Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Psychotische Störungen lassen sich bestimmen als Störungen des Denkens oder des Ichs. Die berührten Bereiche gehören zu ihren zentralen Feldern, und doch hat die Psychoanalyse einen langen Weg genommen, um sich auf das spezifische Feld psychotischer Störungen zu beziehen. Im vorliegenden Band geht es um eine Prüfung psychoanalytischer Konzepte für die Konzeptualisierung und Behandlung v.a. der Schizophrenie. Dazu werden vor dem Hintergrund psychoanalytischer Entwicklungstheorie, Methodologie und Konzeptbildung die konzeptuellen Linien nachgezeichnet sowie eine zeitgenössische Sicht entwickelt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 319
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek
Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger
Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:
https://shop.kohlhammer.de/horizonte.html
Die Autoren
Prof. Dr. Timo Storck, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker und psychologischer Psychotherapeut, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Mitherausgeber der Zeitschriften »Forum der Psychoanalyse« und »Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung« sowie der Buchreihe »Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie«. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Konzeptforschung und Methodologie, insbes. Verstehensprozesse, Filmpsychoanalyse, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.
Daniel Stegemann, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker und psychologischer Psychotherapeut, jahrelange Tätigkeit in der ambulanten und stationären gemeindepsychiatrischen Versorgung von Menschen mit psychotischen Erkrankungen.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032998-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032999-7
epub: ISBN 978-3-17-033000-9
Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies der Arzt und Philosoph Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte er entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Viel mehr forderte Jaspers dazu auf, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischem als auch auf psychotherapeutischem bzw. sozialpsychiatrischem Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.
Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers-Bibliothek « möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.
Oldenburg/Berlin/KemptenMatthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger
