Tödliche Politik - Michael Rusch - E-Book

Tödliche Politik E-Book

Michael Rusch

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Beschreibung

In Aantenbek, einem kleinen idyllischen Dorf in der Probstei werden zwei Mitglieder des Gemeinderats brutal ermordet. Die Kommissare Thoralf Blume und Helmut Horn von der Kieler Mordkommission ermitteln. Schnell erfahren sie, dass die Gemeinde gespalten ist. Die Anhänger des Bürgermeisters Hubert Bindenagel beschuldigen den ermordeten Erwin Zimmermann, über den Bürgermeister Lügen verbreitet zu haben. Die Dorfbewohner verdächtigen sich gegenseitig der schrecklichen Morde. Weitere Gewalttaten geschehen. Die Kommissare vermuten, dass die Taten politisch motiviert sein könnten. Wer ist der Täter? Werden die Bewohner Aantenbeks wieder Ruhe finden?

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Für

Olaf Unterschemmann

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel Dienstag, Tag 1

2. Kapitel Mittwoch, Tag 2

3. Kapitel Donnerstag, Tag 3

4. Kapitel Freitag, Tag 4

5. Kapitel Sonnabend, Tag 5

6. Kapitel Sonntag, Tag 6

7. Kapitel Montag, Tag 7

8. Kapitel Dienstag, Tag 8

9. Kapitel Mittwoch, Tag 9

10. Kapitel Donnerstag, Tag 10

11. Kapitel Freitag, Tag 11

12. Kapitel Einige Tage später

Der Autor

Vorwort

Als ich im Jahre 2017 nach Lutterbek gezogen bin, habe ich nicht damit gerechnet, dass ich mich in diesem kleinen Dorf in der Probstei in Schleswig-Holstein so wohl fühlen werde, wie noch nie in meinem Leben. Nur in Rostock erging es mir ähnlich, denn mit dieser schönen und wundervollen Stadt verbinden mich sehr viele Dinge. Ich wurde in Rostock geboren und fünf von meinen sieben Geschwistern leben noch in dieser Stadt Mecklenburgs, die ich liebe und zu der ich mich immer in meinem Leben hingezogen fühlen werde.

In Lutterbek habe ich eine zweite Heimat gefunden. Aber hier haben es mir die Menschen und die Natur und die schöne Umgebung angetan. Vor allem mag ich die Menschen in diesem schönen Landstrich, denn sie sind nicht so stur, wie die Mecklenburger es oft sind. Die Lutterbeker und Probsteier sind sehr freundlich und tolerant, Menschen, die mit offenen Armen auf andere zugehen. Auch mich haben sie mit ihrer Freundlichkeit in ihrer Mitte aufgenommen. Dafür danke ich ihnen sehr.

Und trotzdem habe ich mit dem vorliegenden Roman einen Krimi geschrieben, der den Probsteiern nicht gerecht wird. Aber es gab im Zusammenhang mit der Kommunalwahl des Jahres 2023 Ereignisse und Personen, die mich zu diesem Roman inspiriert haben.

Ich betone, dass der Roman eine fiktive Geschichte ist. Genauso, wie die Figuren in diesem Roman und das Dorf, in dem die Handlung spielt, von mir frei erfunden wurden. Eventuelle Ähnlichkeiten zu realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Und ich betone, dass ich keinem der real existierenden Menschen etwas Böses wünsche, sondern freue mich darüber, wenn es allen Menschen, die ich kenne und auch denen, die ich nicht kenne, gut geht. Vor allem wünsche ich niemandem, ermordet zu werden, wie es zwei von meinen Protagonisten in dem vorliegenden Kriminal-Roman geschieht. Mord ist im realen Leben keine Lösung für Probleme, eher wachsen diese dadurch nur noch mehr und ich verurteile diese und alle anderen kriminellen Handlungen. Die einzige Lösung, die ich kennengelernt habe, um Probleme zu lösen, ist miteinander zu reden. In einem persönlichen Gespräch lassen sich Missverständnisse und Unstimmigkeiten am besten ausräumen.

Was wäre ich ohne meine Testleser und Ratgeber. An erster Stelle danke ich meiner Ratgeberin von der Kieler Kriminalpolizei, eine Freundin, die an dieser Stelle aus für mich nachvollziehbaren Gründen namentlich nicht genannt werden möchte. Sie hat mir mit vielen Hinweisen geholfen, die Arbeit der Polizei in der heutigen Zeit realistisch darzustellen. Trotzdem habe ich mir dabei einige künstlerische Freiheiten erlaubt. Zum Beispiel haben Ermittler nach einem langen und anspruchsvollen Arbeitstag, wie alle anderen arbeitenden Menschen auch, das Recht auf ihren Feierabend. Wenn sie am nächsten Tag ihre Tätigkeit fortsetzen, werden sie nicht in der Nacht davor aufgrund einer telefonischen Ankündigung einer Straftat in ein Dorf fahren, in dem sie in einem Mordfall ermitteln.

Des Weiteren danke ich meinen Testlesern Wolfgang und Sabine Ernst sowie Olaf Unterschemmann, dem ich diesen Roman widme, für ihre wertvollen Hinweise und Ratschläge. Ohne Sie wäre es für mich undenkbar, einen Roman zu schreiben.

