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Draußen vor dem Heidelberger Universitätsgebäude versammeln sich die Freundinnen und warten auf Hedwig Solitander, die drinnen soeben ihre mündliche Doktorprüfung ablegt. Schließlich ist es überstanden: Hedwig tritt als frischgebackene Doktorin "cum laude" vor die Freundinnen. Aber viele Schwierigkeiten beginnen erst jetzt. Wie soll es in Hedwigs Leben weitergehen? Sie sucht Rat bei ihrem langjährigen Jugendfreund, dem Arzt Hermann Riedinger, der ihr mit seiner illusionslosen Sicht der Welt für vieles erst die Augen geöffnet hat, aber dadurch ursächlich auch mit daran teilhat, dass sich in Hedwig jetzt die große Leere breitmacht. Weiteres Unbill bringt der Besuch der Alwine von Helmstorff, der Gemahlin von Hedwigs attraktiven Dozenten Geheimrat von Helmstorff. Erst als die fremde Frau sie anfleht, ihr ihren Mann zurückzugeben und ihre Ehe nicht zu zerstören, begreift Hedwig, dass Helmstorff unsterblich in sie verliebt ist. Sie dagegen empfindet nichts für den älteren Mann, will ja ihren treuen Freund Hermann heiraten. Doch als sie Helmstorff noch einen letzten Besuch abstatten muss, geraten ungeahnte Dinge in Gang und nie geahnte Gefühle in Bewegung, und plötzlich sieht sich Hedwig inmitten einer Amour fou, die nur noch tragisch enden kann ... Der Heidelberger Roman aus dem Universitätsleben ist sicherlich einer der emotionalsten Romane von Rudolph Stratz.-
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Seitenzahl: 503
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Rudolf Stratz
Roman
Saga
Der du von dem Himmel bist
© 1906 Rudolf Stratz
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711507100
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Von dem kleinen Dachturm des Heidelberger Universitätsgebäudes schlug es langsam sieben-, acht-, neunmal hinaus in Regen und Dunkel der Februarnacht. Eine Minute war es darauf still. Dann bestätigte unsichtbar, hoch vom finsteren Himmel der Klöppel der nahen Jesuitenkirche, dass es neun Uhr Abends sei, und ehe er noch damit zu Ende war, beeilten sich von der anderen Seite, von Westen, St. Peter und Providenz, auch den Protestanten der Neckarstadt die Zeit zu künden. Als Nachzügler brummte und dröhnte drüben, aus der Richtung des Marktes, die uralte Heiliggeistkirche wie seit vielen Jahrhunderten ihr Sprüchlein. Dann herrschte wieder tiefe, schläfrige Ruhe. Der feine, lau rieselnde Winterregen plätscherte in den Dachkandeln und Gossen, die keine Spur von Schnee mehr zeigten — der lag in Heidelberg meist nur oben auf den Waldhöhen, die, jetzt in der Nacht verschwunden, Stadt und Fluss einrahmten — ein feuchter Südwest strich, von der Rheinebene kommend, über den freien Platz zur Seite der Hochschule, in dessen Mitte, von Laternengeflacker notdürftig erhellt und von Nässe triefend, die viel zu kleine Bronzegestalt des alten Kaiser Wilhelm auf einem ebenfalls viel zu kleinen Rösslein ritt. Ausser ihm war nichts auf der Fläche zu bemerken. Menschen gab es nicht. Die hielt der Regen und die späte Stunde daheim. Selbst in der nahen Hauptstrasse zeigten sich nur wenige Fussgänger, selten einmal ein Wagen. Alt-Heidelberg lag im Winterschlaf. Das war nicht mehr „die Feine“, die von Fremden wimmelnde, die im schimmernden Brautgewand ihrer weissen Maienblüte und in ihrem Sommergrün von den Dichtern Verherrlichte, von dem In- und Ausland Angestaunte — das Schosskind und Nesthäkchen unter den deutschen Städten, sondern ein mittleres badisches Amts- und Kreisstädtchen wie viele andere — mit einer jetzt meist von Februarnebel umsponnenen, wenig besuchten Schlossruine und einer Universität.
Vor der hielt jetzt in der Hauptstrasse ein Strassenbahnwagen. Eine junge Dame stieg aus und ging mit raschen, die Gewohnheit dieses Weges verratenden Schritten an dem mittelalterlichen Brunnen vorbei und über die Asphaltfläche, auf der bei Tag die Droschkenkutscher standen, zur Hochschule hin. Aber sie trug keine Kollegienmappe in der Hand, sondern einen Blumenstrauss. Es wäre auch zu spät für eine Vorlesung gewesen. Wohl war das Tor der Ruperto-Carola noch offen und brannte innen in der Vorhalle das Gas und warf seinen Zitterschein über die mit Gelehrtenhand hingekritzelten Anzeigen am schwarzen Brett, die Ankündigungen von Wohnungen und Mittagstischen, von Sprachlehrern und Übersetzern und Dissertationsabschreibern, aber zu sehen war niemand mehr und durch die offenen Türen der Hörsäle gähnten innen im Halbdunkel die leeren Bankreihen.
Olga Ritter warf einen Blick nach oben, die Treppe hinauf, ob da nichts sich rege, und auf ihrem nicht sehr hübschen, eher nervösen und leidenden Gesicht war ein Zug erwartungsvoller Spannung. Als alles still blieb, schüttelte sie ungeduldig den Kopf, klappte wieder ihren Schirm auf und trat ins Dunkel hinaus. Dort bog sie um die Ecke der Hochschule und schritt auf dem freien Platz bis beinahe dahin, wo nach wie vor der kleine bronzene Kaiser und sein Ross den Unbilden der Witterung trotzten. Von hier konnte man die Südfläche des bis zur Ärmlichkeit unansehnlichen Heidelberger Universitätsgebäudes überblicken. Seine Fenster lagen still und schwarz da. Nur zwei von ihnen — hart an der Ecke, wo hinten die Augustinergasse die Hochschule abschloss — waren noch erleuchtet. Ein heller Schein fiel von ihnen aus in die Nacht.
Das beruhigte die Studentin und sie ging langsam mit ihren Blumen, die sie unter dem Schirm schützte, nach dem Haupttor zurück. Dort stiess sie auf eine rasch von der andern Seite nahende Kommilitonin, die auch einen grossen Rosenbusch in der Hand trug, und beide nickten sich zu. Suse Trautvetter, die Medizinerin, war erst zu Anfang der zwanzig, wohl fünf, sechs Jahre jünger als ihre zuerst gekommene Genossin von der philosophischen Fakultät. Ihr hübsches Gesicht war noch unberührt vom Leben, mehr eine glattrosige Kindermaske als die Züge einer Frau. Sie war sehr sorgfältig, für das elende Wetter sogar teuer, aber ganz unauffällig gekleidet, in einer harmlosen Art, die gar nicht auf andere berechnet war, sondern, wie der durch das Studium erworbenen geistigen, so auch der körperlichen Achtung vor sich selber entsprach.
Die beiden gaben sich die Hand. Sie wohnten nebeneinander im selben Hause und sahen sich täglich — aber sie nannten sich „Sie“ und „Fräulein“. Schwärmerische Mädchenfreundschaften wie früher gediehen in diesen neuen, suchenden Seelen kaum. Dazu wehte die Luft der Erkenntnis auf den Höhen der Wissenschaft zu scharf und war der geistige Einfluss der Männer zu nahe und zu stark.
Unwillkürlich verglichen sie einen Augenblick ihre Buketts miteinander, ob sie auch gleichwertig seien, dann versetzte die cand. phil. Olga Ritter: „Die Fenster sind noch hell! ... Sie ist noch mitten drin ...“
„Aber um sieben haben sie doch schon angefangen. Sie muss jetzt doch bald fertig sein!“ sagte die kleine stud. med. Suse Trautvetter.
„Nun ja — zwei Stunden dauert das Doktorexamen doch immer mindestens! Und dazwischen ist noch die Pause.“
„Haben Sie sie denn in der Pause gesprochen?“
„Ja — ich war oben! Im Vorzimmer! Der dicke Pedell hat mich zu ihr hereingelassen!“
„Na — und wie war sie denn? Erzählen Sie doch, Fräulein Ritter!“
„Ach — eigentlich wie immer! Sie regt sich ja selten über etwas auf. Sie sagt, sie sässen eben alle um einen Tisch ’rum — Trenkle und Helmstorff und die anderen und sie und unterhielten sich ganz gemütlich — und dazwischen kämen so die Fragen und meistens wisse sie die Antwort und manchmal auch nicht. Aber da gingen die Herren dann schonend darüber hinweg. Und Helmstorff, der ja als Ethnograph von ihren übrigen Prüfungsfächern nicht die Bohne verstehe, nicke ihr gönnerhaft über den Tisch hin zu, wenn einmal eine Frage käme, die er auch wisse. Aber im ganzen sei er doch mehr in sein gewöhnliches stilles Staunen versunken, was er doch für ein schöner Mann sei, und liebäugle aus Langerweile immer mit seiner Hand mit den blankpolierten, spitzen Nägeln. Sie sei ja lang, aber weiss wie bei einer Frau. Eigentlich habe er überhaupt etwas von einer Frau an sich“ ...