Vorwort zur Reihe
1 Einleitung
2 Zum konzeptuellen und methodischen Verständnis von Psychoanalyse
2.1 Skizze der psychoanalytischen Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie
2.1.1 Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie
2.1.2 Die psychoanalytische Entwicklungstheorie im Hinblick auf Körperlichkeit, Denken und Fühlen
2.2 Skizze des psychoanalytischen Verstehens und der Konzeptbildung
2.2.1 Die Kritik Jaspers’ am psychoanalytischen Verstehen
2.2.2 Klinisches Verstehen
2.2.3 Methodologie des Verstehens
2.2.4 Konzeptbildung
2.2.5 Fallbeispiel A.
2.3 Nosologie, Biologie, Psychopharmakologie, Psychotherapieforschung
2.3.1 Zu Nosologie und Diagnostik
2.3.2 Zum Ausdruck »psychotisch« in der Psychoanalyse
2.3.3 Genetische und neurobiologische Aspekte der Schizophrenie
2.3.4 Psychopharmaka
2.3.5 Forschungsergebnisse zur psychodynamischen Therapie psychotischer Störungen
3 Traditionslinien
3.1 Freud
3.1.1 Freuds Kommentar zum Fall Daniel Paul Schreber
3.1.2 Zu Freuds Annahme der verdrängten Homosexualität
3.1.3 Wort- und Sachvorstellungen
3.1.4 Weitere Bemerkungen zur Psychose
3.1.5 Das Problem der Übertragung in der »narzisstischen Neurose«
3.2 Nordamerika: Von der Ich-Psychologie zur Relationalität
3.2.1 Victor Tausk und der »Beeinflussungsapparat«
3.2.2 Paul Federn und die (Körper-)Ich-Grenzen
3.2.3 Harry Stack Sullivan und der interpersonelle Ansatz
3.2.4 Chestnut Lodge
3.2.5 Harold F. Searles: Gestörte Fähigkeit zur Integration und Differenzierung
3.3 Britische Objektbeziehungstheorie
3.3.1 Melanie Klein: Die paranoid-schizoide Position in der psychischen Entwicklung
3.3.2 Herbert Rosenfeld: Destruktiver Narzissmus und chronische Verwirrung
3.3.3 Wilfred R. Bion: Vom Hass auf die Realität zur Bildung bizarrer Objekte
3.3.4 Donald W. Winnicott: Vom Nutzen des überlebenden Objekts
3.3.5 Zusammenfassung und weitere Aspekte
3.4 Frankreich: strukturale Psychoanalyse und darüber hinaus
3.4.1 Jacques Lacan: Die Verwerfung der symbolischen Ordnung
3.4.2 Paul-Claude Racamier: Überlebensprinzip, Ursprungskonflikt und Anti-Ödipalität
3.4.3 André Green: Negative Halluzination, Desobjektalisierung und weiße Psychose
3.4.4 Zusammenfassung und weitere Aspekte
3.5 Weitere Linien
3.5.1 Gaetano Benedetti: Personalität und Ichdesorganisation als »Todeslandschaft«
3.5.2 Stavros Mentzos: Dilemmata und Funktion der Dysfunktionalität
3.5.3 Hermann Lang: Die strukturale Triade
3.5.4 Salomon Resnik: Traumlogik und Körperlichkeit
3.5.5 Yrjö O. Alanen: Familientherapeutischer und selbstpsychologischer Ansatz
3.5.6 Giuseppe Civitarese: Transformation in Halluzinose
3.5.7 Franco De Masi: Emotionales Unbewusstes und Befriedigung in der Wahnwelt
3.5.8 Die Mentalisierungstheorie
3.5.9 Joachim Küchenhoff: Psychodynamisches Faktorenmodell
4 Zu Entwicklung, Psychodynamik und Symptomatik psychotischer Störungen
4.1 Psychosoziale Entwicklung
4.1.1 Psychose als Ich-Störung
4.1.2 Psychose als narzisstische Störung
4.1.3 Psychose als Symbolisierungsstörung
4.2 Psychodynamik
4.2.1 Fallbeispiel B.
4.2.2 Unbewusstes
4.2.3 Narzissmus und Ich-Funktionen
4.2.4 Körpererleben
4.2.5 Negativität
4.2.6 Zeiterleben
4.2.7 Gestörte Fähigkeit zur Differenzierung und Integration
4.2.8 Dilemma statt Konflikt
4.3 Auslösende Situation
4.4 Symptomatik
4.4.1 Abwehr
4.4.2 Wahnbildungen
4.4.3 Halluzinationen
4.4.4 Negativsymptomatik
4.4.5 Weitere Äußerungsformen der Ich-Störung
5 Behandlung
5.1 Freuds Haltung zur Behandelbarkeit und die Frage nach der Übertragung
5.2 Die Übertragungspsychose
5.2.1 Ruth Mack Brunswick
5.2.2 Paul Federn
5.2.3 Herbert Rosenfeld
5.2.4 Harold Searles
5.2.5 Weitere Aspekte und Zusammenfassung
5.3 Haltung und Gegenübertragung
5.4 Zur Frage der Deutung
5.5 Manualisierungen
6 Psychoanalyse und Sozialpsychiatrie
6.1 Psychosoziale Aspekte einer psychiatrischen Behandlung
6.2 Sozialpsychiatrie und Psychoanalyse
6.3 Fallbeispiel E.
7 Psychoanalyse im Dialog mit Psychopathologie und phänomenologischer Psychiatrie: Grenzen und Horizonte
Literatur
Der 17-jährige Jonas K. gerät im Anschluss an den Suizid seines Vaters in eine ernste psychische Krise. In deren Verlauf sieht er sich zunehmend in der Verantwortung, eine atomare Katastrophe in seinem Heimatort zu verhindern. Dazu meint er, in der Zeit vor- und zurückreisen zu müssen, um Geschehnisse zu verhindern bzw. zu verändern, damit die Ereignisse einen anderen Verlauf nehmen. Er begegnet in diesen zeitlichen und räumlichen Parallelwelten anderen Versionen seines Ichs in verschiedenen Altersstufen. Auch reist Jonas einem seiner Freunde in die Vergangenheit nach, von dem er meint, dass dieser dort heranwachsen und sein Vater werden wird. Zunehmend entwickelt Jonas Misstrauen anderen Personen gegenüber, von denen er sich manipuliert fühlt und die mehr und mehr ihre eigenen Interessen zu vertreten scheinen. Die Erlebniswelt wird immer konfuser und undurchschaubarer: Eine Frau entpuppt sich als Tochter ihrer eigenen Tochter und verschiedene Figuren in Jonas Welt existieren mehrmals, in unterschiedlichen Altersstufen. Kinder werden entführt und zu Zeitexperimenten missbraucht, es gibt schwer durchschaubare Anklänge an Religiosität und Mystik; es wimmelt an Filiziden und Patriziden, Ereignissen können zeitlich zirkulär aufeinander wirken. Am Ende meint Jonas, die Welt gerettet und die Bedingungen für seine eigene Geburt geschaffen zu haben …
Bei dieser Schilderung handelt es sich nicht um die Vignette einer psychotischen Erkrankung, sondern um narrative Fragmente aus der TV-Serie »Dark« (2017-2020), die selbstverständlich nicht auf die Funktion, ein Störungsbild zu illustrieren und einfühlbar zu machen, reduziert werden kann und viele weitere Betrachtungsebenen zulässt, unter denen die Lesart der Darstellung einer psychotischen Dekompensation noch nicht einmal zu den naheliegenden gehören dürfte. Und doch zeigen sich im Gedankenexperiment, die gesamten Geschehnisse der Serie letztlich als eine Darstellung der krisenhaften, dekompensierten Verarbeitung des Suizids des Vaters durch Jonas zu betrachten, einige wichtige Merkmale psychotischen Erlebens: eine Verrückung des Erlebens von Raum und Zeit und der kausalen Verhältnisse darin (einschließlich der Generativität); fragmentierte, gespaltene und wieder vermischte Ich-Zustände; die Gewissheit, eine Katastrophe abwenden zu müssen; Verfolgungserleben und Misstrauen; religiöse Überhöhungen; Verlusterfahrungen; Gewalt und Bedrohung; das Erleben eigener Besonderheit für das Weltgeschehen …
Im vorliegenden Band geht es um die Erörterung psychoanalytischer Konzepte für ein Verständnis psychotischer Störungen und deren Behandlung, in erster Linie der Schizophrenie. Anthropologische oder phänomenologische Psychiatrie oder »klassische« Psychopathologie (vgl. Jäger 2016) auf der einen, Psychoanalyse auf der anderen Seite haben einander viel zu sagen. Der programmatische Ausdruck Blankenburgs (1971) zur Schizophrenie als eines »Verlusts der natürlichen Selbstverständlichkeit« kann das aufzeigen, geht es doch auch der Psychoanalyse um einen Blick auf den Zugang des Individuums zu sich selbst, mit samt aller Fallstricke, die dort zu finden sind. Aber es geht auch der Psychoanalyse darum, dass der Mensch gleichsam dazu prädisponiert ist, sich selbst zu verstehen – mit allen Grenzen, deren Ignorieren Jaspers (1946) der Psychoanalyse vorgeworfen hat, und auch unter Anerkennen des Relationalen, Bezogenen, in der das Selbstverstehen einzig zu finden ist. Die »natürliche« Selbstverständlichkeit als etwas, das dem Menschen möglich ist, aber verloren werden kann (bzw. in der psychischen Entwicklung verstellt ist), realisiert sich psychoanalytisch betrachtet als etwas, das in Beziehungen gefunden wird. Im Anderen, zu dem ich in eine Beziehung eintrete, erkenne ich erst, wer ich als derjenige, der in diese Beziehung eintritt und in dieser gesehen wird, überhaupt bin. Theunissen (1977) hat dies eindrücklich als »Veranderung« bezeichnet. Das heißt nun aber auch, dass die »Meinhaftigkeit«, die in der Psychose verloren wird, als etwas verstanden werden muss, das durch die Erfahrung von Alterität (wieder) gewonnen wird. Die Störung der »Selbstverständlichkeit« wie auch der »Meinhaftigkeit« ist also immer wesentlich eine Störung der Mitwelt, so auch bei Heinz (2014, bes. S. 251; vgl. a. Heinz 2018) im Anschluss an Plessner (1928).
