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Eingeholt von der Vergangenheit durch ein schlichtes Kinderlied, erkennt in der ersten Erzählung ein Mann, dass er schuldig geworden ist. Doch er erfährt auch die beglückende Wirklichkeit der Vergebung. In der zweiten Geschichte »Lass es wegmachen« signalisiert dieses kleine »es« Wirklichkeit. Da ist schon Vollendung im Werden. Eine junge Mutter begreift dieses Geheimnis. Entschlossen gegen jeden Widerstand, ist sie bereit, sich selbst und das werdende Leben im Angesicht des Schöpfers zu schützen: »Ihr Mann hatte die Schlacht verloren; denn der heutige Tag bescherte dem keimenden Leben einen unüberwindbaren Schutz: Das Herz einer liebenden Mutter.« Wohin mit der Schuld? Das ist der heiße Kampf eines alten Bauern, der gegenüber seiner Tochter eine schwere Schuld auf sich geladen hat. Aufgewachsen im Halbdunkel eigener Werksgerechtigkeit, muss er auf dem Sterbebett erfahren, dass diese »Gerechtigkeit« seine Schuld nicht auslöschen kann. Da hört er durch seinen Sohn die Botschaft des streitbaren Mönches Dr. Martin Luther. Kann ihn diese »fremde Gerechtigkeit« Christi in letzter Minute noch aus dem Rachen der Hölle retten …? Zufall! Schicksal! Spielball der Sinnlosigkeiten! Dieses düstere Klima bestimmt weithin das Leben des modernen Menschen; gewissermaßen vorprogrammiert im Sinn des bekannten Nietzschewortes: »Die Welt ein Tor zu tausend Wüsten, stumm und kalt.« Demgegenüber wollen die drei nachfolgenden Geschichten den göttlichen Horizont bezeugen, dass auch der heutige Mensch von der Wirklichkeit des lebendigen Gottes gerufen, eingeladen und geborgen sein soll. Das eBook »Der Engel war ein Kind« beinhaltet 7 Erzählungen.
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Seitenzahl: 84
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Der Engel war ein Kind
7 Erzählungen
Heinz Böhm
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Heinz Böhm
Cover: Eduard Rempel, Düren
ISBN: 978-3-944187-99-0
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
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Das vergessene Kinderlied
Lass es wegmachen …
Der Engel war ein Kind
Was ist der Mensch?
Wenn alles gelaufen ist …
In der Vergebung geborgen
Ach ja, das Gewissen
Der Gastwirt und sein Kellner wechselten einen schnellen Blick. Das hatte gerade noch gefehlt! Beinahe zwei Wochen war dieser Schwätzer Willi Leukoff nicht mehr im »Goldenen Anker« gewesen. Der Wirt hatte schon gehofft, er werde nicht mehr auftauchen. Nun stand er im Eingang, die dickglasige Brille bis auf die Nasenspitze geschoben, offensichtlich erwartend, dass die vielen Gäste sein Eintreten beachteten. Doch kaum einer nahm Notiz von ihm, und wenn dennoch einige Köpfe herumfuhren, dann wegen des kalten Luftzugs, der durch die geöffnete Tür hereinstrich.
Willi Leukoff drückte die Tür mit seinem Rücken zu, dann steuerteer auf die Theke los. Der Ankerwirt grinste dem Gast entgegen. Obwohl dieser arme Hund für höchstens vier Bierchen drei Stunden einen Hocker oder Stuhl beanspruchte, so fiel er immerhin unter die alte Regel, dass der Kunde in jedem Fall König sei. Auch der Kellner zauberte ein Lächeln auf die Lippen. Willi zog einen abseits stehenden Barhocker an die Theke und brummte seine Bestellung.
»Bier und Doppelkörnchen!« Solange er nicht sein übliches Quantum in sich hinein geschüttet hatte, überstieg seine Geschwätzigkeit keineswegs den Wortumsatz der anderen Gäste. An diesem kalten Oktoberabend aber legte er sofort los. Offensichtlich hatte er sich in einer anderen Kneipe schon vorgewärmt. »Aufhängen sollte man sie alle, ja aufhängen!« Der Wirt ließ das gefüllte Bierglas kurz auf der Tropfplatte stehen, dann schob er es dem ändern zu. Der nahm einen kräftigen Schluck, dann zupfte er sich am Ärmel seiner zerschlissenen Jacke.
»Ob jemand Grips hat, ist heut zweitrangig. Kleide einen Schimpansen neu ein, und es gibt einen Arbeitslosen weniger.« Diese immerhin aufschlussreiche Einleitung des hereingeschneiten Gastes ließen den Grund seines Ärgers keineswegs im Dunkel. Also konnte man eine weitschweifende Erklärung abblocken.