Lutterbek, 15.04.2024 Michael Rusch

1. Kapitel Dienstag, Tag 1

Renate Zimmermann betrat gegen siebzehn Uhr ihr Haus und wünschte ihrem Mann einen guten Tag. An diesem späten Nachmittag war sie nicht nur von der Arbeit müde, denn sie kam auf Umwegen von dort nach Hause. Unbemerkt von ihrem Mann schaute sie in den Spiegel, der im Flur an der Wand hing und der ihr ihren Körper vom Kopf bis zu den Knien zeigte. Sie prüfte, ob ihre Sachen ordnungsgemäß saßen und stellte dabei fest, dass sie mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden sein konnte. Der Spiegel zeigte ihr eine attraktive Sechzigerin mit ergrauten Haaren. Aber ihr Gesicht schien von Falten nahezu verschont geblieben zu sein. Für einen flüchtigen Augenblick dachte sie an das Geschehen der letzten drei Stunden zurück. Nichts von dem, was sie getan und erlebt hatte, durfte ihr Mann Erwin erfahren. Aber wenn Theo Feldmann, mit dem sie diese drei Stunden des Nachmittages gemeinsam verbracht hatte, weiterhin so verschwiegen war wie in den letzten Monaten – und daran hatte sie keinen Zweifel – sollte das nie geschehen. Auf jeden Fall hatte ihr Freund ihr heutiges Zusammensein mit ihr genossen. Wenigstens glaubte das Renate Zimmermann. Sie hatte sich mit ihm in Kiel in der Kaistraße getroffen. Dort hatten sie ein Haus gefunden, in dem sie für viel Geld ein Apartment für mehrere Stunden mieten konnten. Auch heute am Nachmittag hatten sie das getan, wie beinahe an jedem anderen Dienstag auch. Was sie in diesem Stundenapartment miteinander trieben, ging niemanden etwas an. Auch nicht Theos Frau Angela und ihrem Mann Erwin. Die beiden waren die letzten Menschen der Welt, die das erfahren durften. Renate Zimmermann hatte es schon als Kind gereizt, etwas Verbotenes zu tun. Heute befand sie sich in einem Alter, in dem sie bald in Rente gehen konnte, aber verbotene Dinge zu tun, machten ihr immer noch großen Spaß.

Als sie für einen Augenblick vor dem Spiegel stand, dachte sie daran, wie sich Theo Feldmann, als sie sich am Nachmittag getroffen hatten, an sie geschmiegt hatte. Er war dabei sehr stürmisch, aber auch sehr zärtlich gewesen. Schon nach wenigen Minuten erlag sie seinem Charme und fand sich mit ihm in vielen wilden Positionen im Bett wieder. Wenn man sich in der Kieler Kaistraße für einige Stunden ein Apartment gemietet hatte, machte man solche Dinge. Als sich Renate Zimmermann von Theo Feldmann verabschiedete, ahnten beide nicht, dass in ihrem Dorf bald ein Mord geschehen sollte.

*****

Der Bürgermeister der Gemeinde Aantenbek, die keine tausend Seelen beherbergte, saß in seinem Haus in seinem Arbeitszimmer, das ihn aufgrund der geringen Größe immer wieder an eine Speisekammer erinnerte. An seinem Computer bereitete sich Hubert Bindenagel auf die nächste Gemeinderatssitzung vor, die in ein paar Tagen stattfinden sollte. Er bemerkte nicht, dass sich seine Frau bis an die Tür des kleinen Raumes geschlichen hatte und dort stehengeblieben war, um ihn für einige Sekunden zu beobachten. Weil er in seine Arbeit vertieft war und sie nicht bemerkte, sagte sie schließlich: „Hubert, wie weit bist du? Können wir Abendbrot essen?“

Verwundert sah der Mann von seinem Computer zu ihr auf. „Ist es schon wieder so spät?“

„Brauchst du denn noch lange?“

„Nein, ich bin gleich fertig. Gib mir bitte noch fünf Minuten.“

Christine Bindenagel sah ihren Mann mit einem besorgten Gesichtsausdruck an. „Hubert, du arbeitest zu viel. Du solltest auch einmal an dich denken.“ Sie waren schon so viele Jahre miteinander verheiratet. Ihr Hubert hatte stets für sie und ihre gemeinsamen Kinder gesorgt. Deshalb liebte Christine Bindenagel ihren Mann heute sehr viel intensiver als damals, als sie sich vermählt hatten.

„Aber ich denke doch an mich. Wenn ich immer nur zu Hause bleiben müsste, würde ich doch verrückt werden“, sagte der Mann lachend.

Christine Bindenagel fiel in das Lachen ihres Gatten ein. „Und dann würdest du mich verrückt machen und dich in alle Dinge einmischen, die dich nichts angehen.“

„Siehst du, meine Liebe, deshalb bin ich der Einzige außer dir, der an mich denkt und dafür sorgt, dass es uns gut geht.“

Christine Bindenagel wurde ernst. „Ja, Hubert, das kann man nicht anders sagen. Du hast stets für die Kinder und mich gesorgt. Und das machst du noch heute so.“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie ihre Arme vor der Brust verschränkte und sich an den Türrahmen lehnte. Hubert Bindenagel schaute ihr lächelnd ins Gesicht. „Ach Christine, ich war immer gerne für euch da und solange ich es noch kann, wird sich daran nichts ändern.“

Sie zwinkerte ihm zu. „Also gut, noch fünf Minuten, aber dann wird gegessen!“

Hubert Bindenagel wendete seinen Kopf wieder zum Bildschirm des Computers. Weder er noch seine Frau ahnten, dass während ihres Gespräches in ihrem Dorf ein Mord passierte.