Suse Trautvetter lachte. Sie verstand es vortrefflich, Gesichter zu schneiden und die Professoren nachzumachen, zu deren Füssen sie scheinheilig, emsig kritzelnd und mit gläubigen Augen im Hörsaal sass. Und besonders die Karrikierung des schönen, erst in den Vierzigerjahren stehenden Geheimrats von Helmstorff war ihre Spezialität, wie er auf dem Katheder sich räusperte und seinen langen blonden Bart strich und die Manschetten hervorzog und, ehe er seinen Vortrag begann, einen prüfenden Blick über das Auditorium gleiten liess, in dem sich Kopf an Kopf — viele Damen, viele Engländer und durchreisende Fremde darunter — bis zur Türe hin drängte — eine glänzende Leuchte, ein Halbgott der Hochschule in jedem Zoll seines Wesens — und dabei auch noch Mitglied des Reichstags, an vielen kleinen Höfen wohl angesehen, durch einen bayrischen Orden geadelt, selbst in Berlin bekannt — einer, dem vor dem Neid der Götter grauen konnte.
Und schrecklich sei es für Hedwig nur, berichtete die Philosophin aus dem Examenszimmer weiter, dass der alte Geheimrat Trenkle, Helmstorffs Schwiegervater, neben ihr immerwährend, wenn sie gerade ordentlich im Zug sei und fliessend spreche, zerstreut mit seinem Bleistift Köpfchen auf das weisse Papier vor ihm male — Frauenköpfchen natürlich, mit kühnen Frisuren — man kenne ja die Schwäche des alten Herrn. Aber sie, die Hedwig, mache das Gekritzel ganz nervös. Das lenke sie immer ab. Und das just bei dem alten Trenkle, der stets so gut und wohlwollend zu ihr gewesen während ihrer ganzen Studienzeit. Und er prüfte sie doch gerade im Hauptfach! Er promovierte sie doch! Er hatte doch die Verantwortung für sie gegenüber der Fakultät! Für ihn hatte sie ja die Dissertation geschrieben! Und nun erschwerte er ihr das Mündliche so unnütz! Und sie konnte ihm doch nicht gut etwas sagen. Nun, zum Glück sass er jetzt in der zweiten Stunde weiter abseits! Da kamen die anderen daran. Da musste sie nun sehen, wie sie sich mit denen abfand! ... Und Suse Trautvetter zuckte, als sie das von ihrer Gefährtin hörte, die Achseln und versetzte despektierlich: „Gott ... die alten Knöpfe!“
Eine Weile schwiegen die beiden Mädchen und standen still nebeneinander in dem unwirtlichen und zugigen Vorplatz, den der eigentümliche Dunstkreis der Hörsäle, ein Geruch von Staub, Gas, Menschen und nassen Mänteln jetzt noch erfüllte. Dann sagte die kleine Trautvetter plötzlich: „Na — wenn auch! Ihr habt’s doch gut — mit eurer Philosophie! Zwei Stunden werdet ihr im Doktorexamen gepiesakt und dann ist’s alle! Aber in der Medizin — au — wenn ich bloss an mein Physikum denke! — Das blüht mir nächstes Jahr — und dann gar das Staatsexamen! Wochenlang haben sie einen da in der Mache und rupfen und zausen einen — und dann bin ich immer noch nicht Doktor, sondern das Vergnügen kommt noch extra! Da ist die Hedwig doch wahrhaftig besser daran. Die steigt jetzt mit ihrem „magna cum laude“ in der Tasche die Treppe herunter und ...“
„... ‚cum laude‘ kriegt sie — mehr nicht!“ meinte die Philosophin und die Medizinerin widersprach: „Nein! Sie behaupten alle, sie müsse ihren Doktor magna cum laude machen! Ihre Dissertation sei so ausgezeichnet, dass ...“
„Aber es hapert in dem einen Nebenfach! Schliesslich — sie sagt mit Recht: Und wenn ich nur mit ‚rite‘ durchschlupf’, was ja auf alle Fälle sicher ist — Doktor bleibt Doktor ...“
„Ob sie mir dann fünfzig Mark borgen kann?“ meinte die andere hoffnungsvoll. Fräulein Ritter erwiderte ihr nichts darauf. Es war bekannt, dass die kleine Trautvetter trotz ihres reichlichen Zuschusses von zu Hause stets in den verwickeltsten Finanznöten stak. Das kam von den ewigen Landpartien nach Neckarsteinach, den Theaterfahrten nach Mannheim, den teuren Toiletten — dem ganzen Sausewindtreiben. Ihre Gefährtin missbilligte das durchaus. Aber schliesslich mochte jede hier selbst sehen, wie sie sich ihre Freiheit und ihr Leben einrichtete.
„Guten Abend!“ sagte vom Eingang her eine weiche, leise Stimme. Die da kam, war keine Studentin. Sie trug die schwarze Tracht der Krankenschwestern und, in seltsamem Gegensatz dazu, ein Büschel exotisch-bunt-schillernder, abenteuerlich geformter Orchideen halb verhüllt unter dem Mantel. Unter der weissen Haube schaute ein auffallend hübsches, schmales, nicht mehr ganz junges Gesicht heraus.
„Komm’ ich noch zurecht?“ frug sie, ihren nassen Schirm zuklappend und den anderen die Hand reichend. Und die begrüssten sie respektvoller als es sonst die ungebundene Art ihres Verkehrs untereinander war: „Jawohl, Fräulein von Behla! Das Examen ist noch nicht zu Ende!“
Und die gottlose kleine Trautvetter setzt hinzu: „Sie sitzt noch oben und schwitzt Blut und Wasser. Und zum Schluss gibt ihr Helmstorff den Segen — feierlich — wie ein Hohepriester. Ach ...! ’s ist aber doch wundervoll ... Doktor! ... Wenn ich’s nur schon wäre ...“
Dann entstand eine Pause. Es war wie etwas Unausgesprochenes zwischen den dreien — eine stumme Frage, die auf allen Lippen lag —, und endlich löste die junge Medizinerin die Spannung und forschte laut und unbekümmert: „Wo steckt denn eigentlich Riedinger? Warum haben Sie Ihren hohen Chef denn nicht mitgebracht, Fräulein von Behla?“
Die schöne Krankenschwester lächelte und die beiden Studentinnen lächelten mit. In diesem Kreis brauchte man sich nicht erst zu erzählen, was zwischen der Doktorandin droben und dem Dr. med. Hermann Riedinger bestand. Das war ja schon lange her und im übrigen ganz natürlich. Waren sie doch Nachbarskinder und Jugendgespielen, von klein an in dem finstern Barockhaus in der Heidelberger Altstadt aufgewachsen, das jetzt noch Hedwigs Vater und seit vielen Generationen schon, seit dem Wiederaufbau der Stadt nach der Zerstörung, der alten Humanisten- und Predigerfamilie der Solitander gehörte. So sagte denn auch Demut von Behla, die seit einem halben Jahr in der Riedingerschen Privatklinik als Probeschwester tätig war, ganz gleichmütig: „Ja — er wollte auch kommen, aber im letzten Moment haben sie uns einen schweren Fall von auswärts gebracht. Da konnt’ er nicht weg.“
„Was war es denn?“ erkundigte sich Suse Trautvetter.
„Ach — nichts Besonderes. Influenza-Pneumonie bei ausgesprochen phthisischem Habitus!“
Die junge Medizinerin pfiff leise durch die Zähne. Es lag Bedauern und Sachverständnis in diesem Laut. Sie kam sich bei solchen Gesprächen sehr wichtig vor und schaute dann wieder nach oben. Dort klangen Schritte — aber schwer — von Männerstiefeln. Der Pedell stieg die Treppe herab, um irgend etwas zu holen, und grüsste im Vorbeigehen die Gruppe, deren Versammlungszweck er ohne weiteres an den bereit gehaltenen Blumen erraten konnte. „Jetzt hot sie’s bald geschafft!“ versetzte er tröstend mit einer Bewegung des schnurrbärtigen, roten Kopfes nach der Richtung des Prüfungszimmers und verschwand quer über den Platz. Dabei grüsste er ehrerbietig eine Dame, die in einiger Entfernung, auf dem Bürgersteig der Grabengasse, einen Augenblick im Gehen halt gemacht und forschend nach dem erleuchteten Eingang der Universität hingesehen hatte, um dann mit raschen Schritten ihrer noch ziemlich jugendlichen, schlanken und eleganten Gestalt ihren Weg fortzusetzen, und Suse Trautvetter sagte: „Kinder — ich glaube, das war Frau von Helmstorff. Die denkt, ihr Mann könnte jetzt auch schon allmählich nach Hause kommen — zum Abendessen ...“
Sie schaute ihr nach und bemerkte dabei jetzt erst hart neben ihnen am Eingangstor ein junges Mädchen, das schon vor einiger Zeit gekommen, aber schüchtern beiseite geblieben war. Sie trug ein einfaches, billig im Konfektionsladen gekauftes Mäntelchen und ein Kopftuch um das zarte, ein wenig blasse und scheue Gesicht. So wie sie da aussah, so standen überall gegen Abend in den Gassen der Altstadt die kleinen Heidelberger Bürgermädchen unter der Türe oder huschten zueinander über die Strasse und wisperten und lachten in dunklen Fluren und erzählten sich in den Kramlädchen ihrer Eltern, in denen sie als Verkäuferinnen tätig waren, die wichtigsten Neuigkeiten über ihre Liebeshändel mit den Studenten ins Ohr und schmiedeten ihre Pläne für die in nächster Zeit kommende Fastnacht und klatschten über die unnahbare, eisig abgeschlossene Welt der Professorentöchter, die sie von Herzen hassten.
