Denn vergeben wird dir nie/Mein ist die Stunde der Nacht - (2in1-Bundle) - Mary Higgins Clark - E-Book
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Denn vergeben wird dir nie/Mein ist die Stunde der Nacht - (2in1-Bundle) E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Seit über fünfzig Jahren entwirft Mary Higgins Clark geniale Heldinnen und Plots und ist unangefochten eine Königin der Spannung. In diesem Sammelband sind zwei ihrer besten Romane aus den Jahren 2002 und 2004 zusammengestellt.

Denn vergeben wird dir nie

Ellie Cavanaugh ist außer sich, als der Mörder ihrer Schwester vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird. Zumal er nach wie vor behauptet, unschuldig verurteilt worden zu sein. Ellie war seit dem Geschehen zwanzig Jahre zuvor fest von seiner Schuld überzeugt. Jetzt will sie endgültig den Beweis dafür erbringen.

Mein ist die Stunde der Nacht

Ein Fluch scheint auf der ehemaligen Schulklasse von Jean Sheridan zu liegen. Bereits fünf ihrer früheren Mitschülerinnen sind auf tragische Weise ums Leben gekommen. Noch ahnt niemand, dass ein wahnsinniger Serienkiller, der sich selbst „die Eule“ nennt, dahinter steckt. Wird er sein mörderisches Werk bei dem bevorstehenden Klassentreffen vollenden?

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Seitenzahl: 947

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Mary Higgins Clark

Zwei Thriller in einem Band

Denn vergeben wird dir nie

Mein ist die Stunde der Nacht

Aus dem Amerikanischen von Andreas Gressmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

 

 

Die Originalausgabe von Denn vergeben wird dir nie erschien unter dem Titel Daddy’s Little Girl bei Simon & Schuster, New York,

Copyright © 2002 by Mary Higgins Clark Copyright © 2002, 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

 

Die Originalausgabe von Mein ist die Stunde der Nacht erschien unter dem Titel Nighttime Is My Time bei Simon & Schuster, New York, Copyright © 2004 by Mary Higgins Clark Copyright © 2004, 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

 

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik DesignUmschlagmotive: U1 oben: Bigstock (grivet, Paula Cobleigh) U1 unten: Bigstock (grivet, Fahroni)

 

ISBN: 978-3-641-20988-9V002

www.heyne.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

CopyrightDENN VERGEBEN WIRD DIR NIE
Buch und AutorinWidmungErster Teil
12345
Zweiter Teil - DREIUNDZWANZIG JAHRE SPÄTER
6789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445
Ein Jahr späterDanksagung
Mein ist die Stunde der Nacht
Buch und AutorinWidmung
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Kapitel 83Kapitel 84Kapitel 85Kapitel 86Kapitel 87Kapitel 88Kapitel 89Kapitel 90Kapitel 91Kapitel 92Kapitel 93Kapitel 94Kapitel 95Kapitel 96Kapitel 97
EPILOG - WEST POINT, ABSCHLUSSFEIERDANKSAGUNGBonusmaterialDie Autorin

 

MARY HIGGINS CLARK

DENN VERGEBEN WIRD DIR NIE

Roman

 

 

Aus dem Amerikanischen von Andreas Gressmann

 

 

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Das Buch

Nach mehr als zwanzig Jahren soll Rob Westerfield, Sohn einer reichen und äußerst einflussreichen Familie, auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen werden. Bis zum heutigen Tag schwört er, den Mord an der jungen Nachbarin, dessen man ihn bezichtigt hatte, nicht begangen zu haben.

Doch außer der Staatsanwaltschaft war und ist noch jemand fest von Robs Schuld überzeugt: Ellie Cavanaugh, die Schwester des Opfers, die damals die Leiche in einem Wald unweit des gemeinsamen Elternhauses fand. Ihre Aussage im Prozess war es, die entscheidend zur Verurteilung von Rob Westerfield beigetragen hatte. Ihr Hass auf den Mann, der für das Zerbrechen der Familie und den Selbstmord der Mutter verantwortlich ist, ist ungebrochen.

Im Zuge ihrer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem Fall kommen Ellie jedoch plötzlich Zweifel. Ist es möglich, dass ihre kindliche Wahrnehmung sie getäuscht hatte und Rob tatsächlich unschuldig war? Um ihren Erinnerungen und den Umständen von Andreas Tod nachzuspüren und der Wahrheit auf den Grund zu gehen, besucht Ellie den Ort ihrer Kindheit. Doch die Suche entpuppt sich für die junge Frau – und nicht nur für sie – als lebensgefährliches Unterfangen.

 

 

Die Autorin

Die Amerikanerin Mary Higgins Clark ist eine der erfolgreichsten Spannungsautorinnen der Welt. Ihre Romane erobern regelmäßig die vorderen Plätze der Bestsellerlisten und bestätigen ihren Ruf als »Meisterin des sanften Schreckens«. Mary Higgins Clark lebt in Saddle River, New Jersey.

 

 

Ein ausführliches Werkverzeichnis der Autorin findet sich am Ende des Romans.

 

 

 

 

 

 

Meinem Vater Luke Joseph Higgins in liebender Erinnerung

Erster Teil

1

ALS ELLIE AN JENEM Morgen aufwachte, hatte sie das Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert war.

Instinktiv griff sie nach Bones, ihrem weichen Schmusehund, mit dem sie, soweit sie zurückdenken konnte, das Kopfkissen geteilt hatte. Als sie im letzten Monat sieben Jahre alt geworden war, hatte ihre fünfzehnjährige Schwester Andrea sie deswegen gehänselt und gemeint, es sei an der Zeit, dass sie Bones zum alten Eisen werfe.

Dann fiel Ellie ein, was nicht stimmte: Andrea war gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Nach dem Abendessen war sie zu ihrer besten Freundin Joan gegangen, um für eine Mathearbeit zu lernen. Sie hatte versprochen, um neun Uhr wieder zu Hause zu sein. Um Viertel vor neun war Mommy zu Joans Haus gegangen, um Andrea abzuholen, aber sie hatten ihr gesagt, dass Andrea schon um acht Uhr aus dem Haus gegangen sei.

Mommy war besorgt und den Tränen nahe zurückgekehrt, und fast im gleichen Augenblick war Daddy von der Arbeit gekommen. Daddy war Lieutenant bei der New York State Police. Sofort hatten er und Mommy bei sämtlichen Freundinnen von Andrea angerufen, aber niemand hatte etwas von ihr gehört. Dann hatte Daddy gesagt, er wolle zur Bowlingbahn und zur Eisdiele fahren, vielleicht sei Andrea dorthin gegangen.

»Wenn sie gelogen hat und gar nicht bis neun Uhr Hausaufgaben machen wollte, dann lass ich sie das nächste halbe Jahr nicht mehr ausgehen«, hatte er mit grimmiger Miene gesagt und sich dann an Mommy gewandt: »Ich hab es schon tausendmal gesagt: Ich möchte nicht, dass sie alleine draußen herumläuft, wenn es dunkel wird.«

Daddys Stimme war laut geworden, aber Ellie spürte, dass er mehr besorgt als wütend war.

»Ich bitte dich, Ted, sie ist um sieben Uhr aus dem Haus gegangen und wollte nur zu Joan. Sie wollte um neun wieder zu Hause sein, und ich bin sogar hingegangen, um sie abzuholen.«

»Aber wo steckt sie dann, zum Teufel?«

Sie hatten Ellie ins Bett geschickt, und nach einiger Zeit war sie schließlich eingeschlafen. Vielleicht ist Andrea inzwischen wieder zu Hause, dachte sie beim Aufwachen in banger Hoffnung. Sie schlüpfte aus dem Bett, rannte zur Tür und den Flur entlang zu Andreas Zimmer. Sei da, flehte sie. Bitte, sei da. Sie öffnete die Tür. Andreas Bett war unbenutzt.

Ihre Schritte waren kaum zu hören, als Ellie mit bloßen Füßen die Treppe hinunterlief. Die Nachbarin, Mrs. Hilmer, saß mit Mommy in der Küche. Mommy hatte dieselben Sachen wie gestern Abend an, und sie sah aus, als ob sie sehr lange geweint hätte.

Ellie lief zu ihr. »Mommy.«

Mommy umarmte sie und fing zu schluchzen an. Ellie spürte die Hand ihrer Mutter, die ihre Schulter umklammerte, so fest, dass es beinahe wehtat.

»Mommy, wo ist Andrea?«

»Wir … wissen … es nicht. Daddy und die Polizei suchen nach ihr.«

»Komm, Ellie, zieh dich schon mal an, dann mach ich dir inzwischen Frühstück«, sagte Mrs. Hilmer.

Niemand hatte ihr gesagt, sie solle sich beeilen, weil der Schulbus bald käme. Ohne zu fragen, wusste Ellie, dass sie heute nicht zur Schule gehen musste.

Sie wusch sich pflichtschuldig Gesicht und Hände, putzte ihre Zähne, bürstete sich die Haare, zog dann ihre Spielkleider an – ein T-Shirt und ihre blaue Lieblingshose – und ging wieder hinunter.