Dabei ist für uns ein Blick auf die (Inter-)Personalität der Psychose und ihrer Behandlung leitend, so auch bei Küchenhoff (2012, S. 26ff), der dazu den Hinweis auf die Arbeit mit dem Fremden gibt. Es geht um eine »Konzeption personaler Identität« unter Beachtung der »Dialektik zwischen Affirmation und Andersheit, zwischen Ausschluss des Fremden und Zusammenwirken mit Fremdem«; a. a. O., S. 30), so dass es letztlich immer auch um ein Ringen um die Fremdverständlichkeit geht, wenn psychotisches Erleben konzeptualisiert und klinisch verstanden werden soll. Küchenhoff (2012, S. 99) meint, in Abwandlung des Diktums psychische Störungen seien Gehirnkrankheiten: »Psychotische Störungen sind Beziehungsstörungen« und das ist zu verstehen als Auseinandersetzung mit Verbindung und Alterität. Maldiney (2018) gebraucht Begriffe der »Transpassibilität« und der »Transpossibilität«, um zu beschreiben, wie in der Erfahrung eines Anderen ein Vermögen zur Wandlung und Entwicklung des Selbst steckt, die in der Psychose nicht möglich bzw. existenziell bedrohlich sind (Grohmann 2019, S. 137ff.).
Daher ist es unser Anliegen, diese relationale und alteritätslogische Perspektive in der Psychoanalyse herauszuarbeiten, der doch, und das nicht nur von Seiten der Psychopathologie, allzu oft der Vorwurf gemacht wird, komplexe psychische und intersubjektive Phänomene und Prozesse auf eine Libidoregression allein zurückzuführen (vgl. z. B. Heinz 2002). Wir wollen uns neben einer Darstellung unterschiedlicher Traditionslinien allerdings in erster Linie an einer Perspektive orientieren, in der psychodynamische Aspekte des Erlebens von Beziehungen und Affekten im Zentrum stehen.
Unsere Darstellung wird dabei vor allem konzeptgeleitet und weniger klinisch sein. Ein konzeptprüfender Blick orientiert sich dabei an einer Rekonstruktion der Überlegungen einzelner Autoren1 sowie an einer Zugangsmöglichkeit zu klinischen Phänomenen. Wir greifen dabei auf Fallvignetten aus jugendpsychiatrischen Behandlungen zurück, die wir jeweils im Lichte einzelner Abschnitte kommentieren. Im Verhältnis von Konzepten und Fall soll beides wechselseitig Anschaulichkeit erfahren und ein Verstehen ermöglichen. Anders als in Jaspers’ Auffassung (Kap. 2.2.1) soll so eine Verschränkung von klinischem (genetischem) Verstehen (inkl. eines Verstehen der Wahninhalte) und Theoriebildung möglich werden: Gerade die Theorie lässt verstehbar(er) werden, wie sich Seelisches aus Seelischem entwickelt, und zugleich ermöglicht das Fallverstehen die Theoriebildung, nicht in einem erklärenden, naturwissenschaftlichen Sinn, sondern in einer Perspektive darauf (vgl. Zepf 2006, S. 263), dass Theorie allgemein auf den Begriff bringt, wie sich ein Fall und Behandlungsverläufe im Besonderen darstellen (vgl. zur Diskussion von Halluzination bzw. psychotischem Zusammenbruch in der Adoleszenz z. B. Elzer 1992; Günter 2007; Zepf & Zepf 2018, oder Bronstein 2020).
Die vorliegende Arbeit selbst steht in verschiedenen Traditionslinien, so neben der im weitesten Sinn Freud’schen Psychoanalyse (vgl. Storck 2018a), insbesondere in der Linie einer Auffassung psychotischer Störungen in Richtung eines Dilemmas oder einer Bipolarität, wie sie Mentzos (2015, S. 215ff.; Kap. 3.5.2) oder Benedetti (1983; Kap. 3.5.1) formulieren. Auch das von Küchenhoff (2012) vorgeschlagene psychodynamische Faktorenmodell (Kap. 3.5.9) ist für unsere eigenen Überlegungen leitend. In jüngster Zeit sind ferner einige differenzierte Arbeiten erschienen, die für die vorliegende Arbeit von grundlegender Bedeutung sind: Schwarz et al. (2006), Küchenhoff (2012), Hartwich (2016), Dümpelmann (2018), Matakas (2020) oder die konzeptuellen Grundlagen des Manuals von Lempa, von Haebler und Montag (2017) (Kurzzusammenfassung auf internationaler Ebene zuletzt Weiß 2020). Eine wichtige Brücke, die uns ein Nachdenken über Psychoanalyse und anthropologische/phänomenologische Psychiatrie bzw. Psychopathologie erleichtern, sind die Arbeiten von Fuchs (z. B. 2012) oder Heinz (z. B. 2014).
Im Anschluss an einige einleitende Bemerkungen zu unserem Verständnis psychoanalytischer Entwicklungstheorie, psychoanalytischen Verstehens und psychoanalytischer Konzeptbildung sowie zum zugrunde gelegten Blick auf Nosologie, biologische Faktoren, Pharmakotherapie und Psychotherapieforschung (Kap. 2.1–2.3) werden wir den dritten Abschnitt den wichtigsten konzeptuellen Traditionslinien widmen; dabei gehen wir auf Freud gesondert ein und widmen uns dann dem Verständnis psychotischer Störungen in einer nordamerikanischen (in seinen Vorläufern: Federn; sowie dann v. a. der Chestnut Lodge-Gruppe, insbesondere bei Searles), britischen (Klein, H. Rosenfeld, Bion, Winnicott) und französischen (Lacan, Racamier, Green) Denkrichtung, bevor wir die Auffassungen weiterer Autoren darstellen (Benedetti, Mentzos, Lang, Resnik, Alanen, Civitarese, De Masi, Küchenhoff sowie die Konzeption der Mentalisierungstheorie). In Kapitel 4 werden wir unter einer kritisch-zusammenfassenden Perspektive die leitenden Aspekte der Entwicklungspsychopathologie und die Psychodynamik der Störung, der auslösenden Situation sowie der Symptomatik darstellen, wie sie in heutiger Perspektive verstanden werden können. Im Anschluss daran widmen wir uns in Kapitel 5 den für die Behandlungstechnik wichtigen Konzepten, mit besonderer Beachtung der Übertragungspsychose, außerdem gehen wir auf Fragen der analytischen Haltung und des Umgangs mit der Gegenübertragung sowie der Deutung ein. Den Abschluss des Kapitels liefern Überlegungen zu Modifikation und Manualisierung analytischer Behandlung psychotischer Störungen. Zwei kürzere Kapitel beschließend den Band: Zunächst gehen wir auf die Bedeutung der Psychoanalyse für die Sozialpsychiatrie ein (Kap. 6), dann diskutieren wir abschließend Horizonte und Grenzen einer Begegnung zwischen Psychoanalyse und Psychopathologie (Kap. 7).
