Tödliches Schweigen - Heinz Böhm - E-Book

Tödliches Schweigen E-Book

Heinz Böhm

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Beschreibung

Hinter dem verschwommenen Vergib uns alles verschanzt sich eine Gemeinde in Böhms Erzählung vor dem konkreten Bekenntnis. Sie nimmt damit einem im Krieg Schuldiggewordenen die Möglichkeit, seine Schuld auszusprechen und Vergebung zu finden. Ob jedoch die Auffassung des jungen, sympathischen Pfarrer Klingberger, der das Zentrum des Evangeliums in der Nächstenliebe sieht, dem Gefallenen eine neue Lebensmöglichkeit gibt? Die spannende Erzählung verarbeitet die aktuelle Situation in Kirche und Gemeinde und stellt dem Leser einige vielleicht unangenehme Fragen. War da nicht ein Autogeräusch? Der Besucher merkte, dass sie zitterte. Die Frau eilte zum Fenster, kehrte aber erleichtert aufseufzend wieder zurück und versuchte, ihre innere Erregung zu verbergen.

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Tödliches Schweigen

Erzählung

Heinz Böhm

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Heinz Böhm

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-059-9

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Unsere Empfehlungen

Kapitel 1

Ein schriller Pfiff. Der Zug zog ruckweise an. Es goss wie aus Kübeln. Dicke Tropfen rollten über die angelaufenen Scheiben der Fenster. Das helle Weiß der breiten Bahnsteiglampen leuchtete auf wie glitzernde Perlen, sekundenlang, dann verschlang die Nacht das Lichterspiel.

Unter gleichmäßigem Rattern fuhr der Zug durch die schwarze, hin und wieder von Lichtern erhellte Nacht. »Ein freudiges Ja zum Leben, ein freudiges Ja zum Leben …« Dem jungen Mann, der mit geschlossenen Augen im letzten Wagen lehnte, schien es, als wiederholten die dröhnenden Räder andauernd diesen einen Satz.

Mit den auftauchenden Lichtern seiner Heimatstadt griff die Furcht nach seinem Herzen. Er war doch frei! Er hatte doch seine Strafe abgesessen!

»Nun, gebrauchen Sie Ihre Freiheit richtig«, hatte der Gefängnispfarrer bei seinem letzten Besuch gesagt. »Auf Wiedersehen will ich Ihnen nicht zurufen. Ich wünsche Ihnen einen guten Anfang, einsichtige Menschen und ein freudiges Ja zum Leben.«

Seine schlanke Gestalt reckte sich. Er riss die Koffer aus dem Gepäcknetz. Morgen schon werden sie wie die Gewitterfliegen brummen, der Falke ist wieder da. Sie werden seinen Gruß erwidern, vielleicht besonders freundlich, doch diese Freundlichkeit wird nicht aufrichtig sein. Was wollte er überhaupt daheim?

Bilder tauchten auf und wechselten in schwindelnder Reihenfolge. Verhör – Gericht – Urteil – Tränen der Mutter – Knast – Entlassung. Einsichtige Menschen? Nachsichtige Menschen, denen würde er wohl begegnen. Aber jeder Blick würde davon sprechen, jede sich anbahnende Freundschaft an der Mauer zerbrechen, die tückisch zwischen ihm und den anderen stehen wird: Achtung, der hat gesessen! Die Gefängnismauer war dagegen ehrlich gewesen, weil sie durch die Steine trennte. Sie hat etwas Abgeschlossenes. Sie schützt nicht nur, die draußen sind, sondern verbirgt auch die drinnen. Die Mauern ohne Steine sind gefährlicher. Sie ziehen sich mitten durch Familien, trennen große, helle Bungalows, und kein Staub fällt auf die kostbaren Teppiche.

Und Mutter? Über das Gesicht des jungen Mannes huschte ein Lächeln.

»Ich freue mich so auf dein Heimkommen.«

Hier stand keine Mauer. Die Mutterliebe hatte keine aufkommen lassen.

Der Zug ratterte über die ersten Weichen des heimatlichen Bahnhofs. Heftige Regenschauer jagten aus der Finsternis des Herbstabends. Die Bahnhofslampen schwankten im Rhythmus des Windes und warfen gelbe Lichtwellen über die nassen Steine des gepflasterten Bahnsteiges.

