Der Engel Thoralf - Michael Rusch - E-Book

Der Engel Thoralf E-Book

Michael Rusch

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Beschreibung

Als Thoralf Gruber in der Höllentalklamm verunglückt und danach wieder zu sich kommt, befindet er sich an einem seltsamen Ort, einem weißen Raum ohne Boden und ohne Wände. Ein Mann mit einem Lichtschein um seinen Kopf und mit einem langen weißen Bart, der mit einer weißen Tunika bekleidet ist, führt ein Gespräch mit ihm. Thoralf muss begreifen, dass er tot ist und Gott gegenübersitzt. Er lernt einen Gott kennen, der mit den politischen Zuständen auf der Erde hadert und ihm verspricht, dass er zu seiner Familie zurückkehren darf, wenn er als Schutzengel 20 Menschen das Leben gerettet hat. Thoralf versucht alles, um das zu erreichen. Dabei erlebt er viele Abenteuer und muss feststellen, dass auch ein Engel sterben kann. Rusch versteht es in diesem Roman, eine spannende Geschichte zu erzählen, in der er die aktuellen politischen Ereignisse in Deutschland kritisch betrachtet.

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Für

Sven Hansen

Inhalt

Die Flutwelle

Der Chef

Die Ausbildung

Die Mure

Der Bergwanderer

Thoralfs Söhne

Die Aussichtsplattform

Der Bergsteiger

Ein Gespräch mit Gott

Noch ein Unfall

Die Pilze

Die Flut

Die Gasexplosion

Der politische Gott

Der Orkan

Nachwort

Der Autor

Die Flutwelle

Die Familie Gruber lebte seit vielen Generationen in Großbergen, einer kleinen Stadt in den Alpen, die sich in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen und Oberammergau befand. Man kann mit Recht behaupten, dass die Grubers zu den angesehensten Familien in dieser Stadt gehörten. Ihre Angehörigen traten den Menschen in ihrer Umgebung offen und ehrlich gegenüber und waren stets freundliche und hilfsbereite Leute. Teilweise arbeiteten sie in sozialen Berufen und konnten somit ihren Mitmenschen auf ihrem Fachgebiet professionell helfen. Insbesondere Thoralf Gruber genoss großes Ansehen in Großbergen, da er als Bergretter vielen Menschen das Leben gerettet hatte, und dabei handelte es sich nicht nur um Touristen. Meist waren es einheimische Bewohner, die sich immer wieder in den Bergen leichtsinnig verhalten hatten, denen er mit seinen Kollegen zur Hilfe geeilt war.

Auf dem Grundstück der Familie stand ein großes Haus im alpenländischen Stil, welches zwei Etagen besaß. Als das Haus vor mehreren Jahrzehnten errichtet wurde, ließ das damalige Familienoberhaupt den Dachboden gleich mit ausbauen. In den dortigen unbeheizten Kammern hausten in früheren Zeiten die Mägde und Knechte, die darin im Winter elendig froren und sich im Sommer beinahe zu Tode schwitzten. Außerdem wurde auch ein Trockenboden angelegt, der natürlich nur bei Regenwetter oder Schneefall gebraucht wurde. Dort mussten die Frauen die feuchte Wäsche zum Trocknen aufhängen. Noch in der heutigen Zeit wird der Boden dafür genutzt, doch die Dachkammern dienen den alten Grubers als Abstellräume für nicht gebrauchte Möbel und viele andere Dinge. Wer sollte jetzt auch noch darin leben, schließlich konnten diese Kammern nicht geheizt werden. Aber damals besaßen die Eltern Erwin Grubers dicke Bettdecken aus Gänsedaunen, unter denen sich die Mägde und Knechte nachts warmhalten konnten. Am Tage mussten sie arbeiten und niemand hätte ihnen einen Raum zugestanden, in dem sie sich während ihrer Arbeitszeit hätten zurückziehen können. Für eine kurze Zeit durften sie sich in der Küche aufwärmen, wenn draußen klirrender Frost herrschte. Ohnehin mussten die Bediensteten den ganzen Tag lang arbeiten.

Das gesamte Haus, das von den Großeltern Erwin Grubers entworfen und errichtet wurde, hatte ein großes Kellergeschoss, in dem eine Werkstatt und eine Waschküche angelegt worden waren. Doch dann wurde das Auto erfunden und im Laufe der Jahre benötigten die Menschen einen fahrbaren Untersatz, mit dem sie zur Arbeit kommen konnten. Auch die Familie Gruber kaufte sich solch ein Vehikel, für das eine Garage benötigt wurde.

Diese hatte der alte Gruber in das Kellergeschoss eingebaut. Zunächst hatte er die Werkstatt mit einer Wand halbiert, die danach immer noch für handwerkliche Tätigkeiten groß genug war. Anschließend hatte er die Außenwand aufgebrochen und sie mit einem Balken abgestützt. Danach hatte er eine Auffahrt für das Auto angelegt und in den Wanddurchbruch ein Tor eingebaut. Und schon war die Garage fertig. Nun gut, die gesamte Elektrik und Wasserver- und Entsorgung hatte er auch noch hineingelegt.