Wir möchten uns bei Yonca İzat für die Möglichkeit der Kooperation bedanken sowie bei Maximilian Reisach für das Bereitstellen der Fallvignetten. Den Herausgebern der vorliegenden Buchreihe danken wir für die Einladung zur Beteiligung und die freundliche Begleitung des Prozesses. Außerdem danken wir Ruprecht Poensgen und Anita Brutler vom Kohlhammer Verlag für die gewohnt angenehme Zusammenarbeit.
Heidelberg und Bremen, im November 2021Timo Storck und Daniel Stegemann
1 Wir werden im Wechsel über die Kapitel das generische Maskulinum und das generische Femininum verwenden. Damit sind jeweils alle Geschlechter gemeint.
Zunächst sind einige Positionsbestimmungen vorzunehmen. Das betrifft das zugrunde gelegte Verständnis der Psychoanalyse, insbesondere ihrer Entwicklungstheorie und ihrer Perspektive auf Körperlichkeit, Denken und Fühlen (Kap. 2.1). Außerdem bedeutet eine Prüfung psychoanalytischen Denkens in Auseinandersetzung mit psychotischen Störungen zu klären, wie die Psychoanalyse in ihrem Bemühen um das Verstehen von (unbewussten) Bedeutungen klinisch vorgeht, wie sich dies methodologisch beschreiben lässt und welchen Weg die Psychoanalyse nimmt, um ihre Konzepte zu bilden (Kap. 2.2). Schließlich ist es nötig, die Grenzen des hier gewählten Zugangs abzustecken: Wir blicken in erster Linie auf die Schizophrenie. Manie und psychotische Depression wären unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten (v. a. im Hinblick auf die »Wertigkeit« von Selbst und Objekt). Wir werden darlegen, von welchem Verständnis eines »psychotischen« Symptoms wir ausgehen, sowie eine neurobiologische oder genetische Betrachtungsebene nur knapp skizzieren. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese nicht wichtig oder zentral wären, der psychoanalytische Zugang hat nichtsdestoweniger seine Stärken (und methodischen Möglichkeiten) im Bereich der psychosozialen Aspekte psychotischer Störungen. Nur knapp werden wir auf den Bereich der pharmakologischen Behandlung eingehen, indem wir die Bedeutung der Medikamentengabe und -einnahme unter der Perspektive der therapeutischen Beziehung und begleitender Vorstellungen und Gefühle betrachten. Abschließend wird es um Wirksamkeitsnachweise für psychodynamische Behandlungen der Schizophrenie gehen (Kap. 2.3).
In der Darstellung der psychoanalytischen Theorie geht es uns darum, ein zeitgenössisches Verständnis vorzulegen sowie zu kennzeichnen, welches der allgemeine Rahmen unserer Überlegungen sein soll (Storck 2018a). Zunächst erörtern wir die Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie, danach werden wir die Bereiche Körperlichkeit, Denken und Fühlen herausstellen.
Ein wesentliches Merkmal der psychoanalytischen Theorie ist der Einbezug eines dynamisch Unbewussten in die Theorie des Psychischen. Freuds Anliegen ist es, eine »Metapsychologie« zu formulieren, worunter er eine »hinter das Bewußtsein führende Psychologie« (Freud 1985, S. 329) versteht, also eine Psychologie, in der es konzeptuell ein Unbewusstes gibt, das nicht außer-psychisch ist. Freud will sich »achselzuckend über diese Idiosynkrasie der Philosophen hinaussetzen« (Freud 1925d, S. 57) und das Unbewusste ins Psychische einbeziehen2. Freud hält es für »eine unhaltbare Anmaßung zu fordern, daß alles, was im Seelischen vorgeht, auch dem Bewußtsein bekannt werden müsse« (1915e, S. 265). Dabei geht es im Besonderen um ein dynamisch Unbewusstes, also um ein Unbewusstes, das mit einem innerpsychischen Kräftespiel aus drängenden und verdrängenden Kräften im Zusammenhang steht. Zunächst konzipiert er dazu das sogenannte topische Modell des Psychischen, in dem dieses aus »Systemen« (Bewusst, Vorbewusst, Unbewusst) zusammengesetzt gedacht wird, später das Instanzen-Modell aus Ich, Es und Über-Ich (vgl. z. B. J. Sandler et al. 1997). In diesen Modellen werden psychische Konflikte konzeptualisiert.
Freud postuliert das Lustprinzip als Kern menschlicher Motivation (neben dem Realitätsprinzip, das letztlich aber nur eine auch sozial ausgerichtete Sonderform des Lustprinzips ist; Freud 1911b): Lust wird gesucht, Unlust vermieden. Lust bzw. Befriedigung empfinden wir Freud (1915c, S. 214) zufolge bei der »Herabsetzung« der Intensität eines Reizes, Unlust bei deren Ansteigen bzw. anhaltend hohem Niveau. Nun kann es Erlebniszustände geben, in denen das Motiv, Lust zu suchen, und das Motiv, Unlust zu vermeiden, gegeneinanderstehen. Es entsteht ein psychischer Konflikt: Eine Handlung oder Handlungsvorstellung verspricht Lust, zugleich aber auch unlustvolle Folgen, zum Beispiel Scham angesichts eigener Wünsche. Infolgedessen setzen Abwehrmechanismen ein, die
• sich gegen einen inneren Reiz richten,
• die Vermeidung unlustvoller Gefühle (Angst, Scham, Schuldgefühle) als Ziel haben und
• unbewusst wirken müssen, um ihr Ziel zu erreichen.
Durch die Abwehr wird etwas, durch Verdrängung, vom bewussten Erleben ferngehalten, aufgrund dessen »lustversprechender« Eigenschaften drängt es jedoch weiter ins Bewusstsein, so dass eine Umarbeitung, zum Beispiel eine Verschiebung oder eine Projektion, hinzutreten muss, damit es eine bewusstseinsfähige, aber »entstellte« Form der Vorstellung geben kann.