Käthe Butterweck hatte etwas Feines, Zurückhaltendes. Als Buchbindermeisterstochter wollte sie sich den beiden Studentinnen, obwohl sie mit ihnen in dem Solitanderschen Hause wohnte, und mehr noch der vornehmen adeligen Krankenpflegerin nicht aufdrängen. Aber Suse Trautvetter war nicht so. Die rief unbekümmert: „Kommen Sie doch! Was stehen Sie denn da wie’n Häufchen Unglück? Zeigen Sie ’mal Ihre Blumen! Herrgott — das ist ja die reine Verschwendung!“
„Ach, für ’nen Tag wie heut!“ sagte Käthe Butterweck gepresst und drehte die regenfeuchten Rosen zwischen den Händen, „’s ist immer noch besser, man trägt sein Geld in den Blumenladen als ins Scheppe Eck.“
Das Scheppe Eck kannten sie alle. Das war eine Wein- und Bierstube in der Kapuzinergasse. Da sassen die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden, die in Menge in der engen Gasse wohnten, und tranken schon des Morgens zum „Neun Uhr“ ihren Alkohol und schrien beim Frühschoppen und kamen des Nachmittags wieder und rückten Nachts auf den Bänken zusammen, damit keiner vor der Polizeistunde um Mitternacht heim dürfe.
„Der Vatter is jetzt wieder mehr dort als in der Buchbinderei,“ fuhr die Kleine fort. Und die Studentin meinte: „Aber heute nachmittag war er doch daheim! Ich hab’ mir wenigstens die Ohren zuhalten müssen, um zu lernen bei dem Mordsskandal unten.“
Eine leichte Röte flog über Käthe Butterwecks schmales Gesichtchen. „Ja — da is er eigens aus dem Wirtshaus ’rübergesprungen, weil der Schilling mit mir im Lädchen war, der Schlosser, und hat gekrischen: Er wär’ ein ehrlicher Handwerker und brauchte keinen solchen roten Lump von ’nem Sozialdemokraten zum Schwiegersohn — und nix wie ’naus oder ich hol’ den Polizeidiener! — Und der Schilling ist doch auch so hitzig ... Und die Mutter is vor den Vater hin und hat geschrien: ‚Hebet den Babbe! Hebet ihn, ihr Leut’!‘ — Und da haben ihn dann der Göckler, der Barbier, und der Flaschner Boos fest gekriegt und der Nathan Löwenhaar is auch aus seinem Trödelkram beigelaufen und der Stadelberger hinterdrein und hat ganz pomadig gesprochen: ‚Wann ich als Rindsmetzger die Ärmel aufkrempel, nachher gibt’s Ruh’, ihr Männer!‘ No — und so haben sie sie auseinandergebracht.“
Dem blassen kleinen Wesen war das Weinen nahe. An die Doktorandin da oben, die Tochter ihres Hauswirts, dachte sie kaum mehr und auch die übrigen waren durch sie von dem Examen abgelenkt. Da plötzlich hob Suse Trautvetter, während ein jäher, erwartungsvoller Schein über ihr Gesicht glitt, ihren Blumenstrauss und schwenkte ihn frohlockend nach oben. Von dort tönten leichte Schritte. Hedwig Solitander kam die Treppe herunter.
Wer sie sah, der sah zunächst nur ihr Haar — ein wunderbares, leuchtendes Rotgold, das in schwerer, fast zu schwerer Fülle seiner seidenen Flechten den Kopf krönte und bis in den Nacken herniederlastete. Selbst jetzt, im ungewissen Dämmerschein des Gasgeflackers, ging ein warmer Glanz von Leben von ihm aus und erhellte das Antlitz darunter — ein feingeschnittenes, auffallend weisses Mädchenangesicht an der Schwelle der dreissig, mit einem leichten Zug von Überarbeitung oder Müdigkeit. Zwei grosse graue Augen waren darin — kühl und ernst. Und der Gegensatz zwischen ihnen und dem lachenden Feuerblond des Haares — der war das Bestimmende an Hedwig Solitanders äusserem Menschen. Der prägte sich auf den ersten Blick ein. So behielt sie jeder im Gedächtnis, der sie einmal gesehen.
Sie war ganz gelassen, als sei gar nichts besonderes vorgefallen, schüttelte den Freundinnen die Hand und sagte nur: „Na also, Kinder, ‚cum laude‘ mit Gottes Hülfe, mehr nicht ... und nun ist’s überstanden!“
Ein Jubelschrei antwortete ihr. Die Mädchen waren ja alle von dem glücklichen Ausgang des Examens überzeugt gewesen. Wenn man so mit den Professoren stand und solch eine Dissertation geschrieben hatte wie Hedwig Solitander, dann war das ein von vornherein entschiedener Sieg. Aber doch erfüllte sie die vollendete Tatsache jetzt mit aufgeregter Rührung, dass Hedwig ihr Ziel erreicht und sie, die Studentinnen, es wohl auch einmal erzwingen und am Ende so vieler Jahre und Mühen und innerer und äusserer Kämpfe als Doctores medicinae oder philosophiae et magistri liberalium artium durch dies dunkle Tor da erhobenen Hauptes in das weitere Leben hinaustreten würden. Suse Trautvetter weinte einfach vor Begeisterung. Die Tränen liefen ihr dick über ihr rotwangiges Kindergesicht. Und auch Olga Ritter, die Ältere, hatte feuchte Augen und Käthe Butterweck, die eigentlich von der ganzen Geschichte nichts begriff, stand scheu-staunend da. Die einzige, die die Examinandin zwar herzlich beglückwünschte, aber dann in dem ganzen Jubel sehr ruhig blieb und schliesslich zu dem Frohlocken der Studentinnen sogar seltsam lächelte, war Demut von Behla.
Endlich war man so weit, dass man wenigstens den Heimweg antreten konnte, Hedwig in der Mitte, mit Blumen beladen, aber immer ganz gleichmütig, die übrigen um sie her. Der Regen hatte aufgehört. So konnten sie ihre Schirme zugeklappt halten und sich eng um die Heldin des Abends drängen und hören, was die, endlich zu Worte gekommen, vom Verlauf des Examens erzählte. Also die erste Stunde war ganz gut gegangen — das wusste man ja schon aus dem Gespräch mit Olga Ritter in der Pause — aber dann die zweite! Da kam die Nervenabspannung. Man wurde ganz dumm im Kopf. Man wusste die Sachen ja genau — aber man fand die Worte nicht, um sie zu sagen! Und das nun gerade bei dem einen wackeligen Nebenfach. Aber alle Herren waren sehr nett gegen sie gewesen. Sie kannten die Examinandin ja lange genug aus den Seminaren. Es war alles wirklich mehr eine Formalität. Dann, nachdem die Fragerei glücklich zu Ende, habe sie, Hedwig Solitander, noch ungefähr zehn Minuten im Vorzimmer gewartet und als dann der Pedell sie wieder hineingelassen, habe der Dekan schon gelacht und ihr die Hand gegeben und sie im Namen der philosophischen Fakultät der Ruperto-Carola zum Doktor beglückwünscht, und die anderen Professoren hätten auch gelacht, und es sei ein allgemeines Händegeschüttel und eine plötzliche Gemütlichkeit gewesen und sie, die Kandidatin, die sich heilig von vornherein schon seit Monaten gelobt habe, um keinen Preis in diesem entscheidenden Augenblicke das Frauenzimmer zu spielen und etwa Freudentränen über ihren Erfolg vor den versammelten fünf Hochschullehrern zu vergiessen — sie habe mit Erstaunen bemerkt, dass dies Zähnezusammenbeissen gar nicht nötig gewesen. Das sei ihr auf einmal alles ganz selbstverständlich erschienen, und so habe sie den Professoren noch einmal die Hand gegeben und herzlich gedankt und dem Pedell draussen zehn Mark geschenkt und sei in aller Gemütsruhe weggegangen ...
„Und hat Ihnen der Helmstorff nicht zum Schluss die Hände aufs Haupt gelegt und Sie gesegnet?“ frug die kleine Trautvetter harmlos neugierig. „So dächte ich mir das bei ihm, das sähe ihm ähnlich, dem Komödianten!“ Und Hedwig Solitander lachte: „Jawohl — der dankte seinem Schöpfer, dass die Geschichte zu Ende war! Ich glaube, er wünschte mich heimlich ins Pfefferland! Aber er war natürlich liebenswürdig wie immer.“
„Na — mir ist er verhasst!“ sagte die kleine Trautvetter. „Ich möchte ihm zu gerne einmal sagen: Ätsch, Herr Geheimrat — Ihr Vater war doch Bierbrauer in Nürnberg und hat Ihnen das viele Geld hinterlassen! — Da soll er so schrecklich traurig werden, wenn man ihn daran erinnert — nun ja — von Helmstorff — das klingt ja auch so schön muffelig, wie der älteste Kreuzzugsadel — puh — vor knapp zehn Jahren ist er’s geworden.“
Während sie so schwatzte, hatte sich der kleine Trupp schon ziemlich weit von der Universität entfernt. Sie waren an der Augustinergasse, wo noch ein einsames Licht in dem Studentenkarzer Sanssouci brannte, vorbeigegangen, hatten den kleinen Platz vor der Jesuitenkirche überschritten und kreuzten jetzt den nassen Asphalt der Hauptstrasse, um in das finstere, bis zum Neckar reichende Gässchengewirr der Altstadt einzudringen. Und hier öffnete die Freiin von Behla zum ersten Male wieder den Mund und sagte, in ein zufälliges allgemeines Schweigen hinein: „Riedinger kommt erst später!“
„Schade!“ versetzte Hedwig Solitander ganz harmlos. Ihr Verhältnis zu Riedinger war so, dass sie ruhig davon, wie vom Wetter oder dem Examen oder sonst einer ganz natürlichen Tatsache sprach. Sie waren ja als Kinder zusammen aufgewachsen — er als einziger Sohn eines nun pensionierten badischen Lokomotivführers und seiner Frau, die viele Jahre in ein paar Hinterstübchen des weitläufigen, von kleinen Mietern wimmelnden Solitanderschen Hauses gewohnt hatten, und hatten sich immer „Du“ genannt und waren dabei geblieben, auch jetzt, wo er — der Stolz seiner Eltern — Privatdozent der Medizin und sie seit wenigen Minuten Doktor der Philosophie der Universität Heidelberg waren.