Die weißen Außenwände des Hauses wurden von lustigen, bunten Bildern verziert. Das nennt man Lüftlmalerei. Das zweite Geschoss bestand aus Holz und wurde auf dem ersten aufgesetzt. Um diese Etage herum befand sich ursprünglich ein Balkon, auf dem man ums gesamte Haus gehen konnte. Die zweite Etage war also ein Vollgeschoss und der Traufüberhang begann erst darüber.

Doch heute konnte niemand mehr auf dem Balkon – wie es früher möglich war – um das Haus gehen. Denn wie es so oft der Fall war, wuchs die Familie und allmählich wurde es zu klein. Da Wohnraum knapp war, musste das Gebäude erweitert werden. Also ergänzte der alte Gruber das Haupthaus um einen weiteren, etwas kleineren Anbau. Dafür musste ein Teil des Balkons weichen, der nun aber den Neubau verziert. Die Menschen der kleinen Stadt und vor allem die Touristen, die beim Spazierengehen an dem schönen Haus der Familie Gruber vorbeikamen, blieben oft davorstehen, um es zu bewundern.

In der großen Wohnküche saßen fünf Generationen täglich zum Abendessen und zum Frühstück an einem großen Esstisch zusammen. Die Familie hatte bereits zu früheren Zeiten großen Wert daraufgelegt, dass alle ihre Mitglieder zu den Mahlzeiten anwesend waren. Aber eine Ausnahme gab es, nämlich das Mittagessen an den Wochentagen, an dem nicht alle Erwachsenen aufgrund ihrer Arbeitszeiten teilnehmen konnten, denn die wenigsten von ihnen arbeiteten wie Thoralf Gruber nicht auf dem eigenen Hof, sondern in einer Werkstatt der Gemeinde oder in einer anderen Firma. Jedes Familienmitglied hatte seinen festen Platz am Tisch, somit wurde jeder Streit um die Sitzordnung von Beginn an vermieden und die Kinder konnten von ihren Eltern besser unter Kontrolle gehalten werden, als hätten sie sich hinsetzen können, wann, wo und wie sie es wollten.

An der Stirnseite saß das Oberhaupt der Familie Gruber. Das war der Vater mit dem Namen Erwin. An der rechten Seite des langen Tisches hatte seine Frau Frieda ihren Platz, an der linken Seite saß der Großvater Karl, der Vater Erwin Grubers. Neben Karl hatte die Urgroßmutter – Karls Mutter – ihren angestammten Platz, eine alte, aber noch rüstige Frau. Mit ihren 92 Jahren stand Lieselotte immer noch in der Küche und freute sich jeden Tag darüber, sich in ihrem Alter immer noch nützlich machen zu können. Eine besondere Freude war es ihr, wenn die gesamte Familie zu den Mahlzeiten um den großen Esstisch herumsaß. Jedoch hatte sie bei der Küchenarbeit eine große Hilfe, denn ihre angeheiratete Enkelin Frieda, die Frau Erwins, half ihr beim Kochen, schon von dem Tag an, als diese zur Familie Gruber gezogen war. So lernte Frieda zur großen Freude der Familie und der alten Dame von ihr viele außergewöhnliche Künste, die es der jüngeren Frau ermöglichten, genauso gut zu kochen, wie die alte Dame es konnte.

Die vierte Generation war vor einigen Jahren der Grund für die Erweiterung des Hauses gewesen. Erwin Grubers Sohn, also Lieselottes Urenkel Thoralf, heiratete Anneliese Brezel, die somit zu einer Gruber wurde. Diese beiden saßen dem Hausherrn gegenüber. Zwischen Lieselotte und Thoralf hatte der vierzehnjährige Tobias seinen Platz zugewiesen bekommen. Sein Vater wollte seinen Sohn in seiner Nähe wissen, weil der Junge oft ein vorlautes Mundwerk besaß. Überhaupt war Tobias ein sehr listenreicher und lebenslustiger Junge, der viele Streiche in seinem Kopf ausheckte und sie danach nicht immer zur Freude seiner Opfer umsetzte. Deshalb musste er während der Mahlzeiten neben seinem Vater sitzen. Damit wurde garantiert, dass es während des Essens ruhig und friedlich blieb. Jedoch hatte Thoralf nicht vergessen, dass er in Tobias Alter genauso ein freches Verhalten an den Tag gelegt hatte wie dieser heute. Deshalb entwickelte er viel Verständnis für seinen Großen und ließ seine Streiche nach einer Moralpredigt meist ungeahndet.

Neben Frieda hatten Tobias Zwillingsbrüder ihren Platz gefunden, die zwölfjährigen Finn und Luca.