*****

Der verregnete Dienstag in der vierten Juliwoche neigte sich seinem Ende entgegen. Das Wetter in diesem Monat hatte die Menschen in Aantenbek nicht verwöhnt. An jedem Tag hatte es geregnet, und an einigen Tagen sogar sehr viel und sehr stark. Die Bauern machten sich ehrlichen Herzens Sorgen um ihre Ernte. Auch Erwin Zimmermann machte sich Sorgen, aber nicht um die Ernte der Bauern, sondern um die Wäsche seiner Frau. Erst kam sie so spät von der Arbeit nach Hause, dass sie kaum etwas im Haushalt erledigen konnte, und dann traf sie sich auch noch am Abend mit ihren Freundinnen in der Dorfkneipe, wie sie es jeden Dienstag tat. Das glaubte er jedenfalls. Trotzdem hatte sie die Waschmaschine mit Handtüchern gefüllt und angestellt, bevor sie zu ihrem Frauenabend aufbrach. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sich bereit zu erklären, die feuchte Wäsche aus der Waschmaschine zu holen, und sie auf die Leine zu hängen. Würde er die Handtücher noch bis zum nächsten Morgen trocken bekommen? Skeptisch schaute er aus dem Fenster seines Hauses und in den Himmel hinein. Er prüfte, ob es sich noch lohnen würde, sein Versprechen, dass er seiner Frau gab, zu erfüllen. Der Wetterbericht hatte vor ein paar Stunden versprochen, dass es in der kommenden Nacht und am darauffolgenden Tag trocken bleiben sollte. „Hoffentlich behalten die Wetterfrösche recht. Oft ist das ja nicht der Fall“, dachte er.

Seine Frau Renate hatte sich vor einer halben Stunde von ihm in die nahe gelegene Kneipe verabschiedet. Sie wollte den Kontakt zu ihren Freundinnen nicht abreißen lassen. Sie kannte diese schon seit ihrer Schulzeit, doch die Tradition, sich in Richard Abrahams Kneipe zu treffen, entstand erst sehr viel später. Genau genommen erst vor drei Jahren, als die Freundinnen feststellten, dass zwischen ihren Treffen oft mehrere Monate lagen.

Gemeinsam lebte das Ehepaar Zimmermann in einem großen reetgedeckten Bauernhaus aus Fachwerk in dem kleinen Dorf Aantenbek, welches sich in der schönen Probstei in Schleswig-Holstein befand und in dem Hubert Bindenagel Bürgermeister war. Aantenbek war ein idyllisches Dorf, dass nur zwei Kilometer von der Ostsee entfernt lag, direkt zwischen Laboe, Stein und Lutterbek.

Die Probstei ist in Schleswig-Holstein eine landschaftlich sehr schöne Region an der Ostsee, in der viele Menschen ihren Urlaub verleben. Seinen Namen hatte Aantenbek im siebzehnten Jahrhundert bekommen, weil sich in diesem kleinen Dorf Jahr für Jahr im Sommer besonders viele Enten einfanden, die hier sehr gute Lebensbedingungen vorfanden. Der Name Aantenbek ist abgeleitet worden von Ente – im Plattdeutschen Aant – und von Bach, weil die Au, ein kleiner Bach durch das Dorf fließt. Bach heißt auf Platt Bek, deshalb wurde aus Entenbach Aantenbek. Außerdem befand sich am Rande des Dorfes ein kleiner See und im Zentrum ein Teich, der auch als Feuerlöschteich benutzt wurde.

Das Haus der Familie Zimmermann befand sich direkt an dem Bach, der umgangssprachlich nur die Au genannt wurde. Das Wort Hagener Au schien den Menschen in der Probstei zu lang zu sein. Mal führte die Au etwas mehr und mal etwas weniger Wasser. Es gab in der Vergangenheit Zeiten, in denen die Au das halbe Dorf überschwemmt hatte. Aber jetzt im Sommer war damit nicht zu rechnen, obwohl der Wasserpegel des Baches aufgrund des vielen und teilweise heftigen Regens der letzten Tage und Wochen auf ein ungewöhnlich hohes Maß angestiegen war.

Erwin Zimmermann entschied, dass heute und in der folgenden Nacht kein Regen mehr fallen würde. Also wollte er die Wäsche aus der Waschmaschine herausholen und im Freien auf seinem Grundstück auf die Leine hängen. Da er bereits unter der Dusche gestanden und sich danach bettfertig gemacht hatte, zog er einen Bademantel über seinen Schlafanzug an, holte aus der Waschküche den Korb mit den feuchten Handtüchern und brachte ihn zum Wäschetrockenplatz.

