Denken und Lernen - Timo Storck - E-Book

Denken und Lernen E-Book

Timo Storck

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Beschreibung

In wesentlichen Teilen beschreibt die Psychoanalyse eine Theorie des Denkens, sei es unter der Perspektive von Primär- und Sekundärprozess, der Selbst- und Objektrepräsentanzen, der Symbolisierung oder der Ich-Funktionen. Theorien des Denkens in der Allgemeinen Psychologie sind meist enger gefasst und beziehen sich auf Prozesse der kognitiven Verarbeitung. In diesem Band werden leitende Konzepte beider Disziplinen nachgezeichnet und geprüft. Das geschieht für den Bereich des Denkens und für Lerntheorien. Hier wird geprüft, wie das Konzept des Lernens zur Konzeptualisierung von Prozessen in der psychischen Entwicklung nützlich sein kann.

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Die Autoren

Timo Storck ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin, Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut. Mitherausgeber der Zeitschriften Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung und Forum der Psychoanalyse sowie der Buchreihe Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Mitglied des Herausgeberbeirats der Buchreihe Internationale Psychoanalyse. Forschungsschwerpunkte u. a.: psychoanalytische Theorie und Methodologie, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.

Felix Billhardt ist M.Sc. Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Fachrichtung Verhaltenstherapie. Forschungsinteressen liegen u. a. in den Bereichen der Kognitionspsychologie und des interdisziplinären Vergleichs von kognitionspsychologischer Forschung und psychoanalytischer Theorie.

Timo StorckFelix Billhardt

Denken und Lernen

Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039492-6

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039493-3

epub:     ISBN 978-3-17-039494-0

mobi:     ISBN 978-3-17-039495-7

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Vorwort

 

 

Psychoanalyse im 21. Jahrhundert heißt für uns, die zeitgenössische Relevanz psychoanalytischen Denkens herauszustellen, und dies auf argumentierende, nicht apodiktische Weise. Das bedeutet, es auf eine Weise zu präsentieren, welche die Begriffsgeschichte nachzeichnet und dabei berücksichtigt, worauf eine bestimmte konzeptuelle Sicht eine Antwort geben sollte und konnte sowie heute kann. Dabei auf Freud zu rekurrieren, ist eine Eigenart, die die Psychoanalyse zwar mit einigen philosophischen, aber wenigen psychologischen Richtungen teilt. Unser Anliegen ist es dabei, mit Freud über Freud hinauszugehen und die Konzepte – dort, wo das gelingen kann – dazu zu verwenden, eine psychoanalytische Betrachtungsweise vorzuschlagen, die sowohl klinisch relevant ist als auch wissenschaftlich sowie bezogen auf andere therapeutische Richtungen anschlussfähig ist und dabei der Komplexität psychoanalytischer Theorie und Methodik gerecht wird.

Psychoanalyse im 21. Jahrhundert heißt für uns allerdings auch, psychoanalytisches Denken nicht isoliert dazustellen oder als »etwas ganz anderes« zu präsentieren, dessen falsch verstandene Eigenständigkeit dazu führen müsste, die Zusammenarbeit mit anderen methodischen Zugängen, anderen Grundannahmen über die menschliche Psyche oder anderen Konzeptionen von Veränderung durch psychotherapeutische Prozesse als nutz- oder aussichtslos zu diskreditieren. Die Darstellung von »Denken und Lernen« sowie von »Wahrnehmung und Gedächtnis« (im von uns verfassten Band derselben Reihe; Billhardt & Storck, 2021) aus allgemeinpsychologischer und psychoanalytischer Perspektive kann hier als paradigmatisch genommen werden: Die Unterschiede beider Zugänge werden immer wieder deutlich werden. Dass das Grundanliegen beider, bereits zu Freuds Zeiten, jedoch sehr ähnlich ist, wird sich ebenso zeigen.

Deshalb möchten wir mit dem vorliegenden Band einen Beitrag zur interdisziplinären Betrachtung der genannten Gegenstandsbereiche beitragen. Vor allem geht es uns darum, psychoanalytisches Denken auf eine Weise zugänglich zu machen, die Interesse weckt und zu kreativer Weiterentwicklung im klinischen und forscherischen Bereich anregt.

Bedanken möchten wir uns bei Cord Benecke, der den Anstoß für die Zusammenarbeit und die grobe inhaltliche Ausrichtung gegeben hat, sowie ihm und den weiteren Herausgebenden (Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens) für die Einladung zur Beteiligung an der Reihe »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert«. Ferner gilt Guido Hesselmann unser Dank für eine kritische Durchsicht der Abschnitte zur Allgemeinen Psychologie. Außerdem danken wir Annika Grupp, Kathrin Kastl und Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für die gewohnt angenehme Zusammenarbeit.