In der Familie wurden schon seit vielen Generationen nur männliche Nachkommen geboren. Deshalb sagte Vater Erwin einmal im Scherz: „Wir können nur Jungs machen, deshalb müssen wir uns die Frauen ins Haus holen und sie heiraten.“

Heute war Sonntag und die gesamte Familie saß zur Brotzeit um den großen Esstisch herum. Nur die Urgroßmutter Lieselotte fehlte noch an ihrem Platz. Die alte Frau hatte ein leckeres Sauerfleisch gekocht, das bereits in der Mitte des Tisches aufgeschnitten auf einem Teller lag. Es sah sehr köstlich aus, sodass einigen Anwesenden bei seinem Anblick das Wasser im Mund zusammenlief. Nun trug sie auch noch eine große Pfanne mit Bratkartoffeln zu ihren Kindern herüber. Diese rochen herrlich nach Speck und Zwiebeln, sodass beinahe alle Anwesende die Kontrolle über ihren Speichelhaushalt verloren. Thoralf wollte etwas erzählen und als die Uroma Lieselotte die Pfanne neben das Sauerfleisch abstellte, tropfte ihm der Sabber von seinem Mund und benetzte dabei sein Hemd. Ein großer feuchter Fleck blieb darauf zurück. Schadenfroh mussten die Kinder lachen, aber auch die Erwachsenen fielen in ihr Lachen ein.

Thoralf wischte den sich selbstständig gemachten Speichel von seinem Mund ab. „Da habt ihr wieder einen Grund zum Lachen, ihr Rasselbande“, sagte er gutmütig. Er und seine Frau arbeiteten in der Bergrettung. Oft erzählten sie, wie unverantwortlich sich manchmal einige Touristen in den hohen Bergen der Alpen verhielten. Davon wollte er gerade berichten, denn insbesondere seine Jungen lernten aus seinen Erzählungen und denen seiner Frau, was sie beim Bergwandern oder Bergsteigen unbedingt beachten sollten.

Nachdem sich die Familie beruhigt hatte, erzählte Thoralf weiter, während Lieselotte Gruber gemeinsam mit seiner Frau Anneliese die Teller füllte. „Ihr könnt euch nicht denken, was ich heute erlebt habe. Wie leichtsinnig manche Touristen doch sind, ist absolut unverständlich. Auf dem Wanderweg zum Krottenkopf begegnete ich einem Ehepaar mit ihren zwei Kindern. Der Junge musste etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein und das Mädchen war wohl zehn. Die Familie wollte zum Gipfel hoch und der Mann fragte mich, wie lange sie bis dahin noch gehen müssten. Sie seien von Oberau schon vier Stunden unterwegs gewesen. Ich glaube, der Weg ist für ungeübte Wanderer recht schwierig. Teilweise geht es steil bergauf und über dem Weg liegen viele umgestürzte Bäume, über die man klettern muss. Ich sah mir diese Leute etwas genauer an. Sie hatten Sandalen an den Füßen und kurze Hosen angezogen. Das Mädchen war mit einem dünnen Kleidchen bekleidet. Das müsst ihr euch mal vorstellen! Auf diesem steilen Weg wanderten die mit Sandalen. Sie hatten nichts weiter dabei, nichts zu trinken und kein Essen. Einfach nichts, keine Ausrüstung, nicht ein bisschen. Keine Wanderschuhe, keine Wanderstöcke, einfach nichts. Als würden sie in der Stadt spazieren gehen.“ Die Familie bemerkte, dass sich Thoralf in dieses Thema hineinsteigerte.

Erwin Gruber versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. „Nun rege dich mal nicht so sehr auf. Erstens schadet es deinem Blutdruck und zweitens wollen wir doch in Ruhe essen.“

„Du hast ja recht, Vater. Aber wie leichtsinnig kann man denn sein? Die haben gegenüber ihren Kindern doch eine Verantwortung. Na, ja, ich sah sie mir also genau an und sagte: „So, wie Sie ausgerüstet sind, brauchen Sie noch einmal vier Stunden.““

„Wie kann man nur so unvernünftig sein. Mit Kindern in den hohen Bergen ohne Ausrüstung herumlaufen!“ Erwin Gruber schüttelte den Kopf.

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dumm die geguckt haben. Das Mädchen jammerte erbärmlich und der Junge sagte, dass er nicht mehr weiterkönne und keinen einzigen Schritt mehr gehen wollte. Der Vater stimmte ihnen zu und meinte, dass sie dann lieber umkehren wollten. Ich glaube, das war die beste Entscheidung, die er treffen konnte, denn es war diesig und etwas regnerisch.“

Thoralf schaufelte sich Bratkartoffeln in den Mund. Dabei sah er Lieselotte ins Gesicht und nuschelte mit vollem Mund: „Oma, deine Bratkartoffeln sind doch immer wieder die besten. Und das Sauerfleisch erst, das ist spitze! Niemand kann so gut kochen wie du!“

Die alte Dame freute sich. Sie lächelte ihrem Enkel zu. „Danke für das Kompliment, mein Junge, aber deine Mutter macht sie genauso gut wie ich.“

Erwin Gruber nutzte die Gelegenheit, Tobias, Finn und Luca zu ermahnen: „Ihr müsst stets Wasser und wenigstens Müsliriegel zum Wandern mitnehmen und überhaupt: Wenn ihr euch in den Bergen aufhaltet, dann immer nur mit ordentlicher Ausrüstung! Bergschuhe und Stöcker!“

„Natürlich, Opa!“, antwortete Tobias und grinste seine Brüder an, weil sein Opa keine Gelegenheit ausließ, um ihnen nahezulegen, wie sie sich während ihrer heimatlichen Wanderungen in den Bergen zu verhalten hätten.