Gerade als sie sich an den Tisch gesetzt hatte, auf den Mrs. Hilmer Saft und Cornflakes gestellt hatte, kam Daddy zur Tür herein. »Keine Spur von ihr«, sagte er. »Wir haben überall gesucht. Es gibt einen Typen, der gestern in der Stadt von Tür zu Tür gegangen ist, um für irgendeinen blöden Zweck Geld zu sammeln. Er war am Abend im Imbisslokal und ist gegen acht Uhr wieder gegangen. Auf dem Weg zum Highway müsste er an Joans Haus vorbeigekommen sein, ungefähr um die Zeit, als Andrea es verlassen hat. Sie sind auf der Suche nach ihm.«

Ellie bemerkte, dass Daddy den Tränen nahe war. Er hatte überhaupt keine Notiz von ihr genommen, aber das machte ihr in diesem Moment nichts aus. Es kam manchmal vor, dass Daddy in trüber Stimmung nach Hause kam, weil ihn etwas in seiner Arbeit mitgenommen hatte, und dann sagte er eine Weile fast nichts. Jetzt hatte er denselben Gesichtsausdruck.

Andrea hatte sich versteckt, dessen war sich Ellie sicher. Wahrscheinlich war sie absichtlich so früh von Joan weggegangen, weil sie sich mit Rob Westerfield im Versteck treffen wollte, dann war es vielleicht spät geworden, und sie hatte Angst gehabt, nach Hause zu gehen. Daddy hatte ihr gedroht, wenn sie ihn auf die Frage, wo sie gewesen sei, noch einmal anlügen würde, dann würde er ihr verbieten, im Schulorchester mitzuspielen. Das hatte er gesagt, als er herausbekommen hatte, dass sie mit Rob Westerfield eine Runde in dessen Auto gedreht hatte, statt in der Bücherei zu sitzen, wie sie behauptet hatte.

Andrea wollte unbedingt in das Orchester. Im letzten Jahr war sie als Einzige aus der ersten Highschoolklasse bei den Flöten aufgenommen worden. Aber wenn sie vorzeitig von Joan weggegangen und Rob im Versteck getroffen hatte und Daddy würde davon erfahren, dann konnte sie sich die Sache an den Hut stecken. Mommy sagte zwar immer, Andrea könne Daddy um den Finger wickeln, aber letzten Monat hatte sie das nicht gesagt. Da hatte ein Polizist Daddy nämlich gesteckt, dass er Rob Westerfield wegen zu schnellen Fahrens angehalten hätte und dass Andrea mit ihm im Auto gewesen sei.

Daddy hatte bis nach dem Essen gewartet. Dann hatte er Andrea gefragt, wie lange sie in der Bücherei gewesen sei.

Sie hatte nicht geantwortet.

Darauf hatte er gesagt: »Du bist also schlau genug, um zu kapieren, dass der Kollege, der Westerfield angehalten hat, mir erzählen würde, dass du mit ihm zusammen warst. Andrea, dieser Kerl ist nicht nur reich und verzogen, er ist durch und durch verdorben. Wenn er sich im Rausch der Geschwindigkeit umbringen will, dann soll er das meinetwegen tun, aber du wirst jedenfalls nicht im gleichen Auto sitzen. Ich verbiete dir ein für alle Mal, noch irgendetwas mit ihm zu tun zu haben.«

Das Versteck befand sich in der Garage hinter dem riesigen Haus, das die alte Mrs. Westerfield, Robs Großmutter, den Sommer über bewohnte. Die Tür war nie abgeschlossen, und manchmal schlichen sich Andrea und ihre Freundinnen hier ein und rauchten Zigaretten. Andrea hatte Ellie ein paar Mal mitgenommen, als sie auf sie aufpassen sollte.

Ihre Freundinnen waren sauer auf Andrea gewesen, weil sie sie mitgebracht hatte, aber sie hatte gesagt: »Ellie ist in Ordnung. Sie wird uns nicht verpetzen.« Ellie war richtig stolz gewesen, als Andrea das gesagt hatte. Andererseits hatte sie Ellie kein einziges Mal an der Zigarette ziehen lassen.

Ellie war sicher, dass Andrea gestern Abend früher von Joan weggegangen war, weil sie sich mit Rob Westerfield treffen wollte. Ellie hatte gehört, wie sie vorher mit ihm telefoniert hatte, und als sie auflegte, hatte sie fast geweint. »Ich hab Rob erzählt, dass ich mit Paulie auf die Fete gehe«, sagte sie, »und jetzt ist er stinksauer auf mich.«

Ellie musste an dieses Gespräch denken, während sie ihre Cornflakes zu Ende aß. Daddy stand am Herd. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand. Mommy hatte wieder angefangen zu weinen, aber fast lautlos.

Plötzlich schien Daddy überhaupt erst aufzufallen, dass Ellie auch in der Küche war: »Ellie, ich glaube, es wäre besser, wenn du in die Schule gehst. Ich bringe dich in der Mittagspause hin.«

»Darf ich jetzt rausgehen?«

»Ja. Aber bleib in der Nähe vom Haus.«

Ellie holte ihre Jacke und schlüpfte schnell zur Tür hinaus. Es war der fünfzehnte November, und die Blätter waren feucht und glitschig unter den Füßen. Am Himmel hingen schwere Wolken, und es sah wieder nach Regen aus. Ellie wünschte, sie würden zurück nach Irvington ziehen, wo sie früher gewohnt hatten. Hier war es so einsam. Ihr Haus und das von Mrs. Hilmer waren die beiden einzigen in ihrer Straße.

Daddy hatte gerne in Irvington gewohnt, aber sie waren hierher gezogen, fünf Ortschaften weiter, weil Mommy ein größeres Haus mit einem größeren Garten haben wollte. Das konnten sie sich leisten, als sie weiter in den Norden von Westchester County zogen, in eine Stadt, die noch nicht zu einem Vorort von New York geworden war.

Wenn Daddy sagte, dass er Irvington vermisse, wo er aufgewachsen war und wo sie bis vor zwei Jahren gewohnt hatten, dann hielt ihm Mommy immer entgegen, wie groß das neue Haus sei. Darauf pflegte er zu erwidern, dass sie in Irvington einen unbezahlbaren Blick auf den Hudson und die Tappan-Zee-Brücke gehabt hätten und dass er nicht fünf Meilen fahren musste, um eine Zeitung oder ein Brot zu kaufen.

Das Grundstück war ringsum von Wald umgeben. Das große Haus von Mrs. Westerfield befand sich direkt hinter dem von Ellies Eltern, aber dazwischen war der Wald. Ellie blickte zum Küchenfenster, um sicherzugehen, dass niemand sie gesehen hatte, und rannte los.

Fünf Minuten später war sie am anderen Ende des Waldes angelangt und lief über die Wiese zum Eingang des Westerfieldschen Anwesens. Mit einem beklommenen Gefühl rannte sie die lange Auffahrt entlang und um die Villa herum – eine winzige Figur, die in der zunehmenden Düsterkeit des herannahenden Sturms zu verschwinden schien.

Es gab einen seitlichen Eingang zur Garage, der nie abgesperrt war. Trotzdem konnte Ellie die Klinke nur mit Mühe hinunterdrücken. Schließlich schaffte sie es und betrat den dämmrigen Raum. Die Garage bot Platz für vier Autos, aber das einzige, das Mrs. Westerfield nach dem letzten Sommer zurückgelassen hatte, war der Van. Andrea und ihre Freundinnen hatten sich ein paar alte Decken zum Sitzen mitgenommen. Sie saßen immer an der gleichen Stelle, ganz hinten, hinter dem Van, sodass sie nicht gesehen werden konnten, wenn jemand zufällig durch das Fenster schaute. Ellie wusste, dass Andrea sich dort verstecken würde, falls sie hier war.

Sie wusste nicht, warum, aber plötzlich hatte sie Angst. Sie musste sich praktisch zwingen, einen Fuß vor den andern zu setzen und sich dem hinteren Teil der Garage zu nähern. Aber dann sah sie hinter dem Van ein Stück Decke hervorschauen. Andrea musste hier sein! Die Mädchen hätten niemals die Decken auf dem Boden liegen gelassen; sie legten sie immer zusammen und versteckten sie im Schrank mit den Putzsachen, bevor sie die Garage verließen.

»Andrea …« Leise rief sie ihren Namen, damit Andrea nicht erschrak. Wahrscheinlich schlief sie, dachte Ellie.

Ja, sie schlief. Obwohl es in der Garage dämmrig war, konnte Ellie Andreas lange Haare erkennen, die unter der Decke hervorschauten.

»Andrea, ich bin’s.« Ellie kniete sich neben Andrea und zog die Decke von ihrem Gesicht.

Andrea trug eine Maske, eine schreckliche Gespenstermaske, die ganz verschmiert und klebrig aussah. Ellie beugte sich vor, um sie wegzuziehen, und ihre Finger berührten eine eingedrückte Stelle in Andreas Stirn. Als sie zurückzuckte, bemerkte sie die Blutlache, in der sie kniete.