Heidelberg und Kassel, im Frühjahr 2021

Inhalt

 

 

Geleitwort zur Reihe

Vorwort

1   Einleitung

2   Grundzüge einer Allgemeinen Psychoanalyse

2.1   Psychoanalytische Metapsychologie als Psychologie des Unbewussten

2.1.1   Das topische Modell des Psychischen

2.1.2   Das Instanzen-Modell

2.2   Psychoanalyse als Theorie psychischer Konflikte

2.3   Besonderheiten der psychoanalytischen Theorie des Denkens: Repräsentanz und Symbolisierung

3   Denken

3.1   Allgemeinpsychologische Theorien des Denkens

3.1.1   Schlussfolgerndes Denken

3.1.2   Metatheorien des Denkens

3.1.3   Entscheiden und Urteilen

3.1.4   Problemlösendes Denken

3.2   Psychoanalytische Theorien des Denkens

3.2.1   Denken bei Sigmund Freud

3.2.2   Denken bei Melanie Klein

3.2.3   Denken bei Wilfred R. Bion

3.2.4   Denken bei Ignacio Matte Blanco

3.2.5   Denken bei Piera Aulagnier

3.2.6   Denken bei Jean Laplanche

3.2.7   Denken bei André Green

3.2.8   Denken bei Alfred Lorenzer und Siegfried Zepf

3.2.9   Denken bei Peter Fonagy und Mary Target

3.3   Vergleich zwischen allgemeinpsychologischen und psychoanalytischen Theorien des Denkens

4   Lernen

4.1   Allgemeinpsychologische Theorien des Lernens

4.1.1   Die behaviorale Perspektive auf das Lernen

4.1.2   Die kognitive Perspektive auf das Lernen

4.2   Psychoanalytische Theorien des Lernens

4.2.1   »Lernen durch Erfahrung«: Psychoanalytische Entwicklungspsychologie der Repräsentanzbildung

4.2.2   Der Erwerb struktureller Fähigkeiten als Lernprozess

4.2.3   »Lernen« in psychoanalytischen Behandlungen

4.2.4   Psychoanalytische Pädagogik

4.3   Vergleich zwischen allgemeinpsychologischen und psychoanalytischen Theorien des Denkens

5   Fazit und Ausblick

Literatur

Stichwortverzeichnis

1          Einleitung

 

 

Einführung

Freuds Anliegen ist es gewesen, in der Auseinandersetzung mit klinischer Erfahrung und durch die Untersuchung von Traum, Witz, Fehlleistung oder Symptom etwas über psychische Prozesse im Allgemeinen zu erfahren. Betrachtet man dies als Teil einer Theorie von Denkprozessen, dann ergeben sich auch in zeitgenössischer Perspektive Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie.

Lernziele

•  Die Psychoanalyse mit und nach Freud nicht nur als Theorie psychischer Störungen und Methode zu deren Behandlung verstehen, sondern auch als eine allgemeine Theorie der menschlichen Psyche.

•  Ein Verständnis der Berührungspunkte und Abgrenzungen zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie entwickeln.

Wie wir die Welt um uns herum und in uns erleben und wie wir sie psychisch handhaben, berührt alle Bereiche der Psychologie und alle Bereiche unseres täglichen Lebens, es ist – zusammen mit dem Gefühlsleben – die Grundlage für Beziehung, Kommunikation, persönliches Identitätsgefühl u. v. a.. »Denken« findet dabei nicht in einem personal-monistisch-innerlichen Rahmen allein statt, sondern beruht auf einem zuallererst wahrnehmenden Zugang zur personalen und apersonalen Umwelt. Wahrnehmungsprozesse leiten unser Erleben, sowohl im Hinblick auf sinnliche »Außen«-Wahrnehmung visueller, auditiver, taktiler, olfaktorischer u. a. Art, als auch bezogen auf die Interozeption/Introspektion, also das Wahrnehmen dessen, was »in« uns vorgeht, sowohl leiblich als auch kognitiv und emotional. Wie wir uns in der Welt erleben und wie wir darüber denken, ist neben solcher inneren und äußeren Wahrnehmung noch weiter darüber bestimmt, dass wir uns in unserer gedanklichen und der perzeptuellen Welt in einer zeitlichen Perspektive bewegen. In aller Regel stehen unser Denken und unsere (aktuelle) Wahrnehmung in einer Linie von personaler Identität über die Zeit – jeder Gedanke, jede Wahrnehmung hat insofern eine Geschichte, als Prozesse des Erinnerns (und Nicht-Erinnerns) sie steuern, hemmen, informieren oder ihr anderweitig eine Färbung geben.

Dass es sich dabei insbesondere in einem psychoanalytischen Zugang um Bewusstes und Unbewusstes dreht, wird sich im Durchgang durch die Darstellung immer wieder zeigen. Ebenso wird deutlich werden, in welcher Weise die Konzeption dessen, was unbewusst ist, sich zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie unterscheiden. Allerdings müssen wir im Kontext des vorliegenden Rahmens darauf verzichten, die Theorien zu Bewusstsein und Unbewusstheit den Bereichen Denken und Lernen, sowie Wahrnehmung und Gedächtnis im selben Umfang zur Seite zu stellen, auch wenn es sich um einen weiteren wichtigen Bereich der Allgemeinen Psychologie handelt (vgl. Leuzinger-Bohleber & Weiß, 2014, in der vorliegenden Reihe).

