Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der 51 Jahre alte Andreas verlässt seine Lebensgefährtin und beginnt sein Leben noch einmal von vorn. Im Chat von Gaybörse lernt er Silvio kennen und verliebt sich in ihn. Dieser gesteht auch ihm seine Liebe und sie träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Doch als Andreas ihn persönlich kennenlernen will, vereitelt Silvio alle seine diesbezüglichen Versuche. Stattdessen beginnt er, Andreas psychisch zu misshandeln. Für Andreas stellt sich die Frage: Wer ist Silvio? Und warum entzieht sich Andreas nicht Silvios Einfluss? Während dessen denkt Andreas immer wieder an Erlebnisse, die er in seiner Kindheit, als Jugendlicher und Erwachsener hatte, die ihn zu dem Menschen werden ließen, der er heute ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 951
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Die Trennung
Chatpartner
Eine Menschenjagd
Silvio
Freunde
Kindheitserinnerungen
Ein schlechter Tag ohne Folgen
Umzugsvorbereitungen
Der Umzug
Chatsex
Jugenderinnerungen
Gefühle
Erinnerungen an die Militärzeit
Erklärungsversuche
Der Streit um einen Zwanzigjährigen
Sven
Der Unfall
Erinnerungen an Hanna
Der Beginn einer Krise
Christians Geburt
Auseinandersetzungen
Versagende Technik
Klärungsversuche
Warten auf eine Nachricht
Hanna
Ist alles gut?
Erinnerungen an Christian
Die Glühweinparty und Restless-Legs
Prosit Neujahr
Der erste Schnaps
Kein Verständnis
Die Mutter
Spielereien
Thomas
Kindheitserinnerungen
Psychoterror
Liebe, Enttäuschungen und Hoffnungen
André
Eine Trennung?
Verirrte Gefühle
Der Überfall
Ronny
Astronomie
Eine festgefahrene Liebe
Wohnungspolitik
Das Buch
Die Wende
Erhebende Momente
Die erste Schwärmerei
Das reale Leben
Epilog
Danksagung
Über den Autor
Ich danke dem Leben für die vielen Abwechslungen, die es mir bescherte. Langweilig war mein Leben nie. Dankbar bin ich für die vielen Menschen, die ich kennenlernen durfte. Dabei waren viele gute Menschen, die es ehrlich mit mir meinten. Aber ich lernte auch Menschen kennen, die nur auf ihren Vorteil bedacht waren. Sie waren alles, nur nicht ehrlich, jedenfalls nicht zu mir. Sie waren Lügner und manchmal sogar Kriminelle, in ihrem Handeln geschickt, sodass ich einigen von ihnen in ihre Falle ging. Leider traf ich solche Menschen nicht nur außerhalb meiner Familie. Es ist bezeichnend, dass ich nur noch zu einem Bruder und einer Schwester von meinen sieben Geschwistern Kontakt pflege. Doch diese beiden waren stets ehrlich zu mir, halfen mir in Zeiten der Not und das werde ich ihnen nie vergessen.
Während eines Lebens lernt man viele Bekannte und Freunde kennen. Mehr Bekannte als Freunde. Zweimal in meinem Leben hatte ich einen sogenannten „besten Freund“. Der eine entpuppte sich nach vielen Jahren als Anhänger der AFD, der andere missbrauchte mein Vertrauen auf das Übelste.
Im zweiten Fall bin ich heute der Meinung, dass es mir als Autor half, mich weiterzuentwickeln. Nach dem Bruch unserer Freundschaft stellte ich fest, dass er nicht lektorieren kann. Das schadete mir als Autor, denn vielleicht verlor ich durch ihn viele Leser. Beweisen kann ich das nicht, aber die Vermutung liegt nahe. Im guten Glauben an ihn veröffentlichte ich meine ersten Romane mit vielen Fehlern, die er als mein mir freiwillig angebotener Lektor nicht fand. Ein Autor findet oft seine eigenen Fehler nicht und muss sich auf seinen Lektor verlassen können, erst recht, wenn er ein Neuling ist. Es ist gut, dass ich literarisch nicht mehr mit ihm zusammenarbeite und somit andere Lektoren und Autoren kennenlernte, die mir ehrlich geholfen haben, mich als Autor weiterzuentwickeln. Meine bisher erschienenen Romane zog ich zurück, überarbeitete sie und veröffentlichte sie nochmals als Selfpublisher.
Aber wenn man stets an das Gute im Menschen glaubt, oft selbst naiv und blauäugig handelt, lernt man viele dieser falschen Freunde und Bekannte kennen. Trotzdem muss ich ihnen bescheinigen, dass sie mir auch Gutes brachten. Das werde ich ihnen nie vergessen, genauso, wie ich ihnen ihre Falschheit nicht vergessen werde. Nachtragend bin ich nicht, aber ich vergesse auch nichts. Jeder verdient eine zweite Chance. Nach diesem Motto handelte ich oft in meinem Leben. Trotz vieler Enttäuschungen habe ich das nicht bereut. Aber es gab in meinem Leben Menschen, denen ich keine zweite Chance einräumen werde. Erst recht nicht solchen, von denen ich glaubte, sie seien meine besten Freunde.
Ich bin dankbar für jeden Menschen, den ich in meinem Leben kennenlernen durfte. Egal, ob sie ehrlich zu mir waren oder mich enttäuschten. Sie alle trugen zu meiner Weiterentwicklung bei. Meine Achtung und meinen Respekt verdienen und erhalten die Menschen, die stets ehrlich zu mir waren, selbst dann, wenn sie mir mit ihrer Ehrlichkeit und Offenheit wehtaten. Aber damit bewahrten sie mich vor Fehler, die ich ohne sie mit Sicherheit begangen hätte. Und das alleine zählt für mich. Deshalb danke ich all diesen Menschen für ihre Offenheit, Ehrlichkeit, wohlgemeinte Kritik und all das, was sie für mich taten.
In dem vorliegenden Buch erzähle ich einige meiner Erlebnisse. Erlebnisse, die mich geprägt haben, die mich zu dem Menschen werden ließen, der ich heute bin. Ich bin Andreas Schneider.
Lutterbek, im Juli 2020, Michael Rusch
Andreas war mit sich und der Welt unzufrieden. Er hatte es zugelassen, dass Rosi und ihre Kinder und am Ende er selbst sein Leben zerstört hatten. Jetzt saß er in seinem kleinen Zimmer, welches für ihn Schlaf- und Arbeitsraum in einem war, an seinem Computer und hatte sich in das Internet eingeloggt. Mit einem PC zu arbeiten, war für ihn etwas vollkommen Neues, damit kannte er sich überhaupt nicht aus. Er suchte eine Plattform, von der er glaubte, dass es diese im Internet geben müsste.
So gab er in die Suchmaschine seines Computers immer wieder neue Wortverbindungen ein, mit denen er an sein Ziel zu kommen hoffte. Die Lösung dafür konnte doch nicht so schwierig sein.
Jedoch schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Sie setzten sich regelrecht in seinem Kopf fest. Ständig fragte er sich, warum sein Leben immer wieder negativ verlief, er stets aufs Neue vom Leben bestraft wurde, denn er glaubte, vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Jeder Mensch macht in seinem Leben Fehler. Auch Andreas tat das. Mit seinen Fehlentscheidungen machte er sich oft selbst sein Leben schwer. Deshalb war er ein unglücklicher Mensch. Er war bereits einundfünfzig Jahre alt und wollte endlich so leben, wie er es wollte und wie es für ihn richtig wäre. Andreas wurde ruhiger. Schließlich saß er nur noch gedankenschwer an seinem Schreibtisch. Voller Frust dachte er über die letzten Jahre seines Lebens nach, in denen er glücklich war. Und doch war er heute unglücklich.
Was war geschehen?
*****
Er war zweiundvierzig Jahre alt, als er Rosi kennenlernte. Sie war eine kleine, dralle Person, sehr nett und liebenswürdig, die zwei erwachsenen Söhne im Alter von zwanzig und siebzehn Jahren hatte.
Sie wurden gute Freunde und trafen sich regelmäßig alle vier Wochen in einer Gaststätte in der Nähe seiner Wohnung. Zu Silvester lud Rosi Andreas zu einer Party ein. Sie sagte, an so einem Abend sollte er nicht alleine sein. Tatsächlich lebte Andreas in jener Zeit allein und Rosi entwickelte für ihn zärtliche Gefühle, von denen er nichts ahnte.
Während der Silvesterparty, die in der Aula einer Schule stattfand, in der Rosi arbeitete, tanzten beide mehrmals miteinander. Während eines Tanzes näherte sie sich ihm auf eine Weise, in der er erkannte, dass sie mehr von ihm wollte, als er bereit war, ihr zu geben. Wie sollte er ihr sagen, dass er ihre Hoffnungen nicht erfüllen konnte, ohne ihr dabei wehzutun? Schließlich entschloss er sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Danach blieben sie Freunde.