Eine Enttäuschung war es ihr ja freilich gewesen, als sie ihn beim Herunterkommen aus dem Examenszimmer nicht unter der Gruppe der Wartenden bemerkt hatte. Aber das gestand sie kaum sich ein — geschweige den anderen — und wandte sich an die zu ihrer Linken gehende Olga Ritter, die als Philosophin die einzige war, die etwas von den Einzelheiten des nun glücklich beendeten Frage- und Antwortspiels um den Doktorhut verstand, und erzählte ihr eine Menge Zwischenfälle aus der Prüfung, und wie einmal zu ihrem Glück sogar der alte Trenkle und der andere Examinator des Hauptfachs über ein zweifelhaftes Thema uneinig gewesen seien. Dadurch hätte sie unverhofft viel Zeit gewonnen und lange schweigen dürfen, bis endlich der Dekan zur Sache gebeten habe. Und die anderen, die vorsichtig hinterher durch das halbdunkle, nur spärlich von Laternen erhellte Kapuzinergässchen stiegen, hörten zu und begriffen, so gut sie konnten, und so erreichte die kleine Gesellschaft alsbald die Schwelle des Solitanderschen Hauses.
Das dreistöckige Barockgebäude, in dem Hedwigs Vater wohnte, stand nun gerade zwei Jahrhunderte im Herzen der Altstadt. Die war vor der Einäscherung durch die französischen Mordbrennerbanden eine kleine, vornehme, ein wenig zopfige Residenz gewesen mit Mauern und Zinnen, mit breiten Strassen und Plätzen, mit vielen Klöstern und Edelhöfen der in Pfalz und Neckartal schlossgesessenen Ritterschaft und mit prunkenden Marställen und Kornkammern der kurfürstlichen Haushaltung oben auf dem Schloss. Dann, nach dem Abzug Mélacs, waren die rauchgeschwärzten Trümmer der „Heidelberga deleta“, auf die der Allerchristlichste König auch noch hatte eine Denkmünze prägen lassen, ein Jahrzehnt verödet dagelegen, und als man endlich, verwildert und verstört durch die Not der Zeit, mit dem Wiederaufbau begann, da hatten sich die von oben, aus den Ruinen der gesprengten Türme und ausgebrannten Renaissancepaläste herabgerollten Steintrümmer als willkommenes Material geboten. So hatte auch Äneas Solitander, der Magister der Theologie und Urahn der Familie, sich sein wohlhabendes Heim geschaffen. Ähnliche Bauten erhoben sich umher. Aber kleines Volk, niedere Häuser in planlos gezogenen Linien drängten sich dazwischen. Sie mehrten sich, wie sich die armen Leute mehren, und als um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der Blitzschlag zerstörte, was noch am Schloss oben bewohnbar war, und der Kurfürst und sein Hof nach Mannheim zogen, da war der Übergang Alt-Heidelbergs in ein hässliches, verräuchertes, krummes Gassengewirr entschieden, aus dem die paar vornehmen Häuser von einst, eingeengt, des Lichtes und der Luft beraubt, wie Patrizier zwischen Plebejern in düsterer Massigkeit standen. Es war für sie auch keine Aussicht auf Besserung. Die neue Stadt breitete sich draussen im Westen, in der Rheinebene aus. Der Osten, das Altviertel verödete mehr und mehr.
So waren die vier Mauern beschaffen, in denen Hedwig Solitander vor etwa dreissig Jahren das Licht der Welt erblickt. Noch führten drei breite uralte Stufen zu dem Eingangstor hinauf, über ihm prangte noch in Stein gehauen das Wappen des Landes — nicht der neumodische badische Greif, sondern der springende kurpfälzische Löwe des heiligen Reichs, in der Nische unter dem wie ein Vogelbauer vorspringenden Erkerkämmerchen grüsste immer noch kunstvoll gemeisselt und gestrichen die Madonna und reiche Ornamentik umgab die ausgebauchten Fensterwölbungen des Erdgeschosses. Aber das alles war nur äusserlich. Innen wohnte Alltagsvolk — Handwerker, Kleinhändler in Menge, die wieder ihre Vorderstuben an Studenten, die Hofkammern und Gauben an Schlafburschen weitervermieteten. Andere Parteien fand der alte Solitander nicht. Und Zins einnehmen musste er. Dies Haus war sein einziger Besitz, das Erbteil der alten Humanistenfamilie seit Jahrhunderten.
Das Tor stand noch offen, und als die fünf Mädchen hineingingen, verabschiedete sich Käthchen Butterweck, die gleich im Flur links wohnte. „Also schönen guten Abend, Fräulein Doktor!“ sagte sie unsicher und hielt die Hand hin, und bei den anderen entstand eine Heiterkeit, die etwas von Betroffenheit und dann auch von nachträglicher Rührung und Genugtuung an sich hatte. Zum ersten Male war das Wort „Fräulein Doktor“ gefallen. Auch Hedwig Solitander lachte. „Käthchen, lassen Sie die Dummheiten unterwegs“, sagte sie. „Weh jedem von euch, der mich Doktor nennt! Das gibt’s nicht! Verstanden! Gute Nacht!“
Damit klopfte sie der Kleinen auf die Schulter und stieg mit den beiden Studentinnen, die bei ihr wohnten, und der Krankenschwester die Treppe hinauf. Oben, im dritten Stockwerk, war es lampenhell. Da stand ihr Vater und räusperte sich, wie er sie sah, und tat, gleichgültig zur Seite blickend, als habe er rein durch Zufall eben einmal durch den Türspalt geschaut.
Der alte Achtundvierziger war jetzt schon sehr betagt, seine hohe, magere Gestalt durch die Last von beinahe achtzig Jahren gekrümmt. Ein ganz kleiner, mit spärlichem, schlohweissem Haar und einem zahnbürstenartigen Schnurrbärtchen gezierter Kopf sass darauf. Die Augen waren trübe. Aber Sprache, Bewegungen, alles sonst an Gryphius Solitander strafte sein Greisentum Lügen. Er schrieb seine ungewöhnliche körperliche und geistige Rüstigkeit einem besonderen Umstand zu: seit vielen Jahrzehnten lief er täglich, im Sommer und Winter, bei Wind und Wetter, Nachmittags die zweitausend Fuss auf den Königstuhl hinauf, trank oben Kaffee und trabte wieder zurück, mit seinen langen, dünnen Beinen wie mit Siebenmeilenstiefeln ausgreifend.
Hedwig hatte ihm nicht gesagt, dass sie heute ihr Doktorexamen machen würde. Das liess sich leicht geheim halten, zumal gegenüber dem alten, weltfremden Sonderling, der geflissentlich, mit beinahe krankhaftem Eigensinn, jeden Verkehr mit der Universität vermied. Nun war sie gespannt, wie er sich dazu verhalten würde. Sie wusste schon: er machte alles anders als andere Leute.
Und wirklich hatte der alte Solitander sich schon seine Taktik zurechtgelegt. Er tat gar nichts derart — ganz gleichgültig — als ginge ihn, der sich nie um den Studienplan seiner Tochter gekümmert, sondern sie ruhig hatte in die Vorlesungen wandern lassen, die Geschichte gar nichts an.
