorie.
Julius Kuhl, Psychologe, entwickelte die PSI-Theorie, Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen, aus der reichen Geschichte der psychologischen Forschung.
Antonio Damasio, Neurowissenschaftler, entwickelte seine Bewusstseinstheorie aufgrund seiner Gehirnforschungen.
Dreierlei hat sich durch das Zusammensitzen und ins Gespräch bringen dieser vier Theorien gezeigt:
1. Die vier Theorien ergänzen sich gegenseitig, korrigieren sich teilweise auch gegenseitig und zeigen insgesamt eine große Konvergenz auf. Gerade weil sie aus verschiedenen Blickrichtungen auf das Zusammenspiel von Körper und Geist blicken, ist die gegenseitige Ergänzung und auch Bestätigung ein bemerkenswertes Ergebnis!
2. Die vier Theorien bieten einen Verständnishintergrund für viele therapeutische und spirituelle Wege, wie z. B. GfK, Naikan, The Work, Focusing, Traumatherapien, IFS-Gespräche, lösungsorientiertes Arbeiten, Aufstellungen, kontemplative Exerzitien usw.
3. Die vier Theorien helfen, verschiedene philosophische Theorien neu zu verstehen, wissenschaftlich zu fundieren, mit verständlichen Beispielen zu verdeutlichen.
Und so komme ich zu meinen weiteren Gesprächspartner aus der Philosophie:
Charles Taylor und Hubert Dreyfus, die insbesondere Einsichten von Heidegger, Wittgenstein und Merleu-Ponty mitbringen.
Gilles Deleuze und sein Hauptwerk „Differenz und Wiederholung“. Er führt uns zu zwei weiteren Klassikern:
Immanuel Kant und seine „Kritik der reinen Vernunft“ und seine Analytik des Schönen und Erhabenen
Henri Bergson und sein Verständnis von Körper und Geist
Bernhard Waldenfels phänomenologische Betrachtungen zum Fremden in mir und beim anderen
Im letzten Teil werden noch weitere außergewöhnliche Gesprächsteilnehmer am Tisch Platz nehmen:
Die Provokation „Nahtoderfahrungen“
Die Christologie, die Lehre von den zwei Naturen Jesu Christi und das Konzil von Chalcedon
Auch Slavoj Zizek, der für uns einen wichtigen Gedankengang von Hegel und Lacan beisteuert.
Nahtoderfahrungen und Christologie werden das bisherige Gespräch vereint mit Zizek gehörig umherwirbeln und uns noch zu einer neue Wendung unserer Einsichten führen: Ist das Verhältnis von Körper und Geist eine göttliche Komödie? Zuletzt:
Repräsentierende Wahrnehmungen bei Aufstellungen
Gilles Deleuzes Werk „Logik des Sinns“
Und führt uns das seltsame Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmungen bei Aufstellungen zu einem „Feld“, das unsere Körper und Geister miteinander auf tieferer Ebene kommunizieren lässt und verbindet, als wir uns das gemeinhin vorstellen? Kann hier Deleuzes Werk „Logik des Sinns“ etwas weiterhelfen?
Die Gedankengänge wären andere, wenn ich andere „Gesprächspartner“ auserwählt hätte. Über Körper und Geist haben so viele unterschiedliche Wissenschaftler, Philosophen und spirituelle Lehrer geschrieben, dass die Auswahl sehr bedeutend ist. Also warum diese und nicht andere? Warum z. B. keine Philosophen, die sich explizit mit dem Leib-Seele-Dilemma beschäftigt haben, außer der fast vergessene Henri Bergson?
Einerseits hat die Auswahl auch mit Zufall zu tun: Welche Bücher fallen einem zu? Welche Autoren empfiehlt einem Amazon…?
Andererseits merkte ich, dass mich auch eine Intuition bei der Auswahl geleitet hat, die ich schwer exakt in Worte fassen kann:
Mich zogen Autoren an, die Schubladen verschwimmen lassen.
Es gibt Denker, die gerne ordnen: Sie stellen eine kleinere oder größere Anzahl von Schubladen bzw. Begriffen oder Kategorien auf und verteilen dann die Phänomene und Beispiele und versuchen die Ordnungsstruktur zwischen den Schubladen zu klären. (Zu solchen Denkern gehören für mich z. B.: viele analytische Philosophen, aber auch Ken Wilber, Johannes Heinrichs, verschiedene Theorien zur Entstehung des Enneagramms u.a.)
Und es gibt Denker, die Schubladen verschwimmen lassen, bei denen starre Ordnungen zu fließen beginnen. Oder noch anders ausgedrückt: Diese Denker zeigen, dass das Leben nur durch so ein Verfließen von Schubladen annähernd erfasst werden kann.
Auf verschiedene Weise versuchen alle vier Theorien, die ich hier behandle, fließende Interaktionen, Bidirektionalität zwischen Körper und Geist, zwischen Mensch und Welt, Mensch und Mitmensch usw. aufzuzeigen. Gleiches gilt für die modernen Philosophen, die ich aufgreife: Taylor/Dreyfus, Deleuze, Bergson und Zizek.
Kant ist insofern besonders interessant, weil man bei ihm zeigen kann, dass eine genaue Aufteilung der Schubladen die philosophischen Fragen nicht löst, und wie Kant selber in seinem Spätwerk „Kritik der Urteilskraft“ Ansätze hat, wie seine Schubladen zu fließen beginnen. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl war:
Die vier Theorien bauen aufeinander auf und ergänzen sich.
Die Polyvagal-Theorie bildet die unterste Basis: Sie beschreibt die Arbeit des autonomen Nervensystems.
Die neuroaffektive Entwicklungstheorie beschreibt, wie das Gehirn und die Psyche in der Entwicklung eines Kindes durch die Interaktionen mit Menschen wachsen und welche Entwicklungsschritte es gibt.
Die PSI-Theorie erstellt ein Gesamtmodell der menschlichen Psyche. Die Bewusstseinstheorie Damasios versucht neurowissenschaftlich nachzuvollziehen, wie Bewusstsein und ein Selbst entsteht und sich entfaltet.
In einer Fundgrube kann man vieles finden, was man brauchen kann. Sie kann aber auch eine Grube sein, die ein Fundament bietet.
In dieser Doppelbedeutung will ich dieses Buch „Körper und Geist“ und auch das Buch „Spinoza und Rosenberg“ verstehen:
Es ist einerseits eine Sammlung von verschiedenen Theorien, die man in der Selbstentfaltung und Reifung bzw. in der Seelsorge und Beratung brauchen kann.
Es ist andererseits eine Fundierung. Eine Fundgrube bietet das Fundament, auf dem man ein Haus bauen kann. So kann dieses Buch „Körper und Geist“ und auch das Buch „Spinoza und Rosenberg“ das Fundament für meine drei Exerzitienbücher: „Die Lichtflamme in Dir“ für kontemplative Exerzitien. „Exerzitien der Nächstenliebe“ und „Exerzitien der Selbstliebe“ sein:
Welche Psychologie und Philosophie von Körper und Geist ist das Fundament dieser Exerzitien? (Körper und Geist)
Welche Ethik und welches Menschenbild und Gottesbild ist das Fundament dieser Exerzitien? (Spinoza und Rosenberg)
Und es gibt noch eine dritte Bedeutung: Eine Grube kann ausgegraben werden. Archäologen legen bei Ausgrabungen Schichten frei. So legt dieses Buch auch psychische Schichten und verschiedene Zusammenhänge frei, die sonst verdeckt arbeiten und wirken.
All das kann man brauchen, um die eigene Freiheit entfalten zu können oder um andere zu begleiten, damit sie ihre eigene Freiheit
besser entfalten können: Einiges an fundiertem Wissen und einiges an Einsicht in die eigene Tiefenschichten, einige Werkzeuge bzw. Übungen.
Man kann das Verhältnis von Körper und Geist von außen betrachten oder von innen betrachten. Wenn ich z. B. Qigongübungen mache und in mich hinein spüre, betrachte ich mein Körper-Geist-Verhältnis von innen. Ich kann dann „phänomenologisch“ meine Erfahrungen beschreiben.
Ich kann aber auch naturwissenschaftlich, also mit Medizin, Gehirnphysiologie oder experimenteller Psychologie, das Verhältnis von Körper und Geist betrachten.