„Da musst du deine Brüder gar nicht angrinsen, Tobias.“ Erwin Grubers Worte klangen bestimmt, aber nicht unfreundlich. Auch sein Gesicht nahm einen freundlichen, aber bestimmten Ausdruck an, als er seinen Enkel ansah.

Tobias erwiderte den Blick seines Großvaters. Jedoch verschwand dabei das Grinsen aus seinem Gesicht. Der ältere Mann wusste, dass der Junge ihn respektierte. Auch wenn Tobias viele Dummheiten im Kopf hatte, so handelte er nie verantwortungslos, auch nicht dann, wenn er jemandem einen Streich spielen wollte. Tatsächlich hatten diese Albernheiten nichts mit Gehässigkeit zu tun, eher etwas mit Situationskomik. Selbst die Leidtragenden seiner Späße konnten darüber lachen, nachdem sie in seine Fallen getappt waren. „Aber Opa, das hört sich an, als wenn du nachher mit uns einen Spaziergang in die Berge machen willst. Kann ich mich schon darauf freuen?“ Ein ehrliches freudiges Lächeln entstand auf dem Gesicht des Kindes, denn tatsächlich wanderte es gerne mit seinem Großvater in den Bergen und Wäldern seiner Heimat oder ging oft auch mit ihm spazieren. Erwin Gruber besaß viele botanische Kenntnisse und kannte sich in den Bergen und in der Tierwelt gut aus. Er verstand es gut, sein Wissen an seine Enkelkinder mithilfe vieler interessanter Erzählungen und Berichte weiterzugeben und somit die Jungen für die Natur zu begeistern und zu interessieren. Seine Geschichten, die er ihnen auf den vielen gemeinsamen Unternehmungen erzählt hatte, enthielten stets spannende Details. Scheinbar konnte er den Kindern von jeder Pflanze und jedem Tier die Entstehungsgeschichte und aus ihrem Leben berichten. Damit trug auch er dazu bei, dass sich die Jungen zu guten Schülern entwickelt hatten, die sehr wissbegierig geworden waren. Erwin Gruber verbrachte sehr viel Zeit mit seinen Enkelkindern, die ihn dafür liebten. Obwohl er sie geschickt auch zu vielen handwerklichen Arbeiten heranzog, denn er forderte selten etwas von ihnen. Meist brachte er den Kindern spielend bei, wie welche Aufgaben erledigt werden konnten.

Erwin Gruber antwortete: „Das hatte ich tatsächlich vor, Tobias. Aber daraus wird leider nichts. In spätestens zwei Stunden wird uns ein heftiges Gewitter daran hindern.“

Finn und Luca lachten über die Aussage ihres Großvaters. Mit einem Grinsen im Gesicht fragte Finn: „Aber Opa, du weißt schon, dass draußen die Sonne scheint?“

„Oh ja, selbstverständlich weiß ich das. Aber du wirst sehen, dass ich recht habe.“

*****

Anneliese Gruber befand sich mit ihren Söhnen auf dem Hof, als sich der Himmel zu bewölken begann. Schnell zogen dicke schwarze Wolken auf, die nur die eine Erkenntnis zuließen: Bis es zu regnen beginnt, vergehen nur noch wenige Minuten. Verständnislos fragte Luca seine Mutter: „Wie macht Opa das bloß immer? Wie kann er schon wissen, dass es regnen wird, obwohl die Sonne noch scheint? Vorhin war noch kein einziges Wölkchen am Himmel zu sehen und jetzt sieht es tatsächlich so aus, dass es bald anfängt zu regnen. Ich verstehe das nicht!“ Nachdem er den Kopf geschüttelt hatte und seine Mutter ungläubig anschaute, wiederholte er seine Frage: „Wie macht Opa das bloß immer?“

Staunende Anerkennung lag in der Stimme des Kindes. Luca liebte und bewunderte seinen Großvater, weil er stets für ihn da war, wenn er ihn brauchte und ihm fast immer eine Antwort auf seine Fragen geben konnte. Aber wenn Erwin Gruber eine Frage seiner Enkelkinder nicht sofort beantworten konnte, gab er das ihnen gegenüber zu und erkundigte sich danach nach der richtigen Antwort, um den Wissensdurst der Jungen zu stillen. Aber manchmal wollte er auch den Nachwuchs seines Sohnes mit seinem Wissen und Können beeindrucken. Doch würde er das nicht zugeben.

Tobias, der bei seinen Brüdern stand, kam der Antwort seiner Mutter zuvor. „Opa ist ein Naturmensch, er kennt sich mit dem Wetter in den Bergen und Wäldern richtig gut aus. Er hat schon so viel erlebt, dass er auf fast alles eine Antwort weiß.“

„Ich möchte auch einmal so viel wissen wie der Opa!“ Das war Finn. Auch er liebte seinen Großvater für das viele Wissen, das sich dieser in seinem langen Leben angeeignet hatte und eiferte ihm nach. Dadurch wirkte der Junge manchmal etwas altklug.