Während er dort die Textilien auf die Leine der Wäschespinne hängte, hörte er in der Nähe eine Katze schreien. Er glaubte, an dem Schrei des Tieres seine Mieze zu erkennen, war sich dessen aber nicht einhundertprozentig sicher. Er fragte sich, ob das arme Tier schon wieder von einem liebestollen Kater gepackt wurde. Nachdem er auch das letzte Handtuch an der Wäschespinne zum Trocknen aufgehängt hatte, ging Erwin Zimmermann zur Au herunter. Wenn es notwendig sein sollte, wollte er sein Haustier gegen den Kater verteidigen. „He, du kleine Mieze, wo bist du? Mieze, du süßes Ding, ich will zu dir kommen und dir helfen.“ Plötzlich begann er zu lachen. Wie sollte er der Katze helfen, wenn sie tatsächlich von einem paarungsbereiten Kater gepackt worden war. Dieser biss ihr ins Genick, um sie für die Paarung festzuhalten. Erwin Zimmermann erkannte, dass er seiner Mieze dabei nicht helfen konnte. Sollte sie doch zusehen, wie sie damit zurechtkam.

Als er das Ufer des Baches erreichte, blieb er stehen und spähte noch einmal in den Himmel dieses schönen Abends hinein. Die Wolken hatten sich verzogen und der Sonne Platz gemacht, die bald untergehen würde. „Mieze, wo bist du?“ Ungeduldig ging er noch einen weiteren Schritt auf die Au zu. Dann blieb er erneut stehen. Wäre er weitergegangen, hätte er nasse Füße bekommen. Das wollte er vermeiden.

Als er sich nach rechts wendete, spürte er plötzlich einen heftigen Schlag auf seinen Hinterkopf. Danach explodierten heftige Schmerzen in ihm. Er taumelte in die Au hinein. Das war das Letzte, was Erwin Zimmermann in seinem Leben wahrnahm.

*****

Renate Zimmermann bezahlte ihre Zeche wie ihre Freundinnen auch. Den Abend empfand sie als sehr schön. Sie hatte nicht nur Neuigkeiten von ihren Freundinnen und aus den Dörfern erfahren, in denen diese wohnten. Die Frauen hatten sich auch gegenseitig geneckt und dabei sehr viel gelacht. Auch viele Erinnerungen an ihre damalige Schulzeit hatten sie ausgetauscht und darüber gesprochen, wie sie früher ihre Probleme gelöst hatten. Renate Zimmermann war eine Frau, die stets versuchte, positiv zu denken. Nicht immer gelang ihr das, aber je älter sie wurde, desto besser konnte sie diesen Vorsatz umsetzen. Unlösbare Probleme gab es für sie nicht. Sie vertrat die Meinung, dass stets genug Zeit vorhanden war, um Schwierigkeiten beseitigen zu können. Dafür musste man nur genug bemüht sein, nach Lösungswegen zu suchen.

Aber die Freundinnen hatten nicht nur über Erinnerungen aus der Schulzeit gesprochen, über die sie lachen konnten. Sie hatten sich auch lustige Begebenheiten von ihren Männern erzählt. Gerade Erwin Zimmermann hatte dafür herhalten müssen, denn einige von Renate Zimmermanns Freundinnen waren, wie sie auch, Mitglied in der Partei der Vogelschützer. Und deshalb hatten sie unter anderem auch über die aktuellen politischen Ereignisse des Dorfes gesprochen, insbesondere über die letzte Sitzung des Gemeinderates, die vor wenigen Wochen im Dorfgemeinschaftshaus stattgefunden hatte und die immer noch die Gemüter der Gemeinde erhitzte. Auch Renate Zimmermann und ihre Freundinnen hatten sich darüber aufgeregt. Aber mit einem Glas gut gekühlten Weißwein und einem teilweise nicht tiefgründigen Gespräch hatten sie sich wieder abgekühlt. Und so waren aus einem Glas Wein zwei geworden, und am Ende hatte Renate Zimmermann drei oder vier zweite Gläser des kostbaren Traubensaftes in sich hineingegossen. So viel trank sie normalerweise nicht, denn sie mochte es nicht, wenn der Bauch zu drücken begann, weil sich zu viel Flüssigkeit im Magen befand.

Nachdem sie sich von ihren Freundinnen verabschiedet hatte, freute sie sich auf ihr Bett. Sie schaute auf ihre Armbanduhr am linken Handgelenk und war davon überrascht, wie spät es schon geworden war. Sicherlich schlief ihr Mann schon selig in seinem Bett. Der Weg, den sie bis zu ihrem Haus zurücklegen musste, führte sie über drei Straßen. In etwa zehn Minuten sollte sie zu Hause sein. Als sie die Kneipe verließ, wandte sie sich nach links, überquerte die Dorfstraße, anschließend ging sie die Bergstraße entlang und bog rechts in den Schönberger Weg ein, dem sie noch etwa dreihundert Meter, bis zu ihrem Grundstück folgte. An der Scheune blieb sie für einen kurzen Augenblick stehen. Von dort bis zum Haus waren es nur noch fünfzig Meter, doch diese schaffte sie nicht mehr, davon war sie überzeugt. Ihre Blase hatte etwas dagegen. Also entsorgte sie den zu viel getrunkenen Wein in der Toilette, die ihr Mann vor einigen Jahren in die Scheune eingebaut hatte. Dieser Abort war sehr praktisch, denn nun mussten sie nicht mehr bis ins Haus gehen, wenn sie im Garten arbeiteten und mal austreten mussten.