„Guten Abend, meine Damen!“ sagte er mit seiner auffallend hellen, ein wenig weinerlichen Stimme. „Was schleppst du denn da für Blumen und Grünzeug, Kind?“
„Ich hab’ eben meinen Doktor gemacht, Papa!“
„So, so,“ meinte der Alte trocken, rieb sich die Hände und schrie dann in den Flur zurück: „Baas, Sie haben recht! Die Hedwig hat ihren Doktor gemacht.“
Daraufhin erschien eiligst die Baas, wie die alte Wirtschafterin allgemein genannt wurde, die seit einem Vierteljahrhundert — seit Hedwigs Mutter noch ganz jung gestorben — im Hause das Pantoffelregiment führte, trocknete sich die Hände an der Schürze und brach in einen frohlockenden Redeschwall aus. „Oh mei! Oh mei awwer ich hab’s mir gedenkt — wie die Fräule Hedwig gesagt hot, die grüne Einsätze aus dem schwarzen Kleid gehörte ’rausgetrennt — und ich dagegen geredd: die Einsätze sin doch grad schön! Und sie wieder: Das verschteht sie net, Baas! Das Kleid muss ganz schwarz werre, so wie wenn e Herr e Frack anzieht! .. No — do haww’ ich gemerkt: Alleweil kummt’s! Und wie sie sich heut noch hot um sechs Uhr Nachmittags extra schtarke schwarze Kaffee mache losse und als gegähnt und auf und ab geloffe im Zimmer ... lasse Sie sich ’mal angucke, Fräule Hedwig ... Sie schaue aus wie vorher ...“
„Na natürlich!“ sagte Hedwig ziemlich grob und lachend. „Was soll ich denn sonst für ein Gesicht machen! Baas! Keine Volksreden mehr! Es ist genug der Rührung! Schau sie lieber, dass wir bald was zu essen kriegen! Jetzt hab’ ich Hunger. Und die Damen vermutlich auch!“ Das hoffte die Baas, die sich allmählich von ihrer Aufregung erholte! Aber halt! ehe sie’s vergass! Vorhin war eine Dame dagewesen. Die hatte Fräulein Hedwig besuchen wollen. Da war die Karte.
Hedwig nahm sie und las: „Frau Geheimrat von Helmstorff, geb. Trenkle“, — und sagte, das Blättchen weglegend: „Wie nett von ihr! Das hätt’ ich ihr gar nicht zugetraut! Wahrscheinlich wollte sie mir noch vorher Glück wünschen!“
„Sie hätt’ gedacht, das Examen wäre schon gestern gewesen, hot sie g’sächt!“ berichtete die Baas.
„... Ja — das sollt’s auch eigentlich sein. Es ist erst in letzter Stunde verschoben worden, weil der eine Professor nicht Zeit hatte.“
„... und ’s wär’ ihr halt arg, dass sie da letz gekomme wär’, — und ihre beschte Empfehlung an das Fräulein!“ vollendete die Baas ihre Meldung.
„Nun ja — da war das die Dame vorhin schon! Da ist sie vorhin auf dem Rückweg an der Universität bei uns vorbeigegangen!“ sagte Olga Ritter. „Ich wusste gar nicht, dass Sie bei ihr verkehren!“
„Gott — ich war drei- viermal dort im Haus!“ Hedwig legte den Mantel ab und strich das goldflammende Haar vor dem Spiegel glatt. „Ich hab’ mich durch den alten Trenkle bei seiner Tochter einführen lassen, weil Helmstorff doch einer von meinen Examinatoren war. Sonst hätte mich das bei ihm wenig gelockt. Es ist da immer ein Treiben — Gelehrte aus Indien und Abgeordnete aus Berlin und Amerikanerinnen und eine Wirtschaft wie bei einem kleinen Hof. Und er immer als Mittelpunkt. Da hält er dann Cercle. Zu dumm!“
„Sie haben doch aber auch viel bei ihm belegt gehabt?“ frug Olga Ritter.
„Nur das Privatissimum ... von vier bis sechs. Das musst’ ich ja wohl! Übrigens — er macht es einem nicht schwer ...“
Die Baas war inzwischen schon längst fortgesprungen. Sie hatte einen Hasen in der Küche. Er brozelte schon. O, es war schon alles vorgesehen. Und als die anderen in die Wohnzimmer traten, da ergab es sich, dass durch ein merkwürdiges Spiel des Zufalls gerade heute überall die hohen Kerzenkandelaber aus altem Familiensilber brannten und festlichen Glanz in den wunderlich verschnörkelten, mit uraltem Kram vollgestopften Gemächern verbreiteten, und dass unter dem lebensgrossen Ölbild von Hedwigs Mutter, einer feinen zarten Frau, die auch das herrliche Goldhaar ihrer Tochter besessen, ein grosser Strauss von Veilchen und Farrenwedeln seine süssen Düfte aushauchte, und da und dort ein paar Rosenbüsche seltsam zwischen dem Gelehrtenhausrat schimmerten. Aber der alte Solitander hüstelte wieder, rückte seine lange Pfeife in dem Mund zurecht und sprach vom Wetter. Danken durfte ihm Hedwig nicht, ohne ihn zu verstimmen, so wenig wie für die drei Hundertmarkscheine, die sie, als man sich alsbald zu Tisch setzte, unvermuteterweise in einem Umschlag unter ihrer Serviette fand. Die hatten — nach Gryphius Solitanders weltentrücktem Gesichtsausdruck zu schliessen — wahrscheinlich Heinzelmännchen dorthin gelegt und ebensolche dienstbare Hausgeister die bestaubte Flasche Überrheiner Edelweins aus dem Keller geholt, die der Alte jetzt gleichgültig, als handle es sich um ganz gewöhnlichen Bergsträsser, in die Gläser goss.
Und auch darin zeigte sich das unausgesprochen Feierliche des Abends, dass der Hauptmann a. D. Evangelist von Thiengen anwesend war, der bei keiner besonderen Gelegenheit als Gast fehlen durfte. Denn er war, obwohl um fünfzehn Jahre jünger, der einzige Freund des Hausherrn — ein stiller weissbärtiger kleiner Mann mit guten blauen Augen. Auf dem einen Ohr hörte er ein bisschen schwer. Da war ihm 1870 bei der Belagerung von Strassburg eine Granate zu nahe am Kopfe geplatzt. Zweimal war er verwundet worden. Mit dem eisernen Kreuz kehrte er aus dem Feldzug zurück. Aber dann, nach einigen Jahren, hatte ihn, den nach Herkommen und Erziehung fanatisch katholisch Gesinnten, der Zorn über den beginnenden Kulturkampf, die Einkerkerung des Bischofs Ketteler von Mainz, zu einer öffentlichen Äusserung verleitet — einer Äusserung nicht nur gegen Bismarck, — noch höher hinauf — kurzum: Er tat am besten, dass er am nächsten Morgen still um seinen Abschied einkam. Der wurde ihm denn auch in Ehren gewährt. Seitdem — nun schon ein Menschenalter lang — lebte er zurückgezogen als Mieter und alter Witwer in dem Solitanderschen Haus in der Kapuzinergasse zu Heidelberg, ging jeden Morgen in die Jesuitenkirche zur Messe und jedes Jahr einmal nach Aachen, Trier oder Köln zum allgemeinen Ablass, wie sein Freund, der alte Solitander, in jedem Frühsommer einmal die Festungsgräben von Rastatt aufzusuchen und still, mit blossem Kopfe, ein Stündchen vor den Grabsteinen der dort 1849 standrechtlich erschossenen Freischärler zu stehen pflegte. Das war seine Andacht, so bitter sich auch die beiden alten Herren das ganze liebe lange Jahr hindurch über das gegenseitige Ziel ihrer Wallfahrten zu sticheln und zu zanken und erzürnt und achselzuckend auseinanderzugehen pflegten, um sich am nächsten Tage wieder zu vertragen. Denn darin waren sie doch schliesslich mit ihrem Schicksal eins: sie hatten beide gehofft und mit ihrem Blut betätigt: das Reich komme! Und das Reich war gekommen — aber von Norden her — in Schwarz-Weiss-Rot — so ganz anders, als sie gedacht, so ohne Freude für sie beide ...
Und als man nun bei dem Hasen sass und der Rheinwein seinen kühlen, würzigen Hauch über den Tisch verbreitete, da wurde Gryphius Solitander doch schliesslich seiner inneren Stimmung nicht mehr Herr, sondern sprach, nachdem er lange, in Erinnerung verloren, geschwiegen: „Ja — du hast es gut, Hedwig, meine Tochter! Du bist ein Kind der neuen Zeit. Du hast nur zu lernen, nichts zu vergessen. Drum bist du heute geworden, was dein Vater — als der erste aus einer langen Reihe Solitander vor uns — Zeit seines Lebens nicht geworden ist — ein Doktor der Philosophie zu Heidelberg.“
„Im Zellengefängnis kann man nicht promovieren!“ sagte der alte Evangelist von Thiengen mit vollem Mund. Er liebte Hasenbraten sehr.
„Ganz richtig!“ versetzte der Achtundvierziger neben ihm. Er war froh, dass ihm der Freund in die richtige Bahn geholfen. „Dort haben wir Wolle gespult und gefroren und gehungert — vier Jahre lang in Bruchsal — aber nicht den Cicero traktiert, bis ich dann glücklich ausgebrochen bin und nach Amerika und nach der Amnestie, nach siebzig, zurück. Aber da war’s zu spät, sich noch einmal hinzusetzen und die Studien neu zu beginnen und sich prüfen zu lassen. Ein Freischärler! — Ein Revolutionär! — Haha! da bin ich lieber ein Privatgelehrter geworden und hab’ mir ein Weib genommen und still für mich hingelebt!“
„Und wenn ich nicht wäre, wärest du auch nicht, meine Tochter!“ wandte er sich plötzlich heftig an Hedwig. „Und es gäbe einen neugebackenen Doktor weniger in unserem neugebackenen Reich, das im übrigen Gott segnen möge! Jawohl — viel hat nicht gefehlt, so hätten sie mich damals auch füsiliert. Da hiess es, wie sie Rastatt genommen hatten, die Preussen, jeden Tag unter dem standrechtlichen Protokoll: Dieser Herr Inquisit soll mit Pulver und Blei hingerichtet werden! — Mein Glück war, dass ich so schon, von Waghäusel her, meine Kugel im Leib hatte! Ich war so schon auf dem Tod. Und wie ich schliesslich wieder aufkam, da wehten schon mildere Lüfte — da gab’s schon „Gnade“, lebenslängliches Zuchthaus — haha ...“
Er machte eine Bewegung mit der welken Hand, wie um das alles wegzuscheuchen, und frug dann plötzlich in gewöhnlichem Ton, so als habe man die Zeit über vom Wetter gesprochen: „Wo steckt denn eigentlich Riedinger?“
Und Demut von Behla erklärte wieder: „Er hat einen schweren Fall eingeliefert bekommen. Es handelt sich um ein, zwei Stunden! Hoffentlich bringt er ihn durch!“
„Das tut er doch immer!“ rief Suse Trautvetter überzeugt. Sie bewunderte Riedinger als Arzt, wie das viele und täglich mehr taten.