Und dann, von irgendwo her in dem großen Raum, hörte sie ganz deutlich jemanden atmen – heftige, schwere, tiefe Atemzüge, die mit einer Art Gekicher endeten.

In panischer Angst versuchte sie aufzustehen, aber sie rutschte auf dem Blut aus und fiel vornüber auf Andreas Brust. Ihre Lippen berührten etwas Glattes und Kühles – Andreas goldenen Anhänger. Dann rappelte sie sich hoch, drehte sich um und rannte los.

Ihr war nicht bewusst, dass sie den ganzen Weg über schrie, bis sie schon fast zu Hause angelangt war und Ted und Genine Cavanaugh in den Garten hinausliefen und ihre jüngere Tochter sahen, die mit ausgestreckten Armen aus dem Wald gerannt kam, eine zarte Gestalt, über und über bedeckt vom Blut ihrer Schwester.

2

ABGESEHEN VON DER BASEBALLSAISON, wenn sein Team trainierte oder ein Spiel bestritt, arbeitete der sechzehnjährige Paulie Stroebel nach der Schule und an den Samstagen in Hillwoods Tankstelle. Ansonsten hätte er im Feinkostgeschäft seiner Eltern einen Block weiter in der Main Street ausgeholfen, etwas, was er schon immer getan hatte, seit er sieben Jahre alt war.

In der Schule lernte er nur langsam, war aber in technischen Dingen geschickt und liebte es, Autos zu reparieren. Seine Eltern hatten Verständnis, dass er lieber für jemand anderen arbeiten wollte. Mit seinen strubbeligen blonden Haaren, blauen Augen, runden Backen und seinen stämmigen eins dreiundsiebzig galt Paulie bei seinem Boss in der Tankstelle als ruhiger, hart arbeitender Angestellter und bei seinen Mitschülern an der Delano Highschool als ziemlich schwachköpfiger Trottel. Sein einziger Erfolg in der Schule bestand darin, dass er in die Footballmannschaft aufgenommen wurde.

Als am Freitag die Nachricht vom Mord an Andrea Cavanaugh die Schule erreichte, wurden Beratungslehrer in alle Klassen geschickt, um den Schülern die furchtbare Neuigkeit mitzuteilen. Paul war gerade in eine Aufgabe vertieft, als Miss Watkins eintrat, kurz mit dem Lehrer flüsterte und dann auf den Schreibtisch klopfte, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

»Ich muss euch etwas sehr Trauriges mitteilen«, begann sie. »Soeben haben wir erfahren …« In stockenden Sätzen klärte sie die Schüler darüber auf, dass ihre Mitschülerin Andrea Cavanaugh ermordet worden war, Opfer eines brutalen Verbrechens. Es erfolgte ein Chor aus schockierten Ausrufen und ungläubigem Protest.

Doch ein lautes »Nein!« übertönte alles andere. Der stille, ruhige Paulie Stroebel war mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgesprungen. Während seine Klassenkameraden ihn anstarrten, begannen seine Schultern zu zucken. Heftiges Schluchzen entrang sich seiner Brust, und er stürzte aus dem Klassenzimmer. Bevor sich die Tür hinter ihm schloss, sagte er noch etwas, aber seine Stimme war so erstickt, dass die meisten es nicht verstanden. Nur der Schüler, der am nächsten zur Tür saß, hätte später schwören können, dass Paulie gesagt hatte: »Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist!«

Emma Watkins, die Beratungslehrerin, die selbst noch ganz benommen von der schrecklichen Nachricht war, hatte das Gefühl, ein Messer hätte sie durchbohrt. Sie mochte Paulie sehr und konnte sich in die Lage des sich unermüdlich abrackernden Schülers einfühlen, der sich so verzweifelt um die Gunst der anderen bemühte.

Sie war sicher, dass die gequälten Worte, die er hervorgestoßen hatte, gelautet hatten: »Ich hab nicht geglaubt, dass sie tot ist!«

An jenem Nachmittag erschien Paulie zum ersten Mal nicht zur Arbeit auf der Tankstelle und rief auch nicht seinen Boss an, um seine Abwesenheit zu erklären. Als seine Eltern an jenem Abend nach Hause kamen, fanden sie ihn auf seinem Bett liegend, den Blick an die Decke gerichtet, Fotos von Andrea verstreut neben ihm.

Hans und Anja Wagner-Stroebel waren beide in Deutschland geboren und als Kinder mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie hatten sich erst kennen gelernt und geheiratet, als sie schon auf die vierzig zugingen, und mit ihren zusammengelegten Ersparnissen das Feinkostgeschäft eröffnet. Sie waren von Natur aus eher zurückhaltend und kümmerten sich mit größter Fürsorge um ihren einzigen Sohn.

Jeder, der den Laden betrat, sprach über den Mord, alle fragten sich, wer um alles in der Welt solch ein furchtbares Verbrechen begehen konnte. Die Cavanaughs gehörten zu den Stammkunden des Ladens, und die Stroebels beteiligten sich an den aufgeregten Diskussionen, ob Andrea vielleicht mit jemandem in der Garage auf dem Westerfield-Besitz verabredet gewesen sei.

Alle waren sich einig, dass sie hübsch, aber ein bisschen eigensinnig gewesen war. Am Abend ihrer Ermordung sollte sie zusammen mit Joan Lashley bis neun Uhr Hausaufgaben machen, war aber schon früher wieder fortgegangen. Wollte sie sich noch mit jemandem treffen, oder war sie auf dem Nachhauseweg überfallen worden?

Als Anja Stroebel die Fotos auf dem Bett ihres Sohnes sah, sammelte sie sie eilig auf und steckte sie in ihre Handtasche. Als ihr Gatte sie fragend anblickte, schüttelte sie den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass er keine Fragen stellen solle. Dann setzte sie sich neben Paulie und nahm ihn in die Arme.

»Andrea war so ein hübsches Mädchen«, sagte sie mit sanfter Stimme, aus der man, wie immer, wenn sie aufgeregt war, den deutschen Akzent deutlich heraushörte. »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie dir gratuliert hat, als du im letzten Frühjahr so großartig den Ball gefangen und das Spiel gerettet hast. Wie alle ihre Freunde bist du natürlich sehr, sehr traurig.«

Zuerst kam es Paulie so vor, als ob seine Mutter aus weiter Entfernung zu ihm spräche. Wie alle ihre Freunde. Was wollte sie damit nur sagen?

»Die Polizei wird sich zunächst alle vornehmen, mit denen Andrea besonders eng befreundet war, Paulie«, sagte sie langsam, aber bestimmt.

»Ich habe sie auf eine Fete eingeladen«, sagte er stockend. »Sie hat gesagt, dass sie mit mir hingehen würde.«

Anja war sicher, dass ihr Sohn sich noch nie zuvor mit einem Mädchen verabredet hatte. Letztes Jahr hatte er sich geweigert, auf das Fest der zweiten Klasse zu gehen.

»Dann mochtest du sie also gerne, Paulie?«

Paulie Stroebel fing an zu weinen. »Mama, ich habe sie so wahnsinnig geliebt.«

»Du mochtest sie, Paul«, sagte Anja unbeirrt. »Merk dir das genau.«

Am Samstag meldete sich Paulie Stroebel auf der Tankstelle zur Arbeit und entschuldigte sich ruhig und gefasst dafür, dass er am Freitag nicht erschienen war.

Am frühen Samstagnachmittag lieferte Hans Stroebel persönlich einen Virginiaschinken und Salate am Haus der Cavanaughs ab und bat ihre Nachbarin Mrs. Hilmer, welche die Tür öffnete, der Familie sein herzliches Beileid zu übermitteln.

3

»ES IST DUMM, dass Ted und Genine beide Einzelkinder sind«, hörte Ellie Mrs. Hilmer am Samstag mehrfach sagen. »Es macht die Sache leichter, wenn man in einer solchen Zeit viele Verwandte um sich hat.«

Ellie wollte gar nicht, dass mehr Verwandte um sie herum waren. Sie wollte nur, dass Andrea wieder da wäre, und sie wollte, dass Mommy zu weinen aufhörte, und sie wollte, dass Daddy mit ihr redete. Er hatte fast kein Wort mehr mit ihr gesprochen, seitdem sie ihm von ihrer schrecklichen Entdeckung in der Garage erzählt hatte.

Später, nachdem er beim Versteck gewesen war und Andrea gesehen hatte und all die Polizisten gekommen waren, hatte er gesagt: »Ellie, du hast doch gestern Abend schon geahnt, dass sie zur Garage gegangen war. Warum hast du uns denn nichts gesagt?«

»Du hast mich nicht gefragt und mich gleich zu Bett geschickt.«

»Ja, das stimmt«, gab er zu. Aber später hörte sie, wie er zu einem der Beamten sagte: »Wenn ich nur gewusst hätte, dass Andrea dort war. Vielleicht wäre sie um neun Uhr noch am Leben gewesen. Vielleicht hätte ich sie noch rechtzeitig gefunden.«

Jemand von der Polizei stellte Ellie Fragen über das Versteck und wer sonst noch dort hingegangen sei. In ihrem Kopf hörte sie Andrea sagen: »Ellie ist in Ordnung. Sie wird uns nicht verpetzen.«

Ellie musste an Andrea denken und dass sie nie mehr zurückkommen würde, und fing so heftig zu weinen an, dass die Polizisten aufhörten, sie zu befragen.