Mit den drei Büchern „Die Lichtflamme in Dir“, „Exerzitien der Nächstenliebe“ und „Exerzitien der Selbstliebe“ betrachte ich mein Verhältnis zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst meist von innen. Warum sollte man dann das Verhältnis von Körper und Geist von außen betrachten? Weil ich dann Antworten für folgende Fragen bekomme: Warum haben Körperübungen Einfluss auf unser seelisches Wohlbefinden? Warum wirkt Meditation? Wie geschieht Empathie und warum ist sie so schwer? Was gilt es bei Traumatisierte zu beachten? Warum gibt es innere Anteile? Warum gibt es Anteile, die in extreme Modi wechseln können? Warum gibt es bei den Anteilen typischerweise Manager, Verbannte und Feuerbekämpfer?
Der Wechsel in die Außen-Betrachtung lädt uns ein, mit den verschiedenen Theorien vom Körper-Geist-Verhältnis eine Begründung für diese Fragen zu finden.
Die Erkenntnisse aus der Außen-Betrachtung können die Erfahrungen in der Innen-Betrachtung stützen und in anderer Perspektive verständlich machen. Dabei muss man betonen, dass alle fünf WissenschaftlerInnen nicht allein aus der Außen-Perspektive arbeiten Antonio Damasio z. B. benutzt bewusst mehrere Zugänge: Eigene Innenerfahrungen, wissenschaftliche Untersuchungen (wie z. B. Gehirnscans) und Experimente, Analyse von Patienten mit Schädelverletzungen, evolutionäre Perspektive. Henri Bergson hat in seinem Werk „Materie und Gedächtnis“ die gleichen verschiedenen Betrachtungsweisen und Zugänge herangezogen.
Ich bin überzeugt, dass eine Vielfalt von Betrachtungsweisen und Zugängen zum Körper-Geist-Verhältnis notwendig ist, um tiefere Einsichten erreichen zu können. Es reicht nicht eine reine Phänomenologie, wie Husserl es versuchte. Es reicht auch nicht eine reine Innenschau wie viele meditative und spirituelle Lehrer propagieren. Es reicht auch nicht ein reines Nachdenken, für das Descartes oder Kant plädierten. Es reicht auch nicht allein naturwissenschaftliche Forschung, wie viele Neurowissenschaftler propagieren.
Warum sollte ich mich mit diesen vier Theorien beschäftigen, wenn ich meine Freiheit entfalten und gestalten will? Wenn ich mir Wissen über meinen Körper, mein Gehirn, meine Psyche aneigne, kann ich durch dieses mein Selbstverhältnis verändern. Ich gehe anders mit mir (und meinen Mitmenschen) um!
Warum reicht es nicht, sich mit psychologischen Theorien zu beschäftigen? Die Antwort: Gehirntheorien zeigen einerseits die neuro-physiologische Basis von psychologischen Theorien auf. Biologische Teile im Gehirn stimmen nicht voll mit Teilen in einer psychologischen Theorie überein. Trotzdem fundiert dieses Wissen auch psychologische Erkenntnisse.
Andererseits können wir mit Gehirntheorien zeigen, dass das Gehirn nur verkörpert und „sozial“ funktioniert: Es muss immer eingebettet in den Körper gedacht werden und seine Inhalte, sogar seine Struktur wird durch die Interaktionen der Person mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt gebildet. Über diese Einsicht wird auch deutlich, dass man Körper und Geist nicht getrennt betrachten kann.
Ich wollte Theorien präsentieren, die letztlich für den eigenen Umgang mit sich selbst und anderen Menschen erhellend und hilfreich sind. Damit eine Theorie aber für dieses praktische Ziel tauglich ist, muss sie zwei Bedingungen erfüllen: Die Theorie muss eine gewisse „Körnung“ bzw. Praktikabilität haben UND sie muss fundiert sein. Eine Landkarte muss für den Zweck den passenden Maßstab haben. Zum Wandern kann ich keine Autokarte gebrauchen. So muss eine psychologische Theorie oder eine Gehirntheorie eine gewisse Genauigkeit UND eine gewisse Übersichtlichkeit und Verständlichkeit aufweisen.
Das Gehirn ist ein hochkomplexes System: Billionen von synaptischen Verbindungen agieren miteinander. Und das Gehirn ist in den Körper eingebettet und wird gebildet und immer neu verändert durch die Geschichte des Menschen und seine Interaktionen mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Zu jedem übersichtlichem Modell kann man sagen: „Es ist viel komplizierter.“ Wir vereinfachen und stellen komplexe Wechselwirkungen vereinfachter dar. Trotzdem sollte man mit dem Modell erahnen, dass die Prozesse im Gehirn nie linear ablaufen wie Produktionen in einer Fabrikhalle sondern durch komplexe Wechselwirkungen. Gehirntheorien sind Theorien, das heißt sie sind Landkarten. Landkarten sind immer deutende Zusammenfassungen.
Dieses Buch hat kein „einheitliches Leseniveau“. Manche Passagen lesen sich einfach und anschaulich, wie z. B. die biblischen Beispiele. Die Hauptteile führen kompakt aber auch nicht zu knapp in die vier Theorien ein und zeigen den Erkenntnisgewinn der jeweiligen Theorie auf. Andere Passagen sind eher anstrengende philosophische Gedankengänge. Das Lesen dieses Buches ist also wie eine Hüttenwanderung in den Bergen: manche Wege sind einfach, andere anstrengend und wieder andere teilweise hochalpin – sie verlangen etwas Training und eine gewisse Ausrüstung.
Entscheiden Sie selber, was Sie lesen wollen. Schwierige philosophische Passagen kann man auch überspringen. Ich habe versucht, die philosophischen Passagen so zu schreiben, dass auch LeserInnen, die keinen Überblick über die Philosophie und ihre Geschichte haben, die Ausführungen verstehen können. Gerade die Verknüpfungen zwischen Philosophie und den anderen Theorien kann das Verstehen erleichtern. Denn diese Verknüpfungen bringen Beispiele für die philosophischen Begriffe und machen sie anschaulich und verständlich. (Viele, die z. B. über Deleuze schreiben, jonglieren nur mit seinen Begriffen. Ein Einsteiger versteht bei dieser Sekundärliteratur gar nichts.) Man sollte auch nicht bei einem kniffligen philosophischen Zitat hängenbleiben. Es empfiehlt sich, lieber weiterzulesen, weil sich dann das Überblicksverständnis einstellt.
Zwei Hinweise zu meinem Schreibstil:
Manchmal benutze ich ein allgemeines „Ich“: Um eine typische Erfahrung, die jeder Mensch erleben kann, benutze ich ein allgemeines „Ich“. Manchmal benutze ich auch das individuelle „Ich“, um meine persönliche Einschätzung oder Erfahrung, die ich als Autor habe, kundzugeben. Den Unterschied erschließe der Lesende aus dem Kontext.
Ich benutze auch gerne ab und zu ein Präsens in der Verbform, auch wenn es um Vergangenes geht. Eine Erzählung wirkt im Präsens lebendiger.
Ich kann nicht alle Bezüge und Querverbindungen, die ich ziehe, ausführlich erläutern. Das würde den Rahmen sprengen. Z. B. kann ich nicht ausführlich in gewaltfreie Kommunikation, Naikan, The Work oder inneres Familiensystem einführen. Dafür verweise ich auf andere Schriften.
Die Polyvagal-Theorie hat der Mediziner Stephen Porges entwickelt. Sie ist eine Theorie über das autonome Nervensystem. Das Nervensystem vermittelt zwischen Körper und Geist. Und so kann diese Theorie uns ein erstes Verständnis von Körper und Geist und seine Verbindung geben.
Im Mittelpunkt dieser Theorie stehen die drei Lebensmodi, die durch die Struktur unseres Nervensystems, das in der Evolution entstanden ist, erklärbar sind.
Wir nähern uns der Polyvagal-Theorie erst einmal durch biblische Geschichten:
Wir kennen die drei Modi der Polyvagal-Theorie aus dem Tierreich:
Eine Gruppe von Tieren wie Rehe, Antilopen, Schafe usw. sind versammelt, grasen, halten Kontakt und spielen auf ihre Weise miteinander. Sie sind im sicheren Modus und können sich in der Gruppe sozial geborgen fühlen.
Wenn nun ein Raubtier sie angreift, haben sie zwei Möglichkeiten: Flucht oder Kampf. Wildschweinmütter greifen intuitiv an und kämpfen, um ihre Frischlinge zu verteidigen. Rehe dagegen rennen davon und flüchten.