„Und dabei erklären seine Feinde immer noch seine Methode für unwissenschaftlich!“
Olga Ritter hatte das über den Tisch herüber gesagt, eigentlich zu Hedwig, und ihr antwortete die kleine Trautvetter, ganz wütend und mitleidig dabei, dass eine Philosophin es wagte und da hineinredete: „So? Na! Er macht die Leute eben gesund — ob das wissenschaftlich oder unwissenschaftlich geschieht, das ist dem Patienten furchtbar egal! Neulich — wie er guter Laune war und ein paar Minuten Zeit hatte, da hat er mir ’mal ein Privatissimum gehalten in der Klinik, in einer Ecke vom Korridor, und dabei immer einen Knopf von meinem Mantel in seiner Hand gedreht und schliesslich abgerissen und war gar nicht so spöttisch wie sonst: „Lernen Sie erkennen, Sie junges Blut!“ hat er gesagt, „dass es gar keine Wissenschaft gibt und auch gar keine Krankheit gibt, überhaupt nichts, was ausser dem Menschen ist. Aber kranke Menschen und gesunde Menschen gibt es und Hilfsmittel, die im Menschen sind: aus sich heraus muss er genesen. Was von aussen in ihn kommt — das Messer des Chirurgen oder die Gifte aus der Apotheke — das ist nur ein neues Übel! Ausnahmen gibt’s — aber im allgemeinen verschreibe ich dem Kranken sich selbst — bis er begreift, dass ihm nichts helfen kann, als sein eigener Blutumlauf und seine eigene Diät und seine eigene Bewegung, die man in die richtigen Bahnen gelenkt hat.“ — Und welche Wunderkuren macht er dadurch ... Wir sehn’s ja jeden Tag!“
„Und wie setzt er sich dadurch in Widerspruch zu allen seinen Kollegen — zu der ganzen Fakultät!“ sagte der alte Herr. Er konnte den Dr. Riedinger, obgleich der ja hier im Haus und Hof unter seinen Augen aufgewachsen war, im Innersten seines Herzens nicht recht leiden.
Suse Trautvetter nickte. Das sprach ja gerade für ihn. „Freilich, Herr Solitander! Er gibt nicht nach, wo er weiss, dass er im Recht ist und alle anderen im Unrecht. Ich glaub’, da könnte der Kaiser selber kommen — er bleibt dabei. Neulich hat er ’mal am Krankenbett zu den Assistenten gesagt — förmlich entschuldigend, dass der Mann durch ihn wieder ausser Lebensgefahr war, gegen alle Regeln der Kunst: „Ich bin halt ein Pfälzer Dickschädel, meine Herren!“ und hat selber dabei lachen müssen — nicht wahr — Fräulein von Behla — Sie haben’s gehört?“
Demut nickte nur, immer ein wenig geistesabwesend, und die Andere fuhr fort, erhitzt und redselig durch das Glas schweren Weins, das sie unvorsichtig ausgetrunken. „Das heisst, eigentlich tut’s mir leid, dass er mir das alles jetzt schon verraten hat. Ich möcht’ nicht mehr hin in die Klinik — da verliert man all den Glauben an das, was die anderen, die Professoren sagen! Ich mach’ mir immer jetzt schon innerliche Vorbehalte, wenn ich ihnen zuhör’. Und nachher beim Examen muss ich doch sagen, was die meinen und lehren! Da hilft mir die Riedinger’sche Weisheit nichts! Denn er ist jetzt ja noch nicht einmal Extraordinarius — immer noch Privatdozent!“
„Sehen Sie, mein liebes Fräulein Trautvetter!“ versetzte der Hausherr bedächtig und goss sich und dem alten Evangelist den Rest der zweiten Flasche ein: „das hab’ ich bloss von Ihnen hören wollen! So ist der Riedinger. So wirkt er! Auf alle und auf alles! Ein Verstand wie Scheidewasser! Was er unter seinen Zwicker nimmt, das zersetzt sich — das löst sich — auf einmal ist es ganz weg — wir stehen mit leeren Händen da — das befriedigt ihn dann — aber uns nicht! Einreissen kann er — aber wie’s dann mit dem Aufbauen wird —? Und so war er immer — schon als Bub — immer rechthaberisch — immer spöttisch — immer hat er an allem gerüttelt und gezweifelt! Wenn wir eine Meinung hatten, dann war das ganz gewiss für ihn ein Grund, das Gegenteil zu glauben! Guter Gott — was sein Vater, der brave alte Lokomotivführer, der seinen letzten Groschen auf ihn verwendet hat, — was für Mühe der gehabt hat, ihn auch nur zur Konfirmation zu bringen, — ich bitt’ euch: Ein Bub von vierzehn Jahren und wollt’ schon nicht an die Schöpfungsgeschichte glauben ...“
„Das tut er auch heut’ noch nicht, Herr Solitander!“ bemerkte Suse Trautvetter ein wenig respektlos, und der alte Herr nickte: „Das weiss ich. Aber die armen Eltern haben mir damals wirklich leid getan!“
„Ach — die sollen froh sein, dass sie ihn haben!“
„Das sind sie ja auch. Er ist ja auch ein guter Sohn — das muss ihm der Neid lassen.“
„Und wenn Sie ihn einmal in der Poliklinik sehen würden, Herr Solitander! So grob er sonst ’mal ist, zu den armen Leuten ist er rührend nett und freundlich!“
„Alles zugegeben!“ sagte der alte Achtundvierziger. „Und ich hab’ auch nichts gegen ihn! Ich bin selbst ein Querkopf gewesen, mein Leben lang, und hab’ mit meinen achtzig Jahren noch nichts erreicht und werd’s nicht, und er ist mit kaum fünfunddreissig oder siebenunddreissig schon halbwegs ein gemachter Mann, wenigstens was den Namen und das Geldverdienen betrifft, wenn auch seine Feinde ... hör ’mal, Hedwig, mein Kind: Warum sitzt du denn so da und redst kein Wort? An dir wär’ es doch gerade, deinen Freund Riedinger zu verteidigen!“
Hedwig Solitander hatte die ganze Zeit stumm vor sich hingeschaut. Jetzt blickte sie auf und erwiderte nur: „Ich glaube, eben kommt er!“
Und wirklich hörte man draussen das Rasseln eines in die Ecke gestellten Stocks und eine Männerstimme: „Na, Baas — wie ist’s? Ist das Fräulein heut durchgefallen?“ und die entrüstete Antwort der Baas: „O mei! Herr Doktor, sell glauwe Sie ja selwer net! Sie hot ’en, den Doktor — sie hot ’en!“
„So — sie hot ’en!“ sagte Hermann Riedinger eintretend. „Na — dann gratulier’ ich auch schön!“ Er lachte dabei über sein gesundes, schnurrbärtiges Gesicht. Nur die mit einem Zwicker bewaffneten Augen bewahrten, in seltsamem Gegensatz zu seinem Mienenspiel, den ruhigen forschenden Ernst des Arztes. „Bscht — bleib hübsch still sitzen!“ sagte er kurz zu Hedwig, die sich halb nach ihm umwandte, griff in die Tasche und setzte ihr behutsam einen kleinen, aus Lorbeerblättern geflochtenen Halbkranz auf den Kopf. Das war ein vielfach geübter Brauch an der Universität. Hedwig hatte nur mit Mühe schon ihre Freundinnen davon abbringen können, dies Ehrenzeichen für sie bereit zu halten. Aber jetzt, aus Riedingers Händen, freute es sie doch — oder mehr noch die Tatsache, dass gerade er, der so gar nichts auf solche Sinnbilder oder andere Äusserlichkeiten des Lebens gab, daran gedacht hatte und sie jetzt befriedigt musterte. Das matte tiefe Grün des Lorbeers stach seltsam prächtig von dem reichen Rotgold ihres Haares ab und darunter rötete sich auch ihr feines, weisses Gesicht und in die grossen grauen Augen kam ein warmer Schimmer. Sie war mädchenhaft schön in diesem Moment, während sie dankend zu ihm hinaufsah und ihm die Hand drückte. Alle am Tisch fühlten es. Aber gleich darauf legte sich wieder ein herber verschlossener Zug um ihre Lippen, auch Hermann Riedingers Antlitz verfinsterte sich unwillkürlich etwas und er sagte trocken: „Ja — es tut mir leid — aber ich habe nicht früher kommen können — Schwester Demut hat’s ja wohl bestellt! Und jetzt kann ich gerade nur einen Augenblick hier heraufschauen, eh’ ich wieder zu dem Patienten in die Klinik muss — und Sie mit, Schwester, wenn ich bitten darf. Also wie hast du denn das Examen gemacht, Hedwig — rite — was?“
„Cum laude“ sagte sie kurz. Es war schon wieder Spott in seinen Worten. Eigentlich immer. Auch vorhin, als er ihr den Lorbeerkranz auf den Scheitel gedrückt, war in seinem Gesicht etwas Ungewisses gewesen, als mache er sich innerlich halb und halb nicht über sie, aber über sich selber lustig, dass er solch eine Komödie aufführe. So war er nun einmal. Sie kannte ihn ja und seinen, von seinem eigentlichen Wesen und Willen ganz unabhängigen, schneidenden und alles ironisch zersetzenden Verstand. Nur heute gerade tat es ihr weh. Aber sie bezwang sich. „Nimm doch Platz!“ sagte sie heiter. „Trink doch wenigstens ein Glas Wein mit uns.“
Hermann Riedinger schüttelte den Kopf. „Nur ein Glas im Stehen, auf das Wohl unseres jüngsten Doktors. Kinder ... redet nicht ... ich muss wahrhaftig weiter ... ich bin gehetzt heute abend ... gerade heute natürlich ... die Schwester Demut macht sich auch schon fertig zum Gehen. Sie brauchen Ihren Schirm nicht aufzuwickeln, Schwester! Es ist ganz schön draussen geworden!“
Alle schauten nach den Fenstern. Wahrhaftig — da war klarer Nachthimmel und Mondschein. Weithin schimmerten in seinem friedlichen Blau die dürftigen Dächer, die stillen Höfchen, das niedere Häusergewirr der Altstadt, über das der Solitandersche Stammsitz mit seinem hohen, an anno dazumal, vor Jahrhunderten, erinnernden Giebel weit hinausragte.