Am Samstagnachmittag stand ein Mann vor der Tür, der sich als Detective Marcus Longo vorstellte. Er führte Ellie in das Esszimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Er machte einen freundlichen Eindruck. Er sagte, er hätte einen kleinen Jungen, der genauso alt sei wie sie, und dass sie sich richtig ähnlich sähen. »Er hat auch so blaue Augen wie du«, sagte er. »Und genau die gleiche Haarfarbe. So wie Sand, wenn die Sonne draufscheint.«

Dann sagte er, dass vier von Andreas Freundinnen zugegeben hätten, öfter mit ihr im Versteck gewesen zu sein, aber keine von ihnen sei an jenem Abend dort gewesen. Er nannte die Mädchen und fragte: »Ellie, kennst du noch irgendein anderes Mädchen, das sich mit deiner Schwester dort getroffen haben könnte?«

Wenn die Mädchen es schon selbst zugegeben hatten, würde sie wohl niemanden verpetzen. »Nein«, flüsterte sie. »Mehr waren es nicht.«

»Gibt es noch irgendeinen anderen, den Andrea im Versteck getroffen haben könnte?«

Sie zögerte. Sie konnte ihm unmöglich von Rob Westerfield erzählen. Damit würde sie wirklich Verrat an Andrea begehen.

Detective Longo sagte: »Ellie, jemand hat Andrea so schlimm geschlagen, dass sie jetzt nicht mehr lebt. Du darfst diesen Menschen nicht schützen. Andrea würde bestimmt wollen, dass du uns alles erzählst, was du weißt.«

Ellie schaute auf ihre Hände. In dem großen alten Farmhaus war dieser Raum ihr Lieblingszimmer. Früher waren die Wände mit einer hässlichen Tapete beklebt gewesen, aber jetzt waren sie in einem freundlichen Gelb gestrichen, und über dem Tisch hing ein neuer Kronleuchter, dessen Glühbirnen wie Kerzen aussahen. Mommy hatte den Kronleuchter auf einem kleinen Flohmarkt gefunden und gesagt, er sei ein wahres Schmuckstück. Sie hatte eine Ewigkeit gebraucht, um ihn zu putzen, aber jetzt wurde er von allen Besuchern bewundert.

Sie aßen immer im Esszimmer zu Abend, obwohl Daddy es blödsinnig fand, so viel Umstände zu machen. Mommy besaß ein Buch mit Anleitungen, wie der Tisch für ein offizielles Essen zu decken war. Andrea hatte die Aufgabe, jeden Sonntag den Tisch nach diesen Anleitungen zu decken, auch wenn sie keine Gäste erwarteten. Ellie hatte ihr immer dabei geholfen, und es hatte ihnen Spaß gemacht, das gute Silber und Porzellan aufzulegen.

»Der heutige Ehrengast ist Lord Malcolm Bigbottom«, hatte Andrea gesagt. Dann hatte sie im Benimmbuch nachgeschaut und ihn auf den Stuhl zur Rechten von Mommy platziert. »Oh nein, Gabrielle, das Wasserglas muss rechts oberhalb vom Messer stehen.«

Ellies richtiger Name war Gabrielle, aber sie wurde nie so genannt, außer im Scherz von Andrea. Sie fragte sich, ob es ab jetzt ihre Aufgabe sein würde, jeden Sonntag den Tisch zu decken. Hoffentlich nicht. Ohne Andrea würde es nicht so lustig sein.

Es war ein komisches Gefühl, so zu denken. Auf der einen Seite wusste sie, dass Andrea tot war und am Dienstagmorgen auf dem Friedhof von Tarrytown in Anwesenheit von Grandma und Grandpa Cavanaugh begraben werden würde. Auf der anderen Seite erwartete sie immer noch, dass Andrea jeden Augenblick ins Haus treten, sie beiseite nehmen und ihr irgendein Geheimnis anvertrauen würde.

Ein Geheimnis. Manchmal hatte sich Andrea mit Rob Westerfield in dem Versteck getroffen. Aber Ellie hatte ihr hoch und heilig versprochen, es niemals zu verraten.

»Ellie, wer auch immer Andrea das angetan hat, er könnte auch anderen etwas antun, wenn man ihn nicht aufhält«, sagte Detective Longo. Seine Stimme war ruhig und freundlich.

»Glauben Sie, dass es meine Schuld ist, dass Andrea tot ist? Daddy glaubt das.«

»Nein, Ellie, das glaubt er nicht«, sagte Detective Longo. »Aber alles, was du uns jetzt erzählen kannst über irgendwelche Geheimnisse zwischen dir und Andrea, wird uns weiterhelfen.«

Rob Westerfield, dachte Ellie. Vielleicht würde sie ihr Versprechen nicht wirklich brechen, wenn sie Detective Longo von ihm erzählte. Wenn Rob derjenige war, der Andrea getötet hatte, dann sollte es jeder wissen. Sie schaute auf ihre Hände. »Manchmal hat sie sich mit Rob Westerfield im Versteck getroffen«, flüsterte sie.

Detective Longo lehnte sich vor. »Weißt du, ob sie sich an jenem Abend treffen wollten?«, fragte er.

Ellie merkte ihm an, dass ihn die Erwähnung von Rob in äußerste Spannung versetzt hatte. »Ich glaube, ja. Paulie Stroebel hat sie gefragt, ob sie mit ihm zur Thanksgiving-Fete gehen will, und sie hat eingewilligt. Eigentlich wollte sie gar nicht mit ihm hingehen, aber Paulie hatte ihr gesagt, er weiß, dass sie sich heimlich mit Rob Westerfield trifft, und sie hatte Angst, dass er es Daddy weitererzählt, wenn sie nicht mit ihm hingeht. Aber dann war Rob wütend auf sie, und sie wollte ihm erklären, dass sie Paulie nur zugesagt hatte, damit er Daddy nichts verrät. Vielleicht ist sie deshalb früher von Joan weggegangen.«

»Woher wusste Paulie, dass sich Andrea mit Rob Westerfield traf?«

»Andrea hat gemeint, dass er ihr ein paar Mal heimlich auf dem Weg zum Versteck gefolgt ist. Paulie wollte, dass sie seine Freundin wird.«

4

JEMAND HATTE DIE WASCHMASCHINE benutzt.

»Was war denn so dringend, dass es nicht warten konnte, bis ich wieder da bin, Mrs. Westerfield?«, fragte Rosita leicht besorgt, als ob sie befürchtete, ihre Pflichten vernachlässigt zu haben. Sie war am Donnerstag weggefahren, um ihre kränkelnde Tante zu besuchen. Jetzt war es Samstagmorgen, und sie war soeben zurückgekehrt. »Sie sollten sich nicht um die Wäsche kümmern, Sie haben doch ohnehin schon so viel Arbeit.«

Linda Westerfield wusste nicht, warum plötzlich eine Alarmglocke in ihrem Kopf schrillte. Aus irgendeiner Vorahnung heraus antwortete sie ausweichend auf Rositas Bemerkung.

»Ach, wissen Sie, wenn ich einen Anstrich überprüfe und versehentlich mit der Farbe in Berührung komme, dann ist es manchmal am einfachsten, die Kleider sofort in die Maschine zu stecken«, sagte sie.

»Also, wenn ich mir die Menge an Waschmittel ansehe, die Sie verbraucht haben, dann müssen Sie ganz ordentlich mit der Farbe in Berührung gekommen sein. Und, Mrs. Westerfield, ich hab gestern in den Nachrichten das mit dem Cavanaugh-Mädchen gehört. Ich muss die ganze Zeit daran denken. Wer hätte es für möglich gehalten, dass so etwas in einer kleinen Stadt wie der unsrigen passieren kann? Es bricht einem das Herz.«

»Ja, es ist schrecklich.« Es musste Rob gewesen sein, der die Maschine benutzt hatte, dachte Linda. Vince, ihr Ehemann, wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen. Er hätte wahrscheinlich nicht einmal gewusst, wie er das Gerät überhaupt bedienen sollte.

Rositas Augen waren glänzend geworden, und sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Die arme Mutter.«

Rob? Was sollte er denn so Wichtiges zu waschen haben?

Früher, mit elf, hatte er mal versucht, den Zigarettengeruch aus seinen Kleidern zu waschen.

»Andrea Cavanaugh war so ein hübsches Ding. Und ihr Vater ist Lieutenant bei der Polizei! Eigentlich sollte man meinen, dass so ein Mann in der Lage sein müsste, seine Tochter zu beschützen.«

»Ja, sollte man meinen.« Linda saß an der Küchentheke und überflog Entwürfe von Fenstern, die sie für das neue Haus eines Kunden angefertigt hatte.