„Das wirst du, mein Junge, wenn du in der Schule immer aufpasst und fleißig lernst“, antwortete Anneliese Gruber und schaute dabei ihren Sohn Luca freundlich lächelnd an.

Nach wenigen Minuten begann es zu regnen, wie es Erwin Gruber seiner Familie vorausgesagt hatte. Zunächst nieselte es und die Straßen wurden nass. Doch allmählich verdichteten sich die Wolken und es wurde merklich dunkler in den Straßen der Stadt. Plötzlich fielen dicke Regentropfen auf die Erde und drohten mit ihrer Stärke zarte Pflanzen zu zerstören. Wind kam auf, heftige Böen rissen an den Blumen, Bäumen und Gräsern, als wollte der Wind den Regen in seinem bösen Treiben unterstützen. Ein Blitz zuckte über den Himmel und für einen Augenblick wurde es so hell, als würde die Sonne scheinen. Kurz darauf krachte es laut. Innerhalb weniger Sekunden donnerte es mehrmals, als wollte eine höhere Macht den Menschen eine Warnung überbringen. Nur langsam verebbte das Donnergrollen. Die Tropfen verdichteten sich zu vielen riesigen Wasserbatzen, überall entstanden Pfützen, die schnell größer wurden und sich nach wenigen Sekunden miteinander zu kleinen Bächen vereinigten. Schnell stand der Hof unter Wasser. Als die Familie ins Haus flüchtete, um sich vor dem Regen und den Sturmböen zu schützen, begann die Sirene Großbergens ihr nervtötendes Signal über den Ort auszuschütten.

„Oh, je, jetzt muss Papa auch noch bei diesem blöden Wetter zu einem Einsatz raus!“ Luca sorgte sich um seinen Vater. Hätte er gewusst, wie berechtigt seine Sorgen waren, hätte der Junge an diesem Tag keine ruhige Minute mehr gehabt.

Tobias erging es wie seinem Bruder. „Hoffentlich muss Papa bei diesem Scheißwetter nicht in die Berge!“

Kaum hatte Tobias seine Worte ausgesprochen, eilte sein Vater auch schon an ihnen vorbei. Während er zu seinem Auto lief, rief er den Kindern zu: „Wenn ich zurückkomme, gehen wir in die Eisdiele und werden dort ein großes Eis essen. Seid schön brav, Kinder, ich bin bald wieder zu Hause.“ Er ahnte nicht, dass er an diesem Tage nicht mehr nach Hause kommen sollte und mit seinen Kindern kein Eis essen gehen würde.

*****

Thoralf Gruber beeilte sich, um mit seinem Auto zur Wache der Bergrettung seiner Stadt zu fahren. Als verantwortungsvoller Fahrer achtete er auf den starken niederprasselnden Regen, der ihm die Sicht stark einschränkte. Außerdem erfassten Böen immer wieder sein Auto. Entsprechend vorsichtig lenkte er seinen Volvo durch die Straßen Großbergens. Er hatte an diesem Tag Bereitschaftsdienst und musste, wenn es zu einem Notfall kam, mit seinen Kollegen zum Einsatzort ausrücken. Deshalb durfte er das Signal der Sirene nicht unbeachtet lassen. Außerdem wurde er über einen Pieper über einen Notfall informiert. Dieser Pieper war ein Gerät, das so groß wie eine Streichholzschachtel war. Wenn er zum Bereitschaftsdienst eingeteilt wurde, trug er es ständig bei sich, um kein Signal zu verpassen, das ankündigte, dass sich ein Mensch in Not befand und dringend Hilfe benötigte. Für Thoralf bedeutete das dann, dass er sich beeilen musste, um zu einem Einsatz zu seiner Rettungswache zu fahren. Als er dort eintraf, warteten seine Kollegen bereits ungeduldig auf ihn.

„Los beeil dich, du hast dir heute ja besonders viel Zeit gelassen!“, bemerkte der Leiter der Bergrettung, als er Thoralf erblickte.

Dieser lief in den Umkleideraum und antwortete: „Wenn du wüsstest, was auf den Straßen los ist, überall Land unter! Die Straßen sind überschwemmt, weil die Gullys es nicht schaffen, das viele Wasser aufzunehmen. Es regnet sintflutartig. Schnelles Fahren ist nicht drin.“

Während ihn sein Chef über den Einsatz informierte, zog sich Thoralf um. „Ein Mann ist in der Höllentalklamm vor der Zugspitze abgestürzt und hat sich schwer verletzt. Jetzt liegt er irgendwo unten in der Schlucht. Wir müssen sehen, was wir bei diesem Scheißwetter für ihn tun können.“

Thoralf Gruber verzog sein Gesicht, als er erwiderte: „So eine Scheiße! Kann kein Hubschrauber dort hin und einen Helfer abseilen? Wir sind doch viel zu lange unterwegs. Vom Parkplatz in Hammersbach müssen wir zu Fuß weiter. Und so etwas bei diesem Scheißwetter. Wo liegt der arme Kerl überhaupt?“ Thoralf schloss schnell seinen Schrank ab, in dem nun seine privaten Sachen hingen. Die hatte er mit einer Uniform der Bergrettung ausgetauscht.

