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Alle Träume, Wünsche und Sehnsüchte treiben den Abiturienten Alexander Steinfeld auf die Bretter, die die Welt bedeuten: Er möchte um jeden Preis Schauspieler werden. Sein Wunsch wird Wirklichkeit. Ausstrahlung und engagierte Darstellung machen ihm in der Provinz schnell einen Namen. Auch privat geht es gut: Zusammen mit seiner Frau Kerstin hat er viel Freude an seinem Sohn Sascha. Eines Tages kommt Bewegung in die Szene. Der bekannte Dramatiker Gerd von Drossen bietet ihm die Hauptrolle in seinem neuen Stück an. Seine aufrüttelnden Szenen sind eine einzige Herausforderung Gottes. Sein Hauptdarsteller Steinfeld muss dabei eine Lästerung des Sohnes Gottes herausschreien, um einen glaubwürdigen Höhepunkt zu gestalten. Damit ist der Konflikt programmiert: Steinfeld sucht den beruflichen Durchbruch, der mit der Premiere dieses Stückes in einem großen Haus, einer Fernseh-Direktübertragung und Millionen Menschen an den Bildschirmen in greifbarer Nähe erscheint. Auf der anderen Seite müsste er in seiner Rolle den verlästern, der seinem Leben bisher einen bestimmten Halt gegeben hat. - Steinfeld entscheidet sich für die Karriere. Große Rollen, Reisen und Filme folgen. Sein Leben bleibt mit dem des agnostischen, aber erfolgreichen Autors von Drossen verbunden. Doch nicht nur auf der Bühne, auch in seinem Leben wird es dramatisch: Sein Sohn erkrankt lebensgefährlich. Bei Gerd von Drossen wird Krebs festgestellt. In der Krise wird Gott - für Steinfeld lange abgeschrieben - wieder aktuell. Er findet zu einem neuen Anfang im Glauben, der sich in einem klaren Zeugnis gegenüber dem sterbenden Dramatiker Gerd von Drossen bewährt.
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Seitenzahl: 201
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Wenn der Vorhang fällt
Erzählung
Heinz Böhm
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Heinz Böhm
Cover: Casper Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-070-4
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Titelblatt
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Unsere Empfehlungen
Das nächtliche Meer glänzte wie Silber. Ich stand oben am steil abfallenden Hang der Düne und blickte auf die heranrollenden Wogen. Es hatte mich in die Einsamkeit getrieben, um das Wunder, welches mir widerfahren war, zu bedenken. Lange hatte ich wach in meinem Zelt auf der Luftmatratze gelegen, dann hatte ich mich von meinem Lager erhoben und war hinaus in die Nacht gewandert. Über den Dünen, durch deren dünnes Gras der Nachtwind strich, stand drohend eine schwarze Wolke.
Ich versuchte mir Rechenschaft abzulegen, ob diese Nacht irgendwie in unbeabsichtigter aber wirkungsvoller Weise eine Parallele zu der Geschichte von Jesus und dem Schriftgelehrten Nikodemus bildete, die der Pfarrer eindringlich und plastisch vor uns entfaltet und ausgelegt hatte. Doch immer mehr wurde mir bewusst: Nicht der äußere Rahmen dieser Geschichte hatte mich in meinem Herzen erschüttert, vielmehr hatte mich die gleiche Botschaft mit einer Urgewalt getroffen: »Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde.«
Dieser eine Satz hatte bei mir eingeschlagen. Nach der Auslegung dieses Wortes aus dem Johannesevangelium hatte ich den Pfarrer um ein Gespräch gebeten. Wir waren hinaus in die Dünen gewandert. Bald hatten sich die letzten Stimmen verloren, und um uns lag die schweigende Nacht.
Der Seelsorger hatte mich nicht mit Fragen bombardiert, oder soll ich sagen, nicht herausgefordert? Geduldig saß er mir gegenüber, und wir hatten auf das bewegte Meer geschaut. Dann hatte ich von mir aus das Gespräch begonnen.