»Dass jemand dazu fähig ist, so einem Mädchen den Kopf einzuschlagen. Muss ein Monster sein. Ich hoffe nur, dass sie ihn gleich aufhängen, wenn sie ihn finden.«

Rosita redete weiter vor sich hin und schien keine Antwort zu erwarten. Linda legte die Entwürfe zurück in die Mappe. »Mr. Westerfield und ich sind heute mit ein paar Freunden zum Abendessen im Restaurant verabredet, Rosita«, sagte sie, als sie sich von ihrem Hocker gleiten ließ.

»Und Rob, ist er zu Hause?«

Gute Frage, dachte Linda. »Er ist joggen gegangen und wird jeden Augenblick zurück sein. Fragen Sie ihn dann selbst.« Das kurze Zittern ihrer Stimme war Linda nicht entgangen. Rob war gestern den ganzen Tag unruhig und schlecht gelaunt gewesen. Als sich die Nachricht von Andrea Cavanaughs Tod wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitete, hatte sie erwartet, dass er bestürzt reagieren würde. Stattdessen tat er das Ganze ab. »Ich hab sie kaum gekannt, Mom«, sagte er.

War es vielleicht so, dass Rob, wie viele Neunzehnjährige, den Gedanken an den Tod eines jungen Menschen nicht ertragen konnte? Dass er davon in unerträglicher Weise an seine eigene Sterblichkeit erinnert wurde?

Linda stieg langsam die Treppe hinauf, wie beschwert von der plötzlichen Ahnung einer drohenden Katastrophe. Vor sechs Jahren waren sie aus ihrem Haus in der East Seventieth Street in Manhattan in diese Residenz aus dem achtzehnten Jahrhundert gezogen. Rob war damals aufs Internat gegangen. Sie und ihr Mann hatten beide den Wunsch gehabt, ständig in dieser Stadt zu leben, in der sie schon seit jeher den Sommer im Haus von Vinces Mutter verbracht hatten. Vince hatte gemeint, es gebe hier großartige Möglichkeiten, Geld zu verdienen, und er hatte angefangen, in Grundbesitz zu investieren.

Das Haus, in dem die Zeit stillgestanden zu sein schien, verschaffte ihr immer wieder ein angenehmes Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Heute aber hielt Linda weder inne, um das polierte Holz des Geländers unter ihrer Hand zu spüren, noch blieb sie stehen, um den Blick vom Fenster im Flur auf das Tal zu genießen.

Sie lief direkt zu Robs Zimmer. Die Tür war geschlossen. Da sie ihn jede Minute zurückerwartete, öffnete sie hastig die Tür und trat ein. Das Bett war nicht gemacht, aber das übrige Zimmer war ungewöhnlich ordentlich aufgeräumt. Rob war pingelig, was seine Kleidung betraf; manchmal bügelte er Hosen nach, die frisch aus der Reinigung gekommen waren, um die Bügelfalte noch schärfer zu machen, aber mit den getragenen Sachen ging er völlig sorglos um. Eigentlich hatte sie erwartet, die Kleider, die er gestern und am Donnerstag getragen hatte, auf dem Fußboden vorzufinden, wo sie auf die Rückkehr Rositas warteten.

Rasch durchquerte sie das Zimmer und schaute in seinem Bad im Wäschekorb nach. Auch der war leer.

Irgendwann zwischen Donnerstagmorgen, als Rosita aus dem Haus gegangen war, und heute früh hatte Rob die Kleider, die er gestern und am Donnerstag getragen hatte, gewaschen und getrocknet. Warum?

Linda hätte gerne noch in seinem Schrank nachgesehen, aber sie befürchtete, dass er sie dabei überraschen könnte. Sie fühlte sich in diesem Augenblick einer Auseinandersetzung nicht gewachsen. Sie verließ das Zimmer, achtete darauf, die Tür wieder zu schließen, und lief über den Flur hinunter in den Neuanbau, den sie und Vince hatten machen lassen, um das Haus zu vergrößern.

Mit einem Mal meinte sie, die ersten Anzeichen einer Migräne zu verspüren, ließ die Mappe im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, ging ins Badezimmer und öffnete den Arzneischrank. Sie schluckte zwei Tabletten, und als sie dabei in den Spiegel sah, erschrak sie beim Anblick ihres Gesichtes, das blass und voller Angst war.

Sie trug ihren Jogginganzug, weil sie vorgehabt hatte, nach der Arbeit an den Entwürfen eine Runde zu laufen. Ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar wurde von einem Band gehalten. Ihr Gesicht war ungeschminkt. Unter ihrem prüfenden, kritischen Blick kam sie sich mit den verräterischen Fältchen, die sich um Augen und Mundwinkel gebildet hatten, älter als vierundvierzig vor.

Das Badezimmerfenster ging auf den Vorgarten und die Auffahrt hinaus. Als sie einen Blick hinauswarf, sah sie ein unbekanntes Auto auf das Haus zufahren. Einen Augenblick später ging die Klingel. Sie wartete darauf, dass Rosita ihr über die Gegensprechanlage mitteilen würde, wer gekommen sei, aber stattdessen kam Rosita die Treppe herauf und überreichte ihr eine Visitenkarte.

»Er möchte mit Rob sprechen, Mrs. Westerfield. Ich habe ihm gesagt, dass Rob beim Joggen ist, und er hat gesagt, er würde warten.«

Linda war fast zwanzig Zentimeter größer als Rosita, die nur knapp einen Meter fünfundfünfzig maß, aber sie musste sich fast an der kleinen Frau festhalten, als sie den Namen auf der Karte las: Detective Marcus Longo.

5

ELLIE HATTE DAS GEFÜHL, überall nur im Weg zu stehen. Als der nette Polizeibeamte gegangen war, wollte sie zu ihrer Mutter, aber Mrs. Hilmer sagte, der Doktor habe ihr etwas gegeben, damit sie schlafen könne. Daddy blieb fast die ganze Zeit in seinem kleinen Zimmer hinter geschlossener Tür. Er sagte, er wolle allein sein.

Grandma Reid, die in Florida wohnte, traf am späten Samstagnachmittag ein, aber sie weinte die ganze Zeit nur.

Mrs. Hilmer und einige von Mommys Freundinnen aus dem Bridge-Club saßen in der Küche. Ellie hörte, wie eine von ihnen, Mrs. Storey, sagte: »Ich komme mir so überflüssig vor, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass Genine und Ted sich vielleicht weniger allein gelassen fühlen, wenn wir in ihrer Nähe sind.«

Ellie ging nach draußen und kletterte auf die Schaukel. Sie holte kräftig Schwung, bis die Schaukel immer höher und höher schwang. Am liebsten wollte sie sich mit der Schaukel überschlagen. Am liebsten wollte sie von ganz oben hinunterfallen und auf dem Boden aufschlagen und sich wehtun. Vielleicht würde es in ihr drinnen dann nicht mehr so wehtun.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Sonne ließ sich nicht blicken, und es war kühl. Nach einer Weile gab Ellie auf; die Schaukel wollte sich nicht überschlagen. Sie ging ins Haus zurück und trat in den schmalen Gang vor der Küche. Sie hörte die Stimme von Joans Mutter. Sie saß bei den anderen Damen, und Ellie hörte, dass sie weinte. »Ich war überrascht, dass Andrea so früh wieder gehen wollte. Es war schon dunkel draußen, und ich habe kurz überlegt, sie nach Hause zu fahren. Wenn …«

Ellie hörte Mrs. Lewis sagen: »Wenn Ellie ihnen bloß erzählt hätte, dass Andrea manchmal zu dieser Garage ging, in dieses ›Versteck‹, wie die Mädchen es nennen. Vielleicht wäre Ted noch rechtzeitig dort gewesen.«

»Wenn Ellie bloß …«

Ellie schlich mit vorsichtigen Schritten die Treppe hoch, um nicht gehört zu werden. Grandmas Koffer lag auf ihrem Bett. Das war merkwürdig. Schlief Grandma denn nicht in Andreas Zimmer? Es war jetzt leer.

Vielleicht sollte sie selbst in Andreas Zimmer schlafen. Dann könnte sie, falls sie heute Nacht aufwachte, so tun, als ob Andrea jeden Augenblick zurückkommen würde.

Die Tür zu Andreas Zimmer war geschlossen. Sie öffnete sie so leise, wie sie es immer am Samstagmorgen getan hatte, wenn sie hineinspähte, um nachzuschauen, ob Andrea noch schlief.

Daddy stand an Andreas Schreibtisch. Er hielt ein gerahmtes Foto in der Hand. Ellie wusste, dass es das Babyfoto von Andrea war, das mit dem Silberrahmen, auf dem oben »Daddys kleiner Schatz« eingraviert war.