„Nein, für den Hubschrauber ist das Wetter viel zu schlecht. Die Sicht ist nicht gut und außerdem ist es zu windig. Bei diesen stürmischen Böen kann es passieren, dass der Hubschrauber abgetrieben wird und gegen eine Felswand prallt. Wir müssen durch die Höllentalklamm in Richtung Höllentalangerhütte bis zum Klettersteig laufen. Dort irgendwo ist er abgestürzt. Wir müssen eben die Augen aufhalten.“

„Auch das noch. Dann lass uns keine Zeit verlieren!“ Thoralf Gruber machte sich Sorgen. Einen Notfall ohne genauen Einsatzort und das auch noch bei solch schlechten Wetterbedingungen hatten sie schon seit langer Zeit nicht mehr gehabt. Dieser Einsatz gehörte zu denen, auf die jeder Retter gerne verzichten würde. Selbst mit einer Regenjacke, die atmungsaktiv sein sollte, wurden die Männer bei solch einem Wetter nass. Denn darin schwitzten die Männer so sehr, dass sich in den Ärmeln das Wasser sammelte, weil deren Bündchen sich am Handgelenk eng anlegten. Das war äußerst unangenehm, sodass die meisten Retter auf Regenjacken verzichteten und es in Kauf nahmen, nass zu werden. Wenigstens bekam der Körper dann noch frische Luft.

Vier Männer der Bergrettung fuhren mit ihrem Rettungswagen nach Hammersbach. Von dort aus brachen sie zur Höllentalangerhütte auf. Obwohl sie sich bemühten, keine Zeit zu verlieren, waren sie schon seit ungefähr zweieinhalb Stunden unterwegs. Immer wieder mussten sie Hindernisse überwinden, die ihnen den Weg versperrten. In dieser Zeit musste Thoralf immer wieder an den verunfallten Mann denken. Für einen gesunden Menschen war das momentane Wetter bereits sehr unangenehm. Niemand würde jetzt freiwillig in den Bergen wandern gehen. Wie schrecklich musste sich der abgestürzte Mann in diesen Augenblicken fühlen? War er überhaupt noch am Leben? Diese und ähnliche Fragen gingen dem jungen Vater durch den Kopf. Doch dann bemerkte er, dass es besser wäre, sich auf den Weg zu konzentrieren, der sie durch die Höllentalklamm ständig bergauf führte. Von ihrem Ausgangspunkt bis zu ihrem wahrscheinlichen Ziel mussten sie etwa 750 Höhenmeter überwinden.

Der Wildbach, der durch die Klamm floss und an dem sie sich befanden, war zu einem reißenden Strom geworden. Die tosenden Wassermassen des sonst so friedlich dahinfließenden Baches drohten, die ihn überquerenden Brücken innerhalb und außerhalb der Klamm wegzureißen. Die Männer blieben stehen, um sich zu beraten. Ihr Chef sah ihnen nacheinander in ihre Gesichter, die von der Anstrengung der letzten Stunden gezeichnet waren. „Ich kann nicht von euch verlangen, diesen Einsatz weiter zu betreiben. Niemand von euch soll und muss sich in Gefahr begeben. Euer Leben ist mir wichtiger als das des abgestürzten Bergsteigers. Deshalb müssen wir uns entscheiden, ob wir weitergehen und den Mann retten oder den Einsatz hier abbrechen wollen. Aber ich weise euch darauf hin, dass wir, wenn wir weitermachen, unser Leben in Gefahr bringen. Und das kann niemand von uns verlangen. Wer will diesen Einsatz abbrechen und den Mann später suchen, wenn sich das Wetter gebessert hat? Ich persönlich wäre dafür.“

„Wenn wir warten, ist der Mann vielleicht schon tot, bis wir bei ihm sein können!“, sagte einer der Bergretter.

„Dann lasst uns weitergehen, bevor wir nicht mehr durch die Klamm kommen!“ Thoralf Gruber kannte sich in dieser Gegend gut aus und glaubte, dass es noch möglich sei, den verunfallten Bergsteiger zu erreichen.

Das Wasser des Wildbaches schlug gegen die Felswände. Es toste so laut, dass sich die Bergretter kaum noch miteinander verständigen konnten. Sie beschlossen trotz der widrigen Umstände weiterzugehen. Nach einigen Minuten erreichten sie in der Höllentalklamm eine Holzbrücke, die sie überqueren mussten. Sie wurde immer wieder von den laut tosenden Wassermassen überschwemmt. Die Retter erkannten, dass der Weg auf der anderen Seite des Baches ständig beschwerlicher wurde. Thoralf und seine Kollegen waren bis auf die Haut durchnässt und der Wind peitschte ihnen den Regen schmerzvoll ins Gesicht. Er ging voran. Als er über die Brücke gehen wollte, hielt ihn sein Chef zurück, indem er ihm von hinten auf die Schulter klopfte. Der junge Mann drehte sich zu ihm um und sah, dass sein Chef seinen Kopf schüttelte. „Nein, da gehen wir nicht rüber!“, wollte der Chef ihm sagen.