An seinem Geburtstag im Mai stand Rosi mit einem großen Blumenstrauß in der Hand vor seiner Wohnungstür und lachte ihn fröhlich an. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und alles Gute, vor allem wünsche ich dir Gesundheit!“
„Danke. Das ist aber eine Überraschung.“ Andreas bat sie, in seine Wohnung zu kommen. Später gingen sie in einer Gaststätte essen. Dabei lernte er Rosis jüngeren Sohn und seine Freundin kennen. Andreas hatte selten so viel gelacht wie an diesem Abend.
Schließlich begleitete Rosi ihn nach Hause. Er war ihr für die schönen Stunden, die sie ihm geschenkt hatte, dankbar. Der Tag sollte noch nicht zu Ende gehen. Deshalb fragte er: „Kommst du auf einen Absacker mit hoch zu mir?“
Rosi stimmte zu. In dieser Nacht blieb sie bei ihm. Sie lagen in seinem Bett nebeneinander, doch als Rosi ihre Hand unter Andreas' Bettdecke schob, hielt er sie fest und schob sie mit der Bemerkung zurück: „Nein, Rosi, das geht nicht, ich kann das nicht.“
*****
Das folgende Wochenende verbrachten sie gemeinsam. Am Samstag gingen sie bei strahlendem Sonnenschein im Wald spazieren. Abends tranken sie auf Andreas‘ Balkon eine Flasche Wein. Als sie später schlafen gingen, schlich sich Rosis Hand erneut unter Andreas` Bettdecke. Doch wie schon am Abend zuvor, schob er sie zurück. „Bitte, Rosi, lass das!“
Aber Rosi ließ es nicht. Sie drehte sich zu Andreas und sah ihm ins Gesicht. Dabei schob sie ihre Hand etwas höher unter seine Bettdecke. Sie streichelte ihm über die Brust. Ihre Berührungen waren ihm angenehm. Sie streichelte seinen Körper. Rosis Hand glitt zärtlich über seinen Bauch. Dabei fühlte er seine Erregung und stöhnte leise auf, was Rosi ermutigte, sich mit ihrer Hand weiter vorzuarbeiten. Andreas ließ es geschehen und sie streichelte ihm über die Innenschenkel. Dort ließ sie ihre Hand ein wenig ruhen und beugte sich über ihn. Ihr Kopf näherte sich dem seinen. Ihre Lippen fanden sich. Sie küsste ihn zärtlich. Dabei streichelte sie weiterhin seinen Innenschenkel, danach sein Geschlechtsteil. Als sie seine Hoden berührte, nahm Andreas sie in seine Arme und erwiderte ihre Küsse voller Verlangen. Sein Penis richtete sich auf und Rosis Hand umschloss ihn und drückte ihn sanft. Er bäumte sich auf. Gegenseitig entkleideten sie sich.
Sie drückten ihre Körper aneinander und Andreas drang in Rosi ein. Sie liebten sich zunächst zärtlich, dann jedoch heftig, bis Rosi Explosionen in ihrem Körper verspürte, die sich wellenförmig ausbreiteten. Sie stöhnte auf. Andreas bemerkte, dass es in seinem Penis pulsierte. Er stieß ihn tief in Rosi hinein und erlebte seinen Höhepunkt. Danach ließ er sich erschöpft, aber glücklich auf Rosis Körper heruntergleiten. Dabei umarmte und küsste er sie zärtlich. Sie spielten mit ihren Zungen und langsam lösten sie sich voneinander und streichelten sich gegenseitig. Schließlich lächelten sie sich an, als wenn sie sagen wollten: „Siehst du, es geht doch und es war schön.“
Später schlief Rosi neben Andreas ein. Aber seine Gefühle waren in Aufruhr. Sex mit Rosi wollte er um jeden Preis vermeiden, trotzdem geschah es. Mit einem Mann wollte er Sex erleben, seit seiner Jugendzeit sehnte er sich danach. Mit Männern zu schlafen war für ihn die Erfüllung, aber leider fand er keinen Mann, der bereit war, mit ihm sein Leben zu teilen.
Andreas war durcheinander. Rosi war für ihn eine Freundin, nicht mehr und nicht weniger. Mit Frauen konnte und wollte er nicht zusammenleben. Andererseits hatte er beim Sex selten diese Erfüllung verspürt wie mit Rosi vor wenigen Minuten.
Er wusste, was sie wollte. Aber wollte er das auch? Er lebte viele Jahre allein und sehnte sich nach einem Partner, nach einem Mann.
Mitten in der Nacht stand er auf, ging in die Küche, schenkte sich einen Whisky ein und ging auf den Balkon. Er nippte an seinem Glas. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nicht, wie er sich zukünftig Rosi gegenüber verhalten sollte. Er schüttete den Rest des Whiskys in sich hinein und ging zurück ins Schlafzimmer. Irgendwann fiel er in einen unruhigen, nicht erholsamen Schlaf. Als er am Morgen erwachte, plagten ihn Schuldgefühle.
Trotzdem trennten sie sich von diesem Tage an nicht mehr. Andreas ging den Weg des geringsten Widerstandes. Zunächst überließ er sich Rosis Führung, weil er ihr nicht wehtun wollte. Es gefiel ihm, wie sie Probleme löste und er fühlte sich bei ihr wohl. Allmählich gewöhnte er sich an den Gedanken, sein restliches Leben mit ihr zu verbringen.
Später lernte Andreas Rosis Kinder besser kennen. Sie waren aufgeschlossene junge Männer, neugierig, wissensdurstig und standen dem Leben positiv gegenüber. Gemeinsame Gespräche über verschiedene Themen brachten sie einander näher. Jens und Steven nahmen Andreas liebevoll in ihre Familie auf.
Rosi war nicht reich, aber sparsam. Sie verdiente gut und wohnte in einem von ihr kürzlich erbauten Haus am Stadtrand. Obwohl Andreas gut leben wollte, würde er sich nie an jemanden binden, weil er sich daraus einen finanziellen Vorteil versprach.
Andreas gab seine Wohnung auf und zog zu Rosi. Sie schaffte es, dass er Männer nicht mehr vermisste. Er gab seine schwule Vergangenheit und damit seine eigene Sexualität auf. Er glaubte, als heterosexueller Mann leben zu können, und brach seine Kontakte zur Szene ab. So wurden Rosis Freunde auch seine.
*****
Die folgenden Jahre lebten sie glücklich und zufrieden zusammen. Das heißt: Rosi war glücklich und Andreas zufrieden. Er liebte Rosi nicht, aber er achtete und verehrte sie und ließ es sich gefallen, dass sie ihn liebte. So hätte er mit ihr bis an sein Lebensende leben können. Im Bett funktionierte es trotz seiner Homosexualität gut und sie verstanden sich.
Zweimal im Jahr fuhren sie in den Urlaub, zwei bis drei Mal in ein verlängertes Wochenende. Manchmal gingen sie in einer Gaststätte essen. Am Wochenende gingen sie spazieren oder ins Kino. Regelmäßig trafen sie sich mit Freunden, mit Rosis Freunden. Sie wussten, warum sie arbeiteten, und genossen das Leben.
Doch manchmal wurde ihr Glück durch Rosis Kinder gestört. Sie provozierten, verspotteten und veralberten Andreas des Öfteren. Das ließ dieser sich nicht gefallen. Manchmal brachte der jüngere Sohn seine Freundin Anne mit nach Hause, die Andreas offen zeigte, dass sie keine oder nur mangelhafte Achtung vor ihm hatte. In der Folge kam es zwischen ihm und Rosis Kindern mehrmals zum Streit. Manchmal sprachen sie danach wochenlang nicht mit Andreas.
In solchen Situationen verteidigte Rosi grundsätzlich ihre Kinder. Nie stand sie zu Andreas, wenn er einen Streit mit ihnen ausfechten musste. Rosis Argumente hörten sich plausibel an, obwohl sie falsch waren. Aber er war nicht in der Lage, ihre Einwände zu widerlegen. Es gelang Rosi immer wieder, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn ihre Kinder sich mit ihm stritten, obwohl er wusste, dass er im Recht war. Eines Tages war Andreas nicht mehr bereit, das hinzunehmen.
Endlich, nach acht Jahren hatte Andreas an den Weihnachtsfeiertagen wieder einmal frei. Um Rosi zu entlasten, übernahm er an den Festtagen das Kochen.
An Heiligabend sollte es Soljanka geben. Steven und Anne freuten sich vor den Feiertagen darauf. Als am 24. Dezember Rosis Kinder erschienen, ging Steven sofort in die Küche, um sich nach dem Mittagessen zu erkundigen.
Seit Steven mit Anne zusammen lebte, veränderte er sich zu seinem Nachteil. Er wurde streitsüchtig und frech. Oft handelte er unüberlegt. Beide bewiesen immer wieder, wie unreif sie waren. Am heiligen Tag stellten sie das ein weiteres Mal unter Beweis, indem sie vor dem Mittagessen für einen Familienstreit sorgten. Anne schrie aus nichtigem Anlass Andreas an, der sich das nicht gefallen ließ. Rosi stellte sich ein weiteres Mal auf die Seite ihrer Kinder. Andreas fühlte sich einmal zu viel von ihr im Stich gelassen und verlor sein Vertrauen in sie. Wie es mit ihnen weitergehen sollte, wusste er nicht.