Wenn ein Raubtier ein Tier erwischt hat, hat das Opfer nur noch eine Chance zu überleben: es erstarrt. Wenn eine Katze eine Maus erwischt und in ihrem Maul hält, kann die Maus weder fliehen noch kämpfen. Der Schock bewirkt, dass die Maus wie tot wirkt. Ein schlaffes totes Tier ist vielleicht nicht mehr attraktiv und der Räuber lässt das verletzte Tier liegen.
Die drei Modi, die wir aus dem Bereich aller Säugetiere kennen, gibt es auch bei uns Menschen:
Sozial-sicherer Modus
Flucht- oder Kampf-Modus
Kollabierter immobiler Modus bzw. Ertarrungsmodus
Mit den zwei biblischen Gestalten, Moses und Josef, können wir die drei Modi näher kennenlernen:
Die versklavten Israeliten Das ganze Volk Israel befindet sich in Sklaverei. Sie können weder flüchten noch kämpfen. In gewisser Weise sind sie einem chronischen Erstarrungszustand. In dieser Lage wächst Mose auf.
Warum will der Pharao, dass die männlichen Nachkommen der Israeliten gleich bei der Geburt umgebracht werden? Ein Grund könnte sein: Junge Männer könnten mit Gewalt aufbegehren und somit die Versklavung beenden.
Wenn Tiere in einer Schockstarre, also im immobilen Modus waren, müssen sie sich schütteln oder schnell laufen, um diesen immobilen Modus abzuschütteln. Also über den Flucht- bzw. Kampf-Modus schütteln sie sich vom Trauma der Erstarrung frei.
Wenn in einer versklavten Gruppe ein Anführer die Menschen zu Kampf und Flucht ermuntert, können evtl. die Fesseln der Knechtschaft gesprengt werden. Das wusste auch der Pharao.
Doch Mose wird nicht umgebracht. Die Tochter des Pharaos findet ihn in einem Binsenkörbchen. Er lernt beide Welten kennen: den Reichtum in Pharaos Hof und das Elend seines Volkes. So wuchs sein Ungerechtigkeitsempfinden!1
Mose erschlägt einen Ägypter„Die Jahre vergingen und Mose wuchs heran. Eines Tages ging er zu seinen Brüdern hinaus und schaute ihnen bei der Fronarbeit zu. Da sah er, wie ein Ägypter einen Hebräer schlug, einen seiner Stammesbrüder. Mose sah sich nach allen Seiten um, und als er sah, dass sonst niemand da war, erschlug er den Ägypter und verscharrte ihn im Sand.
Als er am nächsten Tag wieder hinausging, sah er zwei Hebräer miteinander streiten. Er sagte zu dem, der im Unrecht war: Warum schlägst du deinen Stammesgenossen? Der Mann erwiderte: Wer hat dich zum Aufseher und Schiedsrichter über uns bestellt? Meinst du, du könntest mich umbringen, wie du den Ägypter umgebracht hast? Da bekam Mose Angst und sagte: Die Sache ist also bekannt geworden. Der Pharao hörte von diesem Vorfall und wollte Mose töten; Mose aber entkam ihm. Er wollte in Midian bleiben und setzte sich an einen Brunnen.“ Ex 2,11-151
Mose ist sich der ungerechten Versklavung seines Volkes bewusst und empfindet sie als höchst ungerecht.
Eines Tages bricht der Kampf-Modus aus ihm heraus. Mose sieht eine Ungerechtigkeit: Ein Ägypter schlägt einen Hebräer! Er nimmt dieses Ereignis bewusst wahr und handelt dann blitzschnell.
Aber eine plötzliche, spontane Aktion im Kampf-Modus durchbricht keine jahrlange Sklaverei. Vielleicht plant Mose, Anführer des Volkes Israels zu werden. Jedoch schon am nächsten Tag wird er in die Schranken gewiesen:
Das Gespräch mit den zwei anderen Hebräern beginnt Moses noch in einem sozialen Modus. Er fühlt sich sicher und selbstbewusst genug, um bei dem Streit dazwischen zu gehen, um Gerechtigkeit zu schaffen. Der Hebräer, den er kritisieren will, kontert gezielt: Du willst unser Anführer oder Aufseher sein? Fühle dich nicht so sicher! Nachdem der Hebräer Moses klar macht, dass seine Ermordung des Ägypters nicht unbekannt geblieben ist, bekommt Moses Angst. Tags zuvor hat er mit Kampf reagiert. Nun reagiert er mit Flucht.
Er verlässt Ägypten und sein Volk, das kollektiv in einem lethargischen Modus feststeckt. Es erduldet weiter die Sklaverei.
Moses handelt in dieser Geschichte weder vernünftig noch weise. Sein Stammesgenosse hat schon Recht: Ein impulsiver Haudrauf kann wirklich nicht ein charismatischer Anführer sein. Wir werden später uns die weitere Entwicklung von Moses anschauen. (Siehe Kapitel „PSI-Theorie“)
Mit der Josefsgeschichte können wir die drei Modi noch in anderer Weise kennenlernen
Die Josefsgeschichte schließt die Geschichten der Erzeltern auf erstaunliche Weise ab. Rivalitäten und Ausgrenzungen sind in den Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob an der Tagesordnung. Es gibt Eifersucht zwischen den Frauen eines Mannes, Konkurrenz zwischen Brüdern um das Erbe und Argwohn der Väter, ob ihre attraktiven Söhne ihre Autorität untergraben und mit einer ihrer Frauen schlafen.
Die Welt von Eifersucht, Konkurrenz und Argwohn bietet mitnichten eine durchgehend sichere Welt. Doch wir wünschen uns Sicherheit! Durch Aufteilung von mehr Reichtum und dem Grundsatz „Es bleibt in der Familie!“ versuchen die Clanmitglieder Sicherheit und Stabilität zu erreichen, mit durchgehend mäßigem Erfolg.2
Die Herausforderung „Konkurrenz“ verschärft sich am Anfang der Josefsgeschichte erst einmal: Josef fühlt sich sicher und besonders geliebt von seinem Vater. Er hat als Baby und Kleinkind erfahren, dass ihm alle Wünsche erfüllt werden und dass er – als Kleinster – im Mittelpunkt steht. Babys und Kleinkinder können diese Erfahrung machen: Papa und Mama sorgen für mich. Wenn ich weine, springen sie und erfüllen mir meine Wünsche. Ich kann sie herumkommandieren und ich bin im Mittelpunkt. (Siehe auch Ausführungen zu Martha Nussbaum) Aber auch später noch bevorzugt der Vater Josef: Er bekommt ein besonders schönes Gewand. Aus dieser Sicherheit heraus erzählt Josef Träume, in denen er eine herausragende Stellung innehat. Er fühlt sich völlig im sicheren Modus, ohne jegliche Gefahr.
Seine Brüder sind eifersüchtig, neidisch und ihre Wut und ihr Groll wachsen an. Doch beim zweiten Traum bemerkt sogar der Vater, dass Josef sich zu sicher fühlt und sich aus Übermut zu sehr aufspielt. Er fühlt sich im Mittelpunkt und kann sich nicht in die Reihe der Brüder einordnen. In dieser Reihe wäre er nämlich am letzten Platz! Jakob selbst hat Josef zu sehr bevorzugt, so dass es Josef schwer fällt, sich bescheiden an die letzte Stelle zu begeben:
Er hatte noch einen anderen Traum. Er erzählte ihn seinen Brüdern und sagte: Ich träumte noch einmal: Die Sonne, der Mond und elf Sterne verneigten sich tief vor mir.
Als er davon seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sagte zu ihm: Was soll das, was du da geträumt hast? Sollen wir vielleicht, ich, deine Mutter und deine Brüder, kommen und uns vor dir zur Erde niederwerfen?
Seine Brüder waren eifersüchtig auf ihn, sein Vater aber vergaß die Sache nicht. Gen 37, 9-11
Wir müssen uns klar sein, dass es bei der Eifersucht der Brüder wesentlich um Gerechtigkeit und Existenzangst geht. Wenn der Vater dem kleinen Josef alles vererbt, dann ist das erstens ungerecht und zweitens gehen alle anderen Brüder leer aus. Sie sind dann abhängig, arm oder müssen wegziehen, um woanders in einer unsicheren Fremde ganz neu anzufangen. Die anderen Brüder sehnen sich also ebenso nach Sicherheit! Ihr Bedürfnis nach Sicherheit und fairer Gleichbehandlung ist ja völlig nachvollziehbar und legitim. Die gefährdete Sicherheit, Ordnung und Gerechtigkeit provoziert sie so sehr, dass sie mit Gewalt reagieren!