Aber Thoralf Gruber glaubte, dass er dem Verletzten helfen musste und sie deshalb den Weg durch die Klamm fortsetzen sollten. Einen anderen Weg gab es nicht. Er ging weiter und betrat die Brücke. Dabei bemerkte er nicht, dass in diesem Moment eine große Flutwelle auf sie zu rauschte. Sie erfasste die Brücke und mit ihr den darauf gehenden Vater von drei Kindern.

Thoralf Grubers Kollegen hielten sich an den Handläufen des Weges fest, um nicht von den Wassermassen fortgespült zu werden. Für einige Momente wurden die Männer von der Flutwelle erfasst. Sie gerieten unter Wasser. Es drang ihnen in Mund, Nase und Ohren ein. Sie drohten zu ertrinken. Aber dann gab die Flutwelle sie doch wieder frei. Hustend spuckten sie das Wasser aus, das in ihre Lungen eingedrungen war, als sie endlich wieder atmen konnten. Sie benötigten einige Augenblicke, bis sie ihre Körper wieder kontrollieren konnten und sich der Brücke zuwandten. Jeder der drei Männer musste entsetzt feststellen, dass diese sich nicht mehr an ihrem Platz befand. Jede Spur von der Brücke fehlte. Es schien beinahe, als wollte die Natur ihnen weismachen, dass es an diesem Ort noch nie eine Brücke gegeben hatte. Und dann begriffen sie die Katastrophe: Auch von Thoralf Gruber fehlte jede Spur.

*****

Die Familie Gruber war bestürzt, aber auch traurig und wütend. Thoralfs Chef hatte ihnen die Nachricht überbracht, dass ihr Familienmitglied vermisst wurde. Eine Brücke in der Höllentalklamm, die sich schon seit Jahrzehnten an ihrem angestammten Platz befand, wurde von einer gewaltigen Flutwelle hinweg gerissen. Diese Flutwelle hatte sich durch den Starkregen im Wildbach gebildet. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, als sie mit ihrer unbändigen Kraft die Brücke wegspülte, hatte sich Thoralf auf ihr aufgehalten. Als die Mitglieder der Rettungscrew, zu der auch Thoralf gehörte, von ihren eigenen Kollegen gerettet worden waren, wusste niemand, was mit ihm geschehen war. Ohne Zeitverzug wurden Suchtrupps losgeschickt, die ohne ein positives Ergebnis die Suche nach Thoralf Gruber nach mehreren Stunden abbrechen mussten. Mehrere Tage wurde die Suche fortgeführt, immer in der Hoffnung, ihn zu finden. Doch von Tag zu Tag verringerten sich die Hoffnungen seiner Familie und seiner Kollegen, ihn noch lebend zu finden. Zwei Wochen nach dem Unglück wurde die Suche nach dem verunfallten Bergretter abgebrochen. Niemand hatte noch eine Hoffnung, den vermissten Thoralf Gruber zu finden.

Trauer ergriff die Familie des verantwortungsbewussten jungen Vaters, Sohnes und Mannes und alle anderen Menschen, die ihn kannten, mit zunehmender Zeit intensiver, denn von Tag zu Tag wurde ihnen immer mehr bewusst, dass sie ihn nicht mehr lebend wiedersehen würden. Sein viel zu früher Tod machte insbesondere seine Eltern, seine Frau und seine Kinder, aber auch alle anderen Menschen wütend, die ihn gekannt hatten. Sie fragten sich wieder und wieder, warum Thoralf sie verlassen musste. Aber er konnte noch nicht für Tod erklärt werden, da seine Leiche nicht gefunden wurde. Juristische Fragen taten sich auf, die geklärt werden mussten. Zum Glück hatten die Grubers ihre Familienverhältnisse schon seit langer Zeit geregelt, sodass es bei der Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben keine Probleme gab. Sie lebten weiterhin auf ihrem Grundstück in ihrem Haus. Anneliese Gruber wohnte auch zukünftig mit ihren Kindern bei ihren Schwiegereltern, die sich darüber sehr freuten und sie wie eine Tochter behandelten. Vor allem freuten sich Erwin und Frieda Gruber darüber, ihre Enkelkinder auch in Zukunft aufwachsen sehen zu können.

Der Chef

Als Thoralf Gruber zu sich kam, befand er sich in einem weißen Raum. Vorsichtig, aber auch neugierig sah er sich um und erblickte überall das Gleiche. Überrascht fragte er sich, ob es tatsächlich ein Raum war, in dem er sich befand. Er hatte keine Ecken und war auch nicht rund. Außerdem konnte Thoralf auch keine einzige Wand erkennen. Aber seine Umgebung beherrschte eine milchige weiße Farbe, die beinahe wie ein dichter Nebel hin und her waberte. Nur war er sich sicher, dass er sich in keinem Nebel befand. Er schaute sich um, und hatte eine klare Sicht bis dorthin, wo ihn die milchig weiße Brühe umgab und die sich hin und her bewegte.