Renate Zimmermanns Eltern waren Bauern gewesen, und zwar in einer Zeit, in der es sich noch lohnte, Tiere zu halten und Felder zu bestellen und diese bis zur Ernte zu pflegen. Aber sie und ihr Mann hatten für ihr Leben andere Pläne. Renate Zimmermann wollte schon als junges Mädchen Kindergärtnerin werden und ihr Erwin sah sich als junger Mann seine zukünftige Erwerbstätigkeit in einem Büro ausführen. Er wollte in der Verwaltung eines Betriebes arbeiten. Deshalb studierte er Betriebswirtschaft. Die ständige Plackerei auf einem Feld, die die Eltern beziehungsweise Schwiegereltern ihr Leben lang erdulden mussten, wollten sie sich ersparen. Nach dem Tod ihrer Eltern verkauften sie das Land an andere Bauern. Doch das Haus behielten sie, denn es war ein schönes und großes, altes Bauernhaus, das sehr gut erhalten war. Sicherlich entsprach es nicht mehr dem modernen Standard, denn solch ein altes Gebäude konnte man nicht so einfach isolieren. Hätten sie das tun wollen, würde es ein größeres Bauvorhaben werden. Und das wollte Renate Zimmermann, die bereits sechzig Jahre alt war, sich nicht mehr antun. Da sie und ihr Mann ihr Leben genießen wollten, bekamen sie nur einen Sohn, der schon vor vielen Jahren aus seinem Elternhaus ausgezogen war. Man munkelte im Dorf, dass er froh sei, nicht mehr bei den Eltern wohnen zu müssen.

Renate Zimmermann war stets korrekt bekleidet. Aber bei sommerlichen Temperaturen trug sie auch gerne einmal eine kurze Hose und Sandalen. Hosenanzüge zog sie nur zu festlichen Anlässen an, aber im Alltag zog sie eine Bluse und eine Jeans oder einen Rock jeder anderen Kleidung vor.

Als sie zum Haus ging, dachte sie daran, dass sie sich noch auf das morgige Handballtraining mit ihrer Frauenmannschaft vorbereiten musste. Aber das konnte sie auch noch am Vormittag des nächsten Tages tun. Als Trainerin ihrer erfolgreichen Mannschaft, die in der Bezirksliga spielte, genoss sie die Anerkennung der Handballfreunde aus dem Dorf und auch von denen aus der Umgebung. Renate Zimmermann war eine bekannte Frau, weit über die Grenzen des kleinen Dörfchens Aantenbek hinaus.

Als sie das Haus gegen halb elf Uhr abends betrat, war sie überrascht, weil in mehreren Zimmern immer noch das Licht brannte. Sie hatte geglaubt, dass sich ihr Mann Erwin schon längst mit seinen Träumen im siebten Himmel befand. Trotzdem ging sie in sein Schlafzimmer, um zu prüfen, ob er vergessen hatte, das Licht zu löschen und bereits schlief. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, wenn ihm das passiert wäre. Jedoch konnte sie ihn nicht in seinem Bett finden. Auch in der Küche oder dem Wohnzimmer fand sie ihren Mann nicht.

„Erwin!“, rief sie ihn. „Wo steckst du denn bloß?“

Aber eine Antwort bekam sie nicht. Deshalb ging sie in die Waschküche, vielleicht befand er sich dort. Aber auch das war nicht der Fall. Renate Zimmermann verließ das Haus und suchte ihren Mann im Freien auf ihrem Grundstück. Vielleicht befand er sich auf dem Wäschetrockenplatz? Doch auch dort traf sie ihn nicht an. Mehrmals rief sie seinen Namen und jedes Mal bekam sie keine Antwort. Sie begann sich Sorgen zu machen. Er hatte ihr nicht erzählt, dass er am Abend noch einmal das Haus verlassen wollte. Wohin mochte er gegangen sein? Machte er einen Spaziergang durchs Dorf? Das tat er von Zeit zu Zeit immer wieder einmal. Wenn er dabei jemanden traf, begann er gerne mit dieser Person eine Unterhaltung. Erwin Zimmermann hatte seine eigene spezielle Art, wie er jemanden in ein Gespräch verwickeln konnte. Er ging auf einen potenziellen Gesprächspartner direkt zu und begann über das Thema zu reden, welches ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Dabei interessierte ihn nicht, ob das dieser Person angenehm war oder sie lieber nicht mit ihm darüber reden wollte. Aber wer geht jetzt noch im Dorf spazieren? Das fragte sich Renate Zimmermann. Sie rief sich die nächsten anstehenden Termine in ihr Gedächtnis. Der nächste runde Tisch der Partei der Vogelschützer fand erst im nächsten Monat statt, und eine Fraktionssitzung war erst vor der nächsten Sitzung des Gemeinderates angesetzt. Aber die Gemeinderatsmitglieder versammelten sich in den nächsten Tagen auch nicht. „Wo mag Erwin stecken?“, fragte sie sich erneut. Bisher hatte er ihr immer erzählt, wenn er abends etwas geplant hatte oder sich mit Freunden treffen wollte. Ihre Sorgen, die sie sich um ihn machte, wurden größer. Doch dann beruhigte sie sich wieder. Es war spät und der morgige Tag würde sehr lang werden. Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste. Auch wenn ihr Theo Feldmann immer wieder das Gegenteil weismachen wollte. Erwin würde schon wieder auftauchen. Aber sie sollte nun schlafen gehen, anstatt sich sorgen zu machen. Am nächsten Morgen würde der Wecker wieder früh klingeln, weil sie zur Arbeit fahren musste. Etwa vier Jahre musste sie noch arbeiten. Dann endlich konnte auch sie ihren heiß ersehnten Lebensabend genießen. Aber bis es so weit war, würde noch viel zu viel Zeit vergehen. Manchmal fühlte sie sich einfach nur alt.