Seitdem regten sich in ihm alte Erinnerungen, die er schon längst begraben hatte. Seit er mit Rosi zusammen lebte, musste er nicht mehr an Männer denken. Energisch wischte er diese Gedanken beiseite und versuchte mit Gewalt, an etwas anderes zu denken. Etwa an schöne Urlaubstage, die er mit Rosi erlebt hatte. Doch die Erinnerungen an seine schwule Vergangenheit kehrten immer wieder zurück. Er war machtlos dagegen.
Das Verhältnis zu Rosis Kindern blieb gespannt. Immer wieder kam es zu Streitigkeiten und Rosi ergriff jedes Mal Partei für ihre Kinder.
So drängten sich Andreas immer öfter Gedanken auf, die er verhindern wollte. Er zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und machte es sich im Kinderzimmer bequem.
Eines Abends fand Andreas, was er im Internet gesucht hatte. Er stieß auf Gayboerse, registrierte sich und machte sich mit der Plattform vertraut. Es wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr mit Rosi zusammenleben konnte. Wie so oft im Leben half ihm der Zufall, das Rosi mitzuteilen.
Rosi hatte ein Enkelkind, die Andreas sehr liebte. Im Oktober besuchte es sie. Als sich Andreas von dem Kind verabschiedete, brach es ihm das Herz. In diesem Moment glaubte er, er werde dieses Kind nie wieder sehen. Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn, er musste weinen.
Als er mit Rosi allein war, ließ sich ein klärendes Gespräch nicht mehr umgehen. Rosi wollte wissen, warum er weinte. Andreas versuchte ihr schonend beizubringen, dass er sich von ihr trennen werde.
Sie hatte mit allem gerechnet, aber damit nicht. Sie war enttäuscht und traurig. Später einigten sie sich darauf, dass Andreas im Kinderzimmer wohnen durfte, bis er eine eigene Wohnung fand.
Am 17. November 2010 fand Andreas im Chat den Mann, in den er sich haltlos verliebte. Mit ihm verbrachte er im Chat schöne und glückliche Momente, aber auch schwere Stunden und Tage. Das beeinflusste Andreas' reales Leben deutlich. Es hatte Auswirkungen auf sein Denken und Handeln.
Andreas saß kurz nach Mitternacht am Computer und loggte sich auf Gayboerse in den Chat ein. In der Besucherliste fand er mehrere User, die sein Profil aufgerufen hatten. Darunter befand sich Chatpartner, der sechzehn Jahre jünger war als Andreas, der jüngere Männer mochte. Andreas schrieb ihm eine Message: „Hi, gar nicht nett von dir, mich zu besuchen und mir keine Nachricht zu hinterlassen. Vielleicht meldest du dich einmal, wenn du Interesse daran hast. Liebe Grüße Andreas.“
Am nächsten Tag meldete sich Andreas am Vormittag im Chat an. Gegen Mittag antwortete Chatpartner ihm: „Hi, Andreas! Sorry, ich bin neu hier auf der Plattform und muss mich erst einmal zurechtfinden. Und so sicher bin ich mit dem Computer noch nicht. Ich bin gespannt, ob du meine Nachricht erhältst oder ob ich einen Fehler gemacht habe.“
Andreas schrieb gleich zurück: „Nun mal langsam, es wird schon. Nimm dir einfach die Zeit, die du brauchst.“
„Hurra, du hast es lesen können! Schon mein erster Erfolg.“
Jetzt dachte Andreas: „Der ist ja niedlich, freut sich, als wenn er etwas Gutes vollbracht hätte. Aber wenn er sich nicht mit Computern auskennt und neu im Chat ist, kann ich ihn verstehen. Wie habe ich mal angefangen, darf gar nicht daran denken!“ Aber er antwortete: „Es wird weitere Erfolge geben.“
Chatpartner fragte: „Bist du eigentlich oft im Chat? Ich habe in meinem Profil etwas geändert, ich suche keine Beziehung, sondern nur Partner zum Quatschen. So kann man vielleicht über vieles reden. Bist du in einer Beziehung?“
Andreas war enttäuscht. Weil Chatpartner in seinem Profil angab, eine Beziehung zu suchen, hatte er ihm geschrieben. Andreas wollte eine neue Beziehung aufbauen, und zwar mit einem jüngeren Mann. Er schrieb: „Ich bin zurzeit solo, suche aber einen Mann, mit dem ich eine Beziehung eingehen kann.
Ich bin fast jeden Tag im Chat, also du kannst mich immer, wenn ich on bin, anschreiben, wenn ich helfen kann, tue ich es gerne. So, aber jetzt muss ich zur Arbeit. Liebe Grüße Andreas.“
Nach seinem Spätdienst fuhr Andreas sofort nach Hause. Noch wohnte er bei Rosi. In seinem Zimmer loggte er sich auf Gayboerse ein und wurde nicht enttäuscht. Er hatte eine Message von Chatpartner erhalten: „Guten Abend, Andreas. Ich denke, es wird schon spät sein, wenn du von der Arbeit zurück bist. Wie war dein Tag? Ich habe mir deine Profilbilder angesehen. Du siehst sehr nachdenklich aus. Hat das einen tieferen Grund? Falls wir uns heute am Abend nicht mehr hören, bis zum nächsten Mal. Gute Nacht.“
Andreas freute sich über diese Nachricht. Chatpartner schien ein intelligenter Mensch und ein aufmerksamer Beobachter zu sein. Andreas betrachtete die Fotos, die er den Besuchern seines Profils zeigte. Auf einem Bild sah er einen Mann zwischen Mitte vierzig und Anfang fünfzig. Er trug einen Vollbart und eine Brille mit halben Rand. Der Bart begann zu ergrauen. Die Haare waren kurz geschnit-ten. Der Mann saß auf einer Couch, sah nach rechts, sein Blick ging nach unten. Er lächelte nicht, sondern war sehr ernst.
„Dieses Bild hat er gemeint“, dachte Andreas. Er antwortete: „Du hast gut beobachtet, im letzten Bild bin ich wirklich nachdenklich, da habe ich über meine Zukunft nachgedacht, wie ich am besten erreichen kann, was ich mir vorgenommen habe. Auch dir eine gute Nacht. Es grüßt dich lieb Andreas.“
Am nächsten Tag konnte sich Andreas erst am späten Nachmittag in den Chat einloggen. Er hatte von Chatpartner eine Antwort erhalten. Er schrieb: „Guten Morgen, na, alles in Ordnung?
Was heißt über deine Zukunft nachdenken? Drehst du dich im Kreis? Hast du Veränderungen vor? Willst du dich aus Rostock verabschieden? Arbeitsprobleme?
Es ist scheiße, wenn man den Kopf nicht frei hat. Da hilft viel reden.
Was hast du dir vorgenommen? Bis später……“
Andreas antwortete: „Es ist eine komplizierte Geschichte, die du verstehen kannst, wenn du meine Lebensgeschichte kennst.
Ich werde nie mehr aus Rostock weggehen, ich habe es einmal gemacht und war ein Dreivierteljahr später wieder zurück, weil ich mich außerhalb von Rostock nicht wohlfühle, außer bei Urlaubsreisen.
Und vorgenommen habe ich mir, mich nicht mehr von anderen Leuten beeinflussen zu lassen, insbesondere nicht von meinen Geschwistern. Ich will endlich so leben, wie es gut für mich ist. Um das zu können, musste ich einigen mir sehr wichtigen Menschen sehr wehtun. Das bedrückt mich schon. Aber was soll‘s, jeder lebt nur einmal und ich möchte nicht mehr mein Leben träumen, sondern meinen Traum leben.
Das ist alles. Vielleicht treffen wir uns im Chat. Bis dahin viele liebe Grüße! Andreas.“
Als für andere Menschen in ganz Deutschland das Abendprogramm im Fernsehen begann, chatteten Andreas und Chatpartner erneut fast eine Stunde miteinander. Andreas hatte dessen Profil gespeichert und wurde somit vom System informiert, wenn Chatpartner sich einloggte.
Andreas hoffte, dass sie oft miteinander chatten und sich vielleicht einmal persönlich treffen konnten. „Hallo, mein Freund, ich wünsche dir einen guten Abend und hoffe, dass du einen schönen Tag hattest.“
Nach drei Minuten war die Antwort da: „Kann nicht klagen, wenn man vom Wetter absieht. Das mit deinen Geschwistern hört sich nicht gut an. Aber du hast auch Menschen, die dir viel bedeuten, oder? Vielleicht doch eine Beziehung? Du kannst ruhig ehrlich sein. Wo warst du außerhalb von Rostock?“
Andreas brauchte nur drei Minuten für seine Antwort. Alle Fragen Chatpartners wollte er nicht beantworten. Er kannte diesen Mann nicht und wollte nicht zu viel von sich erzählen. „Warum fragt er schon wieder, ob ich eine Beziehung habe?“, dachte Andreas und antwortete: „Ich war in Gotha, aber auch das ist eine blöde Geschichte, die viel zu lang für den Chat ist. :=) grins“.