Ein solches Verständnis des Wirkens psychischer Konflikte ist nicht auf eine Theorie psychischer Störungen beschränkt, sondern wird in der Psychoanalyse zum wesentlichen Teil der Theorie des Menschen und seiner Entwicklung. Im Konfliktbegriff findet die Psychoanalyse ihre Theorie der speziellen Motivation (Storck 2018c): Einzelne psychische Zustände und Prozesse sind wesentlich davon gekennzeichnet, psychische Konflikte zu bewältigen. Das geht zumindest bei Freud (1900a, S. 607) so weit, dass er das Denken als solches als einen »Umweg« bezeichnet: Zwischen aktueller Wahrnehmung und Motilität schalten sich Erinnerungsspuren als Niederschlag vorangegangener lustvoller und unlustvoller Wahrnehmungen ein und hemmen u. U. einen unmittelbaren, primärprozesshaften »Erregungsablauf«. Für diese Hemmung ist bei Freud das Ich zuständig: Für Lust/Befriedigung wird ein Weg gesucht, der wenig Unlust mit sich bringt. Ein solches sekundärprozesshaftes psychisches Funktionieren kennzeichnet das Denken in seinen Grundzügen.
Lust und Unlust sind die basalen Erlebnisqualitäten, die sich dann in weitere Affekte ausdifferenzieren. Zunächst handelt es sich bei beiden aber um die qualitativen Erscheinungsformen von Erregung im Psychischen. Dabei kommt das Triebkonzept ins Spiel, hier im Sinne der metapsychologischen Schriften der 1910er Jahre. Freud (1915c, S. 214) kennzeichnet »Trieb« als einen »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem«. Als »Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle« (1905d, S. 67) stellt er in seiner Quantität (als Trieb-Drang) für das Psychische das »Maß an Arbeitsanforderung« (Freud 1915c, S. 214) dar. Aufgrund von Erregungszuständen, die unsere Körperlichkeit mit sich bringt, sind wir dazu getrieben, uns einen psychischen »Reim« darauf zu machen, was in uns vorgeht. So drängen sich uns erste psychische Erlebnisformen gleichsam auf, innere Bilder von Zuständen und Interaktionen. Im Wesentlichen ist »Trieb« dann ein psychosomatisches Konzept, denn es bezieht sich auf eine Vermittlungsfunktion zwischen Körperlichkeit und Erleben. Es ist aber auch sozialisatorisch, denn die Zustände von Erregung (und Beruhigung) sind immer eingebunden in sinnliche Erlebnisszenen mit anderen. Der Grundgedanke, dass sich Erregung (also eine Quantität, die größer oder kleiner wird) sich in qualitativ bestimmtes Erleben umsetzt, führt zur Kennzeichnung der Triebtheorie als einer Theorie der allgemeinen Motivation des Psychischen. Sie zeigt an, wie Psychisches als solches motiviert ist (Storck 2018b).
Die psychoanalytische Theorie erschöpft sich nicht in der Konzeption motivationaler Konflikte, sondern schließt auch repräsentationale ein (Storck 2021a). Es können nicht nur Lust und Unlust oder widerstreitende Affekte miteinander in Konflikt stehen, sondern auch verschiedene Aspekte des Erlebens von Selbst und anderen. In der Psychoanalyse taucht die psychische Repräsentanz anderer als »Objekt« auf. Damit ist keine Vergegenständlichung gemeint, sondern der Terminus entsteht aus der Triebtheorie, in welcher das (Trieb-)Objekt als »das variabelste am Triebe« (Freud 1915c, S. 215) auftaucht, als das am stärksten von der Erfahrung abhängige an ihm. Die andere der Interaktion ist selbst im Triebkonzept immer mitgedacht, ebenso wie in der psychoanalytischen Theorie der Sexualität. Dezidiert taucht hier in der Psychoanalyse ein erweiterter Begriff von Sexualität auf (Freud 1905d, S. 35): Sexualität meint dabei die Empfindung von Lust bzw. Befriedigung auf der Grundlage der Körperlichkeit. Dann ist folgerichtig von einer infantilen Sexualität zu sprechen und das Verständnis von Sexualität über den Bereich des Genitalen hinaus auszudehnen. Vor diesem Hintergrund steht die Theorie der psychosexuellen Entwicklungsphasen. Wie unten (Kap. 2.1.2) genauer ausgeführt werden wird, beginnen diese nicht erst mit der oralen Phase, sondern mit begrifflich bei Freud ungenau gefassten Phasen von Autoerotismus und (primärem) Narzissmus (z. B. Freud 1914c, S. 142).
In psychoanalytischer Betrachtung haben ödipale Konflikte eine wesentliche Funktion für die Entwicklung und Struktur des Psychischen. Für Freud (z. B. 1916/17, S. 342ff.) geht es dabei im Wesentlichen um die ins 5./6. Lebensjahr verortete Rivalität mit dem einen Elternteil um die Nähe zum anderen. Das wird gemäß der erweiterten Konzeption als sexuell bezeichnet, meint aber nur in seinen Abweichungen den Wunsch nach genitaler Sexualität. Freud beschreibt die Konstellation für Mädchen und Jungen bezüglich Vater und Mutter in allen Konstellationen (also auch die Wünsche des Jungen nach Nähe zum Vater und Rivalität mit der Mutter), allerdings findet es sich für den Jungen und dann in seiner »positiven« Form (also Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Nähe zum gegengeschlechtlichen) deutlicher ausformuliert. Es geht dem Jungen darum, den Vater als Rivalen an der Seite der Mutter zu beseitigen. Konflikthaft ist das zum einen aufgrund der Straferwartung durch den Vater, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass der erfüllte Wunsch, der Vater möge »weg« und beseitigt sein, eben nicht nur lustvoll ist, sondern auch schmerzhaft: Würde der Vater tatsächlich von der Bildfläche verschwinden, wäre es ein Verlust – der geliebte Vater wäre verloren und dies auch als jemand, der die Nähe zur Mutter zu regulieren helfen könnte. Darin besteht der eigentliche ödipale Konflikt im Psychischen. Die Erfüllung der lustvollen Wünsche gegenüber der Mutter und der aggressiven gegenüber dem Vater würde Unlust nach sich ziehen: Angst vor unregulierter Nähe zur Mutter, Schuldgefühle und Straferwartung angesichts der Aggression und Schmerz/Trauer angesichts des verlorenen, ebenfalls geliebten und ersehnten Vaters. Die Lösung im Freud’schen Sinn (1924d) besteht in der Identifizierung: So zu sein wie der Rivale kann heißen, dass jemand einen selbst einmal so lieben wird wie die Mutter den Vater liebt. Da ödipale Wünsche und Konflikte in verschiedenen Konstellationen auftauchen, geht es ebenso um Identifizierungen mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil.