Sie beobachtete, wie er den Deckel der Spieldose öffnete. Das war auch ein Geschenk, das er für Andrea gekauft hatte, gleich nach der Geburt. Als Baby wollte Andrea nie ins Bett – aber wenn Daddy die Spieldose aufzog und mit Andrea im Arm durch das Zimmer tanzte und leise den Text des Liedes mitsang, sank sie jedes Mal schnell in den Schlaf.

Zweiter Teil

DREIUNDZWANZIG JAHRE SPÄTER

6

FAST DREIUNDZWANZIG JAHRE ist es her, dass meine Schwester Andrea ermordet wurde, und doch kommt es mir immer noch so vor, als sei es erst gestern geschehen.

Rob Westerfield wurde zwei Tage nach der Beerdigung verhaftet und des Mordes angeklagt. Praktisch allein aufgrund der Informationen, die ich ihnen gegeben hatte, konnte die Polizei einen Durchsuchungsbefehl für das Haus der Westerfields und für Robs Auto erwirken. Sie fanden die Kleider, die er in der Tatnacht getragen hatte, und obwohl sie gründlich gereinigt waren, konnten im Labor Blutflecken darauf identifiziert werden. Der Wagenheber, der als Tatwaffe gedient hatte, wurde im Kofferraum seines Wagens gefunden. Zwar hatte er versucht, ihn abzuwaschen, aber einige Haare von Andrea hatten noch an ihm geklebt.

Rob sagte aus, er sei an dem Abend, an dem Andrea ermordet wurde, ins Kino gegangen. Der Parkplatz beim Kino sei voll gewesen, und er habe sein Auto an der Tankstelle direkt daneben abgestellt. Die Tankstelle sei geschlossen gewesen, aber er habe Paulie Stroebel angetroffen, der noch in der Autowerkstatt gearbeitet habe. Er habe kurz zu Paulie hineingeschaut und ihm gesagt, dass er sein Auto dort stehen lassen und es gleich nach dem Kino wieder holen würde.

Er behauptete, dass Paulie, während er selbst im Kino saß, mit seinem Wagen zum Versteck gefahren sein müsse, Andrea umgebracht und dann das Auto wieder an der Tankstelle abgestellt haben müsse. Rob gab an, dass er das Auto mindestens ein halbes Dutzend Mal in die Werkstatt gebracht habe, um Beulen und Dellen reparieren zu lassen, und dass Paulie bei jeder dieser Gelegenheiten einen Nachschlüssel hätte machen lassen können.

Die Blutspuren an seinen Kleidern und an den Nähten seiner Schuhe versuchte er damit zu erklären, dass Andrea ihn angeblich um ein Treffen im Versteck gebeten habe. Er sagte, sie habe ihn mit ständigen Anrufen belästigt und ihn am Tatabend zur Essenszeit angerufen. Sie habe ihm erzählt, dass sie mit Paulie Stroebel zu einer Fete gehen würde und dass sie nicht wolle, dass er deswegen auf sie böse sei.

»Es war mir egal, mit wem sie ausgehen wollte«, erklärte Rob bei seiner Aussage vor Gericht. »Sie war verknallt in mich, nicht umgekehrt. Sie ist mir überallhin gefolgt. Wenn ich in der Stadt war, dann kam sie zufällig vorbeigelaufen. Wenn ich zum Bowling ging, dann spielte sie auf einmal auf der Bahn neben mir. Einmal habe ich sie und ihre Freundinnen erwischt, als sie in der Garage meiner Großmutter herumsaßen und Zigaretten rauchten. Ich wollte nett sein, deshalb habe ich ihr gesagt, es ginge schon in Ordnung. Sie hat ständig darum gebettelt, dass ich sie auf eine Spritztour im Auto mitnehme. Sie hat mich andauernd angerufen.«

Er hatte auch eine Erklärung dafür parat, warum er in der Tatnacht zum Versteck in der Garage gefahren sei. »Ich kam aus dem Kino«, sagte er aus, »und wollte nach Hause fahren. Aber dann habe ich mir irgendwie Sorgen um sie gemacht. Zwar hatte ich ihr klar gesagt, dass ich mich nicht mit ihr treffen wollte, aber sie wollte trotzdem auf jeden Fall dort auf mich warten. Ich dachte, ich sollte vielleicht kurz vorbeischauen und dafür sorgen, dass sie nach Hause geht, bevor ihr Vater wütend wird. Das Licht in der Garage ging nicht. Ich hab mich durch den Raum getastet und bin um den Van herumgegangen. Das war die Stelle, wo Andrea und ihre Freundinnen manchmal auf Decken saßen und rauchten.

Dann spürte ich die Decke unter meinem Fuß. Ich konnte lediglich erkennen, dass jemand dort lag, und natürlich dachte ich, dass Andrea auf mich gewartet hatte und dabei eingeschlafen war. Also habe ich mich hingekniet, nach ihr getastet, und plötzlich spürte ich das Blut auf ihrem Gesicht. Dann bin ich weggerannt.«

Er wurde gefragt, warum er weggelaufen sei. »Weil ich Angst hatte, jemand könnte auf den Gedanken kommen, dass ich es war.«

»Was, haben Sie geglaubt, war ihr zugestoßen?«

»Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte Angst. Aber als ich sah, dass der Wagenheber in meinem Kofferraum voller Blut war, wusste ich, dass es Paulie gewesen sein musste, der sie getötet hat.«

Er verhielt sich sehr geschickt, und seine Aussage war gut einstudiert. Ein blendend aussehender junger Mann, der einen starken Eindruck hinterließ. Aber dann wurde ich Rob Westerfield zum Verhängnis. Ich erinnere mich, wie man mich in den Zeugenstand rief und ich die Fragen des Staatsanwalts beantwortete.

»Ellie, hat Andrea Rob Westerfield angerufen, bevor sie zu Joan gegangen ist, um Hausaufgaben zu machen?«

»Ja.«

»Gab es auch Anrufe von ihm?«

»Manchmal hat er angerufen, aber wenn Daddy oder Mommy ans Telefon gegangen sind, hat er sofort aufgelegt. Er wollte immer, dass Andrea ihn anruft, weil er ein eigenes Telefon in seinem Zimmer hatte.«

»Gab es einen besonderen Grund, warum Andrea ihn am Abend, bevor sie starb, angerufen hat?«

»Ja.«

»Hast du das Gespräch mit angehört?«

»Nur einen kleinen Teil davon. Ich bin in ihr Zimmer gegangen. Sie weinte fast. Sie hat Rob am Telefon gesagt, sie kann nichts dafür, dass sie mit Paulie zu der Fete geht, sie muss es tun. Sie wollte nicht, dass Paulie Daddy erzählt, dass sie sich manchmal mit Rob im Versteck trifft.«

»Was geschah dann?«

»Sie hat Rob gesagt, sie würde zu Joan gehen, um Hausaufgaben zu machen, und er hat ihr gesagt, sie soll sich mit ihm im Versteck treffen.«

»Hast du gehört, wie er das gesagt hat?«

»Nein, aber ich habe gehört, wie sie gesagt hat: ›Ich werd’s versuchen, Rob.‹ Dann hat sie aufgelegt und gesagt: ›Rob möchte, dass ich früher von Joanie weggehe und wir uns im Versteck treffen. Er ist wütend auf mich. Er hat gesagt, es kommt überhaupt nicht infrage, dass ich mit einem anderen ausgehe.‹«

»Hat Andrea das zu dir gesagt?«

»Ja.«

»Was geschah dann weiter?«

Und dann gab ich im Zeugenstand Andreas letztes Geheimnis preis und brach das heilige Ehrenwort, das ich ihr gegeben hatte, das Versprechen »auf Ehre und Leben«, dass ich niemandem etwas über den Anhänger erzählen würde, den ihr Rob geschenkt hatte. Er war vergoldet und hatte die Form eines Herzens mit kleinen blauen Edelsteinen. Auf der Rückseite hatte Rob ihre Initialen eingravieren lassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits in Tränen ausgebrochen, weil ich meine Schwester so sehr vermisste und es wehtat, über sie zu sprechen. Und daher fügte ich hinzu, ohne danach gefragt worden zu sein: »Sie hat das Kettchen mit dem Anhänger angelegt, bevor sie gegangen ist, deshalb war ich sicher, dass sie sich mit ihm treffen wollte.«

»Ein Anhänger?«

»Rob hat ihr den Anhänger geschenkt. Andrea hat ihn unter der Bluse getragen, damit niemand ihn sehen konnte. Aber ich habe ihn gespürt, als ich sie in der Garage gefunden habe.«

Ich erinnere mich, wie ich im Zeugenstand saß. Ich erinnere mich, dass ich versuchte, nicht in Rob Westerfields Richtung zu schauen. Er starrte mich die ganze Zeit über an; ich konnte den Hass spüren, der von ihm ausging.

Und ich könnte schwören, dass ich die Gedanken meiner Eltern lesen konnte, die hinter dem Staatsanwalt saßen: Ellie, du hättest es uns sagen müssen; du hättest es uns sagen müssen.