Da ging Josef seinen Brüdern nach und fand sie in Dotan. Sie sahen ihn von weitem. Bevor er jedoch nahe an sie herangekommen war, fassten sie den Plan, ihn umzubringen. Sie sagten zueinander: Dort kommt ja dieser Träumer. Jetzt aber auf, erschlagen wir ihn und werfen wir ihn in eine der Zisternen. Sagen wir, ein wildes Tier habe ihn gefressen. […] Ruben hörte das und wollte ihn aus ihrer Hand retten. Er sagte: Begehen wir doch keinen Mord. […] Werft ihn in die Zisterne da in der Steppe, aber legt nicht Hand an ihn! Er wollte ihn nämlich aus ihrer Hand retten und zu seinem Vater zurückbringen.
Als Josef bei seinen Brüdern angekommen war, zogen sie ihm sein Gewand aus, den Ärmelrock, den er anhatte, packten ihn und warfen ihn in die Zisterne. Die Zisterne war leer; es war kein Wasser darin.
Als sie dann beim Essen saßen und aufblickten, sahen sie, dass gerade eine Karawane von Ismaelitern aus Gilead kam. Ihre Kamele waren mit Tragakant, Mastix und Ladanum beladen. Sie waren unterwegs nach Ägypten.
Da schlug Juda seinen Brüdern vor: Was haben wir davon, wenn wir unseren Bruder erschlagen und sein Blut zudecken? Kommt, verkaufen wir ihn den Ismaelitern. Wir wollen aber nicht Hand an ihn legen, denn er ist doch unser Bruder und unser Verwandter. Seine Brüder waren einverstanden.
Midianitische Kaufleute kamen vorbei. Da zogen sie Josef aus der Zisterne heraus und verkauften ihn für zwanzig Silberstücke an die Ismaeliter. Diese brachten Josef nach Ägypten. Die Midianiter aber verkauften Josef nach Ägypten an Potifar, einen Hofbeamten des Pharao, den Obersten der Leibwache. Gen 37, 17b-28.36
Wer in einer Zisterne gefangen ist, kann weder kämpfen noch flüchten. Er ist gefangen, wie eine Maus im Maul einer Katze! Kein Wasser ist in der Zisterne. Josefs Körper muss auf Notstandsmodus umschalten. Wann wird jemand vorbeikommen? Wird er dann noch leben? Josef, gefangen in der Zisterne, hat Todesängste und kann nichts tun. Diese Situation ist traumatisch! Und Josef wird nicht befreit sondern verkauft, wieder von seinen eigenen Brüdern. Das Trauma setzt sich also fort: Er kann nicht fliehen, er kann nicht kämpfen, er kann nur erstarren!
Doch Gottes Gnade hilft ihm, dass er im Erstarrungsmodus nicht festhängt. „Der Herr war mit Josef und so glückte ihm alles. Er blieb im Haus seines ägyptischen Herrn. Dieser sah, dass der Herr mit Josef war und dass der Herr alles, was er unternahm, unter seinen Händen gelingen ließ. So fand Josef sein Wohlwollen und er durfte ihn bedienen. Er bestellte ihn zum Verwalter seines Hauses und vertraute ihm alles an, was er besaß.“ Gen 39, 2-4.
Diese Entwicklung ist nicht selbstverständlich. Viele Menschen bleiben in ihrem Trauma hängen. Aber Josef kann sich neu auf das Leben einstellen. Heute würde Therapeuten sagen: Er besitzt in hohem Maße Resilienz!
Aber Konkurrenz, Eifersucht und beleidigter Stolz gibt es auch in Ägypten. Als Josef sich nicht auf die liebestolle Ehefrau seines Herrn einlässt, beschuldigt sie ihn. Wieder fällt Josef von einem sicheren Status in ein einen Status, in dem er weder kämpfen noch fliehen kann: Er kommt ins Gefängnis. Ein zweites Mal in seinem Leben muss er einen Absturz erleben, weil andere auf ihn neidisch sind. Es ist eine zweite Traumatisierung. Wie oft passiert es, dass Menschen, die einmal verletzt wurden, die Verletzung in ihrem Leben noch einmal, evtl. sogar mehrmals erleben müssen! Diese Wiederholungen geschehen zwar unter veränderten Bedingungen. Aber die Ähnlichkeiten sind oft offensichtlich…
Aber sogar im Gefängnis steht ihm der Herr bei. Er kann Vertrauen ausstrahlen, so dass bald auch der Gefängniswärter ihm alles anvertraut. Trotz – oder evtl. inzwischen vielleicht auch durch seine traumatischen Erfahrungen, an denen er durch die Gnade Gottes gereift ist – kann Josef unter den Insassen eine Atmosphäre des Vertrauens und der gegenseitigen sozialen Zugewandtheit aufbauen.
Die folgenden Traumdeutungsgeschichten provozieren die Frage: Warum kann Josef andere Träume deuten? Meine Deutung aufgrund der Polyvagal-Theorie ist: Josefs unbewusste Wahrnehmungsfähigkeiten haben sich durch die traumatischen Erlebnisse erhöht. Wer schlimme Zeiten erlebt hat, kann eine hohe Vigilanz entwickeln. D. h. eine erhöhte Wachsamkeit und eine erhöhte Sensibilität – einerseits gegenüber Gefahren aber andererseits auch gegenüber Mitmenschen. Durch die Leiderfahrungen und die Gnade Gottes wachsen somit die Weisheit Josefs und sein Einfühlungsvermögen.
In der Notzeit werden die Getreidevorräte auch in Kanaan knapp. Jakob schickt seine Söhne außer Benjamin nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Ausgerechnet bei Josef bitten sie um Getreide. Er erkennt seine Brüder. Jedoch gibt er sich nicht zu erkennen, er verbannt sie nicht, er verzeiht ihnen aber auch nicht gleich. Warum stellt Josef seine Brüder auf die Probe? Sind es Rachegelüste, die Josef zu dieser schweren Prüfung anstacheln? Wir können aufgrund der Polyvagal-Theorie noch eine andere Vermutung anstellen: Ist es nicht seine berechtigte Sehnsucht nach Sicherheit? Er weiß nicht, ob er seinen Brüdern trauen kann. Sie wollten ihn töten und haben ihn verkauft. Seine Überlegung ist somit vielleicht folgende: Nur wenn sie offen zeigen, dass sie den jüngsten Bruder Benjamin beschützen wollen, ja dass sie sich wirklich hingebungsvoll für ihren jüngsten Bruder einsetzen wollen, kann er sicher sein, dass sie ihn wieder in ihre Reihen ohne Groll und Argwohn aufnehmen werden. (Denn erschwerend kommt hinzu: Benjamin ist der einzige leibliche Bruder von Josef. Die anderen Brüder sind zu Josef Halbbrüder.) So testet Josef seine Brüder:
„Er bezichtigt sie zum Schein der Spionage und verlangt als Zeichen ihrer Ehrlichkeit, den jüngsten Bruder zu holen. Einer der Brüder, Simeon, muss als Geisel in Ägypten bleiben. Auf dem Weg erinnern sie sich daran, was sie Josef einst angetan hatten, und sehen das, was jetzt geschieht, als Strafe an. So kehren die zehn Brüder mit Getreide, aber ohne Simeon nach Kanaan zurück. Erneut machen sie sich auf den weiten Weg nach Ägypten, dieses Mal mit ihrem jüngsten Bruder Benjamin, den der Vater nur schweren Herzens ziehen lässt. Wieder kommen sie vor Josef, den sie noch immer nicht erkennen (auch er schweigt). Sie werden fürstlich empfangen und bewirtet. Doch dann stellt Josef die Brüder noch einmal auf die Probe: er lässt seinen Silberbecher in das Gepäck Benjamins schmuggeln und verabschiedet sie freundlich. Doch schon nach kurzer Zeit lässt er sie stoppen, weil sein Becher gestohlen worden sei. Der Becher wird bei Benjamin gefunden. Benjamin droht die Todesstrafe. Voller Verzweiflung bietet sich Juda, einer der Brüder, an seiner Stelle an. Juda erzählt Josef, dass ihr Vater den Tod seines jüngsten Sohnes nicht überleben würde, nachdem er den Verlust ihres zweitjüngsten Bruders, Josef, nie überwunden habe. Die Brüder bekennen vor Josef ihre Schuld, die sie an ihm getan haben. Nun kann Josef vergeben. Er gibt sich zu erkennen und vergibt ihnen: „Um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch her gesandt!“ Nun werden Jakob und die Verwandten aus Kanaan geholt. Der Friede ist wieder hergestellt, die Hungersnot gebannt. Jakob kommt mit seiner ganzen Familie nach Ägypten und stirbt dort in hohem Alter.“3
Vielleicht mögen sich manche LeserInnen fragen: Warum springt Josef so fies mit seinen Brüdern um? Aber diese Fragerichtung übersieht, wie sehr Josef gelitten hat. Um Sicherheit zu erreichen, die sich wirklich für den Traumatisierten sicher anfühlt, muss mehr passieren als ein billiges „Tut mir leid, war nicht so gemeint, wird nicht mehr passieren“! Traumatisierte tun oft Dinge, um irgendwie Sicherheit zu erlangen, die für Außenstehende befremdlich und irritierend wirken können.