Bevor sie ihr Schlafzimmer aufsuchte, überlegte sie, ob sie die Freunde ihres Mannes anrufen sollte, um sie zu fragen, ob er bei ihnen sei. Jedoch entschied sie sich dagegen. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde wollte sie niemanden mehr belästigen. Bestimmt schliefen die meisten ihrer Bekannten schon. Endlich beschloss sie, sich zur Nachtruhe in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen. Bestimmt würde sich morgen während ihres gemeinsamen Frühstücks der Verbleib ihres Mannes aufklären. Sie suchte ihr Zimmer auf und entkleidete sich, bevor sie sich im Bad frisch machte. Im Bett lag sie nicht lange wach, bis sie leise zu schnarchen begann. Weil auch ihr Mann diese unangenehme Eigenschaft besaß und dabei sehr viel lauter war als sie, hatten sie bereits vor einigen Jahren beschlossen, in getrennten Zimmern zu schlafen. Das Haus war ohnehin für nur zwei Personen zu groß.

2. Kapitel Mittwoch, Tag 2

Renate Zimmermann erwachte. Die Sonne schien durchs Fenster in ihr Schlafzimmer hinein. Sie dachte daran, dass unser Tagesgestirn in diesem Jahr noch nicht sehr oft die Gelegenheit dazu hatte. Meist waren die Morgenstunden verregnet oder der Himmel von dicken Wolken verhangen gewesen, von denen sie beinahe geglaubt hatte, dass man sie mit den Händen berühren könnte. Ehe sie aufstand, wandte sie ihren Blick vom Fenster ab und war voller Freude auf den beginnenden Tag. Nochmals reckte sie sich wohlig in ihrem Bett. Doch plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie ihren Mann am vorherigen Abend zu Hause nicht angetroffen hatte, als sie von ihrem Freundinnenabend aus der Kneipe zurückgekehrt war. Sofort verließ sie mit einem von Sorgen geplagten Gesicht ihr Schlafzimmer und eilte, nur mit einem rosafarbenen neckisch geschnittenen und beinahe durchsichtig scheinenden Nachthemd bekleidet, in sein Schlafzimmer, um nachzusehen, ob er in seinem Bett lag und noch schlief. Doch musste sie feststellen, dass es unberührt war. Nun wurden ihre Sorgen um ihn schlagartig noch größer. Mehrmals fragte sie sich, wo ihr Erwin in der Nacht gewesen sein könnte. Und wo mochte er sich in diesem Augenblick befinden. Sie spürte, dass sie nervös wurde. Tränen stiegen in ihren Augen auf, aber noch konnte sie diese unterdrücken. Jetzt begann sie zu telefonieren. Niemand von den gemeinsamen Freunden, mit denen sie Umgang pflegten, hatte ihn am gestrigen Abend gesehen. Nun suchte sie nochmals das Grundstück nach ihrem Mann ab, aber fand ihn nicht. Sie dachte daran, bei der Polizei eine Vermisstenmeldung aufzugeben.

Auf ihrem Handy wählte sie die Nummer des Polizeireviers Heikendorf. Es meldete sich ein Beamter. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, sagte Renate Zimmermann: „Mein Mann ist über Nacht nicht zu Hause gewesen. Ich glaube, ihm ist etwas Schlimmes passiert.“

„Wollen Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?“, fragte der Polizist am anderen Ende der Leitung.

„Ja, bitte.“ Mit tonloser Stimme gab sie ihre Antwort.

„Seit wann vermissen Sie ihren Mann, Frau Zimmermann?“

„Seit gestern Abend.“

„Und seit wann etwa?“

„Ich weiß nicht die genaue Uhrzeit, aber es muss so gegen 22.30 Uhr gewesen sein.“ Sie hörte sich verzweifelt an.

Der Polizist schwieg einen Augenblick. Für Renate Zimmermanns Empfinden viel zu lange. Aber dann sprach er doch noch. „Frau Zimmermann, wenn Sie es wollen, können wir gerne eine Vermisstenanzeige aufnehmen. Aber Ihr Mann ist keine zehn Stunden aus ihrem Haus fort. Vielleicht taucht er bald wieder auf. Wenn er heute Abend immer noch nicht bei Ihnen ist, kommen Sie am besten mit einem Foto ihres Mannes zu uns, dann nehmen wir die Anzeige auf.“

„Aber er war über Nacht noch nie weg. Schon gar nicht, ohne dass ich es gewusst hätte.“ Ihre Stimme klang energischer, als sie es beabsichtigt hatte.

„Die meisten Vermissten sind nach einigen Stunden wieder zu Hause. Etwas fällt ihnen ein, von dem sie glauben, dass es keinen Aufschub duldet und dann laufen oder fahren sie einfach los und vergessen dabei, dem Partner eine diesbezügliche Information zukommen zu lassen, Frau Zimmermann. Ihr Mann wird bestimmt bald wieder auftauchen.“

Schweigend dachte Renate Zimmermann für einen Moment über die Worte des Beamten nach. „Ja, wenn Sie meinen. Dann melde ich mich heute Abend noch einmal. Danke und auf Wiederhören“, sagte sie leise. In ihrem Inneren fühlte sie eine noch nie da gewesene Leere.