Deutlich erkennbar stand in seinem Gesicht die Überraschung, als wäre sie darin eingemeißelt worden. Thoralf fragte sich, wo er sich wohl befinden mochte. Solch einen seltsamen Ort hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ratlos sah er zum Boden herunter und staunte über das, was er nun wahrnehmen musste. Unter seinen Füßen existierte kein Boden. Aber auf irgendetwas musste er doch stehen. Fassungslos glaubte er, dass er nicht in einem Raum schweben konnte, der keine Wände, keinen Boden und keine Fenster hatte. Jedoch hatte er das Gefühl, dass seine Füße auf einem festen Material standen. Sein Verstand weigerte sich, zu erkennen, was geschehen war und wo er sich befand. Wo sich der Fußboden hätte befinden müssen, erschien ihm wieder diese milchig weiße Masse. Es sah dort genauso aus wie der Rest in seiner Umgebung. Voller Staunen dachte der junge Mann: „Ich könnte beinahe glauben, dass ich mitten in einer Wolke stehe. Aber das ist doch unmöglich.“ Thoralf fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Noch einmal sah er an sich herunter. Erneut wollte er wissen, worauf er stand. Auf irgendetwas mussten seine Füße doch ihren Halt gefunden haben. Was konnte das wohl sein. Jedenfalls fühlte es sich an, als stünde er auf warmes weiches Holz, das mit Watte abgepolstert worden war. Alles an diesem Ort erschien ihm komisch. Dass hier etwas nicht stimmte, spürte er genau. Aber was war das wohl?

Er ging einige Schritte, um zu prüfen, ob sich etwas veränderte. Er musste feststellen, dass es das nicht tat. Ihn umgab ein klarer weißer Raum, nach oben und nach unten und sogar nach allen Seiten hin. Dieser Raum schien endlos zu sein und er befand sich allein darin. Niemand konnte ihm erklären, warum das so war und wo er sich befand, was das hier für ein Raum war. Vorsichtig rief er leise: „Hallo!“ Doch eine Antwort bekam er nicht. Also rief er etwas lauter und bekam wieder keine Antwort. Aber er stellte fest, dass seine Rufe wie ein Echo zu ihm zurückgeworfen wurden.

Thoralf Gruber sah noch einmal an sich herab und stellte fest, dass sich seine Sachen, mit denen er bekleidet war, in einem erbärmlichen Zustand befanden. Er trug immer noch die Uniform der Bergrettung, in der sich mehrere große Risse befanden. Die Ränder dieser Risse waren ausgefranst. Erst jetzt bemerkte er, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Wasser tropfte aus seinen Sachen heraus. Wo er stand, bildete sich unter ihm eine Pfütze. Als würde ein Blitz einschlagen, kamen ihm plötzlich die Erinnerungen an das, was geschehen war. Er erinnerte sich daran, dass er in der Höllentalklamm über eine Brücke ging. In diesem Augenblick sah er sogar das Wasser des Wildbaches auf sich zukommen. Aber dass er darin eingetaucht war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern.

Plötzlich veränderte sich der Raum. Was Thoralf nun zu sehen bekam, raubte ihm den Atem. Wie aus dem Nichts erschien ein Mann mittleren Alters vor ihm. Diesem Mann fehlte ein Arm und der Stumpf blutete noch. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Danach kam wie aus dem Nebel eine Frau und gesellte sich zu ihm. Auch sie sah sehr mitgenommen aus. Ihre Haare standen wirr vom Kopf ab, aus denen Rauch entwich. Ihr Gesicht war rußverschmiert und ihr Kleid zerrissen. Ihre Beine waren von Brandblasen bedeckt. Auch ihr Gesicht drückte aus, dass sie ein von Schmerzen geplagter Mensch war. Thoralf sah sie fragend an. Immer noch lief er mit einem erstaunten, aber auch erschreckten Gesichtsausdruck in diesem komischen weißen Raum umher, in dem er nun einen wahren Strom von Menschen erblickte, die alles andere als gesund aussahen. Ein Mann rückte in Thoralfs Blickfeld, dessen Oberkörper Brandblasen in allen Größen aufwies, die man sich vorstellen konnte. Einem anderen steckte ein Messer im Rücken, noch einem anderen fehlte der Kopf, den er wie einen Ball in seinen Händen trug. Man hätte glauben können, dass der Mann ihn verloren und nun aufgehoben hatte, um ihn mitzunehmen. Und immer mehr Menschen wurden sichtbar, viele mit schrecklichen Verletzungen, aber auch äußerlich unverletzte Menschen, von denen Thoralf glaubte, dass alles Blut aus ihnen gewichen sei. Ihre Gesichter erschienen Thoralf sehr blass zu sein, aber einige von ihnen hatten auch eine gelbe Hautfarbe, von denen der Bergretter glaubte, dass sie an einer Leberkrankheit litten.