Denken und Lernen, Wahrnehmung und Gedächtnis sind also große Bereiche der Psychologie, sie gehören neben Motivation, Emotion oder Bewusstsein zu den Hauptfeldern der Allgemeinen Psychologie, deren Forschungsbereich sich über diejenigen psychischen Prozesse erstreckt, die allen Menschen gemein sind. Auch die Psychoanalyse beschäftigt sich seit Freuds Zeiten mit ihnen. Zwar ging Freud in seiner nervenärztlichen Praxis bei der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Behandlungsmethode von der klinischen Arbeit aus, aber neben der Entwicklung eines Verständnisses der psychodynamischen Grundlagen psychopathologischer Symptome ging es ihm von Beginn seiner psychoanalytischen Arbeiten an darum, etwas über das Funktionieren der menschlichen Psyche herauszufinden. Die Betrachtung von Träumen etwa dient daher nicht nur der Deutung von Träumen, die neurotische Patienten1 in Behandlungen einbringen, sondern immer auch der Erkundung der Mechanismen der Traumarbeit, von denen Freud – zurecht – annahm, dass es keine prinzipiell anderen seien als die des Wachbewusstseins und auch keine prinzipiell anderen als die psychisch gesunder Menschen. Freud studierte am Beispiel der Traum- oder der Symptombildung die allgemeinpsychologischen Grundlagen menschlichen Erlebens (noch deutlicher betont dies beispielsweise Hartmann, 1927).

Eine Theorie des psychischen Apparates und der Prozesse des Denkens, Lernens, Wahrnehmens und Erinnerns steht also am Ausgangspunkt und im Zentrum der psychoanalytischen Theorie. Alle vier für sich genommen große Bereiche, werden in der Psychoanalyse dadurch noch größer, dass meist ein recht weit gefasstes Verständnis vertreten wird. »Denken« ist nicht nur Kognition und umfasst nicht nur Prozesse, sondern auch Gegenstände des Denkens, also die psychische Repräsentation und die psychischen Repräsentanzen. »Wahrnehmen« bezieht sich nicht nur auf Perzeption, sondern auch auf die Introspektion. »Erinnern« (ebenso wie »Vergessen«) sind Bestandteile jedes psychischen Vorgangs, jedes psychische Erlebnis ist beeinflusst durch vorangegangene.

So sehr auch die Felder und Anliegen der Allgemeinen Psychologie des Denkens und Lernens, Wahrnehmens und Erinnerns und die Felder und Anliegen der Psychoanalyse sich also in wichtigen Bereichen ähneln und deshalb einen interdisziplinären Austausch sinnvoll erscheinen lassen, so sehr muss auch konstatiert werden, dass von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt sehr unterschiedliche Wege genommen wurden. Von beiden Seiten sind teils scharfe Abgrenzungen erfolgt und nur in Einzelfällen und spät ist es zu wirklichen interdisziplinär-wissenschaftlichen Dialogen gekommen (zu nennen sind die Arbeitsgruppe um Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, z. B. 1998; oder auch die Arbeiten Buccis, z. B. 1997).

Die Gründe für die Abgrenzung liegen vermutlich auf Seiten der Allgemeinen Psychologie und Kognitionswissenschaften im hohen Abstraktionsgrad der psychoanalytischen Konzepte, der es traditionellerweise aufwändig bis unmöglich macht, sie in testbare Untersuchungsdesigns zu überführen. Von Seiten der Psychoanalyse sind die Gründe der Abgrenzung in einem anderen Wissenschaftsverständnis zu sehen sowie vermutlich auch in einer Vorstellung, die Verbindung würde weniger dazu führen, eine psychodynamische Perspektive stärker in akademische Diskurse einzubringen und so letztlich zu profilieren, sondern zu einem Verlust der Eigenständigkeit führen.

Unsere Perspektive ist es, dass eine konstruktive Annäherung von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie für beide Disziplinen nützlich ist. Einerseits für die Allgemeine Psychologie, etwa in Form einer Ausweitung ihres Forschungsbereiches auf dynamisch unbewusste Denkvorgänge, und andererseits für die Psychoanalyse durch eine kognitionspsychologische Anreicherung und möglicherweise Konkretisierung ihres theoretischen Gerüsts. Nach Granzow (1994) kann eine Integration der beiden Disziplinen auf vier Ebenen geschehen (a. a. O., S. 197):

•  auf einer deskriptiven Ebene (bzgl. der Befunde)

•  auf der Ebene der (gemeinsamen) Modellbildung

•  auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Gedächtnistheorie angesichts kognitionspsychologischer Befunde

•  auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Metapsychologie (mit dem Ziel des Schaffens einer gemeinsamen methodologischen Rahmung).

Im vorliegenden Band zeichnen wir vor dem Hintergrund der gemeinsamen Anliegen von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse beide Wege der Auseinandersetzung mit Denken und (in geringerem Umfang) Lernen nach und skizzieren Felder einer möglichen Integration beider Disziplinen auf der von Granzow ausgewiesenen deskriptiven Ebene. Dabei werden zunächst die Differenzen und Divergenzen in den entwickelten Modellen und Konzepten deutlich werden, zwischendurch jedoch auch die Berührungspunkte aufblitzen. Am Ende beider Hauptteile werden wir den Versuch unternehmen, beide Perspektiven, die allgemeinpsychologische und die psychoanalytische, wieder miteinander in Kontakt zu bringen. Abschließend werden wir ein Fazit ziehen und Vorschläge für eine psychoanalytisch informierte Allgemeine Psychologie bzw. eine kognitionswissenschaftlich anschlussfähige(re) Psychoanalyse machen.