*****

„Kinder, beeilt euch, der Bus wartet nicht auf euch. Ihr müsst in die Schule gehen“, ermahnte Frau Wulff ihre Kinder Max und Maja. Der Junge war zwölf Jahre alt, seine Schwester vier Jahre jünger als er. „Soll ich dir helfen, die Schuhe zu zubinden?“, fragte Max seine kleine Schwester, auf die er sehr stolz war und die vor ihm kniete und mühsam versuchte, die Schnürsenkel zu zubinden.

„Ich kann das schon allein“, erwiderte sie mit einem störrischen Blick, den sie ihm von unten zuwarf. Dabei warf sie ihren Kopf in den Nacken, sodass ihre langen Haare wild durch die Luft flogen.

„Dann mach schnell, wir müssen wirklich gleich los.“

„Aber vielleicht kommt der Bus später. Das tut er meistens!“ Jetzt sah sie ihren Bruder schelmisch an, während sie sich immer noch mit ihren Schnürsenkeln beschäftigte.

„Das kannst du doch gar nicht wissen.“

„Ist doch schon gut, Max, ich bin doch gleich fertig.“ Maja liebte es, ihren Bruder aufzuziehen, weil er sich dann oft ärgerte. Sie sah es zu gerne, wenn sein Gesicht errötete.

Doch der Junge stand dieses Mal vor ihr und wartete geduldig, bis sie fertig war. Danach verabschiedeten sich die Kinder mit einem Kuss und einer kurzen, aber herzlichen Umarmung von ihrer Mutter und verließen das Haus. Maja ging langsam neben ihrem Bruder her und schaute sich die Blümchen an, die am Wegesrand standen und blühten. Es waren keine besonderen Pflanzen, eher solche, die die Erwachsenen als Unkraut bezeichneten: Löwenzahn, Butterblumen und Akelei, die in dieser Gegend besonders gut wuchs. Ausgerechnet die Akelei besaß wunderschöne Blüten, sodass sie in vielen Gärten des Dorfes ein Zuhause fand und liebevoll von ihren Besitzern gepflegt wurde. Der Mensch bestimmte, was für ihn ein Unkraut bedeutete. Da konnte es geschehen, dass eine Pflanze, die ein Dorfbewohner in seinem Garten pflegte, von seinem Nachbarn aus der Erde herausgerissen wurde und in die Biotonne warf.

„Maja, komm schon, wir müssen zusehen, dass wir zur Bushaltestelle kommen. Der Bus kommt bald.“ Max trieb Maja zur Eile an, obwohl er wusste, dass sie noch etwas Zeit hatten. Aber er kannte sie genau, schließlich war sie seine kleine Schwester. Gerne sah sie mal hier etwas und schon im nächsten Augenblick entdeckte sie dort etwas anderes. Das Mädchen schien stets auf eine Entdeckungsexpedition zu sein, aber nicht auf dem Weg zur Schule. Und heute war es nicht anders als an den anderen Tagen. Es gab so viele Dinge, die Majas Interesse weckten und bei denen sie die Zeit vergessen konnte.

„Gucke mal da, Max! Was ist das für eine komische Blume, die wächst ja krumm und schief.“

„Von denen hat Mama gestern mehrere aus unserem Garten herausgezogen und in die Braune Tonne geworfen. Sie hat mir gesagt, wie die heißen, aber ich habe ihren Namen schon wieder vergessen. Irgendwas mit stinkt.“ Max überlegte noch etwas, aber der Name dieser Pflanze fiel ihm nicht mehr ein. Tatsächlich handelte es sich dabei um den Stinkenden Nieswurz.

Plötzlich sprang das Mädchen zur Seite und hockte sich am Wegesrand nieder. „Ha, habe ich doch richtig gesehen.“ Das Mädchen sah zu ihrem Bruder auf. „Du Max, ich habe ein Kleeblatt mit vier Blättern gesehen. Jetzt habe ich Glück, ich muss mir nur noch was wünschen. Aber ich darf dir nicht sagen, was ich mir wünsche, sonst geht es nämlich nicht in Erfüllung.“ Maja grinste ihm frech ins Gesicht.

Max verdrehte die Augen. „Ach Maja, dann behalte doch deinen Wunsch einfach für dich. Damit du heute Glück haben kannst.“

Endlich gingen die Kinder weiter. Sie kamen der Bushaltestelle näher – sie war bereits in Sichtweite – aber der Bus war noch nicht zu sehen. Standen die anderen Kinder alle im alten kaputten Wartehäuschen, in dem es durchregnete, sobald auch nur ein Tropfen Wasser vom Himmel fiel? Zu spät konnten sie nicht sein, überlegte Max und blickte auf seine Armbanduhr, die ihm das bestätigte. Aber wo blieben denn die anderen Kinder, fragte sich der Junge? In fünf Minuten sollte der Bus doch schon abfahren. Es war tatsächlich so, dass er oft etwas später kam, als es im Fahrplan angegeben war, aber einige Kinder mussten sich doch schon an der Haltestelle befinden. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als einige seiner Mitschüler vom anderen Ende der Straße in sein Blickfeld gerieten. Erleichtert atmete Max aus.

Sie erreichten die Brücke, die über die Au führte und die sie auf ihren Schulweg passieren mussten. Plötzlich blieb Maja stehen und zupfte Max an seinem T-Shirt. „Du, Max…“

„Was ist denn?“, fragte er.