Wenn man das bedenkt, geht Josef sogar vorbildlich vor. Denn er offenbart einen Weg, wie Gewalt und Traumata versöhnlich überwunden werden können. Wenn Josef seine Brüder zweimal in Bedrängnis bringt, macht er das nicht aus Rache und Vergeltungsdrang. Er macht das, weil er in seiner Weisheit weiß, dass seine Brüder ihm nur Sicherheit wieder bieten können, wenn sie wenigstens ansatzweise durch eigenes Erleben verstehen, wie es ihm ergangen ist. Erst dann können sie aus freien Stücken ihre Schuld bekennen und durch ihre Reue einen Neuanfang und Heilung ermöglichen.
So ein Heilungs- und Versöhnungsprozess ist vorbildlich und in der allzumenschlichen Welt des Alten Testaments auch eine Ausnahme!
1 Für unsere Betrachtungen ist es unwichtig, wieviel von diesen biblischen Geschichten historisch wahr ist. Viele der alttestamentlichen Geschichten offenbaren uns urtypische menschliche Dramen und Schlüsselerlebnisse. Das machen sie so wertvoll als Beispiele in diesem Buch. Ich möchte die biblischen Geschichten im AT mit Shakespeares Dramen vergleichen: Romeo und Julia offenbart uns ein Grunddrama, das immer wieder in unterschiedlichen Variationen passiert. Und in seinen historischen Dramen gibt es ähnlich wie in der Bibel eine Mischung von historischen Fakten und Dichtung. Aber auch diese Königsdramen kann man z. B. lesen als exzellente Analyse von typischen Formen von politischen Intrigen, Dilemmata und Tyrannenstrategien.
Neue Theorien entstehen öfters aus seltsamen Beobachtungen, die man mit den herkömmlichen Vorstellungen nicht erklären kann. So erging es auch Stephen Porges, der die Polyvagal-Theorie entwickelt hat: Er beobachtete, dass eine hohe Aktivität des Vagusnervs bei Neugeborenen einen gesunden Herzrhythmus bewirkt: nämlich das Herz schlägt etwas schneller beim Einatmen und etwas langsamer beim Ausatmen. Das nennt der Mediziner respiratorische Sinusarrhythmie (RSA). Bei Frühgeborenen kann aber dieselbe hohe Aktivität des Vagusnervs auch bewirken, dass das Herz zu langsam schlägt, genannt eine Bradykardie, die lebensgefährlich sein kann. „Dies warf die Frage auf, wie der vagale Mechanismus sowohl die RSA als auch die Bradykardie vermitteln konnte, da das eine Phänomen schützend und das andere potenziell tödlich wirkt.“4 Dieses sogenannte „Vagusparadox“ löste Porges dadurch, dass er entdeckte, dass es nicht einen, einheitlich wirkenden Vagusnerv gibt. Sondern es gibt zwei Vagusnerven, die in der Evolution auch zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Ziele entstanden sind. Das führte zur Polyvagal-Theorie!
Die herkömmliche Vorstellung ist: Wir haben im autonomen Nervensystem zwei miteinander gegenläufig agierende Systeme. Sie sind Gegenspieler. Das sympathische Nervensystem ermöglicht uns, zu kämpfen oder zu fliehen. Das parasympathische Nervensystem dagegen fördert Gesundheit, Entspannung, Genesung. Bei den meisten ist das sympathische Nervensystem dominant, wir sind nicht mehr in der Balance und das bereitet uns Dauerstress. Das ist nach Porges, den Begründer der Polyvagal-Theorie, nicht komplett falsch, aber eine verzerrte und unvollständige Beschreibung.5
Drei Elemente fehlen in der herkömmlichen Vorstellung:
Erstens fehlt in dieser Vorstellung der alte Vargusnerv. Der Vagusnerv hat zwei Stränge, einen evolutionsgeschichtlich alten und einen jungen.
Zweitens fehlt die Möglichkeit, dass wir Menschen in größter Gefahr auch erstarren können.
Drittens beachtet die herkömmliche Vorstellung nicht die hierarchische Ordnung, die in der Evolution entstanden ist.
Das autonome Nervensystem (ANS) von uns Menschen hat drei bedeutende neuronale Bahnen, die im Zentrum der Polyvagal-Theorie stehen. Die drei Bahnen sind in der Evolution nacheinander entstanden. Die jüngere Bahn steht jeweils über der älteren und kann ihre Aktivität hemmen und kontrollieren.
1. Die älteste Nervenbahn: der hintere Ast des Vagus-Nervs, der dorsale Vagusnerv. Er hat keine Myelinschicht (schützende Fettschicht). Er beginnt im Hirnstamm und verzweigt sich in den inneren Organen unterhalb des Zwerchfells. Im normalen sicheren Lebenskontext unterstützt dieser Vagusnerv die Organe in der Bauchhöhle und kann somit Gesundheit und Genesung und Entwicklung fördern.6
Menschen können auch in diesen Modus verfallen, wenn sie mit extremer Gefahr, Vernichtung und Ausweglosigkeit konfrontiert werden. In diesem Modus kann man erleben: Immobilisation, Shutdown, Erstarren, Ohnmacht, Schock und Dissoziation. Z. B. verfallen wir bei einem Schock (Autounfall, plötzliche Katastrophe) in diesen Modus: Blutdruckabfall, wir werden ohnmächtig, der Kreislauf kollabiert, die Muskeln werden schlaff.7 Wenn ein Kind missbraucht wird, kann es nicht fliehen, kann es nicht kämpfen. Die einzige Reaktion, um weniger zu spüren und zu überleben, ist Erstarren und Dissoziation. Das autonome Nervensystem schaltet automatisch in diesen Schutzmodus.
2. Die nächste Nervenbahn: das sympathische Nervensystem (SNS) Er ist mit dem Hypothalamus, dem Hirnstamm und der Formatio reticularis verbunden. Die Nervenstränge des sympathischen Nervensystems verlassen an verschiedenen Stellen die Wirbelsäule und verlaufen dann zu ganz vielen Organen.
Modus: Kampf oder Flucht Wenn das SNS aktiv wird, erhöht sich die Energieproduktion und die Herzfrequenz steigt. Ein Reh läuft vor dem Wolf davon. Eine Wildschweinmutter verteidigt durch Angriff ihre Frischlinge.
Wenn bei uns Menschen dieser Nervenstrang aktiv wird, dann melden sich die Gefühle Zorn und/oder Angst. Wir brauchen diesen Modus, um uns in Gefahren zu verteidigen oder zu flüchten!
3. Die jüngste Nervenbahn: der vordere Vagus-Ast, der ventrale Vagusnerv. Der neue Vagusnerv mit Myelinschicht ist hauptsächlich mit dem Herzen und der Atmung verbunden. Er entstand als letzte Nervenbahn in der Evolutionsgeschichte und nur Säugetiere haben ihn. Im Laufe der Evolution hat sich dieser neue Vagusstrang vom alten Vagusnerv aus weiterentwickelt. Die Entdeckung zweier Vagusnerväste, die in der Evolution zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, führt zum Namen der Theorie: Polyvagal, d. h. mehrere Vagusnerven!