»Ihr Wort hat mich getroffen, das Wort von der neuen Geburt.« Der andere schien mir kaum überrascht zu sein. In einer völlig unbeladenen Sprache war seine Antwort gekommen: »Wir haben diese Freizeit nicht nur äußerlich organisiert, sondern es wird schon seit- Monaten für diese Freizeit gebetet.«
Obwohl ich diese Sprache vorher nie gekannt hatte, begriff ich sofort, was der Seelsorger damit aussagte.
Mein Freund Jochen hatte mich zu dieser Freizeit eingeladen. Er hatte die Insel mit ihren Dünen und dem weiten Strand in den buntesten Farben geschildert, – allerdings auch nicht verschwiegen, dass die Bibelarbeiten nicht nur am Rande des Lagers mitliefen, sondern sozusagen die Mitte dieser Freizeit bilden sollten.
Ich war also gewarnt. Lachend hatte ich zu Jochen gesagt: »Falls ich mich in diesem frommen Ghetto nicht wohl fühlte, würde man mich wohl kaum in den Dünensand eingraben und bewachen.« Er hatte gelächelt und mir erwidert: »Bei Gott geschieht alles in absoluter Freiheit, wie könnten wir dann anders handeln wollen?«
Diese Gedanken waren mir durch den Kopf gegangen, als ich dem jungen Seelsorger gegenübersaß. Kurz hatte ich ihm von Jochens Einladung erzählt, ihm meine Einwände gegen eventuelle Seelendressur nicht verschwiegen, aber nun hätte mich die Botschaft ganz existentiell getroffen. Der Seelsorger war aufgestanden, hatte sich den Sand von seinen Shorts geklopft und mich dann angeblickt. »Das wird es sein, Herr Steinfeld. Sie haben wohl die Botschaft aus meinem Mund gehört, aber da ist hinzugekommen, worüber wir als Menschen nicht verfügen.« Ich hatte den Sprechenden etwas verständnislos angesehen. »Ich meine jene Unverfügbarkeit«, er bemühte sich, mir klar zu antworten, »die unsere menschlichen Sprachhülsen mit einer Kraft füllt, über die wir nicht verfügen, Herr Steinfeld.«
»Herr Pastor, sagen Sie ruhig Alexander zu mir«, hatte ich ihn etwas unsicher aufgefordert; denn bis auf gelegentliches Grüßen und einige kurze Sätze innerhalb des Lagers war ich dem Pfarrer bisher noch nicht näher gekommen.
»Gut, Alexander.« Er lächelte mich mit einem halb fragenden, halb fordernden Blick an, dann faltete er seine Hände und deutete durch eine kurze Gebärde an, dass er für mich beten wollte. Ich hatte nur genickt. Ich sah, wie sein Kopf sich senkte. Nüchtern rief er den Herrn an, dessen Gegenwart wir spürten, beinahe so wie den Salzgeruch, der vom Meer herüberwehte.
Nach seinem kurzen Gebet formten auch meine Lippen holprige Sätze, aber sie strömten aus einem übervollen Herzen. Nach dem gehauchten »Amen« war ich der festen Überzeugung, dass sich vor mir der weite Raum zur göttlichen Vergebung geöffnet hatte.
Als wir zurück zum Lager kamen, hatten sich die meisten schon in ihr Zelt verkrochen. Auch mein Freund Jochen. Ich hatte lange wachgelegen, eine Stunde, zwei Stunden und über das Wunder des Glaubens nachgedacht.
Mein Leben gehörte dem Herrn, den ich bisher nur dem Namen nach gekannt hatte. Seltsam, dass dieser Name mir so wenig bedeutet hatte, obwohl ich doch wusste, dass man ihn als Sohn Gottes bezeichnete.
Nun saß ich auf der Düne und blickte hinunter auf die heranrollenden Wogen. Was würde Jochen zu meinem Schritt sagen? Er hatte mir und dem Seelsorger nachgeblickt, etwas im Schatten eines Zeltes stehend, und glaubte wohl, ich hätte seinen Blick nicht mehr wahrgenommen. Ober befürchtete, ich wollte mit dem Seelsorger nur diskutieren, intellektuellen Schaum schlagen? Diesen traurigen Ruhm hatte ich mir in unserer Klasse eingehandelt.