Mit starren, geweiteten Augen sah das Mädchen ihren Bruder an und flüsterte leise: „Da ist was im Wasser!“

Max sah seiner Schwester ins Gesicht. „Na, klar ist da was im Wasser, Fische und Steine…“

Aufgeregt unterbrach sie ihn mit hektisch bewegenden Armen. „Da ist wirklich was im Wasser, Max, ein Mensch!“

„Was du auch immer siehst, Maja. Kein Mensch sieht alles das, was du immer entdeckst.“ Seine Stimme klang freundlich, eher anerkennend als höhnisch oder gereizt.

„Wirklich, Max, ich glaube, wir müssen einem Erwachsenen sagen, dass sich ein Mensch im Wasser an der Brücke festhält.“

Nun hatte sie Max davon überzeugt, dass etwas nicht in Ordnung war und sein Interesse geweckt. Er ging vom Bürgersteig zur Au herunter. Nun sah er, was Maja gemeint hatte. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Schnell drehte er sich wieder um und zog seine Schwester mit sich fort.

Maja konnte kaum mit ihrem Bruder mithalten, so schnell ging er von der Brücke mit ihr weg. Sie verstand nicht, was ihn plötzlich zu dieser Eile drängte, und beschwerte sich: „Was soll das, Max? Warum ziehst du so doll an mir, willst du mir den Arm ausreißen? Warum rennst du überhaupt so schnell von der Brücke weg? Und warum soll ich mitkommen? Der Bus ist doch noch gar nicht da!“

„Komm mit, Maja! Ich will nicht, dass du das siehst. Du hast recht, ein Mann liegt im Wasser. Aber er hält sich nicht an der Brücke fest. Er ist tot, Maja. Das müssen wir jemanden sagen.“

Nun folgte das Mädchen bereitwillig ihrem Bruder. Dabei dachte sie enttäuscht: „Einen toten Mann will ich wirklich nicht sehen. Und außerdem sollte ich doch Glück haben. Der Zauber eines Kleeblattes mit vier Blättern taugt wohl doch nichts. Es ist doch kein Glück, einen toten Mann zu finden!“

*****

Die Kinder liefen zur Bushaltestelle. Dort trafen sie auf den Bürgermeister des Dorfes, der sein Auto einige Meter weiter geparkt hatte und den Gehweg reparieren wollte, weil die Wurzeln der Bäume, die daneben wuchsen, den Asphalt aufgebrochen hatten. Hubert Bindenagel war bereits über siebzig Jahre alt und seit fünfzehn Jahren Bürgermeister von Aantenbek. Für sein Alter war er noch sehr fit. Jeden Tag konnten die Aantenbeker ihren Bürgermeister bei irgendeiner Arbeit sehen. Im Dorf erledigte der Rentner viele Arbeiten persönlich. Mit seinem Einsatz ersparte er der Gemeinde Jahr für Jahr viel Geld. Alle witterungsbedingten oder von Baumwurzeln verursachte Schäden, die er beseitigen konnte und für deren Reparatur der Gemeinderat normalerweise eine Firma beauftragen müsste, erledigte er gern selbst. Auch mähte er den Rasen auf den öffentlichen Flächen und pflegte die neuangewachsenen Pflanzen und Bäume des Ortes, die sich in der Nähe des Dorfplatzes befanden. Aantenbek war ein sauberes und gepflegtes Dorf, in dem sich seine Bewohner wohlfühlten. Aber auch viele Gäste und Touristen kamen gerne hier her, weil das Dorf ein schön anzusehender Marktflecken war.

Hubert Bindenagel war ein Mann, der sehr kinderlieb war. Er freute sich jeden Tag, wenn er morgens die kleinen Familienmitglieder aus seiner Nachbarschaft sah, die auf den Schulbus warteten und dabei an der Haltestelle ausgelassen umhertobten. Manchmal musste er sie freundlich ermahnen, damit sie auf den Straßenverkehr achteten, schließlich sollte keines der Kinder aus Versehen verunglücken. Schließlich fuhren heute in der Dorfstraße viel mehr Autos als in früheren Zeiten. Jedoch blieb das auch hier in einem überschaubaren Rahmen.

Max und Maja liefen direkt auf ihn zu. Schon von Weitem riefen sie aufgeregt seinen Namen. „Herr Bindenagel, Herr Bindenagel!“

Die Kinder an dem alten Wartehäuschen begannen Greif zu spielen. Solange keines von ihnen auf die Straße lief, durch die immer noch der Berufsverkehr rollte, sollten sie doch ihren Spaß haben, dachte Hubert Bindenagel. Als er Max und Maja bemerkte, sah er, dass die Kinder sehr aufgeregt waren. Er ahnte, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste, dass sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. Er lächelte die beiden Geschwister an und strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, um sie zu beruhigen, und ging auf sie zu. Freundlich sprach er zu ihnen. „Nanu, was hat euch denn so aufgeregt. Ist etwas passiert?“

„Ja, Herr Bindenagel, an der Au-Brücke liegt ein Mann im Wasser. Ich glaube, er ist tot“, rief Max und knetete seine Hände. Der Junge war vor Schreck ganz blass geworden. Wenn dort wirklich ein Toter lag, hatten die Kinder wahrscheinlich ihre erste Leiche gesehen. Dass sie das ängstigte, konnte der alte Mann verstehen.