Einiges wird dabei notgedrungen am Rande oder außen vor bleiben müssen. Die Auseinandersetzung mit dem Denken ist kein Phänomen, das erst mit Aufkommen der akademischen Psychologie oder der Psychoanalyse in den Fokus menschlicher Geistestätigkeit kam. Die mannigfaltigen philosophischen Positionen (und darin Vorläufer einer psychologischen und psychoanalytischen Sicht) können wir im vorliegenden Rahmen nicht aufgreifen. Ebenso werden Aspekte von Motivation und Emotion als Teile der Allgemeinen Psychologie und als Kernstück psychoanalytischer Theorie unberücksichtigt bleiben, wir können dazu auf den entsprechenden Band der Reihe »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert« hinweisen (Benecke & Brauner, 2017). Ebenso werden wir Fragen nach Repräsentation, Symbolisierung oder Mentalisierung nur kursorisch streifen (vgl. dazu Deserno, 2020, in der vorliegenden Reihe), und auch den Bereich der psychoanalytischen Behandlungstechnik (Mertens, 2015) sowie die spezielle Krankheitslehre (und deren Spezifika im Hinblick auf Denken, Wahrnehmung und Gedächtnis) weitgehend außen vor lassen müssen. Allgemeine Diskussionen psychoanalytischer Konzepte finden sich in der Buchreihe »Grundelemente psychodynamischen Denkens« (Storck, 2018a, b, 2019b, c, 2020a, b u. a.).

Zusammenfassung

Denken, Lernen, Wahrnehmung und Gedächtnis sind große Bereich des menschlichen Lebens und Erlebens. Der Ausgangspunkt, den die Allgemeine Psychologie und die Psychoanalyse dabei wählen, ist im Großen und Ganzen derselbe, allerdings sind die Grundannahmen und die Methoden der Untersuchung unterschiedlich, sodass sich Divergenzen, gerade in der Konzeptgeschichte ergeben. Die psychoanalytischen Auffassungen zu den vier Gegenstandsbereichen sind in der Regel weiter gefasst; auch dies lässt eine zeitgenössische Untersuchung der Berührungspunkte zu einer Herausforderung werden. Nichtsdestoweniger haben falsche Vorstellungen von Abgrenzungen, insbesondere seitens der Psychoanalyse, dazu geführt, dass viele interdisziplinäre Möglichkeiten ungenutzt bleiben – auch wenn es Ausnahmen gibt. Eine zunächst konzeptuelle Vermittlungsarbeit ist erforderlich und wird im vorliegenden Band versucht.

Weiterführende Literatur

 

Bucci, W. (1997). Psychoanalysis and cognitive science. A multiple code theory. New York, London: Guilford.

Mertens, W. (2014). Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Eine Standortbestimmung. Stuttgart: Kohlhammer.

Storck, T. (2019a). Freud heute. Zur Relevanz der Psychoanalyse. Berlin u. a.: Springer.

Fragen zum weiteren Nachdenken

•  Wie unterscheidet sich das Menschenbild innerhalb der Kognitionswissenschaften und von dem der Psychoanalyse?

•  Wie können psychoanalytische Konzepte in einer Weise operationalisiert werden, dass sie den methodischen Vorgehensweisen anderer Wissenschaften zugänglich werden?

1     Wir verwenden im Weiteren die grammatikalisch männliche Form; sofern nicht anders ausgewiesen, sind damit jeweils alle anderen Geschlechter mit einbezogen.

2          Grundzüge einer Allgemeinen Psychoanalyse

 

 

Einführung

Die Psychoanalyse legt eine Theorie des Psychischen vor und schließt dabei verschiedene Aspekte ein. Ihre Spezifität findet sie in der Konzeption dynamisch unbewusster Prozesse und Erlebnisaspekte, in der Annahme psychischer Konflikte als wichtiges Antriebsmoment für psychische Entwicklung und psychische Prozesse, sowie in einer weit gefassten Auffassung des Denkens, in dem die Bildung und das Wirken von Objektvorstellungen von zentraler Bedeutung sind. Freuds Modelle des psychischen Apparates wandeln sich im Verlauf der Entwicklung seines Werkes, nachfolgende Analytiker nehmen auf unterschiedliche konzeptuelle Bestandteile Bezug. In heutiger Perspektive ist leitend, das dynamisch Unbewusste nicht »lokalistisch« misszuverstehen, sondern als bestimmte Kennzeichen des Erlebens (Brüche, Verdichtungen, Auslassungen). Außerdem ist leitend, eine triebtheoretische mit einer objektbeziehungstheoretischen Sichtweise zu verbinden, ebenso wie konfliktbedingte mit strukturbedingten Aspekten.

Lernziele

•  Die Konzeptionen eines dynamisch Unbewussten, der Konflikttheorie und der Objektvorstellungen als Spezifika der psychoanalytischen Theorie des Psychischen kennenlernen.

•  Einen Überblick über Freuds topisches Modell und Instanzen-Modell erhalten.

•  Die psychoanalytische Theorie des Denkens als gegenüber der allgemeinpsychologischen als weiter gefasst einordnen können.

Wenn es im vorliegenden Rahmen um die Verbindungen der Psychoanalyse zu Denken und Lernen als Bereichen der Allgemeinen Psychologie geht, dann ist zunächst zu klären, von welchen Grundgedanken eine psychoanalytische Perspektive im Hinblick auf Bewusstsein/Unbewusstes oder die Gegenstände des Denkens ausgeht.

Wir folgen dabei drei Annahmen zur Spezifität der psychoanalytischen Theorie des Psychischen:

1.  Der Leitgedanke der Psychoanalyse ist es, eine Psychologie unter Einbezug dynamisch unbewusster Prozesse und Erlebnisaspekte zu formulieren.