Den Koffer vor seinen Leib gestemmt, stand der Heimkehrende zögernd auf dem glitschigen Trittbrett. »Na, wollen Sie rein oder raus?« knurrte die unfreundliche Stimme des vorbeieilenden Bahnbeamten. Mit voller Wucht knallte Joachim Falke die Abteiltür zu und hastete der rußfleckigen Unterführung entgegen. Die ganze Hässlichkeit des Tunnels nahm ihn auf. Die flackernden Neonröhren strotzten vor Schmutz. Von oben klang helles Mädchenlachen.

Er blieb stehen. Das herabfallende Licht aus der Bahnhofshalle schien ihm wie eine Aufforderung, vor Gerichtsschranken zu treten. Es war erniedrigend damals.

Hätte er jetzt wenigstens eine Zigarette! Langsam, als wäre der Koffer zu schwer, trat er aus der bergenden Dämmerung und stieg die Treppe empor. Die Hand des Bahnbeamten streckte sich ihm entgegen. Joachim Falke reichte ihm die Fahrkarte, ohne aufzusehen. Erneut klang helles Mädchenlachen durch die Halle.

Am Fahrkartenschalter standen zwei ihm bekannte Mädchen. Mit der einen war er sogar in dieselbe Schulklasse gegangen. – Hastig durchquerte er die Halle. Sein Gesicht hatte sich gerötet.

Aufatmend stand er draußen, empfangen von prickelnden Regentropfen. Sie taten gut auf der heißen Haut. Er wandte kurz den Kopf. Die Mädchen hatten ihn nicht bemerkt. Auf dem Bahnhofsvorplatz standen einige Taxis. Ihre nassen Dächer spiegelten Straßenlampen und die Reklameschriften der Geschäftshäuser wider. Hinter dem Dach der Stadtsparkasse blinkten unzählige Lichtquadrate aus der Dunkelheit, sechs leuchtende Ketten, eine über der anderen. Seit zwei Jahren stand dort der moderne Bau des neuen Krankenhauses.

Der junge Mann überquerte den Bahnhofsplatz und bog in die schnurgerade Geschäftsstraße ein. Die »Rennbahn«, wie sie von der Jugend genannt wurde. Sie war schwach belebt. Drüben am Eissalon »Venezia« lümmelten einige Gestalten vor dem erleuchteten Eingang, dunkelhaarig und klein. Die würden ihn nicht kennen. Wie oft hatte er dort … Er wischte sich ärgerlich über die Stirn. Er durfte nicht mehr an Evi denken. Wie gern hatte er sie gehabt! Sie sei verheiratet, hatte Mutter ihm geschrieben. Das war eine seiner schlimmsten Nächte im Gefängnis gewesen.

Er zuckte zusammen. Die gebeugte Gestalt seines Klassenlehrers kam ihm entgegen. Joachim Falke murmelte einen halblauten Gruß. Der alte Herr zog seinen Hut und grüßte unsicher zurück.

Gnädiges Dunkel! Gut, dass ihn dieser Moralphilosoph nicht erkannt hatte. Dunkel kann schützen, bewahren, barmherzig sein. Kleine Kinder fürchten das Dunkel. Kranke sehnen den Morgen herbei, doch viele lieben es auch.

In den mondhellen Nächten hatte er oft wach gelegen. Von seiner Pritsche aus konnte er die vergitterten Fenster sehen, die runden Stäbe zeichneten sich deutlich ab. Wenn aber die lichtlosen Nächte über dem Land lasteten, konnte er das vergitterte Fenster leichter vergessen.

Vor dem Schaukasten des Gemeindehauses blieb er stehen. Aus dem Halbdunkel schaute sein Spiegelbild zurück. Wahrscheinlich würde er für die meisten Leute der Kleinstadt solch eine halbdunkle Gestalt bleiben, wie sie aus dem Glas blickte.

»Wer einmal gesiebte Luft geatmet hat, hinterlässt für seine Mitmenschen Spuren«, hatte ein Gefangener bitter hervorgestoßen. »Kannst' mir glauben, Junge, ich hab' Erfahrung, bin nämlich rückfällig geworden. Ich hab' das elende Misstrauen bestätigt, mit dem mir die ,Anständigen' begegnet sind. Fast sind sie enttäuscht, wenn du wirklich anständig wirst. Deine Vergangenheit ist wie ein angehauchter Spiegel. Absichtlich oder ohne Absicht wischt plötzlich einer drüber, und alles ist wieder da. Verstehst du?«

Joachim Falke hatte sich vorgenommen, nie mehr rückfällig zu werden. Irgendwohin ins Ausland sollte man gehen und dann nach Jahren den Leuten zeigen: Seht, ich bin anständig geworden und habe es sogar zu etwas gebracht. Am liebsten wäre er nicht nach Hause gegangen, aber seine Mutter erwartete ihn.