Die Verteidiger versuchten, meine Aussage niederzumachen. Sie führten aus, Andrea habe oft einen Anhänger getragen, den mein Vater ihr geschenkt hatte, und dieser habe sich auf ihrem Schminktisch befunden, als die Leiche gefunden wurde. Sie sagten, ich würde Geschichten erfinden oder Geschichten wiedergeben, die mir Andrea über Rob erzählt hätte.

»Andrea hat den Anhänger getragen, als ich sie gefunden habe«, beharrte ich. »Ich konnte ihn spüren.« Dann brach es aus mir heraus: »Deshalb bin ich auch sicher, dass es Rob Westerfield gewesen sein muss, der in der Garage war, als ich Andrea fand. Er ist zurückgekommen wegen des Anhängers.«

Robs Anwälte erhoben wütend Einspruch, und diese Bemerkung wurde aus dem Protokoll gestrichen. Der Richter forderte die Geschworenen auf, die letzte Aussage in keiner Weise zu berücksichtigen.

Hat irgendeiner der Anwesenden geglaubt, was ich damals über den Anhänger, den Rob Andrea geschenkt hatte, erzählt habe? Ich weiß es nicht. Der Fall ging an die Geschworenen, und diese berieten sich fast eine Woche lang. Wir erfuhren, dass ein paar der Geschworenen zunächst eher dazu neigten, auf Totschlag zu erkennen, der Rest aber auf einer Verurteilung wegen Mordes bestand. Die Mehrheit war davon überzeugt, dass Rob den Wagenheber in die Garage mitgenommen hatte, weil er von vornherein die Absicht hatte, Andrea zu töten.

Als Westerfield die ersten Gesuche für eine vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung einreichte, hatte ich das Prozessprotokoll studiert und mit vehementen Briefen gegen seine Freilassung protestiert. Da er jedoch mittlerweile fast zweiundzwanzig Jahre abgesessen hatte, war mir klar, dass dem Gesuch diesmal stattgegeben werden könnte, und aus diesem Grund war ich nach Oldham-on-the-Hudson zurückgekehrt.

 

 

ICH BIN DREISSIG JAHRE alt, lebe in Atlanta und arbeite als Reporterin bei den Atlanta News. Der Chefredakteur, Pete Lawlor, hält es bereits für eine persönliche Beleidigung, wenn einer der Angestellten seinen Jahresurlaub nimmt. Daher hatte ich mit einem handfesten Wutausbruch gerechnet, als ich ihm sagte, dass ich sofort ein paar freie Tage benötigte und später vielleicht noch ein paar mehr.

»Wollen Sie heiraten?«

Ich sagte, das sei das Letzte, was ich im Sinn hätte.

»Worum geht es dann?«

Ich hatte niemandem bei der Zeitung etwas über mich und meine Geschichte erzählt, aber Pete Lawlor war einer dieser Menschen, die immer alles über alle Leute zu wissen scheinen. Er war einundreißig Jahre alt, litt unter fortgeschrittener Glatzenbildung, kämpfte ständig mit seinen zehn überschüssigen Pfunden und war vermutlich der klügste Mann, dem ich je begegnet bin. Ich war erst ein halbes Jahr bei den News und hatte gerade eine Story über den Mord an einem Teenager beendet, als er beiläufig zu mir sagte: »Das muss nicht leicht für Sie gewesen sein, diesen Artikel zu schreiben. Ich weiß Bescheid über die Geschichte mit Ihrer Schwester.«

Er hatte keine Antwort erwartet, und ich hatte ihm auch keine gegeben, aber dennoch hatte er mich sein Mitgefühl spüren lassen. Das war ein wirklicher Trost gewesen, denn der Auftrag hatte mich in der Tat sehr aufgewühlt.

»Andreas Mörder hat Haftentlassung beantragt. Ich fürchte, dass sie ihm diesmal gewährt wird, und ich möchte versuchen, irgendetwas dagegen zu unternehmen.«

Pete lehnte sich zurück. Er trug stets ein Hemd mit offenem Kragen und Pullover. Ich hatte mich schon gefragt, ob er überhaupt ein einziges Sakko sein Eigen nannte. »Wie lange sitzt er schon?«

»Fast zweiundzwanzig Jahre.«

»Wie oft hat er schon Haftentlassung beantragt?«

»Zweimal.«

»Irgendwelche Probleme während der Haft?«

Ich fühlte mich wie eine Schülerin, die gerade abgefragt wird. »Nicht dass ich wüsste.«

»Dann wird er wahrscheinlich rauskommen.«

»Das glaube ich auch.«

»Warum dann der ganze Aufstand?«

»Ich kann nicht anders.«

Pete Lawlor hält nicht viel davon, Zeit oder Worte zu verschwenden. Er stellte keine weiteren Fragen. Er nickte nur. »Okay. Wann ist die Anhörung?«

»Die Anhörung ist nächste Woche. Am Montag soll ich mit jemandem von der Bewährungskommission sprechen.«

Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu, womit er mir zu verstehen gab, dass die Unterredung beendet war. »Geht in Ordnung«, sagte er. Aber als ich mich umdrehte, fügte er noch hinzu: »Ellie, Sie sind nicht so hart im Nehmen, wie Sie glauben.«

»Doch, das bin ich.« Ich hielt es nicht für nötig, ihm für den Urlaub zu danken.

Bereits am folgenden Tag, es war ein Samstag, flog ich von Atlanta zum Westchester County Airport und mietete ein Auto.

Ich hätte über Nacht in einem Motel in Ossining bleiben können, nicht weit von Sing Sing, dem Gefängnis, in dem Andreas Mörder einsaß. Stattdessen fuhr ich fünfzehn Meilen weiter nach Oldham-on-the-Hudson, wo wir damals gewohnt hatten, suchte und fand das idyllische Gasthaus Parkinson Inn, in das wir, wie ich mich erinnerte, manchmal mittags oder abends zum Essen gegangen waren.

Das Gasthaus lief allem Anschein nach sehr gut. An diesem kühlen Samstagmittag im Oktober war der Speisesaal voll besetzt mit leger gekleideten Gästen, überwiegend Paare und Familien. Für einen Augenblick überkam mich eine Welle der Nostalgie. Genauso hatte ich meine frühe Kindheit in Erinnerung, unsere Familie, wie sie am Samstag hier zum Mittagessen an einem Tisch versammelt war. Danach hatte Dad Andrea und mich manchmal am Kino abgesetzt. Sie traf sich dort mit ihren Freundinnen, aber es machte ihr nichts aus, wenn ich dabei war.

»Ellie ist in Ordnung, sie wird uns nicht verpetzen«, hatte sie gesagt. Wenn der Film früh genug zu Ende war, liefen wir alle zum Garagenversteck, wo Andrea und Joan und Margy und Dottie gemeinsam auf die Schnelle noch eine Zigarette rauchten, bevor wir nach Hause gingen.

Andrea hatte sich eine Ausrede zurechtgelegt, als Daddy einmal eine Bemerkung gemacht hatte, weil ihre Kleider nach Rauch rochen. »Ich kann nichts dafür. Nach dem Kino haben wir Pizza gegessen, und dort haben so viele Leute geraucht.« Und dann hatte sie mir zugezwinkert.

Das Gasthaus hatte nur acht Gästezimmer, aber eines davon war noch frei, ein spartanisch eingerichteter Raum, in dem lediglich ein Bett mit eisernem Kopfende, ein kleiner Schreibtisch, ein Nachttischchen und ein Stuhl standen. Das Fenster ging nach Osten hinaus, in die Richtung, in der das Haus lag, in dem wir gewohnt hatten. Die Sonne war unbeständig an diesem Nachmittag, bald tauchte sie auf, bald verschwand sie wieder hinter Wolken, mal schien sie grell, dann wieder war sie vollkommen verdeckt.

Ich stand am Fenster und schaute hinaus, und ich fühlte mich wieder wie das siebenjährige Mädchen, das seinen Vater beobachtet hatte, als er die Spieldose in der Hand hielt.

7

IN MEINER ERINNERUNG prägte jener Nachmittag mein ganzes weiteres Leben. Der heilige Ignatius von Loyola hat einmal gesagt: »Zeigt mir ein Kind bis zu seinem siebenten Lebensjahr, und ich zeige euch den Mann.«

Ich nehme an, dass das auch für die Frauen gelten sollte. Wie zur Salzsäule erstarrt hatte ich dagestanden, mucksmäuschenstill, und meinem Vater, den ich anbetete, zugesehen, wie er schluchzend das Bildnis meiner toten Schwester an seine Brust drückte, während die zarten Töne aus der Spieldose durch die Stille klangen.

Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, ob ich damals überhaupt keinen Drang verspürte, zu ihm zu laufen, meine Arme um ihn zu schlingen, seine Trauer aufzusaugen und sie mit der meinigen zu vermischen. Tatsache ist, dass ich schon damals begriff, dass er in seiner Trauer für mich unerreichbar war und dass ich niemals seinen Schmerz würde lindern können.