Es liegt auf der Hand, dass ein Erleben und Empfinden in Dreier-Konstellationen nicht erst im 5. Lebensjahr beginnt. Klein (1928) beschreibt »Frühstadien des Ödipuskonfliktes«, und in einer solchen Sicht geht es bereits in den ersten Stadien der psychischen Entwicklung darum, dass Zustände von Frustration oder von passagerer Abwesenheit einer Bezugsperson eingebettet sind in ein Beziehungsangebot von mehr als einer Person. Exploration als die relative Entfernung von einer Bezugsperson ist dann möglich, wenn
• diese einen »sicheren Hafen« bereitstellt, zu dem man zurückkehren kann und
• das Sich-Entfernen von ihr bedeuten kann, zu jemand anderem in Beziehung zu treten.
Dabei ist entscheidend, die Erfahrung zu machen, dass die Personen, zu denen jemand in Beziehung steht, auch zueinander in Beziehung stehen (z. B. bei Green 1975). Das wäre eine zeitgenössische Lesart der Freud’schen Rede von der Urszene. Während diese bei Freud (z. B. 1900a, S. 590f.) noch sehr konkret darauf bezogen ist, dass das Kind Mutter und Vater beim Geschlechtsverkehr sieht, ist das Wesentliche darin, dass Mutter und Vater »hinter verschlossener Tür« etwas miteinander teilen, von dem das Kind passager ausgeschlossen ist (so z. B. bei Britton 1998, S. 157ff.). Dann ist es ein Sinnbild dafür, in der Welt nicht nur andere, sondern auch deren Beziehungen zueinander zu finden. Auf diese Weise lassen sich ödipale Konflikte allgemein auf die Auseinandersetzung mit Generationen- und Geschlechtsunterschieden beziehen sowie auf die Auseinandersetzung damit, dass es in der Welt Beziehungen gibt, die andere miteinander haben, also ein Beziehungsgeflecht, anstatt dass alle Beziehungen ausschließlich von einem selbst wie in einem Sonnensystem »wegstrahlen«. In dieser Betrachtungsweise werden ödipale Konflikte auch maßgeblich für Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Eltern oder mit einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, denn auch dann wird das Kind mit der Erfahrung konfrontiert sein, dass eine Bezugsperson noch auf etwas oder jemand anderes bezogen ist.
Im Weiteren stellen wir die psychoanalytische Entwicklungstheorie im Hinblick auf Körperlichkeit, Denken und Fühlen dar. Diese drei Bereiche werden die Grundlage dafür liefern, im Kapitel 3 die Konzeptualisierungen psychotischer Störungen einordnen zu können.
Am Beginn der psychischen Entwicklung steht auch aus Sicht der Psychoanalyse die sinnlich-körperliche Interaktion mit anderen, mit Merleau-Pontys (1964) Ausdruck: »zwischenleiblich«. Dabei ist es der Wechsel von Berührung und Nicht-Berührung, eingebettet in eine Erlebnisszene von Geruch, Stimme, Bewegung u. a., durch die und mit der Bezugsperson, der erste Erfahrung von »Kontakt an einer Grenze« mit sich bringt. Wenn Freud (1923b, S. 253) schreibt, das »Ich« sei »vor allem ein körperliches« bzw. die »Projektion einer Oberfläche«, dann verweist das darauf, dass sich die innere Repräsentation einer Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst zunächst bezüglich des Verhältnisses zwischen Körper und Umwelt zeigt.
Bei Freud findet sich der Ausdruck »Ich« in wechselnder Bedeutung, mal in der hemmenden Wirkung des Ichs auf primärprozesshafte Erregungsabläufe (z. B. Freud 1950a, S. 417), mal als das, worauf sich die Libido nach dem Abzug von den Objekten richtet (»narzisstische« bzw. Ich-Libido) (Freud 1917e) und mal als eine der Instanzen des Psychischen, die sich über ihre Funktionen (die Ich-Funktionen) bestimmt (Freud 1923b). Nach Vorschlägen H. Hartmanns (1956, S. 278) wird vom Ich als einer Organisation im Psychischen gesprochen, die durch bestimmte Funktionen gekennzeichnet ist, z. B. Realitätsprüfung, Kontrolle der Motorik u. a., während »Selbst« die psychische Repräsentanz der eigenen Person meint.
Freuds Rede vom Ich als einem körperlichen wäre daher im Grunde umzuformulieren zu: Das Selbst ist vor allem ein zwischenleibliches. Es bleibt aber der Gedanke bestehen, dass es die körperbezogene Erfahrung von Berührung als Kontakt an einer Grenze ist, welche die beginnende Repräsentation eines In-Beziehung-Stehens möglich macht, denn nur die basale Repräsentation einer Grenze kann es ja erst mit sich bringen, sich und jemand anderen als bezogen aufeinander, als in einer Beziehung stehend, zu erleben. Das ist keine momenthafte, punktuelle Erfahrung, sondern das Resultat eines Prozesses bzw. eines »Eingespieltseins« von Kind und Bezugspersonen in der frühen Entwicklung. So wird bei förderlichen Entwicklungsbedingungen eine Körperkontur internalisiert.
Das zeigt auch, wie in diesen frühen Entwicklungsstadien das Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt auf der einen, und zwischen Psyche und Soma auf der anderen Seite miteinander verbunden sind (vgl. den Ansatz von Ferrari 2004 dazu). Beide wirken aufeinander: Ist etwa die Grenze zwischen Individuum und Umwelt unklar, wird das Verhältnis zwischen Psyche und Soma gestört sein, in einer Unterbrechung einer wechselseitigen Durchdrungenheit (vgl. Lombardi 2019).