Der Vagusnerv ist ein Bündel von Nerven und die Informationen laufen in beide Richtungen: 80 % der Nervenfasern bringen Informationen ins Gehirn. (Sie ermöglichen unter anderem die Neurozeption. Siehe unten) 20 % der Nervenfasern bringen umgekehrt Informationen vom Gehirn in die inneren Organe und können dort Veränderungen bewirken: Z. B. Veränderung des Herzschlags oder verringerte Darmtätigkeit usw. Dass die Informationen in beide Richtungen laufen, bewirkt eine gegenseitige Korrespondenz zwischen Körper, inneren Organen und Gehirn.
Der Vagus verläuft seitlich von der Körpermitte und seine rechte Hälfte ist tendenziell stärker. (Dies korrespondiert mit der rechten Gehirnhälfte, die für holistisches Denken und Selbsterfahrung zuständig ist.)8
Modus: Soziale Zugewandtheit. In diesem Modus gelingt uns Kommunikation, Zuwendung, Verbundenheit, soziales Engagement, Kooperation. Säugetiere brauchen diesen Modus, um überleben zu können. Denn Säugetiere brauchen einander. Ein Säugling braucht seine Mutter. Im Rudel kooperieren Säugetiere miteinander. Sie helfen sich, schenken sich gegenseitig Sicherheit und Vertrauen, spielen miteinander. Das können wir auch bei Affen, bei Hunden, bei Schafen usw. beobachten.
Der ventrale Vagusnerv ist über das Stammhirn in Kontakt mit weiteren Hirnnerven, die ins Gesicht verlaufen und mit Gesichtsmuskeln, Augen, Ohren, Rachenraum verbunden sind. Denn dieser Vagusnerv tritt aus einem Bereich des Hirnstamms, der mit den Muskeln des Gesichts und des Kopfes verbunden ist.9
Wenn wir uns sicher fühlen und sozial zugewandt sind, dann entspannen sich unsere Gesichtsmuskeln, wir lächeln gerne, unsere Stimme wirkt freundlich. D. h. wir wirken vertrauenswürdig auf unsere Mitmenschen. Ebenso umgekehrt: Wenn ich eine freundliche Stimme höre, wenn ich ein gelassenes und heiteres Gesicht sehe, fühle ich mich sicher und bin ihm gerne zugewandt.
Wenn der ventrale Vagus die Oberhand hat, d. h. wenn ich mich sicher fühle, dann ist auch mein Körper in einem Modus der Erholung, es besteht eine gesunde Homöostase, eine Balance. D. h. die Polyvagal-Theorie zeigt die Verbindung zwischen körperlicher Gesundheit und seelischem Zustand auf: Wenn ich mich sicher fühle, dann befindet sich mein Körper im Modus der Erholung und Regeneration.10 Wenn ich mich nicht sicher fühle, ändert sich mein physiologischer Modus. Ich schalte auf Kampf/Flucht oder sogar auf Erstarrung.
Homöostase Es muss betont werden: Alle drei Nervenbahnen sind wichtig für unsere Gesundheit. Ihr balanciertes Zusammenspiel schafft Wohlbefinden: „So wie die linke und rechte Hemisphäre des Gehirns das Erleben von Geist und Gehirn in eine Balance bringen, kooperieren alle drei Teile unseres ANS in dem Bemühen um eine Empfindung körperlichen Wohls. Der ventrale Vagus sorgt für die Verbindung zwischen Gesicht und Herz; das SNS kümmert sich um gesunde Atemzyklen und Herzrhythmen und spielt bei der Regulierung der Körpertemperatur eine wichtige Rolle; und der dorsale Vagus fördert eine gesunde Verdauung. Mit der regulierenden Energie des ventrale Vagus und den nicht-reaktiven Aktivitäten des dorsalen Vagus wird ein Zustand der Homöostase bzw. ein dynamisches Gleichgewicht erreicht.“11
Wann welcher Modus? Im normalen Alltag spielen also alle drei Nervenbahnen für Gesundheit und Wohlsein balanciert zusammen. Wenn wir mit den drei Nervenbahnen drei Modi haben, sicher/sozial zugewandt oder Flucht/Kampf oder Erstarrung, dann stellt sich nun die Frage, wann und warum stellt sich welcher Modus als dominant ein? Mit den folgenden vier Begriffe, Neurozeption, Hierarchie, Vagusbremse, Co-Regulation, gibt die Polyvagal-Theorie eine Antwort auf diese Frage.
Unser Nervensystem und die unteren Hirnregionen, hauptsächlich der Hirnstamm, entscheiden unterhalb unseres Bewusstseins den jeweiligen Modus. (Den Hirnstamm werden wir später noch ausführlicher besprechen. Siehe Neuroaffektive Entwicklung und Damasio-Kapitel) Wenn ich in diesem Kapitel vom autonomen Nervensystem spreche, muss man den Hirnstamm immer mitdenken: „Im Hirnstamm werden praktisch alle Informationen aus dem Körper gesammelt und alle Signale aus dem Gehirn gelangen von hier aus in den Körper. Der Hirnstamm ist also von fundamentaler Bedeutung für alle anderen Prozesse.“12 Es ist kein bewusster Willensakt. Sondern unbewusst beurteilt ständig unser autonomes Nervensystem die Signale aus der Umgebung. „Wie das Nervensystem eine Gefahr einschätzt, ist nicht vorhersehbar. Ein und dieselbe Gefahr kann von den ersten Systemen verschiedener Menschen völlig unterschiedlich beurteilt werden.“13.
Neurozeption Wir haben bewusste Wahrnehmungen, Perzeptionen: Die Augen sehen ein entgegenfahrendes Auto. Die Ohren hören die Sirenen eines Krankenwagens. Aber wir haben auch ständig unbewusste Wahrnehmungen. Unbewusst nehmen wir z. B. Gerüche wahr. Wir verarbeiten auch unbewusst kleinste Mimikveränderungen usw.
So kann es passieren, dass wir uns z. B. bei einem Bewerbungsgespräch wundern: Ich kann an diesem Menschen nichts Negatives finden. Sicheres Auftreten, gutes Gespräch. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. Irgendwie mag ich ihn nicht. Ich weiß aber nicht warum. Diese Diskrepanz entsteht, weil die Neurozeption uns mit unserem „Bauchgefühl“ etwas anderes vage mitteilt als unsere bewussten Wahrnehmungen und unsere vernünftigen Überlegungen. Unser autonomes Nervensystem mit bestimmten Teilen unseres Gehirns bewertet ständig unbewusst die Situation, ob sie sicher oder gefährlich ist. Die Kranialnerven V, VII, IX und XI bringen Informationen über die Umgebung in den Hirnstamm. Sie bewirken, dass ich schnell meinen Kopf wende, die Ohren spitze, um zu prüfen, ob Gefahr lauert. Das kann alles unbewusst ablaufen. Subkortikale limbische Systeme schätzen die Gefahr ein.14
„Was könnte die anatomische Grundlage dieses autonomen Überwachungssystem sein? Möglicherweise handelt es sich um den Schläfenlappen, das zentrale Höhlengrau und die Insel. Der Schläfenlappen reagiert auf Gesichter, Stimmen und Handbewegungen, indem er die Frage „Ist dieser Mensch ungefährlich und vertrauenswürdig?“ aufwirft. Er kommuniziert mit der Amygdala, um Bewegungen und Intentionen zu evaluieren. Das zentrale Höhlengrau ist ein alter Teil des Mittelhirns, liegt auf dem Hirnstamm und kommuniziert mit dem SNS und dem dorsalen Vagus, um über Kampf, Flucht und im Mobilisierung zu entscheiden. Die Insel, die tief im Kortex in der Falte liegt, die den Schläfenlappen vom Frontallappen trennt, ist in an der Interozeption (dem Empfinden von physiologischen Vorgängen in unserem Inneren) beteiligt und macht somit viszerales Feedback dem Gewahrsam zugänglich. Die drei genannten Systeme sind wahrscheinlich am Prozess der Neurozeption beteiligt.“15
Wenn die Neurozeption Gefahr wittert, dann stellt unser autonomes Nervensystem selbständig (also völlig an unserem Bewusstsein und Willen vorbei) den Modus um. Die soziale Zugewandtheit wechselt in Kampf/Flucht-Modus. Wenn die Gefahr übergroß ist und wir nicht flüchten können, schaltet das autonome Nervensystem in Modus Erstarrung!