2.  Die Psychoanalyse legt eine Konflikttheorie des Psychischen vor, es geht um eine Psychodynamik aus widerstreitenden Motiven, Vorstellungen oder Affekten, die sich als unbewusste psychische Konflikte darstellen.

3.  In der Psychoanalyse nehmen Konzeptualisierungen des Psychischen in Richtung der Repräsentation von Selbst und »Objekten« eine zentrale Rolle ein. Daher verwendet die Psychoanalyse eine weit gefasste Auffassung von »Denken« als psychisches Erleben einschließlich psychischer Repräsentanzen als Gegenstände des Denkens.

Zur Diskussion dieser Annahmen werden wir skizzenhaft ein Psychoanalyse-Verständnis vorschlagen (Storck, 2018c, Kurzform in Storck, 2019a).

2.1       Psychoanalytische Metapsychologie als Psychologie des Unbewussten

Freuds Ziel besteht erklärtermaßen darin, die Psychoanalyse als eine »Metapsychologie« zu formulieren, eine »hinter das Bewußtsein führende Psychologie« (Freud, 1985, S. 329). Das ist zu seiner Zeit ungleich origineller gewesen als es uns heute erscheinen mag. Denn das Vorhaben ist vor dem Hintergrund der sich gerade konstellierenden Psychologie seiner Zeit zu sehen und etwa im Kontext der Annahmen eines seiner akademischen Lehrer, Franz Brentano. Brentanos Intentionalitätslehre lässt sich als Teil einer naturwissenschaftlichen Psychologie begreifen, in ihr ist die Annahme entscheidend, dass Bewusstsein gerichtet ist, es ist Bewusstsein von etwas, statt ein reiner, objektloser Zustand. Eine Folgerung daraus ist, dass es widersinnig erscheinen muss, von der (gerichteten) Unbewusstheit von etwas auszugehen – mit der Konsequenz, dass das Unbewusste aus dem Gegenstandsbereich einer solchen Theorie des Psychischen ausgeklammert bleibt. Hier setzt Freud an und so erhält sein Anliegen einer Psychologie des Unbewussten seine besondere Bedeutung2.

Über den Verlauf seiner Arbeiten hinweg beschreibt Freud das Unbewusste in unterschiedlicher Weise, eingebettet in unterschiedliche Modelle des psychischen Apparates (vgl. Sandler et al., 1997). Freud geht dabei in seiner Arbeit Entwurf einer Psychologie (Freud, 1950a) (verfasst 1895, aber erst posthum veröffentlicht) auch von einem neuropsychologischen Modell aus, ferner steht zu Beginn der Entwicklung der Psychoanalyse das Affekt-Trauma-Modell im Zentrum, in dem (neurotische) Symptome derart verstanden werden, dass hier Vorstellung und Affekt nicht mehr als miteinander verbunden, sondern dissoziiert sind (aber die zugrundeliegende Verbindung psychisch wirksam ist). In veröffentlichter Form ist die Traumdeutung (Freud, 1900a) hier die Grundlage für das darauffolgende topische Modell eines Denkens in psychischen »Systemen«, dem topischen Modell, in dessen Rahmen Freud sich auch in den metapsychologischen Schriften (etwa 1911–1920) bewegt. Hier denkt er sich psychische Strukturen als »Systeme«: Bewusstsein (Bw), Vorbewusstes (Vbw) und Unbewusstes (Ubw).

2.1.1     Das topische Modell des Psychischen

Besonders relevant ist hier die Unterscheidung zwischen einem Unbewussten in deskriptiver und in dynamischer Hinsicht. Das topische Modell dreier Systeme des psychischen Apparates – »[W]ahrscheinlich geht das Denken in Systemen vor sich« (Freud, 1915e, S. 301) – folgt dieser Differenzierung. Was dem System Vbw zugehörig ist, ist in deskriptiver Hinsicht unbewusst, d. h. es ist aktuell nicht Gegenstand des bewussten Erlebens, aber es ist bewusstseinsfähig (nämlich sobald eine Aufmerksamkeitsbesetzung hinzu kommt). Das dem System Ubw Zugehörige ist noch in darüber hinausgehender Weise unbewusst, nämlich insofern es nicht bewusstseinsfähig ist; es ist dynamisch unbewusst, weil es in psychodynamischer Hinsicht vom bewussten Erleben ferngehalten wird. Dynamisch unbewusst ist oder wird etwas, wenn/weil dem Bewusstwerden etwas entgegensteht, da dies mit Unlust verbunden wäre, d. h. mit einem unangenehmen Affekt. Freud konzipiert ein Kräftespiel des Psychischen, zwischen drängenden und verdrängenden Kräften. Dies ruht auf dem psychoanalytischen Verständnis des Triebes (als einer allgemeinen Motivationsstruktur) und der Psychosexualität. Im Hinblick auf das Unbewusste ist entscheidend, dass bestimmte Vorstellungen sowohl lustvoll/befriedigend sind (Wunscherfüllungen) als auch Unlust mit sich bringen (Scham, Angst oder Schuld). Ist die »Bilanz« hier zu Seiten des Unlustvollen verschoben, wird etwas abgewehrt und so im dynamischen Sinn unbewusst. Freud bezeichnet es als »Bedingung der Verdrängung […], daß das Unlustmotiv eine stärkere Macht gewinnt als die Befriedigungslust.« (Freud, 1915d, S. 249)