Selbst beim Abitur hatte mich ein Oberstudienrat ironisch mahnend gewarnt, er sei heute nicht da, um zu diskutieren. Mir war es angesichts dieser Warnung erschreckend aufgegangen, dass meine Diskutiersucht schon eine Krankheit geworden war.
Beinahe mechanisch stieß ich mich vom Rand der Düne ab und rutschte über die kühle Sandfläche den Abhang hinunter. Kilometerweit grenzte die weiße Linie der schäumenden Wogen sich von dem Land ab. Ich stapfte bis an den Rand der See, und es schien mir fast wie eine Überlegenheit, dass ich kleiner Mensch die Möglichkeit hatte, dem Meer auszuweichen.
Ich ließ die Wellen immer wieder einige Zentimeter vor meine Zehen spülen und verfolgte, wie sie scheinbar ohnmächtig zurückglitten. Aber dann hüpfte ich erschrocken in die Höhe. Eine Welle, die ich nicht berechnet hatte, sprang heran, umrauschte meine Füße, lief drei Meter hinter mir im Sand aus und kehrte zurück. Diese Überraschung wurde mir auf einmal zu einem Gleichnis.
Wir halten uns für so geschickt im Berechnen, planen und grenzen alles ein, und plötzlich werden wir von einer Welle umspült, zum Heil oder zum Unheil.
Mich erfasste eine tiefe Geborgenheit. In der Botschaft von dem gekreuzigten Christus hatte mich eine Welle erfasst, die ich vorher weder eingeplant noch berechnet hatte.
Tausende und aber Tausende von hüpfenden Schaumkronen blitzten auf der unendlichen Fläche. Fasziniert gab ich mich diesem großen Naturschauspiel hin, dann wandte ich mich um und schritt langsam durch die silberne Nacht, dem Zeltplatz entgegen.
Behutsam schlüpfte ich in das große Rundzelt und wurde von dem Schnarchen und Atmen meiner Kameraden empfangen. Schon nach kurzer Zeit schlief ich ein. Ich erwachte durch den Morgenchoral, den ein Bläser der Gruppe jeden Morgen in den neuen Tag hineinblies.
Ich schlug die Augen auf und sah Jochens Blicke groß und fragend auf mich gerichtet. Ich nickte ihm zu, wortlos, und er hatte verstanden. Aus seinen Augen brach ein Licht, und als ich später einmal das bekannte Wort aus Lukas 15 las: »Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut«, da musste ich seltsamerweise an Jochens leuchtende Augen denken.
In einem völlig neuen Licht erschien mir am anderen Morgen die Welt. Als der Pfarrer unter der wehenden CVJM-Fahne mit lauter Stimme aus dem Losungsbuch Losung und Lehrtext las, war es mir, als bekäme ich kräftiges Schwarzbrot gereicht. Jochen beobachtete mich von der Seite, und als ich ihn ansah, nickte er mir aufmunternd zu.
In einem länglichen, geräumigen Zelt, das etwas hinter den Rundzelten am Rande eines kleinen Waldes stand, nahmen die achtzig jungen Burschen mit ihren Gruppenführern unter viel Lachen und Lärm das Frühstück ein.
Mit ganz anderen Augen blickte ich auf die braungebrannten, lebensfrohen sechzehn- bis siebzehnjährigen Jugendlichen, und es war mein Wunsch, dass sie doch alle eine gleiche Glaubenserfahrung machen sollten, wie ich sie gestern Abend gemacht hatte. Was für eine Aufgabe! Jungen Menschen die Botschaft von dem zu bringen, durch dessen hautnahe Wirklichkeit das Leben Fundament und Sinn bekommt!