»Also wieder mal vergeblich die Klinken geputzt«, sagte der Wirt. Willi Leukoff kippte den vor ihm stehenden Doppelkorn hinunter und nickte eifrig. »Genau. Dabei war ich mit einem Fuß schon drin. Der Meister in der Ladehalle schien nicht abgeneigt, mir einen Lob zu geben, aber der im Personalbüro … Schon die Blicke zwischen ihm und seiner Angestellten sprachen Bände, wenn du weißt, was ich meine?«
»Und ob«, versicherte der Ankerwirt, insgeheim froh, dass der andere den Blickwechsel zwischen ihm und dem Kellner nicht bemerkt hatte. Oder vielleicht doch?
»Willi!« Der Wirt schaltete auf menschliche Wärme; »kannst mir glauben, dass ich dir gern einen Job vermitteln würde, aber mein Vitamin B reicht nicht bis zu den einflussreichen Regionen, wenn du weißt, was ich meine.« Willi Leukoff lächelte geschmeichelt. Offensichtlich hatte dem Ankerwirt seine Formulierung imponiert, dass er sie sofort auf dem Sprachtablett zurück servierte.
»Schon gut, irgendwann wird's schon mal klappen.« Plötzlich legte sich um seinen Mund ein bitterer Zug. Er kniff seine Augen zusammen, dass sie hinter der dicken Brille nur noch ein paar schmale Schlitze bildeten. Wenn ich nur das elende Sklavenbewusstsein aus meinem Kreislauf herausbrächte.
Von frühster Kindheit an ist es mir von meinem alten Herrn eingeimpft worden. Es war schon mehr eine Blutübertragung. Wie der fast auf dem Fußboden herumkroch, wenn sein Chef mal auftauchte. »Immer schön hinten bleiben, und eines Tages wirst du von den Vordersten beachtet und wirst nach vorn geholt.«
Der Ankerwirt kannte diese Klänge. Immer wenn er die unselige Flucht in die Vergangenheit antrat, war dies ein untrügliches Signal seines Alkoholkonsums. Willi Leukoff stierte vor sich auf das breite Messingband der Thekenumrandung, dann schimpfte er los. Zum Glück nicht laut, noch nicht, sondern mehr in einer Art vorwurfsvollem Selbstgespräch. »Aber da hat er sich gehörig in den Finger geschnitten. Niemand dachte daran, diesen Kriecher nach vorn zu holen. Im Gegenteil, er blieb der letzte Dreck, und so wurde er auch behandelt. Nur wenn er einen voll getankt hatte, fühlte er sich als der Größte. Mut hatte er nur, wenn er unsere Mutter schikanieren konnte.«
Willi Leukoff leerte das angetrunkene Bierglas und schob es dem Wirt hin. »Noch mal, Bierchen und Doppelkorn.« Offensichtlich wusste er den misstrauischen Blick des ändern sofort zu deuten. Er fuhr mit seiner zitternden Hand in die rechte Jackentasche und zog einen zerknitterten Zwangzigmarkschein heraus. »Zufrieden?«
»Hab doch nichts gesagt«, brummte der Wirt. »Aber gedacht, mein Lieber, gedacht.« Er grinste vielsagend. »Deine Kneipe war doch so leer wie die Autobahn bei der Ölkrise, wenn deine besten Kunden wüssten, wie du wirklich über sie denkst.«
»Ist doch alles Quatsch!« zischte der Mann hinter seiner Theke, atmete aber erleichtert auf, als das Telefon herausfordernd schrillte. Eine knappe Stunde später hockte Willi Leukoff in seiner erbärmlichen Mansarde und starrte mit brennenden Augen auf die fleckige Tapete. Der kalte Oktoberwind, prickelnde Regenschauer vor sich hertreibend, hatten die Wirkung einer ernüchternden Kaltwasserkur. Schon während er durch die Parkanlage gestapft war, hatte er sich über seine dumme Quatscherei geärgert. Dass er immer die gleichen Probleme vor den ändern hin baggerte, änderte seine Situation keineswegs; sie bestätigten nur, dass er ein hoffnungsloser Versager war. Wenn er doch nicht immer vor den ändern seinen Müll auskippte. Ins Gesicht waren die freundlich, aber heimlich, besser nicht darüber nachdenken. Aber wenn man das Denken nicht abstellen konnte! Und wie so oft in den letzten Tagen, stand wie hinge-zeichnet die Gestalt seines Vaters vor ihm. Dabei überblendeten sich die Bilder. Er sah ihn aus den Tagen seiner Kindheit, zugleich aber als müde, gebeugte Gestalt, die mit einer armseligen verschnürten Kiste, hinter dem schmiedeeisernen Tor eines namenlosen Altenheims verschwand.