Lieutenant Edward Cavanaugh, mit Auszeichnungen versehener Beamter der New York State Police, der sich in einem Dutzend lebensgefährlicher Situationen heldenhaft bewährt hatte, war nicht in der Lage gewesen, den Mord an seiner schönen, eigensinnigen, fünfzehnjährigen Tochter zu verhindern, und sein tiefes Leid konnte nicht mit einem weiteren Trauernden geteilt werden, wie eng auch immer die Blutsbande zwischen ihnen sein mochten.

Aber eines habe ich im Lauf der Jahre begriffen: Wenn die Trauer nicht gemeinsam getragen wird, dann schiebt man sich die Schuld gegenseitig zu wie eine heiße Kartoffel, die vom einen zum andern geworfen wird und am Ende bei demjenigen hängen bleibt, der am wenigsten in der Lage ist, sie wegzuschleudern.

In diesem Fall war ich diejenige.

Detective Longo hatte keine Zeit verloren, nachdem ich ihm Andreas Geheimnis verraten hatte. Ich hatte ihm zwei Spuren, zwei mögliche Verdächtige geliefert: Rob Westerfield, der seine überwältigende Ausstrahlung als heißblütiger, reicher Playboy eingesetzt hatte, um Andrea den Kopf zu verdrehen, und Paul Stroebel, der scheue, zurückgezogene Junge, der sich in das bildhübsche Orchestermitglied verliebt hatte, das ihm bei seinen spielentscheidenden Leistungen auf dem Footballfeld begeistert zugejubelt hatte.

Die Heimmannschaft anfeuern – niemand konnte das besser als Andrea!

Während sich die Experten über die Ergebnisse der Autopsie beugten und die Vorbereitungen für Andreas Beerdigung im Gate-of-Heaven-Friedhof liefen, hatte Detective Longo sowohl Rob Westerfield als auch Paul Stroebel verhört. Beide hatten behauptet, Andrea am Donnerstagabend nicht gesehen zu haben und auch keine Absicht gehabt zu haben, sich mit ihr zu treffen.

Paul hatte in der Tankstelle gearbeitet, und obwohl diese um sieben Uhr schloss, war er noch länger in der Werkstatt geblieben, um ein paar kleinere Reparaturen zu erledigen. Rob Westerfield hatte geschworen, das örtliche Kino aufgesucht zu haben, und er hatte sogar eine entwertete Eintrittskarte vorweisen können.

Ich erinnere mich, dass ich an Andreas Grab stand, eine einzelne langstielige Rose in der Hand, und dass man mir, nachdem die Gebete gesprochen waren, bedeutete, ich solle sie auf Andreas Sarg legen. Ich erinnere mich auch, dass ich mich innerlich wie tot fühlte, so tot und reglos, wie Andrea gewesen war, als ich mich im Versteck über sie gebeugt hatte.

Ich wollte ihr sagen, wie Leid es mir tat, dass ich das Geheimnis über ihre Treffen mit Rob am Ende doch noch verraten hatte, und aus derselben Verzweiflung heraus wollte ich ihr sagen, wie Leid es mir tat, dass ich nicht sofort alles mitgeteilt hatte, was ich wusste, als sie abends nicht nach Hause gekommen war. Aber natürlich sagte ich gar nichts. Ich legte die Rose auf den Sarg, sie rutschte jedoch ab, und bevor ich sie aufheben konnte, schritt meine Großmutter an mir vorbei, um ihre Blume auf den Sarg zu legen, und ihr Schuh trat meine Rose in den schlammigen Boden.

Wenig später verließen wir den Friedhof, und aus der Reihe von feierlichen Gesichtern, an denen ich vorbeiging, fing ich zornige Blicke auf, die auf mich gerichtet waren. Die Westerfields waren ferngeblieben, aber die Stroebels waren erschienen, sie hatten Paulie fest in die Mitte genommen, sodass ihre Schultern sich berührten. Ich erinnere mich, dass ich einen stillen Vorwurf spürte, der mir aus der Menge entgegenschlug, mich überwältigte und fast erstickte. Es war ein Gefühl, das mich nie mehr ganz losgelassen hat.

Ich hatte versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich jemanden atmen gehört hatte, als ich neben Andreas Leiche kniete, aber sie waren skeptisch geblieben, weil ich so panisch und verängstigt gewesen war. Als ich aus dem Wald gerannt kam, war mein Atem so schwer und rasselnd gegangen wie bei den Anfällen von Pseudokrupp, unter denen ich als Kind zuweilen litt. Doch über all die Jahre hinweg wurde ich immer wieder von demselben Albtraum aus dem Schlaf geschreckt: Ich knie vor Andreas Leiche, gleite auf ihrem Blut aus und höre das schwere, raubtierhafte Atmen und dieses hohe Gekicher.

Aus jenem Angstinstinkt heraus, der die Menschheit vor dem Aussterben bewahrt hat, weiß ich, dass Rob Westerfield eine Bestie in seinem Innern beherbergt und dass er, falls man ihn freilässt, irgendwann erneut zuschlagen wird.

8

ALS ICH TRÄNEN aufkommen spürte, wandte ich mich vom Fenster ab, hob meinen Rucksack auf und stellte ihn auf das Bett. Ich musste beinahe lächeln, als ich meine Sachen auspackte und mir dabei durch den Kopf ging, dass ich Pete Lawlor, wenn auch nur im Geiste, wegen seiner nachlässigen Art, sich zu kleiden, getadelt hatte. Ich trug Jeans und einen Rollkragenpulli. Eingepackt hatte ich, abgesehen von Nachthemd und Unterwäsche, nur einen langen wollenen Rock und zwei weitere Pullis. Meine Lieblingsschuhe sind Clogs, allein schon wegen meiner eins fünfundsiebzig Körperlänge. Meine Haare haben ihre sandähnliche Farbe behalten. Ich lasse sie lang wachsen und trage sie entweder hochgesteckt oder binde sie zum Pferdeschwanz.

Andrea war hübsch und feminin, sie war meiner Mutter sehr ähnlich. Ich dagegen habe die kräftigen Züge meines Vaters geerbt, die einem Mann besser stehen als einer Frau. Niemand würde auf den Gedanken kommen, mich seinen Christbaumstern zu nennen.

Verlockende Düfte stiegen vom Speisesaal auf, und ich stellte fest, dass ich Hunger hatte. Ich hatte einen frühen Flug aus Atlanta erwischt und musste, wie üblich, geraume Zeit vor dem Abflug am Flughafen sein. Das im Flugzeug servierte »Frühstück« hatte aus einer Tasse schlechten Kaffees bestanden.

Als ich in den Speisesaal hinunterging, war es halb zwei, und viele Gäste waren schon wieder gegangen. Ich bekam sofort einen freien Tisch in einer kleinen Nische beim offenen Kaminfeuer. Ich hatte nicht bemerkt, wie durchgefroren ich war, bis ich die wohltuende Wärme an Händen und Füßen verspürte.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, fragte die Bedienung, eine lächelnde grauhaarige Frau, auf deren Namensschild »Liz« stand.

Warum nicht?, dachte ich und bestellte ein Glas Rotwein.

Als sie wiederkam, sagte ich, ich hätte mich für die Zwiebelsuppe entschieden, und sie meinte, das sei eine gute Wahl.

»Arbeiten Sie schon lange hier, Liz?«, fragte ich.

»Fünfundzwanzig Jahre. Ich kann es selbst kaum glauben.«

Möglicherweise hatte sie uns vor Jahren schon bedient. »Gibt es immer noch die Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade?«

»Ja, natürlich. Haben Sie die früher immer bestellt?«

»Ja.« Ich bereute sofort, sie darauf angesprochen zu haben. Das Letzte, was ich mir wünschte, war, von den Einheimischen als »die Schwester des Mädchens, das vor dreiundzwanzig Jahren ermordet worden ist« identifiziert zu werden.

Aber Liz war es offensichtlich gewohnt, von Durchreisenden darauf angesprochen zu werden, dass sie vor Jahren schon in diesem Gasthaus gegessen hätten, und sie verließ den Tisch ohne weiteren Kommentar.

Ich nippte an meinem Wein und erinnerte mich nach und nach an bestimmte Anlässe, an denen wir als Familie hier gewesen waren, zu der Zeit, als wir noch eine Familie waren. Für gewöhnlich kehrten wir an Geburtstagen hier ein, manchmal auch auf dem Rückweg von einem Ausflug. Der letzte Anlass war, glaube ich, der Besuch meiner Großmutter gewesen, nachdem sie schon fast ein Jahr in Florida lebte. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater sie am Flughafen abholte und wir hier verabredet waren. Wir hatten eine Torte für sie besorgt. Die rosa Inschrift auf der weißen Glasur lautete: »Willkommen daheim, Grandma.«

Sie hatte angefangen zu weinen. Glückliche Tränen. Die letzten glücklichen Tränen, die in unserer Familie vergossen wurden. Und dieser Gedanke brachte mich wieder auf die Tränen, die am Tag von Andreas Beerdigung vergossen wurden, und auf den schrecklichen öffentlichen Streit zwischen meinen Eltern.

9