Diese frühen Internalisierungsprozesse führen dazu, Vorstellungen vom Selbst-in-Beziehung zu verinnerlichen (statt abgegrenzter, isolierbarer Vorstellung von Selbst und Objekten). Kestenberg (1971) spricht von Organ-Objekt-Einheiten im Erleben, Aulagnier (1975) von Zone-Objekt-Komplementen, Winnicott (1960a, S. 587) bemerkt pointiert, so etwas wie den Säugling gebe es nicht (und meint damit: nicht losgelöst von der Beziehung zur Mutter im subjektiven Erleben), und Bion (1963, S. 53) konzipiert frühes Erleben als »Präkonzeptionen«, die auf eine »Realisierung« treffen, etwa die Empfindung, gestillt zu werden, die erst repräsentierbar macht, welches das Bedürfnis und die Vorstellung waren. In diesen Ansätzen wird das Erleben von Getrenntheit nicht vorausgesetzt, sondern als sukzessive Entwicklungserrungenschaft begriffen. Freud (1914c) beschreibt einen primären Narzissmus, der vor der Objektbesetzung liege (vgl. Heinz 2002), also so etwas wie die Besetzung des Selbst, bevor sich der Außenwelt zugewandt wird. Das ist erstens als Annahme an sich diskutabel, aber auch zweitens in sich logisch problematisch (vgl. Zepf 2006, S. 105ff.): Wie sollte vor einer möglichen Besetzung der Außenwelt, weil diese noch nicht als unterschieden auftauchen kann, das Selbst als abgrenzbar erlebt und dann besetzt werden können? Daher scheint es sinnvoller, primären Narzissmus oder primäres Identifiziertsein als etwas zu begreifen, in dem das Individuum gleichsam in einem »Selbst-Universum« erlebt. Alles ist eins und alles ist zum eigenen Erleben untrennbar zugehörig. Neben dem primären Narzissmus beschreibt Freud für die ganz frühe Entwicklung überdies den Autoerotismus, auch hier geht es um die lustvolle Besetzung des eigenen Körpers, vor der Besetzung der Objekte. Zwar gibt es Bemerkungen Freuds, dass der Autoerotismus am Anfang stehe und über das Stadium des primären Narzissmus hinweg zur Objektbesetzung gelangt werden könne (Freud 1911b, S. 296), aber auch solche, in denen die autoerotische Besetzung des eigenen Körpers es ist, das seinerseits als Übergangsstadium vom primären Narzissmus zur Objektbeziehung steht. Nimmt man die Gedanken eines frühen Erlebens im (primär-narzisstischen) »Selbst-Universum« hinzu, dann wäre die Besetzung des eigenen Körpers die beginnende Unterscheidung zwischen dem, der besetzt, und dem, das besetzt wird.
Psychoanalytische Ansätze betonen in der Regel die Erfahrung von Verlust oder Mangel in ihrer Bedeutung für die Entwicklung psychischer Repräsentanzen bzw. der Symbolisierung von Erfahrung. In der psychischen Entwicklung realisiert sich kein beständiges Ineinanderfallen von Bedürfnis und Befriedigung und auch keine permanente Anwesenheit einer Bezugsperson. Vielmehr wird es Momente erregungsvoller Spannung geben, ebenso wie passagere Abwesenheit, sowohl von Befriedigung als auch von der wahrgenommenen Bezugsperson3.
Das Kind macht die Erfahrung der vorübergehenden Abwesenheit der Mutter. Dass es eine alternative Beziehung gibt, die zum Vater, hat zwei wichtige Funktionen aus Sicht der psychoanalytischen Entwicklungstheorie: Zum einen kann eine Entfernung von der Mutter bedeuten, den Weg zum Vater zu finden (sich aus einer Beziehung lösen, kann heißen, zu einer anderen, hinzutretenden zu gelangen), zum anderen gibt der Vater der Abwesenheit der Mutter eine (psychische) Bedeutung. Es kann sich das Erleben entwickeln, dass die Mutter nicht schlicht »weg« ist, sondern beim Vater. Es können Bilder davon entstehen, was die primäre Bezugsperson tut und mit wem, wenn sie gerade nicht wahrgenommen wird; sie ist auf etwas oder jemanden bezogen. Das ist nun kein kleiner Entwicklungsschritt, denn er besteht darin, dass hier Abwesenheit in der Wahrnehmung durch Anwesenheit in der Vorstellung angereichert wird, in einer Art von Negation der Negation: »Mama ist nicht da« wird zu »Mama ist nicht nicht da«, psychisch ist sie »da«. Es wird vorstellbar, dass sie weiterhin existiert, erst dann kann sie vermisst, ersehnt oder ihr nachgelaufen werden. Es ist die Grundlage für Erinnerung, Erwartung, Fantasie u. a.
Darin bestehen die Grundzüge der Symbolisierung von Erfahrung und diese ist bereits früh »ödipal« bzw. triangulierend vermittelt; es bedarf dazu verlässlicher Beziehungsangebote und zwar von mehr als einer Beziehung sowie des Findens von Beziehungen in der Welt, also der Bezogenheit der anderen aufeinander (Green 1975).
Im weiteren Verlauf sind es Austauschprozesse zwischen dem, was als »innen« und dem, was als »außen« erlebt wird, welche die Vorstellungen vom Selbst und von den Objekten weiter gestalten. Freud spricht hier von einem »purifizierten Lust-Ich« (1915c, S. 228) (auch hier ist das Selbst als Ausdruck treffender) und meint damit, dass in der frühen Entwicklung alles Angenehme, Lustvolle, alle positiven Affekte als zum Selbst zugehörig erlebt werden und alles Frustrierende, Unlustvolle »ausgestoßen« wird. Klein (1935; 1946) hat herausgestellt, dass sich auf diese Weise Spaltungszustände und Spaltungsprozesse realisieren: Gut und schlecht werden getrennt gehalten. Damit stehen Prozesse von Introjektion und Projektion im Zusammenhang, es geht um die Frage, was »hineingenommen« und was »hinausgeworfen« wird. Beide Prozesse bedingen einander: Gegen die Internalisierung dessen, was jemandem in der Interaktion begegnet, kann man sich psychisch kaum »wehren«, erst recht nicht in der frühen Entwicklung, so dass es immer auch darum geht, innerlich etwas aufzurichten und dann in einen wechselseitigen Prozess einzutreten, was als dem Selbst zugehörig und was dem Objekt zugehörig erlebt wird. Dabei liegt auf der Hand, dass auch das Objekt, denn es ist die subjektive Repräsentanz des Gegenübers in Erfahrungen, zur psychischen Welt des Individuums gehört. »Projektion« ist ein innerpsychischer Vorgang, im Zuge dessen etwas nicht mehr als dem Selbst, sondern dem Objekt zugehörig erlebt wird, also etwa ein Gefühl, verfolgt zu werden (das möglicherweise Ausdruck von eigenen als übermäßig erlebten Nähewünschen oder Affekten sein kann).