Hierarchie und Vagusbremse Der ventrale Vagus hemmt die Aktivität des SNS. Das SNS hemmt die Aktivität des dorsalen Vagus. Diese Hierarchie ist durch die Evolutionsgeschichte entstanden. Der jüngere Strang steht hierarchisch über den älteren.
Wenn keine Gefahr droht, können höhere Säugetiere sich sozial zugewandt verhalten.
Wenn Gefahr droht, antworten wir bzw. die Tiere zuerst mit Kampf oder Flucht.
Wenn das nicht hilft, erstarren wir bzw. die Tiere.
So ist die sinnvolle Verhaltenshierarchie und so sind die drei Nervenbahnen hierarchisch verknüpft.
Die Vagusbremse ist kontinuierlich verringerbar. Wenn Gefahr droht, wird die Vagusbremse teilweise oder ganz gelockert. Ohne den ventralen Vagusnerv würde unser Herz 20 bis 40 Schläge pro Minute schneller schlagen, also über 100 Schläge pro Minute. Die Vagusbremse verlangsamt den Herzschlag.
Das sympathische System wird bei Lockerung der Vagusbremse aktiver: Das Herz schlägt schneller. Energie wird bereitgestellt. Wir sind wacher. Wir schauen aktiv nach Gefahren Ausschau. Wenn die Gefahr wirklich da ist, wird die Vagusbremse ganz gelöst, Kortisol und Adrenalin wird ausgeschüttet und das SNS ist aktiv und ermöglicht Kampf oder Flucht.16
Die alte übliche Vorstellung sieht Parasympathikus und Sympathikus als gleichberechtigte Gegenspieler wie zwei Muskelpaare, wie z. B. Beuger und Strecker. Balance wäre dann mit einem gleichen, „halbstarken“ Einsatz von Parasympathikus und Sympathikus gegeben. Hierarchie dagegen bedeutet: in gesunder Balance dominiert der ventrale Vagus und hat die „Leitung“ inne. Er leitet natürliche gesunde Rhythmen wie Tag-/Nacht-Rhythmus. Er reagiert abgestuft auf die Herausforderungen aus der Umgebung und schaltet vorübergehend z. B. auf den Kampf-/Flucht-Modus um.17
Wenn dagegen der ventrale Vagus nicht die Leitung inne hat und nicht den SNS und den dorsalen Vagus regulieren kann, dann können Menschen ihre Defensivsysteme (Modus Kampf/Flucht und evtl. auch Erstarrung) nicht deaktivieren. Dann fühlen sie sich in Gegenwart anderer nicht sicher, sie können unter Schlafstörungen leiden (SNS dominant) oder Verdauungsprobleme haben (Erstarrung dominant).18
Co-Regulation Wenn die Gefahr vorbei ist, kann der Mensch eigentlich wieder zur ventralen Vagus-Dominanz, d.h. zum sicheren Modus zurückkehren. Jedoch Menschen können chronisch in einer gewissen Aktivität des SNS feststecken. „Klar ist auch, dass unser sympathisches Nervensystem uns sehr nützlich sein kann – dass es gut ist, dass es uns die Mobilisation ermöglicht. Benutzen wir es jedoch ausschließlich als Defensivsystem, befinden wir uns ständig im Zustand der Mobilisierung, und das kann Menschen sehr launisch machen. In diesem Zustand kann es passieren dass wir, um uns schlagen und dass wir die Signale anderer Menschen missverstehen.“19 Wie kann ein Mensch aus dieser chronischen Defensivhaltung herauskommen?
Er braucht eine sichere Umgebung und sichere Beziehung. Die Ausstrahlung des anderen beeinflusst ihn: Seine Gesichtszüge und Mimik, seine Stimme und Stimmmelodie. Nehmen wir an, der Mitmensch beruhigt uns gerade. Dann passiert folgendes: Mit den Kranialnerven V, VII, IX und XI hören wir und sehen wir den anderen Menschen und beurteilen ihn als beruhigend. Das machen wir alles oft unbewusst durch die Neurozeption. Er wirkt regulierend auf uns: Co-Regulation. Auch unser Gesicht entspannt sich und unsere Stimme wird ruhiger. Ebenso wird unser Herzschlag ruhiger. Beruhigend und Sicherheit schaffend ist besonders, wenn der andere indirekt und/oder explizit vermittelt: „Du machst nichts falsch! Du hast nichts falsch gemacht!“20 Das versetzt wieder in den sicheren, sozial zugewandten Modus!
Co-Regulation kann auch anders ablaufen, zum Beispiel in Paarbeziehungen: Wenn in einem eskalierenden Streit beide Partner unbewusst Gefahrensignale wahrnehmen und aussenden, bewirkt das bei beiden Schutzbedürfnis und Schutzreaktionen. Beide versetzen sich unbewusst in den Kampf-/Flucht-Modus, sie schaukeln sich gegenseitig hoch.
Spielen Bei vielen Spielen und Sportarten (Räuber und Gendarm, Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, Fußball usw.) kämpfen oder flüchten wir. Trotzdem bereiten uns diese Spiele Freude und sind für unsere Gesundheit förderlich. Sind wir nun bei solchen Spielen im sicheren Vagus-Modus oder im stressigen Flucht/Kampf-Modus des Sympathikus? Die Antwort ist: Beides!
Wenn wir in einer vertrauten Gruppe z. B. „Räuber und Gendarm“ spielen, dann fühlen wir uns sicher. Wir sehen die bekannten und vertrauten Gesichter. Wir können uns spielerisch in den Kampf und Flucht-Modus begeben, ohne dass es gefährlich wird. Also unter der Dominanz des sicheren Vagus-Modus können wir unser Herz spielerisch mit Laufen, Rennen, Verfolgen und Flüchten hochtreiben. Beim Spielen erleben Kinder (und Erwachsene) den Modus Flucht/Kampf in einem sicheren Kontext. Das lässt sie menschlich reifen und ist gesundheitsförderlich! Der Grund dafür ist: Beim Spielen bleibt der neue Vagusnerv der Dirigent bzw. der Cheerleader des ganzen Körpers.21 (Theraplay z. B. benützt Spiele, um Kinder zu heilen. Siehe Unterkapitel dazu.)
Wenn ein Kind sich zu sehr hineinsteigert und wirklich in den Kampf-Modus wechselt, beleidigt ist oder wütend ein anderes Kind angreift, dann beruhigen wir es mit dem Satz: „Es ist doch nur ein Spiel!“ Wir wollen damit auf den Rahmen hinweisen: Du bist in Gemeinschaft und du bist sicher. Du kannst dich beruhigen. Durch Blickkontakt und einer beruhigender Stimme können wir es wieder zurück in den sozial zugewandten Modus bringen.22
Es ist schon sehr erstaunlich: Es gibt drei wichtige Nervenbahnen, die in der Evolution nach und nach entstanden sind. Und es gibt drei Gehirne, die ebenso in der Evolution nach und nach entstanden sind:
das Stammhirn bzw. Hirnstamm, auch als Reptilienhirn bezeichnet, das älteste Hirn
das limbische System
der Cortex, der jüngste Teil unseres Gehirns
Wir werden noch genauer diese drei Gehirne betrachten. Aber einige Gedanken zu dieser Parallelität nun schon hier:
Der Cortex ermöglicht uns, zu überlegen, zu planen, nochmals inne zu halten, zu überlegen, abzuwägen. Er ermöglicht uns auch, empathisch in andere Menschen einzufühlen. D. h.: er ist häufig regulierend und dominant, wenn ich im ventralen Vagus-Zustand der sozialen Zugewandtheit bin.
Der ventrale Vagus entspringt aber nicht direkt dem Cortex. Es ist nicht so, dass der dorsale Vagus aus dem Stammhirn kommt, der Sympathikus aus dem limbischen System und der ventrale Vagus aus dem Cortex.
Vielmehr sind alle drei Nervenbahnen mit dem Stammhirn verbunden. Alle entspringen dem Stammhirn! Das Stammhirn mit dem limbischen System, der Amygdala usw., beurteilt die Sicherheit ununterbrochen durch die Informationen, die das Stammhirn vom Vagusnerv und den Kranialnerven bekommt. Bewusst beruhigende Impulse vom Cortex müssen durch das Stammhirn hindurch, damit sich die Beruhigung über den ventralen Vagusnerv auf den ganzen Körper auswirkt.