„Du bist wohl bloß von blöden Geschichten oder negativen Einflüssen umgeben. Gibt es auch schöne Sachen in deinem Leben? Wie ist es nun mit einer Beziehung? Traust du dich nicht, dich dazu zu äußern?“
„Ich habe mich gerade getrennt und bin auf Wohnungssuche. Ich suche wieder eine neue Beziehung, aber diesmal bleibt jeder dort wohnen, wo er wohnt. Gegenseitige Besuche und Übernachtungen sind aber erwünscht. Ja, ich habe in meinem bisherigen Leben wirklich viel Schlechtes erfahren müssen, aber ich habe den Optimismus nicht verloren, da ich auch viel Schönes erlebt habe. Und du suchst nun doch keine Beziehung? Deshalb hatte ich dich angeschrieben.“
„Ich bin noch zu keiner neuen Beziehung bereit. Ich kann auch noch nicht darüber reden. Vielleicht später mal, wenn ich Abstand gewonnen habe. Darum tun mir solche Gespräche im Chat mit dir gut. Warten wir ab, was wird. Ich bin momentan alleine, kann aber noch nicht loslassen. Ich muss erst meine innere Ruhe wieder finden. Da du dich gerade getrennt hast, kannst du mich vielleicht gut verstehen. Trotz Trennung kann ich damit aber noch nicht so richtig umgehen. Denke immer an die schönen Zeiten zurück. Es ist nicht einfach. Wie gehst du damit um?“
„Hier ist mir ja ein Sensibelchen vor die Tastatur gekommen. Hinter seiner ganzen Fragerei versteckt er einen Haufen eigener Probleme, mit denen er nicht alleine fertig wird“, dachte Andreas. Er überlegte, was er antworten sollte. Er fürchtete, wenn er die richtigen Worte nicht fand, dass vielleicht doch eine Chance vergeben würde.
Für seine Antwort brauchte er neunzehn Minuten: „Bei mir ist es ganz anders. Ich habe mich getrennt, damit ich so leben kann, wie ich es will. Ich hätte es schon vor dreißig Jahren tun sollen. Ich habe oft genug versucht, in der Schwulenszene Fuß zu fassen, aber immer wieder erfolglos. Aber jeder lebt nur einmal, und auch ich habe ein Recht darauf, so zu leben, wie meine Natur es mir vorgibt. Ich habe im Moment den Arsch voller Probleme, fühle mich aber trotzdem befreit. Ich weiß, wenn ich meine Wohnung habe, wird sich alles regeln. Dann komme ich wieder zur Ruhe.
Dass du nach einer Trennung von einem Partner, mit dem du lange Zeit glücklich warst, erst Abstand gewinnen musst und nicht gleich darüber reden kannst, kann ich gut verstehen. Wenn ich dir helfen kann, sage mir Bescheid. Ich tue es gerne.
Ich habe mich immer in die falschen Männer verliebt. So viele waren es nicht, aber an zwei kann ich mich sehr gut erinnern. Das eine war einseitige Liebe, vierzehn lange Jahre. Als ich ihm endlich meine Liebe gestand, weil ich nicht mehr anders konnte, hat er mich beschimpft und beleidigt. Aber ich habe ihm das sagen müssen, sonst wäre ich nicht von ihm losgekommen. Und der Zweite liegt noch in meiner Jugendzeit.
Und als ich mich jetzt das dritte Mal verliebt habe, hat er mich sitzen lassen, weil er mir gesagt hatte, dass ich mich nicht in ihn verlieben darf. Aber ich hatte den besten Sex meines Lebens mit ihm, wie hätte ich mich nicht verlieben können? Denn ich bin ein Mensch voller Emotionen.“
Andreas war fast fertig mit seiner Nachricht, als er von Chatpartner eine weitere Message erhielt. Er wollte nur zu Ende schreiben und seine Antwort abschicken, um die Message zu lesen. Da bemerkte er, dass Chatpartner ausgeloggt war. Andreas war enttäuscht, schickte seine Nachricht aber trotzdem ab. Er öffnete Chatpartners Mail. „Sorry, Andreas, muss mich jetzt verabschieden. Ich bekomme gleich Besuch auf ein Bierchen am Abend. Vielleicht melde ich mich später noch einmal. Falls es doch zu spät wird, hören wir uns morgen vielleicht. Mach‘s gut und schlafe schön, träume mal zur Abwechslung von schönen Dingen. Bis später.“
Als er später im Bett lag, ließen ihn seine Gedanken nicht schlafen. Er wollte offen schwul leben. Für Andreas war das der einzige und richtige Weg, um wieder mit sich und der Umwelt ins Reine zu kommen. Wie hätte er sonst sein Leben gestalten können? Gerade jetzt, nach seinen Erfahrungen mit Rosi und ihren Kindern.
Doch seine Gedanken schweiften in seine Vergangenheit ab, bis in seine frühe Jugendzeit zurück.
Andreas interessierte sich für junge Männer des Sportvereines, in dem er ehrenamtlich tätig war. Mit ihnen über seine Gefühle reden, verbot sich für ihn von selbst. Als es das erste Mal in seinem Bauch kribbelte, weil er sich in einen Jungen verliebt hatte, wusste er nicht, dass er verliebt war. Es war für ihn nicht normal. Er litt darunter, weil er nicht verstand, was mit ihm geschah.
Andreas kannte keinen Menschen, dem er sich anvertrauen konnte. In den Nächten hatte er nicht, wie die anderen Jungen in seinem Alter, von einem nackten Mädchen geträumt. Nicht deshalb war er mit einem feuchten Fleck in der Schlafanzughose aufgewacht, wie es viele von seinen Freunden erzählten. Auch er hatte feuchte Träume. Doch in seinen Träumen liefen nackte Jungen umher. Einer war schöner als der andere. Andreas war vierzehn Jahre alt und kannte niemanden, dem es ähnlich erging und fühlte sich damit nicht wohl. Wenn seine Gedanken zu Jungen abschweiften, die ihm gefielen und er sich vorzustellen begann, was er mit ihnen erleben könnte, ver-suchte er, diese Gedanken zu unterdrücken. Das funktionierte aber nur, bis er einen Jungen auf der Straße sah, den er für schön befand. Dann merkte er, wie es in seinem Bauch zu kribbeln begann.
Wenn ihm das passierte, verstand sich Andreas selbst nicht mehr. „Das geht doch nicht, dass ich auf einen Jungen reagiere, wie ich auf ein Mädchen reagieren sollte. Ich bin nicht normal. Irgendetwas stimmt mit mir nicht“, so dachte er in solchen Augenblicken.
Auf den Gedanken, dass er schwul sein könnte, kam er nicht. Niemand hatte ihm erzählt, dass es schwule Männer gab. Über das Thema Homosexualität wurde in seiner Welt nicht gesprochen. Freilich erzählten einige Erwachsene manchmal von Arschfickern, denen sie es gezeigt hätten. Diese „perversen Schweine“ wurden verprügelt, weil sie sich getraut hatten, sich auf offener Straße zu küssen oder an den Händen zu halten, oder sich anders kleideten als andere Männer.
Andreas konnte sich nicht vorstellen, dass es möglich war, mit einem Jungen Geschlechtsverkehr zu haben. Analverkehr kannte er in seinem Alter noch nicht. In seinen kühnsten Fantasien befand er sich mit einem schönen Jungen auf einer einsamen Insel, beide nackt.
Wenn er abends im Bett lag, stellte er sich vor, dass der Junge zu ihm kam und sich ganz dicht neben ihn setzte. Andreas legte ihm seinen Arm um die Schulter. In seiner Fantasie fühlte er die nackte Haut des Jungen. Das erregte ihn. Irgendwann fielen sie in den weichen Sand und Andreas legte sich halb auf diesen Jungen und sah ihm ins Gesicht. Der Junge lächelte ihn an, was Andreas Mut machte, sich ihm weiter zu nähern, und schließlich stellte er sich vor, dass er den Jungen küsste. Zunächst waren diese Küsse sanft und zärtlich. Er streichelte dem Jungen in seiner Fantasie über das Haar, später über das Gesicht und danach über den Körper abwärts, bis er seine Genitalien berührte.
Weiter kam er in seiner Fantasie nicht, weil sich seine Erregung an dieser Stelle entlud. Er hatte sich selbst gestreichelt, seinen Körper und sein steifes Glied. Wenn ihm das passierte, war es ihm jedes Mal peinlich und er zog sich seine Schlafanzughose aus und versteckte sie, bis sie wieder trocken war. Seine Mutter sollte davon nichts bemerken, wenn sie am Morgen das Bett machte.
Als Andreas sechzehn Jahre alt war, hatte er ein Erlebnis, dass sein Leben nachhaltig beeinflusste. Dieses Erlebnis sorgte dafür, dass er nie zu seiner Homosexualität stand. Damit verzichtete er auf das Recht auf Liebe. Viele Jahre später stellte er fest, dass er sein Leben bis dahin falsch gelebt hatte.