Internalisiert werden nicht nur »Erlebnisbilder« von Beziehungen und anderen, mit dem Ergebnis internalisierter Repräsentanzen, sondern auch Prozesse, zum Beispiel die Affektregulierung. Hier wiederum kann statt vom Selbst vom Ich gesprochen werden, denn es geht um psychisches Vermögen, innere und äußere Wahrnehmungen zu regulieren, zu integrieren und sich zu vergegenwärtigen. Das lässt sich in seinen interpersonellen Wurzeln beschreiben, etwa über Bions (1959) Konzept der projektiven Identifizierung: Er geht davon aus, dass in der frühen Entwicklung diffuse, potenziell überwältigende Spannungs- bzw. Erregungszustände auftreten, die der Säugling bzw. das Kind sich im ganz eigentlichen Sinn »vom Leib halten« muss. In einer zugewandten frühen Beziehung können diese »projizierten« Zustände von der Bezugsperson wahrgenommen und aufgenommen sowie in der Folge reguliert werden. Bei Bion (1962) steht das im Kontext der sogenannten Alpha-Funktion, also des psychischen Vermögens, diffuses Material der körperlichen Erregung (»Beta-Elemente«) in Denkbares (»Alpha-Elemente«) umzuwandeln. Das Etwas-Loswerden-Wollen ist also immer auch Kommunikation eigener Zustände und die Suche nach Unterstützung bei der Bewältigung und Tolerierbarkeit. Gelingt dies nicht, wenn also die Bezugsperson sich nicht erreichen lässt oder keine Hilfe bei der Regulierung bietet, resultiert aus Sicht Bions (1959, S. 119) nicht Stillstand in der affektiven Kommunikation seitens des Säuglings oder Kindes, sondern ein immer »exzessiver« werdendes Bemühen darum, die Bezugsperson doch noch zu erreichen bzw. in diese einzudringen und sie zu kontrollieren (weil sie so sehr dafür gebraucht wird, das Überwältigende zu verdauen) (vgl. a. Frank & Weiß 2007) (Kap. 3.1.3).
Bei Gelingen wird eine zunächst interpersonelle »Funktion«, nämlich die Regulierung von Spannungszuständen, sukzessive internalisiert (und zu einer »Ich-Funktion«). In anderer begrifflicher Sprache findet sich das Gemeinte in Kohuts (1971, S. 37ff.) Konzept des Selbstobjekts bzw. der Selbstobjekterfahrung (Kap. 3.5.5). In bestimmten Phasen der psychischen Entwicklung wird das Gegenüber darüber erlebt, welche Funktion es für das Selbst hat. Beide Ansätze – Bions Gedanke der Alpha-Funktion und Kohuts Hinweis auf die Selbstobjekterfahrungen – weisen darauf hin, wie entscheidend die basale Unterscheidbarkeit zwischen Selbst und anderem ist, um auf psychische Funktionen zurückgreifen zu können.
Als letzten Bereich gehen wir auf einige Aspekte der Entwicklung des Affekterlebens ein (Überblick bei Zepf 2006). In Verbindung mit Säuglings- und Bindungsforschung sowie der auch nicht-psychoanalytischen Entwicklungspsychologie legen Arbeiten aus der Richtung der Mentalisierungstheorie (Fonagy et al., 2010; Taubner 2015; Kap. 3.5.8) den Akzent auf die markierte Affektspiegelung (Gergely & Watson 1996). Mit Mentalisieren ist gemeint, sich selbst und andere als getragen von inneren Zuständen (Affekte, Intentionen, Gedanken …) vorstellen bzw. sich selbst von außen und andere von innen betrachten zu können. Bei der markierten Affektspiegelung ist entscheidend, dass die Bezugsperson den Affekt des Kindes wahrnimmt, aufnimmt und »markiert« spiegelt. Das bedeutet, dass zum aufgenommenen Affekt, auch mimisch, etwas hinzugefügt wird, das kennzeichnet, dass die empathische Bezugsperson etwas mit dem Affekt des Kindes »anstellt«. So geschieht noch mehr als die interpersonelle Regulierung, denn es wird auch ein Modell dafür angeboten, wie man sich zu einem Affekt in Beziehung setzen kann. Andere zentrale Aspekte dieser Theorie betreffen die elterliche Feinfühligkeit, die neben der empathischen Beziehungsgestaltung auch einbezieht, sich das Baby und Kleinkind als Individuum mit inneren, psychischen Zuständen vorstellen zu können (»minding the baby«; Slade et al. 2005). Ebenfalls spielt das epistemische Vertrauen eine Rolle (Fonagy et al. 2019), das heißt die Erfahrung, dass der Weltsicht der Bezugspersonen grundlegend vertraut werden kann hinsichtlich deren Interpretation von Geschehnissen oder Beziehungen (Kap. 3.5.8).
In der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Psychopathologie und Psychoanalyse ist es um Fragen des Verstehens und der Theoriebildung gegangen. Die Psychoanalyse ist gefordert, die Grundlagen ihrer Verstehensvollzüge (klinisch und methodologisch) sowie den Schritt in die Konzeptbildung zu begründen.
Für Jaspers (1946) gibt es zwei Formen subjektiver Methoden in der Psychopathologie: das statische und das genetische Verstehen (vgl. Heinz 2002, S. 38ff.; Jäger 2016, S. 23ff.; Bormuth 2018, S. 40ff.). Dabei gilt der vielzitierte Satz: »Durch Hineinversetzen in Seelisches verstehen wir genetisch, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht« (Jaspers 1946, S. 250). Kausales Erklären hingegen geschieht »[d]urch objektive Verknüpfung mehrerer Tatbestände zu Regelmäßigkeiten auf Grund wiederholter Erfahrungen« (a. a. O.). Im genetischen Verstehen können ein rationales Verstehen und ein einfühlendes Verstehen unterschieden werden. Letzteres führe »in seelische Zusammenhänge selbst« hinein (a. a. O., S. 253). Während die »Anerkennung der Wahrnehmungsrealität und Kausalität« die Voraussetzung der Naturwissenschaft sei, sei die Anerkennung der »Evidenz des genetischen Verstehens« – eine unmittelbare Evidenz, »die wir nicht weiter zurückführen können« und die »aus Anlaß der Erfahrung gegenüber menschlichen Persönlichkeiten gewonnen« werde – die »Voraussetzung der verstehenden Psychologie« (a. a. O., S. 252). Da allerdings eine Evidenz verständlicher Zusammenhänge nie beweise, dass ein Zusammenhang auch wirklich sei, sei Verstehen immer »mehr oder weniger ein Deuten