Nach dem Frühstück gab der Pfarrer bekannt, dass man bis zum Mittagessen schwimmen könne. Für abends war eine tolle Schnitzeljagd geplant. Die Meute der Jungen grölte begeistert los. Der Seelsorger klopfte auf die Tischplatte vor sich und die Stimmen verloren an Lautstärke. Er sah sich in dem Zelt um, dann gab er bekannt, dass er alle Gruppenleiter noch ganz kurz sprechen wolle.
Es waren acht junge Männer, die im Zelt zurückblieben. Auch Jochen gehörte dazu. Ich sah es als eine besondere Bevorzugung an, als mich die Blicke des Pfarrers trafen und andeuteten, ich solle bei dieser Besprechung ebenfalls Zurückbleiben.
Die meisten Jugendlichen stoben lachend und schreiend, Tasse und Teller in ihren Händen, aus dem Zelt hinaus. Dass sie zu jeder Mahlzeit sauberes Geschirr hatten, das gehörte mit zu ihrer eigenen Verantwortung.
Mir war es peinlich, als mich die Mitarbeiter anschauten. Sie waren knapp unter und knapp über 20 Jahre, und ich glaubte schon, der Pfarrer würde jetzt meine nächtliche Bekehrungsstunde in allen nur erdenklichen religiösen Farben zum Besten geben.
Aber auch hier verblüffte mich wieder seine Nüchternheit. »Unser Alexander«, so sagte er nur kurz, indem seine dunklen Augen mich freundlich ansahen, »gehört jetzt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zu uns, weil er zu Jesus gehört.«
Ich hatte den Kopf gesenkt. Auf einmal spürte ich Jochens Hand auf meiner Schulter. Ich hob den Kopf und blickte der Reihe nach die Mitarbeiter an. Alle freuten sich. Nach der kurzen Besprechung, die den traditionellen, jährlich stattfindenden Tagesausflug auf einem Fischkutter betraf, wurden wir entlassen. Meine Blicke trafen sich mit denen meines Freundes.
»Ich hätte gern noch etwas mit dir beredet«, sagte ich leise, als die anderen sich erhoben hatten und das Zelt verließen. »Gut, wir können ja noch ein bisschen in die Dünen hinauswandern, oder sollen wir uns im nahen Strandcafé zusammensetzen?«
Der junge Pfarrer trat zu uns beiden. »Mutig voran, Alexander«, lachte er. Ohne Jochen dabei anzusehen – ich hoffte, dass er nicht empfindlich reagieren würde -, fragte ich den Seelsorger, ob er Zeit für ein Gespräch hätte. Er blickte auf seine Uhr und nickte. Jochen war offensichtlich kein bisschen beleidigt. Er freute sich, dass ich mich langsam zu öffnen begann. Als Freund kannte er mich und wusste, dass ich ziemlich verschlossen sein konnte.
Zwanzig Minuten später saßen wir in dem gemütlichen Strandcafé, dessen breite Fenster den Blick auf das Meer freigaben. Die hübsche schwarze Kellnerin (auch der neue Mensch weiß solche Vorzüge noch zu schätzen, stellte ich fest) kam lachend auf den Tisch zu. Sie fragte nach unseren Wünschen. »Drei Kaffee bitte, wenn es recht ist«, bestellte Jochen, und wir nickten.
Drüben am scharf abgegrenzten Horizont tauchte ein Schiff auf. Das Mädchen brachte den Kaffee und registrierte unsere Blicke mit einer geradezu weiblichen Selbstverständlichkeit. Wir blinzelten einander verschmitzt zu. Da überzog sich ihr schmales reizvolles Gesicht mit einer flüchtigen Röte, und sie trippelte in kleinen Schritten davon. Wir starrten durch das Fenster auf das Meer, und keiner sprach zunächst ein Wort. Mir war klar: Ich hatte um ein Gespräch gebeten, also musste ich es beginnen. Auch Jochen tat mir nicht den Gefallen, mir eine Frage zu stellen.
Auf einmal kam mir alles so lächerlich vor. Würden sie meine rein weltlichen Sorgen überhaupt verstehen, wo ich doch erst gestern aus dem »geistlichen Ei« geschlüpft war?