„Ach ... ist das schön!“ sagte Suse Trautvetter. Sie liebte leidenschaftlich die Heidelberger Mondscheinbummel. Wann sie konnte, verleitete sie ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen zu einer nächtlichen Massenwanderung auf das Schloss. „Heute hat man den ganzen Tag nicht herauskönnen — bei dem Hundewetter! Wenn Sie nett sind, Dr. Riedinger, dann nehmen Sie mich jetzt mit zur Klinik und liefern mich dann nachher wieder hier am Haustor ab. Sie wohnen ja ganz in der Nähe. Es ist für Sie kaum eine Minute Umweg.“ Und ohne erst seine Bejahung abzuwarten, wandte sie sich, ganz erfüllt von ihrer Idee, an die beiden anderen: „Und ihr geht auch mit! Das wird fein! Was?“
„Ich geh’ schlafen!“ versetzte Olga Ritter. Aber Hedwig Solitander nickte. „Da haben Sie ’mal ausnahmsweise eine vernünftige Idee, Suschen!“ sagte sie, „mir brummt der Kopf noch von den zwei Stunden Examen. Wie zerprügelt bin ich. Die kalte Nachtluft wird mir da gut tun.“
Ohne dass sie es wollte, traf dabei ihr Blick auf den Riedingers. Eine Sekunde schauten sich die beiden an. Es war ein Einverständnis: Am heutigen Abend wollten sie nicht so flüchtig, nach ein paar scherzenden Worten unter fremden Menschen, auseinander. Da hatten sie sich mehr zu sagen und unter vier Augen und Ernsteres. Namentlich sie. Er merkte es an dem plötzlich trübe und starr gewordenen Ausdruck ihres Gesichts.
So nahmen sie denn alle von den beiden alten Herren Abschied, die sich noch einmal zusammen hinsetzten und — das wussten sie selbst — in Kurzem über irgend etwas heftig miteinander streiten würden. Denn ein jeder von ihnen hatte seinen eigenen Haufen Steckenpferde und erkannte die des anderen nicht für voll an. Und wenn Gryphius Solitander mit Vorliebe Käfer und Insekten seit vielen Jahren sammelte, interessierte sich der alte Evangelist von Thiengen ebenso brennend für die Geschichte der Kreuzzüge, und es war ihm ebenso unmöglich, die Bedeutung Gottfried von Bouillons und eines frisch auf dem Speyerer Hof gefangenen Hirschkäfers richtig gegeneinander abzuwägen, wie der alte Solitander seinerseits wieder erklärte, jede Kellerassel und jeder lebende Tausendfuss sei interessanter und ästhetisch erfreulicher als ein Dutzend längst vermoderter Bischöfe und Äbtissinnen zusammen.
Und als der kleine Trupp auf die Strasse hinaustrat, hörte man von oben durch das offene Fenster schon einen etwas gereizt werdenden Wortwechsel der beiden greisen Freunde, und die Jungen unten mussten lachen.
Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, gingen Demut von Behla und die kleine Trautvetter sofort zehn Schritte voraus. Das taten sie aus Diskretion, ohne sich erst miteinander darüber zu verständigen. Sie wollten die beiden anderen allein lassen und gaben ihnen nur die Wegrichtung an: nach rechts, am nahen Neckar entlang. Dort war es schöner und stiller als in der noch vom nächtlichen Studentenleben erfüllten Hauptstrasse.
Am Uferstaden war kein Mensch. Der Mond schien hell. Silbern schimmerten in seinem Licht die kleinen Zitterwellen des Flusses. Darüber glänzte auf der andern Seite undeutlich weiss die lange Reihe der in steilen Gärten eingebetteten Landhäuser und schloss der Heiligenberg als ein riesiger, vor dem Sternenhimmel stehender Schattenriss die Fernsicht ab.
Hedwig und ihr Gefährte gingen langsam — absichtlich langsam. Es war, als scheuten sie sich beide vor dem ersten Wort aus dem Mund des andern.
Endlich sagte Herman Riedinger geflissentlich etwas Alltägliches. Er sah auf die Uhr und meinte: „Eigentlich müsst’ ich mich mehr eilen! Sonst komm’ ich wieder erst Gott weiss wann ins Bett!“
Diese ewige Unruhe kannte Hedwig an ihm. Er äusserte oft selbst, er stände schon morgens um halb sieben mit einer Viertelstunde Verspätung auf und hole sie den ganzen Tag nicht wieder ein. Das war eine Folge seiner übergrossen Praxis. Er war überlaufen von Hilfesuchenden — namentlich auch aus der Umgegend. Die Pfälzer hatten zu ihm, der ihr Landsmann war, der ihre Sprache redete und selbst von kleinen Leuten stammte, ein besonderes Zutrauen.