Abwehr

Dabei geht es Freud um die Konzeption einer psychischen Abwehr (vgl. Storck, 2021). Zunächst einmal lassen die Verdrängung ( 5.2.1) beschreiben, also ein psychischer Mechanismus, der einer Vorstellung den Zugang dem Bewusstsein verwehrt. Da diese allerdings aufgrund ihres lustvollen Charakters zugleich immer weiter ins Bewusstsein drängt, muss einerseits die Verdrängung mehr oder minder kontinuierlich aufrechterhalten werden, andererseits treten weitere Abwehrmechanismen hinzu, die für eine psychische »Umarbeitung« der als solcher verpönten Vorstellung sorgen, etwa eine Verschiebung von einer auf eine andere Person. Eine solche Kompromiss- oder Ersatzbildung ist dann bewusstseinsfähig. Eine Vorstellung kann also in entstellter Form bewusst werden, darin wird der zugrundeliegende Wunsch zugleich ausgedrückt und verborgen.

Freud (1915e, S. 279) beschäftigt sich mit der Frage, wie sich nun Übergänge zwischen den psychischen Systemen im Rahmen seines topischen Modells beschreiben lassen. Er wendet sich gegen die Annahme einer Verdopplung von Vorstellungen zwischen den Systemen (einmal die umgearbeitete im System Bw und einmal die »eigentliche« im System Ubw), sondern führt eine sprachbezogene Konzeption ein (a. a. O., S. 300). Für ihn setzt sich eine bewusste/bewusstseinsfähige (Objekt-)Vorstellung aus zwei Teilen zusammen, der Sach- und der Wortvorstellung. Abwehrprozesse, zumindest neurotische, setzen an diesem Zusammenhang an, sodass die Sachen ohne die Worte (in Inszenierungen ohne Reflexion) oder die Worte ohne die Sachen (in einer unlebendig und affektleer wirkende Sprache und Form des Erlebens) vorgestellt werden (vgl. a. Lorenzer, 1970a, S. 96 ff.). Freuds Frage nach den Übergängen zwischen den Systemen – die er u. a. über die Annahme zwischen den Systemen wirkenden Zensuren beantwortet, was ihn letztlich zur Formulierung des Über-Ichs führt – lässt sich also sprachbezogen darüber beantworten, dass es sich über solchen Übergängen um Vorgänge im Zusammenhang des Umgangs mit (sprachlichen) Symbolen handelt (vgl. a. Zepf, 2006a).

Eigenschaften des Systems Ubw und Logik des Primärprozesses

Im Zuge des topischen Modells formuliert Freud (1915e, S. 285 f.) ferner Eigenschaften des Systems Ubw, unter diesen ist besonders bedeutsam, dass »keine Negation, kein[..] Zweifel, keine Grade von Sicherheit«, sowie »überhaupt keine Beziehung zur Zeit« bestünden (wobei zu beachten ist, dass hier die lineare, chronologische Zeit gemeint ist). Das System Ubw folge dem Lust- statt dem Realitätsprinzip (es werden also nicht soziale Folgen oder andere Konsequenzen beachtet) und den »Regeln« des Primärprozesses ( Kap. 3.2.1). Hier ist Freuds Unterscheidung zwischen dem Primär- und dem Sekundärprozess berührt, der für den Bezug auf zeitgenössische Modelle des Denkens oder Wahrnehmens von hoher Bedeutung ist. Vereinfacht gesagt, meint Freud, dass die grundlegenden Prozesse des Psychischen primärprozesshaft sind, d. h. auf Lust und Befriedigung »ohne Aufschub« abzielen. Der Sekundärprozess, das Denken im engeren Sinn, auch als inneres Probehandeln (Freud, 1911b, S. 233), ist für Freud ein Umweg zur Befriedigung (vgl. Freud, 1900a, S. 607), unter Antizipation drohender Unlust, unangenehmer sozialer Folgen. Bereits die Freud‘schen Bemerkungen und umso mehr eine zeitgenössische Lesart weisen darauf hin, dass es die Verhältnisse innerhalb der Vorstellungswelt sind, die im Hinblick auf Unbewusstes entscheidend sind – und zwar sowohl hinsichtlich verschiedener Funktionsprinzipien des Denkens (Primär- und Sekundärprozess) (vgl. Feurer, 2011, S. 11 f.) als auch hinsichtlich der Denkinhalte, also der Vorstellungen. Wird etwas bewusst, dann in Relation zu anderen Vorstellungen und zu Affekten. Wenn solcherart »bewusst« und »unbewusst« keine getrennten Merkmale sind, sondern sich auf Verhältnisse zwischen Vorstellungen beziehen und Unbewusstes »nirgendwo anders« als das Bewusste ist, sondern sich an diesem, als eine Verzerrung, Auslassung oder Überdeterminierung zeigt, dann ist es ferner nützlich, auch vom Primär- und Sekundärprozess als konzeptueller Abstraktionen auszugehen, die mehr affekt- und mehr vernunftsgeleitete Mechanismen auf den Begriff bringen.