Willi Leukoff reckte seine müden Knochen. Einmal hatte er versucht, die Sklavenideologie seines Vaters zu durchbrechen und war von hinten nach vorn gestürmt. Hier war er dann naturgemäß mit einem Vordersten zusammengerasselt. Diesem Vordersten gegenüber hatte er alles herausgebrüllt, was sich in seinem Herzen, noch deutlicher, in seiner Galle gestaut hatte. Erwartungsgemäß gab es nach diesem Auftritt den üblichen Richtungswechsel; nämlich von hinten nach draußen. Schwer angeschlagen hatte er versucht, das Duett gegen alle menschliche Ungerechtigkeit gemeinsam mit seinem Vater zu singen, doch der hatte mit nachsichtigem Sokrateslächeln abgewinkt und kommentiert:
»Mein Sohn, der Heißsporn, hat wieder mal die Lokomotive mit dem letzten Wagen verwechselt.«
Willi Leukoff stand die Szene deutlich vor Augen. Diese Ironie in den zwei Worten »wieder mal« hatten ihn in Weißglut gebracht. Kreidebleich hatte er vor seinem Vater gestanden und seine ganze Verachtung mit Wonne herausgeschrien. »Du bist doch bis in deine alten Tage hinein immer letzter Wagen und damit letzter Dreck gewesen!«
Der nächste Satz war nicht mehr notwendig gewesen; denn schon dieser erste Pfeil hatte voll ins Schwarze getroffen. Nach Luft ringend, augenblicklich verfärbt wie ein Toter, hatte der alte Mann nach seinem Herzen gegriffen. »Das – das wagst du deinem Vater zu sagen!« – »Noch mehr, noch viel mehr!« hatte Willi Leukoff herausgeschrien, doch dann hatte sich sein Gesicht zur Grimasse verzogen. »Ach was, schweigen ist oft eine größere Verachtung als reden, und du – du bist nichts anderes wert!«
Zwei weit aufgerissene Augen, hilflose Gebärde mit mageren Armen, gezeichnet von einer tiefen Erschütterung, so hatte er seinen Vater zum letzten Mal gesehen. Nahezu triumphierend war er aus dem Altenheim geflohen; in dem Bewusstsein, endlich, endlich eine Rechnung beglichen zu haben, die längst fällig gewesen war. Warum aber brachte er dieses Erlebnis nicht unter seine Füße? Obwohl schon zwei Jahre darüber ins Land gegangen waren, stand diese Szene immer wieder neu vor ihm. Doch gelegentlich gelang es Willi Leukoff sein Gewissen so einzuspinnen, beruhigt mit dem einleuchtenden Argument, dass eine Minute heißer Zorn keine allzu kostspielige Quittung für ein verpfuschtes Leben war. Und verpfuscht war sein Leben.
Oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, es wie ein schmutziges Tuch einfach wegzuwerfen, doch die Ungewissheit, es könne mit dem Tode doch nicht alles aus sein, hatten bisher den Sprung ins Dunkel verhindert. Allerdings wiederholte sich an diesen langen Herbstabenden – wie schon im vergangenen Jahr –, dass sich zwischen die dunklen Bilder seiner Kinder- und Jugendzeit auch lichte Szenen dazwischenschoben. Einmal, die abgearbeiteten gefalteten Hände seiner Mutter über dem rissigen runden Frühstücksbrett; ihr kurzes Gebet um Brot und andere Dinge, dann fallende Blätter, silbergraue Buchenstämme, Brombeerhecken mit bräunlichen zusammengerollten Blättern, vertrockneten Beeren und seine kleine Kinderhand, geborgen in der kräftigen Hand seines Vaters. Und gegen diese Bilder konnte er nur mit einer dauernd negativen Phantasie, dass allein der Vater Ursprung seiner hoffnungslosen Misere war, einen Schutzwall gegenüber seinem Gewissen errichten.
Am nächsten Morgen stand Willi Leukoff am geöffneten Fenster und sog die frische Luft in seine Lunge. Lange nach Mitternacht war er in einen unruhigen Schlaf gefallen, geplagt von bedrückenden Träumen. Über dem bunten Blätterdach des nahen Parks wölbte ein blauer Himmel; gerade das rechte Wetter, um aus dem Kerker der erdrückenden Wände zu fliehen. Sachte taumelten aus den flimmernden Baumkronen braune Blätter hernieder. Willi Leukoff schloss das Fenster, angelte seine dicke Winterjacke vom Haken und verließ die Wohnung. Als er hastig über die rotsandigen Parkwege schritt, überfiel ihn die Traurigkeit wie das übergeworfene Netz eines geschickten Vogelstellers. Nicht seine erbärmliche Mansarde engte ihn ein; er selbst war der Kerker.
Das äußere Sonnenlicht dieses Herbsttages hatte keine Kraft, seine verdunkelte Seele zu erleuchten. Unweit des kreisrunden Goldfischteiches ließ er sich auf eine Bank sinken. Plötzlich drang eine singende Kinderstimme an sein Ohr. Eine junge Mutter kam langsam auf den Teich zu, einen Kinderwagen vor sich herschiebend; an der rechten Seite den kleinen Sänger. Durch eine buntgefärbte Hecke blieb der einsame Lauscher den Blicken der Herannahenden verborgen. Der Kleine wiederholte dauernd nur einen Satz in seinem Lied: »Kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.«