Ganz gleich, ich hatte A gesagt und darum musste ich wohl jetzt auch mit dem B herausrücken. »Es ist mir ein Wunder«, so begann ich nach einigen Minuten des Schweigens, »dass mir Jesus plötzlich zu einer Realität geworden ist. In den Nachtstunden wurde es mir klar, dass er mein Leben fortan führen soll. Aber« – ich erinnerte mich an Faust I. Teil und zitierte: »hier stock ich schon, wer hilft mir weiter fort?« Die beiden schmunzelten. »Bekenn uns erst des Pudels Kern, dann helfen wir dir gern«, rezitierte mein Freund, und wir lachten laut heraus.
Einige ältere Gäste schauten missbilligend von ihren Kaffeetassen auf.
»Ich will es ohne Umschweife sagen: Wie kann ich von Führung sprechen, wenn ich gewissermaßen durch eigenes Handeln meinen Weg schon vorgezeichnet habe?«
Diese noch rätselhafte, aber doch immerhin schon verheißungsvolle Aussage ließ die anderen beiden aufhorchen. Der Pfarrer sah mich an.
»Dass du deinen Verstand auch im Blick auf deine Zukunftspläne jetzt nicht einzuschließen brauchst, das wird dir ja klar sein.«
Ich senkte den Blick und rührte in meinem Kaffee.
Mein nächster Satz musste wohl wie ein mittlerer Schock wirken, denn Jochens Augen und auch die des Pfarrers wurden plötzlich rund und groß. »Ich habe meine Zeugnisse, meinen Abiturabschluss und einen langen handgeschriebenen Lebenslauf an zwei bekannte Schauspielschulen abgesandt.« Beide blickten mich an, als ob ich ihnen eröffnet hätte, dass ich fliegen könne.
»Schau-Schauspieler«, würgte Jochen mit trockener Kehle hervor. »Warum hast du mir nie etwas von deinen Plänen gesagt?« Ich lächelte ihn und auch den Pfarrer entschuldigend an. »Ich habe deine Frömmigkeit respektiert, Jochen. Denn Schauspielberuf und höchste Weltseligkeit werden doch in frommen Kreisen in einem Atemzug genannt. Außerdem habe ich von den Schauspielschulen noch keine Nachricht.«
Ich suchte die Blicke des Pfarrers. Sie begegneten mir offen und klar. »Wie sind Sie, das heißt, wie bist du auf diesen Gedanken, Schauspieler zu werden, überhaupt gekommen? Es ist ein schwerer Beruf, und die glücklich lächelnden Stars in den Zeitungen sind nur ganz wenige nach oben Geschwemmte. Die meisten haben einen harten Existenzkampf, namenlos, nur einer Stadt oder einer kleinen Provinz bekannt.«
»Ich weiß, Herr Stoll. Ich habe mich genau erkundigt. Die Durchschnittsgehälter der Schauspieler liegen zum Teil gewaltig unter dem Gehaltspegel von Industrie- und Wirtschaftsberufen. Nach zwei oder drei Jahren Studium werde ich nicht als fertiger Schauspieler entlassen, sondern eben als Anfänger. Und doch – vielleicht halten Sie mich für verrückt – glaube ich an meine …«, ich zögerte, aber dann sprach ich es doch aus, »glaube ich an meine Berufung.«
Jochen war sehr nachdenklich geworden. Er wandte sich an den Pfarrer: »Bei unserer Abiturabschlussfeier haben wir Teile eines bekannten Dramas aufgeführt. Und ich muss es hier ehrlich zugeben, Alexander war einmalig! Ich habe unsere Pauker in der ersten Reihe beobachtet. Die waren ganz einfach weg. Die hatten ganz vergessen, dass da oben auf der Bühne der Aula einer ihrer Schüler stand.«
Ich fühlte, wie die Hitze in mir emporstieg, und doch war ich dankbar, dass Jochen sich in diesem Moment so äußerte. Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, von dem sich an die Feier anschließenden Gespräch zwischen unserem Oberpauker und mir zu berichten. Es gehörte eigentlich dazu, und so begann ich zu erzählen:
»Nach der Vorstellung kam der Oberstudiendirektor zu mir und schüttelte mir mit beiden Händen kräftig die Hand.