2.1.2     Das Instanzen-Modell

An die Formulierung des topischen Modells verschiedener psychischer Systeme schließt sich in der Freud‘schen Theorie-Entwicklung das Struktur- oder Instanzen-Modell an (etwa ab 1923). Hier geht es um die Instanzen Ich, Über-Ich und Es (vgl. Freud, 1923b, S. 251 ff.). Während das Über-Ich als Instanz verstanden wird, die aus der Verinnerlichung elterlicher Gebote und Verbote und dem Maß an Liebe und Hass diesen gegenüber gebildet wird, gilt die Es-Instanz als Bereich der Triebregungen und des Unbewussten. Das Ich ist bei Freud etwas uneindeutig definiert, mal bezieht er sich damit er auf die Vorstellungen der eigenen Person (in heutiger Perspektive eher: das Selbst), mal auf die Funktionen, die dem Ich zugeschrieben werden, in dessen Aufgabe, zwischen Gewissen, Triebhaftigkeit und sozialer Umwelt zu vermitteln.

Freud war zuvor an die Grenzen des topischen Modells gestoßen, in erster Linie durch die Frage, wie im Psychischen »entschieden« wird, welche Vorstellungen für das Bewusstsein unannehmbar ist (wo also eine psychische »Zensur«-Instanz zu verorten wäre) und wie die Abwehr einerseits unbewusst wirken kann, andererseits aber nicht dem Lustprinzip unterliegt oder primärprozesshaft von statten geht. Insofern steht im Instanzenmodell im Zentrum, dass es dem Über-Ich als Instanz von Gewissen oder Moral obliegt, das Ich zu bewerten und gegebenenfalls innerpsychisch anzuklagen (für Handlungen und Vorstellungen!) bzw. dafür, den Strebungen des Es nicht Einhalt geboten zu haben. Die Abwehr, die notwendigerweise unbewusst verlaufen muss, andernfalls würde ihr Gegenstand, das Abgewehrte, ja ebenfalls bewusst, schreibt Freud nun dem Ich zu, sodass sich nicht schlicht eine Umsetzung der Systeme des früheren Modells zu Instanzen im späteren ergibt.

2.2       Psychoanalyse als Theorie psychischer Konflikte

Die psychoanalytische Theorie des Psychischen gründet auf dem (unbewussten) Konflikt, es geht um die Konzeption eines innerpsychischen Kräftespiels aus Drängendem und Verdrängendem. Wir haben bereits angedeutet, dass sich dafür argumentieren lässt, dass im Triebkonzept der Psychoanalyse eine Theorie der allgemeinen Motivation beschrieben ist, es zeigt sich darin, wie sich physiologienahe Erregung in psychisches Erleben umsetzt (Storck, 2018a). Der Trieb steht am Anfang des Psychischen, liegt allem zugrunde, womit nun allerdings gerade nicht gemeint ist, dass jedes einzelne psychische Motiv triebhaft (sexuell, aggressiv) wäre, sondern vielmehr, dass unsere Leiblichkeit (in Interaktion mit anderen) es uns auferlegt, uns darauf psychisch einen Reim zu machen, also Repräsentanzen zu bilden. Für eine Theorie der speziellen Motivation muss hingegen auf den Konfliktbegriff zurückgegriffen werden.

Es lassen sich verschiedene Linien unterscheiden, mittels derer psychoanalytisch begründet werden kann, weshalb die menschliche Psyche grundlegend auf dem Konflikt aufbaut (Storck, 2018b). Eine erste dieser Linien hat damit zu tun, dass sich frühe Interaktionsprozesse zwischen Säugling/Kleinstkind und Erwachsenem auch derart vollziehen, dass es ein und dieselbe Interaktion sein kann, die beruhigend ist und zugleich stimulierend. Es zeigt sich potenziell Gegenläufiges, gerade in der Freud‘schen Terminologie, die zwischen Lust/Befriedigung (Absinken einer Reizintensität) und als unlustvoll erlebter Erregung (Steigerung der Reizintensität) unterscheidet und beide zu Gegenspielern macht. Hierauf gründet sich das Lustprinzip, das vollständig eigentlich Luststreben-Unlustvermeiden-Prinzip heißen müsste – was deutlich macht, dass beide Motive der Möglichkeit nach Gegenteiliges vorgeben können. Eine zweite Linie der Begründung allgemeiner menschlicher Konflikthaftigkeit liegt im Erfordernis verbindende und trennende Aspekte in Beziehungen in der Balance halten bzw. eine Ambivalenz aus »positiven« und »negativen« Affekten, Wünschen nach Nähe und solchen nach Abgrenzung psychisch tolerieren zu können. Die dritte Linie menschlicher Konflikthaftigkeit aus psychoanalytischer Perspektive, die damit in Verbindung steht, ist in der Theorie ödipaler Konflikte zu sehen. Kurz gesagt geht es darin bei Freud (z. B. 1916/17, S. 344 f.) darum, dass ein Kind sich (zärtliche) exklusive Nähe zu einem Elternteil wünscht und dabei darauf stößt, dass der Platz dort schon vom anderen Elternteil besetzt ist (bereits Freud beschreibt vier Varianten von Junge und Mädchen zu Vater und Mutter). Das mobilisiert Rivalitäts- und »Beseitigungs-«Wünsche. Konflikthaft ist dies nicht bloß deshalb, weil man hier »den Kürzeren« ziehen könnte, sondern schlicht deshalb, weil der »störende« Elternteil als Dritter nicht bloß aus dem Weg soll, sondern ebenso geliebt und als Figur in einem Geflecht von Beziehungen gebraucht wird, die Nähe und Abstand in Zweierbeziehungen zu moderieren hilft (vgl. a. Green, 2004; Barratt, 2019).