Stumm gingen Riedinger und Hedwig weiter den Neckar entlang, liessen sich den feuchten Westwind von der Rheinebene her ins Gesicht wehen und sahen die Sterne über ihren Häuptern funkeln. Endlich hub er wieder an: „Na — nun hast du’s ja also erreicht!“
Das war herzlicher als sonst seine Art war, gesprochen. Es lag eine unwillkürliche Anerkennung darin. Aber sie schüttelte den Kopf: „Was hab’ ich denn eigentlich erreicht?“
„Na — dass du Doktor bist! Glücklich von fünf Professoren mit vereinten Kräften promoviert! Nun brauchst du bloss noch fünfhundert Mark für den Druck deiner Dissertation zu spendieren — dann kriegst du die Anerkennung deiner Gelehrsamkeit schwarz auf weiss ins Haus geschickt.“
Sie ging auf seinen scherzenden Ton nicht ein. „Was ist nun eigentlich weiter für ein Unterschied zwischen gestern und heute?“ frug sie. „Wenn ich morgen aufwach’, bin ich genau derselbe Mensch, der ich war. Ich werd’ nicht mehr in die Vorlesungen und Seminare gehen — was ich in letzter Zeit auch schon nicht mehr getan habe — und werd’ die Bücher, in denen ich bis jetzt fünf, sechs Stunden täglich repetiert hab’, in den Schrank zurückstellen. Das ist alles! Auch äusserlich! Denn dass ich nun nicht die Geschmacklosigkeit haben werde, mich überall „Fräulein Doktor“ nennen zu lassen, das wirst du mir ja wohl zutrauen. Das ist eine Privatangelegenheit zwischen mir und der Fakultät gewesen. Im gewöhnlichen Leben mache ich davon keinen Gebrauch.“
„Nun ja — äusserlich, wie du selbst sagst! Aber innerlich! Zum Kuckuck, Hedwig — du wirst doch das Gefühl des Sieges in dir haben! So leicht macht doch heutzutage, trotz allem, ein Frauenzimmer seinen Doktor in Deutschland immer noch nicht! Es gehört doch noch ein ordentlicher Haufen Energie dazu!“
Hedwig Solitander wandte ihm im Gehen ihr Antlitz zu. Das war noch blasser geworden, sein ursprüngliches feines Weiss unter den goldroten Haaren vom Mondlicht noch verstärkt und um den Mund und in den grauen Augen der müde Zug. „Nein — dies Gefühl der vollbrachten Tat hab’ ich eben nicht, Hermann!“ sagte sie. „Ich sah’s kommen — schon lange — schon seit einem Jahr mindestens bin ich mir dessen bewusst geworden. Je näher das Doktorexamen gerückt ist und je mehr ich mich darauf vorbereitet hab’, desto gleichgültiger ist es mir innerlich geworden. Und in letzter Zeit so gleichgültig, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie! Ich hab’ mir nichts anmerken lassen! Das sag’ ich niemandem als dir. Natürlich — man macht sein Examen — man führt doch durch, was man sich einmal vorgenommen hat. Man wird sich doch nicht blamieren, seinen Vater enttäuschen, seine Lehrer blossstellen, also — wie gesagt — selbstverständlich hab’ ich alles daran gesetzt, um mit Anstand durchzukommen, und das ist ja nun heute auch so weit gelungen ...“
Sie brach ab und verstummte und Hermann Riedinger sagte nach einer Weile langsam: „Das wäre alles eher begreiflich, wenn du grosse Schwierigkeiten in deiner Laufbahn zu überwinden gehabt hättest, Hedwig! Da kommt nachher am Ziel der Rückschlag, die nachträgliche Verbitterung, das kenn’ ich! Aber bei dir: Es hat sich dir doch alles immer geebnet. Du stammst aus einer alten Gelehrtenfamilie — dein Vater ist ein Sonderling, der immer das Gegenteil von dem tut, was die andern meinen, also war es ganz natürlich, dass er dich zu den Jungens in das Gymnasium gesteckt hat. Du hast in deiner Vaterstadt dein Abiturium bestanden, hast in deiner Vaterstadt deine sechs Jahre studiert und jetzt ebenda deinen Doktor gemacht — das ist alles wie von selbst gegangen, als ob es so sein müsste — niemand hat sich darüber gewundert. Die Zeit ist doch längst vorbei, wo man eine Studentin für ein Fabelwesen gehalten hat — namentlich hier in Heidelberg — also nun sei doch froh und danke dem Schicksal, dass es mit dir so weit ist und du die Wissenschaft verbrieft und versiegelt in der Tasche hast!“
„Und was tu’ ich nun mit der Wissenschaft?“
„Das ist nun wirklich eine ganz verrückte Frage!“ versetzte Hermann Riedinger. „Was tut man mit der Wissenschaft? Nimm mir’s nicht übel, wenn ich dir da mit Gemeinplätzen komme: die Wissenschaft im höheren Sinne, in unserem Sinne ist natürlich Selbstzweck! Das weisst du so gut wie ich! Man muss in ihr aufgehen und das in ihr schaffen, wozu man bestimmt ist.“
„Nun könnt’ ich dir ja antworten,“ sagte Hedwig Solitander, „dass es mit dem Schaffen bei uns Frauen immer noch so eine Sache ist — wenigstens in den nicht praktischen Berufen. Bei euch in der Medizin mag das ja anders sein — oder in der Chemie und derlei. Aber im rein Geistigen — da kommt es mir immer noch vor, als würfen wir alle vorläufig bloss Schatten von einem Licht, das wir uns anderswo, auf der Universität, von den Männern geborgt haben, und doch einmal zurückgeben müssen. Und wie’s dann wird — ob wir aus uns selbst einmal was Neues werden? Aber davon will ich gar nicht sprechen — von der Allgemeinheit — sondern nur ganz im einzelnen von mir und meinem Standpunkt ...“
„Ja, aber wieso stehst du denn anders zur Wissenschaft als andere?“ frug Hermann Riedinger erstaunt. „Wie kriegt man denn das überhaupt fertig? Das begreif’ ich gar nicht, dass es da zwei verschiedene Standpunkte geben soll?“
Sie nickte. „Das ist’s ja eben! Das was ich gelernt hab’ — das steht neben mir — ausser mir — ganz fremd. Es ist absolut gar kein Teil von mir selbst geworden, so wie du eben gemeint hast, man müsse ganz von seiner Wissenschaft durchdrungen sein! Wie ich angefangen hab’ zu studieren, da hab’ ich davon eine Ahnung gehabt. Aber dann ist das mehr und mehr geschwunden. Da war ich und das hatt’ ich zu lernen. Dazwischen gab’s in letzter Zeit kaum mehr ein Bindeglied als den Ehrgeiz und das Pflichtgefühl. Und darum, wenn du dich wunderst, weil ich sage: meine Persönlichkeit ist von meinem heutigen Examen und was drum und dran ist, ganz unberührt geblieben und wird es auch in Zukunft sein — ja, das kommt eben daher, dass meine Studien in den letzten Jahren mehr und mehr ausserhalb von mir waren — und ich hab’ für mich gelebt.“
„Dann hast du auch nicht an das geglaubt, was du gelernt hast!“ sagte Hermann Riedinger ruhig.
„Doch — ich hab’s schon geglaubt — oder vielmehr: ob es wahr war oder nicht, das war mir gleich. Ich hab’ es mir eben eingeprägt, weil es die Professoren im Examen hören wollten. Aber es war nicht das, was ich hören wollte ...“
„Und was ist das?“
„Ja — wenn ich das wüsste!“ sagte Hedwig Solitander und schaute, ehe sie das Neckarufer verliessen und in die Weststadt einbogen, noch einmal über den bläulichen Flussspiegel hinaus ins Weite.
„Aber es muss doch etwas da sein!“
„Es ist nichts da. Nur eine Leere. Und unter dieser Leere leid’ ich! Und das ist mein Leben!“
Er warf einen scharfen, beinahe erschrockenen Seitenblick auf sie und schwieg eine Weile, verdutzt durch ihr plötzliches, unvermittelt ihrer sonstigen kühlen Ruhe entsprungenes Geständnis. Und sie setzte gepresst, in unsicherem Stimmklang hinzu: „Natürlich, Ahnungen hat man so manchmal — dunkle Vorstellungen, wie etwas sein könnte — oder sein müsste im Leben. Aber man kann sie nicht festhalten. Sie sind gleich wieder weg. Und dann ist die grosse Leere und daneben steht die Wissenschaft. Und die beweist mir gar nichts. Wenn die was ansieht, dann zerfällt jedes Ding gleich in drei Teile und sieben Paragraphen und das mag ja wahr sein — aber mir hilft das wenig. Das ist nicht das, was ich brauche, um über mich selbst hinweg zu kommen und über diese Stimmung, dass man so ganz allein in der Weite steht — und überhaupt alles ...“
„Und glaubst du denn, dass diese Stimmung etwas Gesundes ist?“
„Nein — sie ist krankhaft — natürlich — ich leide ja daran — schon lange — ich sag’s dir ja ...“
„Und hast du denn eine Ahnung, woher die eigentlich ihren Ursprung genommen hat?“
„Gewiss! das weiss ich jetzt ganz genau.“
„Also — was ist denn schuld daran?“
„Du!“
„Ich?“ sagte er gedehnt, ungläubig staunend.
„Ja — du! Nur du! Aber das soll kein Vorwurf sein, Hermann! Du bist eben wie du bist! Und ebenso wirkst du natürlich auch auf andere!“
Er überlegte eine kurze Zeit ihre Worte. Dann versetzte er rasch und bestimmt: „Hör ’mal, das versteh’ ich noch nicht! Das geht vorläufig noch über meinen Horizont. Das musst du mir näher erklären!“
Sie nickte. „Gerne. Gerade heute! Das ist der Tag dazu — wo ich alles hinter mir hab’, was ich seit vielen Jahren erreichen wollte — und vor mir ist, vorläufig, nichts. Rein gar nichts. Das ist ein Gefühl, als schwebte man im leeren Raum. Man möchte sich irgendwo festhalten — die Füsse irgendwohin stellen — und es ist nichts da ... Und das ist eben durch dich gekommen!“
„Na — erzähl ’mal!“ meinte er aufmunternd. Er war äusserlich so gelassen wie immer geblieben.
„Ja, sieh,“ sagte Hedwig Solitander. „Ich bin Zeit meines Lebens ein ziemlich einsames Menschenkind gewesen. Damit fängt die Sache an. Ich hab’ nie Bruder oder Schwester gehabt und meine Mutter ist gestorben, wie ich kaum fünf Jahre war. Nun — das weisst du ja alles — und auch, dass Papa ein Sonderling ist und sich nie viel um mich gekümmert hat und sein Einfluss mich auch nur hätte sonderbar machen können. Ein bisschen bin ich’s ja auch vielleicht. Aber eine grosse Wirkung hat er nie auf mich ausgeübt. Die ist von dir ausgegangen — eigentlich mein ganzes Leben hindurch. Wir sind ja doch zusammen aufgewachsen und du warst der Ältere und der Klügere, und ursprünglich erschien es mir ganz selbstverständlich, dass du alles wusstest und ich nichts. Es gab eine Zeit, als du Student im fünften, sechsten Semester warst, da hab’ ich dich einfach bewundert ... o Gott ja — wie sehr — förmlich mit andächtiger Scheu — so wie du alle Dinge in ihre Bestandteile auflösen — alles leugnen, was man nicht sah und mit Händen griff — für alles im Himmel und auf Erden eine kurze wissenschaftliche Formel finden — das schien mir geradezu die Verkörperung menschlicher Weisheit — und die warst du! Jetzt denke ich ja kühler darüber — ohne dass ich dich unterschätze — aber die Eindrücke von damals bleiben — die sind jetzt noch da — das werde ich mein Leben lang nicht los, dass ich mich nie hab’ neben dir recht entwickeln können. ...“
Sie schaute vor sich hin in die Nacht und fuhr leidenschaftlicher als bisher fort: „Wenn ich dir ein Gedicht gezeigt hab’, das mir aus der Seele gesprochen