,Haben Sie schon Berufspläne?‘ fragte er mich. Ich senkte den Kopf und spürte, wie mir schwindlig wurde. ,Nein, Herr Oberstudiendirektor‘, sagte ich leise; – ,Sie sind der geborene Schauspieler.‘
Mir war, als ob ich einen Schlag erhalten hätte, nur wusste ich nicht, ob er mich erniedrigt oder erhöht hatte. Ich blickte auf. Der Direktor hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet. Dann trat er noch einen Schritt näher an mich heran. Er nannte mich bei meinem Vornamen.
,Ihr Talent, Alexander, liegt nicht darin, dass Sie seitenlang aus Dramen aufsagen können, oder dass Sie unter Umständen einen Lehrer oder eine Tante so gut imitieren können, dass Ihnen vielleicht die Verwandten in Kaffeekränzchenstimmung applaudieren und Ihnen sagen: Du bist ja der reinste Schauspieler.
Nein, Alexander, das macht einen Schauspieler nicht aus. Ich meine etwas völlig anderes. Ich will mich nicht als Fachmann bezeichnen, aber ich habe doch den Eindruck, dass Sie eine Ausstrahlungskraft besitzen, die einfach fasziniert. Sie haben das seltene Talent, im Zuschauer etwas zu erwecken, was er so, wie Sie es darstellen, selbst empfindet. Man vergisst ganz, dass Sie Alexander sind. Man lässt sich in die Illusion hineintragen und erlebt diese im Augenblick als Wahrheit. Verstehen Sie, was ich meine?‘
Oh, ich verstand gut, und beinahe mechanisch habe ich genickt. ,Das, Alexander, wollte ich Ihnen nur sagen.‘ Nach einem gönnerhaften Blick wurde ich dann entlassen.
Wie ich danach heimgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Lange bin ich noch kreuz und quer durch den Stadtpark gewandert, in meiner Phantasie sah ich riesige Schlagzeilen, gute Kritiken und so weiter, und so weiter. Ja, so kann man spinnen, wenn einem das Herz wie ein Vulkan kocht.«
Jochen und der Pfarrer nahmen meine Selbstdegradierung nicht ernst. »Das gehört zu unserem Menschsein«, bemerkte der Seelsorger, dann forderte er mich auf, weiterzuerzählen. Ich blickte die beiden, den Pfarrer und meinen Freund, an.
»Das war es eigentlich. Auf jeden Fall, nach diesem Abend reifte in mir der Entschluss, Schauspieler zu werden.« Wir blickten uns alle drei an. Ich spürte: Dieser Seelsorger wollte mir keine vorgefertigte Antwort geben, und er gehörte nicht zu jener Gruppe Christen, die von vornherein Babylon und Bühne in einem Atemzug nennen. Auch Jochen hing gespannt an den Lippen des jungen Pfarrers, als dieser mir nach reiflicher Überlegung antwortete: »Lebenslauf, Schulzeugnis und alles Nötige sind also schon unterwegs?« – »Ja«, nickte ich.
»Sie werden also in absehbarer Zeit angeschrieben werden, werden vorsprechen müssen, und Sie wissen wohl auch, dass man …« er winkte sich selber ärgerlich ab, »du weißt doch, dass du bei der Prüfung durchfallen kannst? Es werden immer nur die Begabtesten ausgewählt.«
»Ich weiß«, nickte ich und schob die leere Kaffeetasse in die Mitte des Tisches. »Ich habe mich ganz nüchtern und illusionslos informiert. Die Auswahl ist äußerst streng, und durchschnittlich werden nur 10 bis 20 Prozent der Bewerber aufgenommen. Und doch«, ich zögerte ein wenig, »wenn ich die Chance bekomme, möchte ich es riskieren.« Wir schwiegen eine Weile und blickten alle drei auf die blaugrauen Wogen der heranrollenden See. Dann atmete ich tief durch und nahm das Gespräch erneut auf.