Selbstverständlich erlebte er auch schöne und glückliche Stunden in seinem Leben und oft war er mit sich und der Welt zufrieden, aber glücklich war er nie. Sehr oft war er sogar unglücklich.
Bisher hatte er sich in seinem Leben vier Mal in einen Mann verliebt, aber seine Liebe wurde nie erwidert. Er sehnte sich danach, ein Mal erleben zu dürfen, einen Mann zu lieben und von ihm wieder geliebt zu werden. Beinahe jeder Mensch wünscht sich so etwas, aber Andreas hatte es nie erlebt. Entweder liebte ihn eine Frau, die er nicht lieben konnte, oder er hatte sich in einen Mann verliebt, der ihn nicht lieben konnte. Nur einmal war das anders. Thomas hatte sich in ihn verliebt, auch Andreas liebte ihn, aber er konnte zu dieser Zeit nicht zu Thomas stehen. Wie hätte er damit glücklich und zufrieden sein sollen?
Im Jahre 1975 verbrachte Andreas an einem schönen und warmen Sommertag nach einem langen Tag in der Schule und auf dem Fußballplatz den Abend mit Freunden in der Sternwarte. Zuhause hielt ihn nichts, da sein Vater ein Trinker war, der seine Kinder psychisch misshandelte. Deshalb versuchte er, so oft es ging, spät abends nach Hause zu kommen, um Streitereien mit seinem Vater aus dem Wege zu gehen. So trat er in der siebten Klasse einer Gruppe junger Astronomen bei und ein Jahr später begann er seine Trainerlaufbahn. Auf dem Heimweg ging er mit einigen seiner Freunde am alten Friedhof vorbei. Thoralf und Paul waren dabei, Andreas' Freundin Petra und die Mitschülerin Christel. Es war fast zwanzig Uhr. Doch keiner der jungen Leute wollte nach Hause gehen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Thoralf.
Paul sagte: „Wir gehen zu den alten Gräbern und vertreiben uns da die Zeit. Vielleicht sind die anderen auch noch da.“ Der alte Friedhof wurde schon viele Jahre nicht mehr für Bestattungen genutzt. Er war ein Treffpunkt für Jugendliche. Keinen Menschen interessierte es, wenn sie dort ihre Freizeit verbrachten. Die alten Gräber wurden nicht mehr gepflegt und waren verwildert. Andreas konnte sich nicht daran erinnern, dass außer ihnen überhaupt jemand in die Nähe eines Grabes kam.
Schon von Weitem sahen sie zwei ihrer Freunde auf kleinen Grabsteinen sitzen und Zigaretten rauchen. Als Andreas mit seiner Gruppe zu ihnen stieß, begrüßten sie sich mit einem lauten Hallo. Fiete und Pit freuten sich, dass sie nicht mehr alleine abhängen mussten. Thoralf holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und bot sie den anderen an. Während sie rauchten, überlegten sie, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen sollten, als sie aus der Ferne laute Rufe und Gebrüll vernahmen. Noch nie gab es zu dieser Zeit an diesem Ort so einen Lärm. Selbst am Tage war es hier stets friedlich und still. Nicht einmal Andreas' Freundeskreis, der fast seine ganze Freizeit dort verbrachte, verursachte solch einen Radau. Irgendwie hatten sie doch Respekt vor der Totenruhe, auch wenn niemand es zugegeben hätte.
Der Lärm kam näher. Die Freunde beschlich ein ungutes Gefühl. Noch konnten sie nichts sehen, denn die Bäume und Sträucher versperrten ihnen die Sicht. Außerdem dämmerte es. Fragend sahen sie sich an: Was sollten sie tun?
„Abhauen?“, fragte Paul. Der Lärm kam näher. Thoralf meinte, dass es das Vernünftigste sei, denn was an ihre Ohren drang, machte ihnen Angst. Pit kannte sich gut auf dem alten Friedhof aus und sagte: „Lasst uns sicherheitshalber zum verrosteten Zaun gehen, von da aus können wir schnell weglaufen, wenn es sein muss.“
Die Jugendlichen folgten Pit und ließen sich von ihm führen. Plötzlich hetzten ihnen drei junge Männer entgegen. Sie trugen hautenge Jeans und enganliegende T-Shirts, die ihre Oberkörper betonten. Aus ihren Gesäßtaschen hingen einfarbige Tücher heraus. Trotz des warmen Wetters zierten bunte Tücher ihren Hals. Ihre Gesichter waren angstverzerrt. Von ihnen ging keine Gefahr aus, sie brauchten Hilfe.
„Haut bloß schnell ab!“, rief einer der Männer ihnen entgegen. Und dann sahen sie auch den Grund für diesen Ausruf. Hinter ihnen rannte eine größere Gruppe mit Messern und Stöcken bewaffneter junger Männer. Was hier vorging, war offensichtlich. Die drei Männer wurden von der Gruppe verfolgt. Andreas sah, dass die Verfolger sich trennten. Drei Männer versuchten, den Flüchtenden auf der rechten Seite den Weg abzuschneiden. Drei andere versuchten es links von ihnen. Ein weiterer Verfolger, ein großer, muskulöser und angsteinflößender Kerl, sprang über die alten Gräber hinweg. Schnell kam er den Flüchtenden näher. Andreas bekam Angst, Angst um sich, seine Freunde und die drei Fremden. Pit rief ihnen zu: „Kommt hierher! Schnell!“
Die drei überlegten nicht, sondern folgten Pit. „Mir nach!“, rief dieser. Er kannte sich auf dem Alten Friedhof wie zu Hause aus. Er war der Jüngste und Kleinste in ihrer Gruppe und verbrachte hier mehr Zeit als alle anderen. Wenn er keine Lust auf Schule hatte, erwachte sein Abenteuersinn und er erkundete die Umgebung der alten Gräber.
Plötzlich verließ er den Weg nach links und lief auf einen großen Busch zu. Andreas sah aus seinem Blickwinkel, dass der große Kerl, der über die Gräber sprang, sie bald eingeholt hatte. Meter um Meter holte er auf. Die Freunde stürzten Pit hinterher. Nach etwa zwanzig Metern lief der plötzlich nach rechts. Auch hier gab es keinen erkennbaren Weg. Sie folgten ihm etwa fünfzig Meter, bis sie vor einem Grab standen, das einen Weg nach rechts freigab, dem sie knapp siebzig Meter folgten. Andreas wusste nicht, wo Pit sie hinführte. Am Ende des Weges befand sich undurchdringliches Gestrüpp. Andreas fürchtete, dass sie in einer Falle saßen. Doch Pit rief ihnen entgegen: „Schnell, da rein!“
Und schon kroch er auf den Boden durch ein Loch in das dichte Buschwerk hinein, die anderen krochen ihm nach. Dunkelheit umfing sie. Nach etwa zehn Metern wurde es wieder heller und sie kamen aus dem Dickicht heraus. Andreas drehte sich um und sah eine lange, grüne, aus Sträuchern bestehende Wand, an der sie der untergehenden Sonne entgegenliefen. Endlich erreichten sie eine Mauer, die Pit mühelos übersprang, obwohl sie ihn um einige Zentimeter überragte. Seine Freunde eilten ihm hinterher. Die Jungen halfen den Mädchen, die Mauer zu überwinden.
„Wo sind wir hier?“, fragte Christel, als sie vor einem Betonbunker standen. Pit, der seine Ruhe wiedergefunden hatte, antwortete: „Kommt hier herein.“ Sie folgten ihm in den Betonklotz. „Kein Mensch vermutet uns hier“, sagte Pit.
Allmählich fiel die Anspannung von ihnen ab. Einer der drei Fremden sah Pit ins Gesicht und sagte: „Danke, Kleiner. Ohne dich hätten wir das nicht geschafft.“ Erleichtert setzte er sich auf eine Holzkiste, von denen mehrere im Raum standen.
„Was war da los?“, wollte Thoralf wissen.
„Die haben uns verfolgt“, sagte einer der drei.
„Aber warum?“, fragte Petra.
Nun sahen sie, dass einer der drei Fremden geschminkt war. Paul war es, der direkt fragte: „Seid ihr schwul und deshalb haben die euch gejagt?“
Der Geschminkte bejahte diese Frage.
Thoralf sagte nicht freundlich: „Da müsst ihr euch nicht wundern, so, wie ihr rumrennt“, und an den Geschminkten gewandt, meinte er: „Und du besonders.“
Christel beruhigte die Gemüter, indem sie sagte: „Endlich mal Männer mit Geschmack. Sie sehen doch süß aus.“
In der Tat sahen die drei Jugendlichen gut aus. Andreas musste sich zwingen, sie nicht ständig anzustarren. Trotzdem achtete er darauf, dass seine Freunde ihn nicht beobachteten.
Fiete sah Christel mit einem breiten Grinsen an und erwiderte: „Nur, dass sie von dir nichts wissen wollen.“
Plötzlich fragte der Geschminkte: „Wo ist eigentlich Daniel geblieben?“ Er sah sich im Raum um. Unruhe entstand. Einer seiner Freunde fluchte: „Scheiße!“ Tränen stiegen ihm in die Augen.