Die Konsequenz aus diesem Aufbau ist: Ich kann meinem autonomen Nervensystem nicht bewusst „einreden“, dass alles okay ist und dass ich mich beruhigen kann. Das autonome Nervensystem mit der Neurozeption beruhigt sich nur dann, wenn das Stammhirn diesen Beruhigungsimpuls vom Cortex auch als passend einschätzt. Denn es gilt allgemein die Einsicht, die Damasio folgendermaßen auf den Punkt bringt: das Stammhirn ist das „anatomische Nadelöhr hinter dem bewussten Geist“23, weil wirklich alle Impulse, die vom höheren Gehirn in den Körper gelangen sollen, durch das Stammhirn laufen müssen!
Deswegen können zwischen bewusster Einschätzung und dem autonomen Nervensystem Spannungen entstehen. Z. B. ich meine, ich könne mich entspannen, aber mein Blutdruck ist immer noch hoch… Wenn ich nicht passende Wege der Entspannung finde, die auch wirklich mein autonomes Nervensystem anspricht, „löse“ ich das Problem mit einem Blutdrucksenker… Dabei verfolgt für mich das Stammhirn mit dem autonomen Nervensystem rund um die Uhr ein lebenswichtiges Ziel: Sicherheit aufrechterhalten!
Sicherheit Das Ziel des autonomen Nervensystems ist: Sicherheit erreichen und Sicherheit aufrechterhalten.
Manche Reaktionen eines ausrastenden oder erstarrenden Menschen erscheinen Außenstehenden als unvernünftig und unverständlich. (Siehe wie Josef mit seinen Brüdern umgegangen ist.) Jedoch mit der Polyvagal-Theorie erkennen wir auch hinter irrationalen Reaktionen eine sinnvolle Absicht: Sicherheit erreichen! Es sind Reaktionen im Flucht/Kampf-Modus oder Erstarrungsmodus.2
Sichere Beziehungen Ein Reptil schlüpft aus einem Ei. Es kann allein groß werden. Ein Säugetier dagegen braucht die Mutter, um wachsen zu können. Die Polyvagal-Theorie will mit den drei Modi, die Co-Regulation, die Bedeutung von Spielen bei Säugetieren usw. zeigen, dass Säugetiere andere Säugetiere brauchen, um sich sicher zu fühlen und um sich entwickeln zu können. „Grundsätzlich sehnt sich unser Nervensystem nach reziproker Interaktion, weil diese ihm ermöglicht, sich sicher zu fühlen.“24 Wir Menschen (wir Säugetiere) fühlen uns sicher, wenn wir mit vertrauten Menschen in liebenswürdiger Atmosphäre zusammen sind. Dann ist unser neuer Vagus dominant und wir leben gesund und in Balance! So gehören Sozialleben, Physiologie und Gesundheit, Wachstum und Genesung zusammen!25Martin Buber betonte in seiner ganzen philosophischen Arbeit: Über das Du wird der Mensch zum Ich. Nur im Dialog und Zwischenmenschlichen entwickeln wir uns Menschen. Die Polyvagal-Theorie offenbart uns die physiologische Grundlage dieser Erkenntnis!
Sicherheit vom Körper aus gedacht Porges kann mit seiner Polyvagal-Theorie einen einseitigen Blickwinkel bei den meisten Philosophen, Psychologen und Psychiatern aufdecken. Häufig wird die Richtung betont: Denken -> Gefühle -> Körper. Also von oben nach unten, top-down-Modelle und Vorstellungen. Aber wenn die Neurozeption unbewusst durch die Vagusnerven und die anderen Kranialnerven geschehen, dann muss man immer von einer ständigen Wechselwirkung zwischen Körper und Gehirn ausgehen. Ja gerade beim Thema Sicherheit ist die Bottom-up-Richtung, von unten nach oben, entscheidend, weil wir die Sicherheit ständig durch unbewusste Neurozeption überprüfen. So kommt Porges zu der bemerkenswerten Kritik:
„Unsere Kultur vertritt hinsichtlich der Definition von Sicherheit eine paradoxe Auffassung. Wir konzentrieren uns dabei auf Worte und kognitive Repräsentation und messen den Reaktionen des Körpers und den Gefühlen nur untergeordnete Bedeutung bei. Als Akademiker und Wissenschaftler glauben wir, uns bei der Definition von Sicherheit ausschließlich auf unsere kognitiven Fähigkeiten verlassen zu können. „Sicher zu sein“ ist jedoch in Wahrheit eine Reaktion unseres Körpers auf die Umgebung, in der er sich befindet.“26
Bidirektionalität und Wechselwirkung Letztlich geschieht ein ständiger Wechsel zwischen Geist/Gehirn und Körper/inneren Organen/Körperbewegungen. Das Gehirn steuert ständig die inneren Organe und den Körper und diese leiten ständig Informationen zum Gehirn. Porges beschreibt diese Wechselwirkungen an einem alltäglichen Beispiel: „Einfache Bewegungen, wie sie durch Haltungsveränderungen entstehen, haben Veränderungen der Signale, die unser Gehirn empfängt, zur Folge. Wenn wir uns vor- oder zurücklehnen, verändert sich unser Blutdruck, und unsere Barorezeptoren, die den Blutdruck überwachen und diese Informationen in bestimmte Bereiche im Gehirn weiterleiten, erhalten veränderte Signale. Wenn wir uns zurücklehnen, entspannen wir uns gewöhnlich, und wir nehmen die Vorgänge in der Umgebung nicht mehr so scharf war. Beim Wechsel in eine aufrechte Haltung verändert sich der Blutdruck, und wir fühlen uns wacher und fokussierter. Die einfachen Verhaltensänderungen, die sich auf die Barorezeptoren auswirken, können somit unsere Interaktionen mit der Welt verändern.“27
Also schon eine Veränderung der Körperhaltung kann minimal das Zusammenspiel von Sympathikus und ventraler Vagus beeinflussen. Es gibt noch mehr Beispiele, dass bestimmte körperliche Bewegungen das autonome Nervensystem beeinflussen: z. B. regt Singen den ventralen Vagus an. Wenn ich um diese Bidirektionalität und um einige verändernde Tätigkeiten weiß, kann ich aktiv durch diese Bewegungen mein autonomes Nervensystem beruhigen, wenn ich merke, dass mein Sympathikus zu aufgedreht ist. Z. B. Singen, Qigongübungen, Lachyoga usw.
Storch lässt ihre SeminarteilnehmerInnen folgende Übung machen: Aufrecht stehen und gehen und versuchen, sich traurig zu fühlen. Das ist ähnlich schwer wie gekrümmt stehen und versuchen, sich selbstbewusst zu fühlen.28 In der katholischen Liturgie wechselt man deswegen auch passend zum Teil des Gottesdienstes die Körperhaltung, um jeweils eine spezifische innere Haltung zu fördern.
Sicherheit und Entspannung als Ziel Wir können mit Porges übereinstimmend als ein wesentliches Ziel aller Therapien oder seelsorgerischen Begleitung angeben: Dass jemand in den Zustand der Entspannung, positiven Immobilisierung eintreten kann – ohne Furcht, ohne Anspannung. Etwas spiritueller und verständlicher ausgedrückt. Dass jemand in die Haltung der Gelassenheit wechseln kann. Negativ ausgedrückt: Ein Mensch, „dessen gesamter Körper sehr angespannt und dessen sympathisches Nervensystem stark aktiviert ist, vermittelt auch anderen, dass er sich in einen Zustand erhöhter Defensivität befindet.“29 Genau aus diesem chronischen Defensivitätszustand möchten wir ihn herausholen. Denn: „Wenn wir uns nicht sicher fühlen, befinden wir uns permanent in einem Zustand der Defensivität, und wir urteilen unablässig.“30 Oder in der Sprache der gewaltfreien Kommunikation: Wenn chronisch unser Sympathikus erhöht ist, dann neigen wir viel stärker dazu, extensiv mit der Wolfssprache zu kommunizieren. „Soziales Verhalten ist nur dann möglich, wenn der neueste neuronale Schaltkreis [der ventrale Vagusnerv] das ANS reguliert.“31 Wenn wir es durch Begleitung, Gespräche, Therapien erreichen, dass ein Mensch seinen Modus bewusster lenken kann, dass ein Mensch von Anspannung in die Entspannung wechseln kann, dann haben wir auch erreicht, dass dieser Mensch sozial zugewandt agieren kann und mit Freude mit anderen kommuniziert und kooperiert und Interaktionen mit Mitmenschen genießen kann.
Eine tiefe Entspannung