»Herr Stoll, nun ist es eben ein geistliches Problem geworden, und darum wollte ich mit Ihnen und Jochen darüber sprechen.«
Als beide schwiegen, stieß ich mutig weiter vor. »Sagen Sie es mir ehrlich: Lässt sich der Beruf des Schauspielers mit der Existenz des glaubenden Christen vereinbaren?«
Ich hatte in meiner aufkommenden Erregung wohl etwas laut gesprochen, so dass von ringsum die älteren Leute erstaunt nach unserem Tisch blickten.
Innerlich betete ich in dem Moment, mein Herr möge mir schenken, durch den Pfarrer jetzt keine billige Schubladenantwort zu erhalten. Und er erhörte mein Gebet. Pfarrer Stoll schnippte mit den Fingern und die Bedienung kam heran. Er zahlte für uns drei, dann rückte er den Stuhl hinter sich und erhob sich.
»Ja, Alexander; ich sehe hier keinen Gegensatz. Schauspieler sein ist ein Beruf wie jeder andere auch, und doch unterscheidet er sich von den meisten anderen Berufen. Er birgt die Gefahr in sich, schon vom Ansatz her, den Beifall der Menschen zu suchen. Ein Schauspieler ohne Beifall ist wie ein ausgetrockneter Fluss, aber wer sucht nicht den Beifall?
Seit dem Sündenfall sind wir, was unser Verhältnis zu Gott angeht, alle mehr oder weniger Schauspieler. Die Geistlichen sind hier nicht minder gefährdet als die Schauspieler.
Auch die Kanzel ist eine gefährliche Bühne; denn auch wir blicken von oben nach unten, auch wir beachten, wie das Publikum reagiert. Diese äußerliche Gegebenheit, dass ein Schauspieler naturgemäß den Beifall der Masse suchen muss, braucht ihn innerlich noch nicht zu gefährden. Gefährdet scheint mir ein Schauspieler als Christ mehr durch die Tatsache des allgemeinen Glaubensschwundes, dem naturgemäß die Dichter und Dramatiker zuerst ihre Stimme verleihen. Du wirst Stücke spielen müssen, die dich in einen starken Konflikt bringen, andererseits kannst du für deine Kollegen ein Zeugnis von Christus sein.« – »Genau das ist mein Ziel!« rief ich spontan aus. Ich war so von der Freude und Geborgenheit des Glaubens erfüllt, dass ich – ähnlich wie Petrus vor seiner Verleugnung – die Hand für mich ins Feuer gelegt hätte. Jochen und der Pfarrer sahen meine Begeisterung. Der Pfarrer legte mir die rechte Hand auf die Schulter. »Es gibt eigentlich keinen Beruf, der unsern Glauben nicht gefährdet, sobald wir ihn an die erste Stelle rücken.« Ich hatte ihn verstanden und nahm mir fest vor, meinen Schauspielerberuf nicht vor Jesus zu stellen.
Wir schritten über den feinen Sand am Strand entlang, vorbei an den vielen sonnenhungrigen Urlaubern, und mit einem Mal erfasste mich eine tiefe Freude. Darauf kam es doch an: die innere Beziehung! Und die – so stellte ich mir in meiner ursprünglichen Glaubensfreude vor-, die würde niemals abreißen.
Auch Jochen hatte nicht jenen bedenklich ernsten Blick, den manche Fromme plötzlich bekommen, wenn sie in Sorge die Sünde und Fallsucht des anderen berechnen. Er sagte: »Wir sind alle gefährdet, Herr Stoll.« Und nun schlug seine Botschaft wie eine Granate ein: »Ich danke Ihnen, dass Sie nicht allein meinen Freund beraten haben, denn auch ich habe schon lange darum gebetet, dass mir Gott meinen Weg zeigt.«
Wir blieben überrascht stehen. Jochen sah an uns vorbei. »Ich will auf jene gefährliche Bühne, zu der jeden Sonntagmorgen die Glocken rufen.« Jetzt blieb dem Seelsorger sozusagen die Spucke weg. »Du willst Theologie studieren?« Jochen nickte. »Ja, auch von mir ist ein Brief nach Tübingen unterwegs.« Der Pfarrer fasste uns spontan um die Schultern und lachte, lachte ein frohes und befreiendes Lachen.