Andreas verfolgte alles wie aus weiter Ferne. Den anderen fiel nicht auf, dass er mit sich kämpfte. Zu gerne hätte er mit den Dreien gesprochen, ihnen seine Fragen, die ihn schon seit langer Zeit quälten, gestellt. Zwei Gründe verboten ihm das. Seine Freunde waren dabei, er wollte nicht, dass sie wussten, was ihn bewegte. Außerdem verbot es sich in diesem Moment von selbst, als sie sich Sorgen um einen ihrer Freunde machten. Andreas wollte sie an einem anderen Tag auf dem alten Friedhof suchen, sie würden bestimmt wieder einmal hier sein. Er war verzweifelt. Das Schicksal führte ihm drei dieser Männer, von denen er sich Antworten auf all seine Fragen erhoffte, über den Weg und er konnte nicht mit ihnen reden!
Wenige Zeit später verließen sie ihr Versteck und traten den Heimweg an. Als Andreas zu Hause war, ging er sofort in sein Zimmer. Er hatte keinen Hunger und keine Lust, sich zu waschen. Er zog sich aus und legte sich in sein Bett. Doch schlafen konnte er nicht. Er musste immer wieder an den vergangenen Abend denken und haderte mit seinem Schicksal. Es ärgerte ihn, dass er nicht mit den drei jungen schwulen Männern sprechen konnte.
Am nächsten Tag las Andreas in der Zeitung, dass es auf dem alten Friedhof zu einer Schlägerei gekommen sei. Ein junger Mann sei schwer verletzt ins Krankenhaus eingewiesen worden. Von den Tätern fehlte jede Spur, die Polizei ermittelte.
Dieses Erlebnis sorgte dafür, dass Andreas keiner Menschenseele jemals erzählte, was er fühlte, wenn er mit anderen männlichen Jugendlichen zusammen war. Daran hielt er sich viele Jahre.
Am nächsten Morgen sendete Andreas eine Message an Chatpartner, er wollte seinen Namen erfahren. Da er Zeit hatte, wartete er auf ihn. Und tatsächlich bekam er nach ein paar Minuten eine Antwort, über die Andreas sich freute.
Andreas chattete prinzipiell nicht mit Usern, die kein Foto von sich in ihrem Profil hochgeladen hatten. Auch Chatpartner hatte das nicht, trotzdem brach Andreas den Chat mit ihm nicht ab. Er fühlte, dass sie etwas miteinander verband. Was das war, wusste er nicht. Andreas glaubte, dass Chatpartner ein sensibeler Mensch sein musste. Er las seine Nachricht: „Hallo Andreas. Der Abend war zwar schön, aber auch wieder sehr emotional. Auch wenn man über die vergangene Beziehung spricht, kommt alles noch einmal hoch. Und Liebe kann man nicht einfach abstellen. Auch wenn Freunde mich ablenken wollen, kommt man immer wieder auf dasselbe Thema und schon ist man wieder drin.
Wie gehst du mit deiner Trennung um?
Was heißt neue Wohnung? Wo wohnst du denn jetzt?
Der mit dem besten Sex deines Lebens war deine Beziehung?
Gruß Silvio.“
Andreas dachte: „Schon wieder stellt er mir so viele Fragen, aus meiner Antwort ist wohl nicht hervorgegangen, dass ich mit einer Frau zusammengelebt habe.“ So schrieb er wieder eine lange Antwort: „Hallo, Silvio, woran liegt es nur, dass wir beide zur gleichen Zeit Ähnliches durchmachen?
Ich bin zurzeit auch innerlich unruhig, deshalb kann ich auch nicht gut schlafen. Vielleicht vier Stunden in der Nacht, dann bin ich wieder wach. Hier im Chat lernt man zwar viele Arschlöcher kennen, aber auch gute Menschen. Ich habe hier jemanden gefunden, der mir viel Halt und Zuversicht gegeben hat. Wir kennen uns nicht persönlich, nur hier im Chat. Aber er hat mir geholfen, meine Situation realistischer zu sehen, und nun bin ich etwas entspannter und optimistischer.
Du musst über deine Trennung mit deinen Freunden reden, und wenn dir die Tränen kommen, schäme dich nicht dafür. Lass es raus. Nur so kannst du die Trennung von deinem Freund verarbeiten. Wenn du alles in dich hineinfrisst, wie man so schön sagt, wirst du nicht fähig sein, eine neue Beziehung aufzubauen, und um alleine zu bleiben, bist du zu jung. Außerdem wird man verbittert und unzufrieden, vor allem mit sich selbst. Irgendwann wirst du dir Selbstvorwürfe machen und das ist nicht gut. Das wäre der sichere Weg in Depressionen zu verfallen und krank zu werden.
Also, Silvio, rede darüber mit Freunden und lasse deine Gefühle raus. Ich spüre, du bist ein guter und liebevoller Mensch. Lasse es nicht zu, dass es anders wird, und gehe, wenn du alles verarbeitet hast, eine neue Beziehung ein, damit auch du wieder Liebe empfangen kannst.
Ich habe mich von einer Frau getrennt, mit der ich mich dummerweise vor acht Jahren eingelassen habe. Sie wusste, dass ich schwul bin. Ich achte sie sehr, und ich habe ihr sehr weh getan. Noch wohne ich bei ihr, eine passende Wohnung zu finden ist nicht so einfach.
Der mit dem besten Sex ist der gewesen, in den ich mich wieder haltlos verliebt habe. Ich hätte es aber nicht tun dürfen. Deshalb ist auch das jetzt wieder beendet. Es tut weh, aber ich lasse mich nicht unterkriegen.
Das Leben geht weiter und ich will leben, lieben und geliebt werden. Das Gleiche wünsche ich dir auch. Du solltest es dir ebenso wünschen.“
Andreas schickte die Message ab. Wie naiv er sich im Internet verhielt, ahnte er nicht. Außerdem legte er in seine Antwort an Silvio eigene Wünsche und Erwartungen hinein. Aber die konnte er nicht auf ihn übertragen.
Nach zwanzig Minuten las er Silvios Antwort: „Hi, Andreas, es ist schön, dass du jemanden gefunden hast, der dir im Chat hilft. Darauf habe ich auch gehofft. Ich habe meinen Partner geliebt und ich liebe ihn immer noch, glaube ich. Es tut weh, wenn ich an ihn denke. Er war mein Leben. Das Thema neue Beziehung schiebe ich erst einmal weg. Ich muss versuchen, innerlich zur Ruhe zu kommen. Das ist nicht so einfach. Ich habe Angst davor, ihn plötzlich zu sehen. Wie verhalte ich mich dann? Ich weiß es nicht.
Du hast mit einer Frau zusammengelebt? Das ging? Das geht jetzt noch gut, wenn du sie jeden Tag siehst? Wie verkraftet sie es? Eigentlich ist sie in so einer Situation wie ich. Wir wurden verlassen. Wie hast du es geschafft, ihr das alles zu erklären? Liebt sie dich noch oder hasst sie dich? Du hast doch noch kein Messer in der Brust? Habt ihr Kinder zusammen? Wie gehen die damit um?
Ich wünsche mir sehr, dass dein letzter Satz in Erfüllung geht.
Liebe Grüße! Silvio.“
Andreas war von dem Mann überrascht. Er hatte Humor. Obwohl er genug eigene Probleme hatte, dachte er trotzdem an andere Menschen. In diesem Fall an Rosi und Andreas, was seine vielen erneuten Fragen bewiesen. Andreas schrieb zurück: „Lieber Silvio, ich will versuchen, dir deine Fragen zu beantworten. Aber dann sollten wir über dich sprechen. Ich glaube, du hast meine Hilfe nötiger als ich deine.
Anfangs bin ich mit ihr gut klargekommen, aber mit der Zeit ging es im Bett nicht mehr. Gemeinsame Kinder haben wir nicht, aber jeder für sich. Sie zwei und ich eines, heute erwachsene Männer.
Sie verkraftet die Trennung mehr schlecht als recht. Sie liebt mich immer noch und möchte, dass ich zu ihr zurückkomme. Ich habe ihr aber zu verstehen gegeben, dass es für mich kein zurückgibt. Wie ihre Kinder damit umgehen, weiß ich nicht. Sie wissen noch nicht, dass wir uns getrennt haben. Sie wollte es so. Nächstes Wochenende wird sie mit ihren Kindern darüber reden.
Mein Sohn weiß, dass wir uns getrennt haben und wie ich leben will. Er hat eine eigene Familie und wir sehen uns nicht jeden Tag.
Dass ich es ihr sagen konnte, ging auch nicht von heute auf morgen. Ich habe ihr einige Signale zukommen lassen, sodass sie merken musste, dass etwas nicht in Ordnung war. Wir mussten darüber reden. Ein Gespräch war nicht mehr zu umgehen.
Und nun zu dir. Wenn du deinen Ex immer noch liebst, ist es normal, dass die Trennung von ihm wehtut. Du kannst nicht einen Schalter umlegen, der es dir erlaubt, von einem zum anderen Moment völlig andere Gefühle zu haben. Erst recht nicht, wenn er dein Leben war.