Seit Melanie Kleins Konzeption (z. B. Klein, 1928) kann gesagt werden, dass sich diese Entwicklungsaufgaben von Beginn des Lebens an stellen, bereits dort geht es um die Erfahrung, dass es in der Welt mehr als nur eine Beziehung gibt und sukzessive auch die Erfahrung, dass es passagere und relative Ausgeschlossenheit aus Beziehungen geben kann, der wir ausgesetzt sind. Anders ausgedrückt: Wir finden in der Welt auch andere Beziehungen als nur die, die andere zu uns haben, wir »merken«, dass diejenigen Personen, zu denen wir in Beziehung stehen, manchmal auch zueinander in Beziehung stehen. In seiner Grundstruktur bleibt der Ödipuskonflikt dann in zeitgenössischer Perspektive nicht begrenzt auf klassische Konzeptionen von Familie oder Geschlecht, sondern lässt sich auch auf die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Partner oder alleinerziehende Elternteile beziehen. Zusammengefasst kann man sagen, dass sich ödipale Konflikte um Generationen- und Geschlechterunterschiede drehen und um die Auseinandersetzung damit, dass es Beziehungen zwischen mehr als zweien (bzw. andere als die zu einem selbst) gibt (Storck, 2018b).

2.3       Besonderheiten der psychoanalytischen Theorie des Denkens: Repräsentanz und Symbolisierung

Der Psychoanalyse geht es um die Darstellung des Psychischen als einer Welt der Repräsentanzen (von uns hier synonym mit Vorstellungen verwendet) (Storck, 2019c). Damit ist bereits terminologisch auf den Punkt gebracht, dass es um die Konzeptualisierung dessen geht, wie sich konkrete Interaktionserlebnisse in psychischen Beziehungsvorstellungen niederschlagen. Diese können als die »Bausteine« des Psychischen gelten, aus ihnen lassen sich Repräsentanzen von Selbst und Anderen herauslösen. Dass letztere psychoanalytisch meist unter dem missverständlichen Begriff »Objekte« auftauchen, hat mit der Begründung in Freuds Triebtheorie zu tun. »Objekt« meint zunächst Objekt triebhafter Besetzung, letztlich aber nichts anderes als das Vorstellungsobjekt, gebildet in Auseinandersetzung mit der konkreten Person der interpersonellen Welt (vgl. zur unbelebten Objektwelt z. B. Searles, 1960).

Zwei entwicklungspsychologische Figuren unterliegen der psychoanalytischen Theorie der Repräsentanzwelt, einmal Konzeptionen des Erlebens von Getrenntheit zwischen Selbst und Nicht-Selbst, einmal Überlegungen zur Symbolisierung.

In den meisten psychoanalytischen Theorien wird von einer primären Ungetrenntheit zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu Beginn der psychischen Entwicklung ausgegangen. Winnicott (1960, S. 587) formuliert, es gebe »so etwas wie das Baby« nicht (d. h. im subjektiven Erleben nicht als unterschieden von der Umwelt), was bedeutet, dass es in der Erlebnisperspektive in einer Art Selbst-Universum lebt, in der alles zu ihm gehört. Es sind Erfahrungen von Berührtwerden als Erfahrungen von Kontakt an einer Grenze, die über eine Internalisierung von Körpergrenzen (und dem Spüren eines »anderen« Körpers) auch zu einer psychischen Konzeption des Selbst in Relation zum Anderen führen kann. Mit diesen Konzeptionen stehen Modelle der Symbolisierung und deren Entwicklung in enger Verbindung. Entwicklungspsychologisch ist hier besonders relevant, wie Abwesenheit in der Wahrnehmung in Anwesenheit in der Vorstellung umgesetzt werden kann. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass es eine »hinreichend gute« frühe Bezugsperson sein soll, die dem Kind Entwicklung ermöglicht, auch dahingehend, ihm entwicklungsangemessene Frustrationen zuzumuten bzw. kann gesagt werden, dass unmittelbare und immerfort währende Befriedigung von Bedürfnissen sich gar nicht realisieren lässt, sodass Mangel, Abwesenheit und auf diese Weise auch Getrenntheit und Differenz spürbar werden. Erste Vorstellungen davon, »wo Mama ist«, wenn sie nicht bei einem ist, helfen bei diesem Entwicklungsschritt3. Auf diese Weise nämlich kann der Gedanke »Mama ist nicht da«, eine Negation in der Wahrnehmung also, seinerseits negiert werden zu »Mama ist nicht nicht da«, denn sie ist in der Vorstellung anwesend, als inneres Objekt, das erinnert, vermisst und dessen Rückkehr ersehnt werden kann. Dabei nun hilft der »Vater« bzw. jemand, der eine zur primären Bezugsperson alternative Beziehung anbietet, auf zweierlei Weise: Einmal liefert er eine Erklärung für die Abwesenheit (gibt ihr einen Platz außerhalb von einem selbst), und einmal bietet er eine alternative Beziehung an, die Abwesenheit tolerabel werden lässt und Nähe und Abstand in der Dyade zu moderieren, zu begrenzen und zu öffnen hilft.

Zusammenfassung