»Wir haben es alle drei nötig, unseren Herrn zu bitten, dass er uns nicht aus seinen Händen fallen lässt. Und ich glaube, wenn er die Mitte unseres Lebens bleibt, dann dürfen wir dessen gewiss sein.«
Er wandte sich an mich und schaute mir fest in die Augen. »Danke, Alexander, für dein Vertrauen. Was soll ich abschließend sagen ? Wir werden füreinander beten und im Gespräch bleiben.«
»Vielen Dank«, konnte ich nur murmeln, und ich war froh, dass mir eine gnädige Sandwolke etwas Sand in die Augen trieb; denn welcher Mann will schon gern zugeben, dass Tränen nicht nur Frauensache sind.
Einige Wochen waren vergangen. Mein Herz war erfüllt von der Freude des heimgekehrten verlorenen Sohnes – Jochen war mir dabei wie ein Geländer in das für mich ganz neue Glaubensland hinein.
Zunächst hatte ich es nicht gewagt, meinen Eltern etwas von dem neuen Lebensweg zu sagen, aber dann, eines Abends, war es dazu gekommen.
Meine Mutter hatte mich erstaunt angesehen und gefragt, seit wann ich denn die Konfirmationsbibel aus dem Bücherregal in die Nachttischschublade verlegt hätte.
Diese Frage traf mich so überraschend, dass ich meine Blicke zunächst verzweifelt auf meinen leeren Teller heftete. Dann aber erinnerte ich mich an manches Gehörte im Freizeitlager, und es erschien mir wie ein Unrecht, dass ich bisher geschwiegen hatte. Ich schaute meine Mutter und auch den Vater voll an.
»Ich möchte meinen Lebensweg mit Jesus gehen«, brachte ich mit fester, aber doch etwas stockender Stimme heraus. In dem Moment wusste ich, warum ich einige Wochen geschwiegen hatte.
Über das runde Gesicht meines Vaters huschte ein hässlicher, überlegener Spott. Seine Mundwinkel krümmten sich zu einem Strich. Er wandte sich an Mutter.
»Nun hab ich geglaubt, einmal einen bekannten Schauspieler in meine Familie zu bekommen, und da wird mir ein Frömmler serviert.«
Er lachte kurz auf, voller Spott, aber zugleich auch mit einem Schuss Zorn. Zorn war es auch, der in diesem Moment über mich kam. Ich hatte einen bösen Satz in meinem Herzen. Glücklicherweise kam er nicht über meine Lippen. »Du kleinkarierter Prolet, der gerade noch imstande ist, seine Lohntüte nachzuzählen. Wer gibt dir das Recht, das Wunder des Glaubens mit solch einer Verachtung abzutun?«
Obwohl ich es nicht herausschrie, schien mein Vater die Gedanken zu ahnen. Mit einem Ruck schob er den Stuhl zurück und erhob sich: »Da schuftet man sein Leben lang, damit es der Herr Sohn einmal besser haben soll als man selbst, und dann fällt er dieser Menschenverdummung zum Opfer!«
Jetzt war ich einer Explosion nahe, aber Mutter wurde offensichtlich in diesem Moment von Gott als Engel eingesetzt. Ihre großen blauen Augen richteten sich auf meinen Vater, so dass er sich unbewusst ein wenig duckte. »Gut hast du das gesagt, Walter! Unser Sohn soll es einmal besser haben als du. Aber ich frage mich eben, ob wir ihm das Beste verschwiegen haben ?« Ihre Stimme wurde leiser: »Weil wir selber nie danach gefragt haben.«