Lieber Silvio, du musst ihn loslassen. Wie das gehen soll, kann ich dir nicht sagen. Ich kenne dich zu wenig und ihn gar nicht. Wir können darüber reden. Ich möchte dir helfen.
Dass du jetzt noch nicht zu einer neuen Beziehung fähig bist, ist okay und macht dich mir sympathisch. Wenn es anders wäre, wäre es nicht die große Liebe gewesen. Aber die Zeit heilt alle Wunden. Ich war auch einmal vierzehn Jahre in einen Mann verliebt, hoffnungslos. Ich kam von ihm nicht los und musste letztendlich eine Entscheidung suchen und habe sie gefunden, zwar nicht so, wie ich es wollte, aber ich bin dann zur Ruhe gekommen.
Du wirst ihn nie vergessen. Aber du kannst dich für einen anderen öffnen. Du musst es nur wollen, aber lass dir damit ruhig etwas Zeit. Übereile nichts, sonst wird es nur schlimmer. Es könnte eine Enttäuschung geben, weil der andere spürt, dass etwas nicht stimmt.
Wenn du willst, bin ich für dich da, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Wenn du möchtest, können wir uns auch einmal treffen, im persönlichen Gespräch ist es einfacher, bestimmte Dinge zu klären.“
Andreas las sich alles noch einmal durch. Danach schickte er die Mail ab. Er glaubte, dass Silvio Hilfe benötigen konnte. „Man muss kein Psychologe sein“, dachte er, „um anderen helfen zu können. Manchmal reicht es aus, wenn man Lebenserfahrung hat.“ Und die hatte er, davon war er überzeugt.
Andreas richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Nach sechsunddreißig Minuten antwortete Silvio: „Hallo Andreas, ich finde es gut, dass du schon so von dir erzählen kannst. Mir fällt es noch fürchterlich schwer. Ich suche Abwechslung im Chat. Wenn ich über mich berichten soll, bin ich noch nicht so weit. Es bricht mir das Herz und ich stehe dann neben mir. Gib mir noch Zeit und unterbrich bitte nicht unseren Chatkontakt. Du hilfst mir unheimlich mit deinen Ratschlägen und deiner Offenheit.
Trotzdem habe ich noch eine Frage: Wie sahen deine Signale ihr gegenüber aus? Vielleicht habe ich die Signale in meiner Beziehung übersehen und erkenne sie aber jetzt! Hat sie deine Signale erkannt oder war sie so blind wie ich? Hattest du schon eine Beziehung, als du noch mit ihr zusammen warst? Entschuldige, wenn ich deine ehemalige Partnerin nur mit sie anspreche, ich meine es nicht abwertend. Eigentlich war es auch mutig von ihr, sich mit dir einzulassen, wo sie doch wusste, wie du innerlich empfindest. Und wie empfindest du jetzt, wenn ihr euch im Bad trefft oder nackt gegenübersteht? Ich glaube, ich würde meinen Partner niederreißen und verwöhnen.“
An was Silvio dachte! Was ging ihm durch den Kopf? Er war ein mitfühlender Mensch, der nicht sehr viel von sich preisgab. Durch seine Fragen erreichte er, dass der andere von sich erzählte. Silvio konnte so aus den Erfahrungen des anderen seinen Nutzen ziehen. Er wusste genau, wie er es anstellen musste, um Abwechslung und Hilfe im Chat zu bekommen. Und Andreas war ein hilfsbereiter, manchmal naiver Mensch, der gerne anderen Menschen half. So schrieb er Silvio eine weitere Nachricht. „Du hast viele Fragen. Wenn du noch nicht von dir erzählen möchtest, ist es für mich in Ordnung. Ich werde mit dir weiterhin chatten, nur muss ich gleich zu einer Wohnungsbesichtigung und danach zur Arbeit. Also wenn ich off bin, nichts Falsches denken. Heute Abend bin ich wieder da.
Du bekommst von mir alle Zeit der Welt, ich halte zu dir. Lass dir ruhig die Zeit, die du brauchst, alles andere wäre nicht gut.
Doch wirst du deinen Partner nicht mehr niederreißen und ihn verwöhnen. Schlage dir das aus dem Kopf, sonst wirst du nie über diese Trennung hinwegkommen.
Meine Signale ihr gegenüber waren so: Im Auto habe ich kaum mit ihr gesprochen, in öffentlichen Verkehrsmitteln habe ich mich ihr gegenübergesetzt und aus dem Fenster gesehen, wenn sie mich ansprach und sagte, früher hätte ich dies oder das gemacht oder gesagt. Dann sagte ich, das war früher. Vor allem habe ich ungeniert anderen Männern hinterher gesehen, sodass sie eigentlich schon böse wurde.
Ich muss nun bald los. Bis dahin liebe Grüße! Andreas.“
Silvios Antwort war schnell da. Sie war kurz und bündig: „Bis später und danke für alles. Liebe Grüße! Silvio.“
*****
Am 21. November 2010, loggte sich Andreas erst am Abend in den Chat ein. Er fand eine Message von Silvio: „Hallo, Andreas, ich habe es nicht geschafft!
Wollte gestern mit dir chatten, als es plötzlich klingelte. Er war da und hat sich genommen, was er wollte. Ich habe ihn gewähren lassen, habe seinen Körper und seine Berührungen genossen. Ich war glücklich. Nun ist er wieder fort. Ich krieche für heute in eine Ecke und werde meine Wunden lecken.
Wie schaffst du es, nicht so zu handeln wie ich, wenn du deine ehemalige Partnerin nackt siehst, oder ganz dicht an deinem Körper spürst? Was empfindest du? Ich glaube dir nicht, wenn du jetzt sagst: nichts. Sollte es aber doch so sein, dann kannst du mir wahrscheinlich nicht helfen. Ich suche nach neuen Wegen.
Ob ich mich heute noch einmal melde, weiß ich noch nicht. Ich brauche heute den Tag für mich.
Ebenfalls liebe Grüße Silvio.“
Andreas spürte, wie Silvio sich fühlen musste. Bestimmt verletzt. Er hatte dem Drängen des ehemaligen Partners nachgegeben und war dabei glücklich gewesen. Bestimmt war er von seinen Gefühlen durcheinandergewirbelt, von glücklich sein bis hin zur Verzweiflung, weil er schwach war und seinen sexuellen Bedürfnissen nachgegeben hatte. Wie verzweifelt musste er jetzt in diesem Moment sein!
Einerseits tat ihm Silvio leid. Aber andererseits hatte er an dieser Situation selbst Schuld. Andreas wollte ihm helfen, aber wie, wenn Silvio so schwach war?
Andreas antwortete: „Hallo, Silvio, ich finde es nicht gut, dass du dich jetzt verkriechst. Ich glaube, du brauchst dringend Hilfe. Bei mir sieht es anders aus als bei dir. Das kann man nicht miteinander vergleichen. Du hast deinen Partner geliebt, ich meine Partnerin nicht. Da wir beide schwul sind, liegt es doch auf der Hand, dass es bei mir in irgendeiner Form nur eine Zweckgemeinschaft war. Vielleicht sollten wir uns einmal treffen, damit wir über alles reden können. Ich biete dir meine Hilfe an. Es liegt bei dir, ob du sie annimmst. Wie alt war dein Partner und wie lange habt ihr zusammengewohnt?
Ich sehe eben, dass du on bist, also melde dich bitte.“
Silvio hatte sich in diesem Augenblick eingeloggt, das traf sich gut. So konnten sie sich gleich über seine Probleme austauschen. Silvio schrieb zurück: „Hi, Andreas, war doch neugierig, ob du meine Mail gelesen hast. Wir waren sieben Jahre zusammen und er ist ein Jahr älter als ich.
Ja, es war ... nein, es ist noch Liebe. Vielleicht hoffe und klammere ich auch zu viel. Aber es ist, wie du sagst, ich brauche meine Zeit. Einen schönen Abend noch. Ich melde mich morgen noch einmal. Ich muss und will noch über vieles nachdenken. Liebe Grüße! Silvio. Schlafe schön und mache dir keine Sorgen. Ich melde mich morgen. Ciao.“
Am 22. November tauschten sie drei Mails aus. Die erste kam am Vormittag von Silvio: „Hi, Andreas, habe die Nacht gut überstanden. Sogar besser als gedacht. Und du? Wie hast du das Wochenende verbracht? Ach, ja, neulich habe ich dir die Daumen für eine eigene Bude gedrückt. Hat es geklappt? In welche Gegend soll es dich denn verschlagen?
Aber so kurz vor Weihnachten und Silvester ausziehen ist bestimmt auch eine beschissene Situation für euch? Ich werde diese Tage in Familie verbringen, da bin ich dann rund um die Uhr abgelenkt.
Meine Mutter hält mich auf Trab. Ist in meiner jetzigen Situation auch gut so. Obwohl ich sonst gerne mein Leben allein gestalte. Also dann bis demnächst.
Liebe Grüße! Silvio.“
Andreas antwortete nachmittags: „Hallo, Silvio, es ist schön, dass du die Weihnachtstage bei deinen Eltern verbringst. Dann brauche ich mir keine Sorgen, um dich zu machen. Ich bin froh, dass du nicht alleine bist.
Ich möchte in den Nordwesten ziehen und habe eine Wohnung in Aussicht. Die Wohnung ist zum 01.12. frei, das heißt, ich könnte Anfang Dezember dort einziehen. Es wäre toll, denn ich muss hier raus, sie bedrängt mich immer wieder, und ich muss immer wieder abblocken. Keine schöne Situation.
Hast du einmal Lust, dich mit mir zu treffen? Nur leider geht es diese Woche nicht, ich habe zu viele Termine. Du kannst es dir einmal überlegen.
Liebe Grüße! Andreas.“
Am Abend schickte Andreas eine zweite Mail an Silvio, in der er fragte, ob sie Weihnachten zusammen etwas chatten könnten.
Silvio entwickelte sich für Andreas zu einem Chatfreund, und er wünschte sich ehrlich, ihn kennenzulernen. Am 23. November kannten sie sich im Chat den siebten Tag, aber für Andreas fühlte es sich viel länger an. Er freute sich, wenn Silvio im Chat war und sie miteinander schreiben konnten. Silvio war herzerfrischend einfühlsam.
Das sollte Andreas in der nächsten Message wieder erfahren. Obwohl Silvio genug eigene Probleme hatte, dachte er trotzdem an Rosi. Er schrieb: „Hi, Andreas, ich habe mir unsere Mails noch einmal angesehen und viel darüber nachgedacht. Du hast recht, es ist schön, wenn man mit jemandem über alles reden kann. Im Chat fällt es mir viel leichter als gegenübersitzend.
Andreas, seit einigen Tagen chatten wir zusammen und innerlich bezeichne ich dich schon als meinen Chatfreund. Du hilfst mir vielleicht mehr, als dir bewusst ist. Und Freunde sagen sich offen auch mal die Meinung, oder?
Ich möchte noch einmal etwas zu deiner ehemaligen Partnerin sagen: Sicher, irgendwie war es für dich eine Zweckgemeinschaft. Aber ich kann deine Partnerin vollkommen verstehen. Irgendwie ist sie in meiner Position. Hat dich geliebt bis zu deinem Geständnis, nichts ahnend! Plötzlich fällt alles zusammen, was ihr euch für die Zukunft vorgenommen habt. Was empfindest du als bedrängen, will sie mit dir Sex? Das glaube ich nicht. Vielleicht deutest du jetzt die Signale falsch. Vielleicht will sie dir nur zu verstehen geben, dass sie dich noch liebt. Ich weiß, dass es nicht so einfach ist, loszulassen. Sie quält sich bestimmt auch, so wie ich. Und du weißt nicht, wie oft sie weint, wenn du nicht bei ihr bist. Und vielleicht verletzt du sie auch, wenn du immer wieder abblockst. Das große Erwachen kommt sowieso, wenn du nicht mehr für sie da bist. Wir beide chatten miteinander und quatschen uns aus. Chattet sie auch? Hat sie eine Vertrauensperson? Mit wem tauscht sie sich aus?
Ich denke nicht, dass sie Sex mit dir will, aber sie wird bestimmt alles tun, um dich glücklich zu sehen. Aber wo bleibt sie? Diese Frage stellte ich mir auch. Ich würde auch alles für meinen Partner tun, aber wo bleibe ich?
Denke mal darüber nach und sei mir nicht böse. Aber ich denke nun mal so.
Bis später Liebe Grüße! Silvio.“
Silvio hatte recht, das wusste Andreas. Er hatte schon oft über Rosi und die Umstände in ihrem kleinen Haus nachgedacht. Was für ein einfühlsamer und intelligenter Mann Silvio doch war! Andreas schrieb ihm seine Antwort: „Hallo, Silvio, ich brauche nicht darüber nachdenken, was du mir zu Rosi schreibst. So, wie du es beschreibst, genau so ist es. Du hast hundertprozentig recht. Es ist beinahe so, als ob du uns persönlich kennst.
Natürlich kommt das große Erwachen für sie, wenn ich nicht mehr hier bin. Aber ich möchte, dass sie die Hoffnung, ich könnte zu ihr zurückkommen, aufgibt.
Es liegt mir fern, ihr wehzutun, das habe ich mit der Trennung schon genug getan. Sie liebt mich immer noch, so wie du deinen Partner.
Für euch beide trifft Folgendes zu, auch, wenn ihr es jetzt nicht so sehen könnt.
Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern lache, weil es geschehen ist. Was will ich damit sagen?
Natürlich seid ihr traurig, weil eure Beziehung kaputt ist. Aber ihr seid sieben beziehungsweise acht Jahre glücklich gewesen. Nun ist diese Zeit vorbei. Aber ihr hattet sieben oder acht glückliche Jahre. Viele Menschen können das nicht von sich sagen. Es wird einmal jemand kommen, mit dem ihr wieder eine Beziehung eingehen werdet.
Das ist der Lauf der Dinge. Ich wünsche dir und Rosi, dass ihr wieder einen Partner findet. Vielleicht gibt es schon jemanden in eurer Nähe, der sich für euch interessiert. Aber solange ihr den Letzten nicht loslassen könnt, werdet ihr eure Chance nicht bemerken und sie vielleicht verspielen. Und das will ich nicht, deshalb blocke ich Rosis Annäherungsversuche ab. Ich will auch, dass sie glücklich ist, aber ich bin nicht derjenige, der sie glücklich machen kann.
Verschließt nicht eure Augen und Herzen, auch wenn das andere immer noch wehtut. Ihr habt es beide verdient, glücklich zu sein.
Liebe Grüße! Andreas.“
Andreas hoffte, dass Silvio seine Worte richtig verstand, aber ob er das konnte? „Verschließt nicht eure Augen und Herzen“, sagte Andreas, aber Silvio hatte ihn noch nicht gesehen, wollte es auch nicht, sonst wäre er auf seine Angebote, sich mit ihm zu treffen, schon längst eingegangen. Und Silvios Herz schlug noch für seinen Ex-Partner. Auch das hatte er gesagt. Andreas machte sich trotzdem Hoffnungen, Silvio kennenzulernen. Mit jeder Mail, die sie austauschten, wuchs in Andreas die Zuneigung für Silvio. Und Silvios nächste Message ließ Andreas' Herz noch wärmer für ihn werden.
„Hallo, Andreas, ich bin noch im Chat. Mir kommen fast die Tränen, wenn ich deine Zeilen und Wünsche lese. Wenn das doch alles nur so in Erfüllung geht! Du gibst mir Hoffnung. Danke, dass du da bist, wenn ich mal aufmunternde Worte brauche. Deine Partnerin heißt also Rosi und mein Partner heißt Ralf. Ich kenne euch bestimmt nicht, aber ich bin auch nur ein Mensch, der Gefühle hat und dem das Gleiche passiert ist.
Das Chatten zu Weihnachten kriege ich bestimmt hin. Ich bin froh, dass du, so empfinde ich das, ehrlich bist. Danke!
Liebe Grüße! Silvio.“
„Oh, ja“, dachte Andreas, „es wäre sehr schön, wenn wir Weihnachten miteinander chatten könnten, und wenn es nur ein paar Minuten pro Tag sind, das wäre schon ausreichend. Hauptsache, wir wissen voneinander, dass es uns gut geht.“ Das teilte Andreas Silvio mit. Außerdem schrieb er: „Denk an deine Mutti, sie freut sich, wenn du da bist. Verdirb ihr bitte nicht diese Freude! Wenn wir uns abends auf eine Stunde treffen, ist es in Ordnung.“
Andreas und Silvio schöpften aus ihren Chats Kraft und Zuversicht. Sie hatten viele Sorgen und Probleme und halfen dem anderen, jeder auf seine Weise, damit fertig zu werden.
Erneut trafen sie sich am 24. November im Chat. Den ganzen Vormittag schrieben sie miteinander. Am frühen Morgen fragte Silvio: „Guten Morgen, bist du heute früh zur Arbeit oder noch im Bett? Wie ist es mit deiner Wohnung ausgegangen? Zu deiner Zufriedenheit?
Ich wünsche dir einen schönen Tag.“
Silvio machte es Spaß, mit Andreas Gedanken auszutauschen. Mit ihm konnte er seine Probleme besprechen. Außerdem genossen sie den Humor, den sie manchmal in ihren Nachrichten zeigten.
Andreas antwortete: „Hallo, Silvio, mit der Wohnung entscheidet es sich erst heute. Ich habe noch Hoffnung.
Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Wenn du mich brauchst, ich bin für dich da.
Liebe Grüße! Andreas.“
Postwendend kam Silvios Antwort: „Für die Wohnung drücke ich dir die Daumen.
Bei mir ist alles in Ordnung. Ich habe mich schon auf einen kleinen Chat mit dir gefreut. Danke, dass du für mich da bist. Ich werde mich auch nicht scheuen, wenn du damit einverstanden bist, um Rat zu fragen.“