Eine unerklärliche Freude erfasste ihn. War es nicht Leichtsinn und Übermut, sich in seiner Situation zu freuen? Hatte er noch Anspruch auf Liebe? Aufsteigende Zweifel wurden ein Nichts vor dem einen Satz: Ich erwarte dich mit großer Freude.

Er schrak zusammen. Im Inneren des Hauses knarrte eine Tür. Hastig eilte er weiter. Er bog in eine Nebenstraße ein und begann zu laufen. Die schwankenden Straßenlampen schienen ihm Willkommen zu winken. Schweratmend stand er vor der Haustür. Das Namensschild, ein weißes Rechteck, hob sich leuchtend von dem Braun der Tür ab.

»Falke.«

Ein richtiger Name statt einer unpersönlichen Zahl. Er hieß wieder Falke, Joachim Falke.

Er drückte auf den Klingelknopf.

»Rrrrrrrr!«

Sein Herz klopfte ungestüm. Licht flammte auf. In dünnen Streifen fiel es aus dem Fenster über der Tür und vermischte sich mit dem Licht der Straßenlampe.

Die Schritte seiner Mutter.

»Wer ist da?«

»Mutter!«

Ein unterdrückter Schrei, dann aufklingender Jubel in der Stimme.

»Joachim, bist du es?«

Hastig streifte der junge Mann sein feuchtes Haar zurück.

»Mein Junge!«

Mutter und Sohn hielten sich umschlungen. Behutsam strich die Frau über das blasse Gesicht ihres Sohnes.

»Ich bin ja so froh, dass du da bist, dass du wieder da bist. Schlecht siehst du aus.« Sie zog ihn in den erleuchteten Hausflur.

»Es ist die Aufregung, das gibt sich wieder.«

Über ihre farblosen Wangen rollten Tränen. Der junge Mann wandte sein Gesicht ab. Es quälte ihn, seine Mutter weinen zu sehen. Im Gefängnis hatte er sich oft vorgenommen, bei der ersten Begegnung mit der Mutter, sie um Verzeihung zu bitten. Er presste die Lippen aufeinander. Jetzt konnte er es nicht. Die Mutter bückte sich, um den Koffer anzufassen. Wie grau sie im Nacken geworden war und wie faltig!

»Lass nur, Mutter, ich nehm' den Koffer.«

»Warum hast du mir denn nicht geschrieben, dass du heute schon heimkommst?«

»Ich wollte, aber es ging dann alles so schnell – die Freude, dass ich heim durfte …«

Sie schlug die Haustür zu und schob ihn die Holztreppe hinauf.

»Ihr Geknarre ging mir sonst auf die Nerven; heute ist es mir wie Willkommensmusik.«

Die Küchentür stand einen Spalt weit geöffnet. Ein Lichtstreifen fiel auf die gegenüberliegende Wand.

Er drückte gegen die Tür und blieb überrascht stehen. Mit einer Mischung von Freude, Verlegenheit und Stolz sah die Mutter ihren Sohn an.

»Ist das unsere alte Küche? Wie hab' ich sie mir hinter Gittern oft vorgestellt: braun, winkelig, Kochflecken unter der Decke, das winzige Fenster, das alte Sofa mit der ausgefransten Decke … und nun?«

Er ließ sich auf die bequeme Eckbank nieder.

»Sehr gemütlich hier. Aber wer soll das bezahlen?« Er blickte zur Seite.

»Haben etwa die Nachbarn einer armen, vom Schicksal hart angefassten Witwe …?«

Die Frau winkte ab.

»Was du denkst! Die Nachzahlung von Vaters Rente ist endlich gekommen.«

Wie eine Anklage gegen das Schicksal stand das Wort Vater im Raum. Mutter und Sohn fühlten sich gleicher-maßen betroffen.

»Für Großdeutschland gefallen!«

Dieser Satz klang damals grausam in die weihnachtlich geschmückte Wohnstube, während sich der Unglücksbote mit einem knappen, militärischen Gruß entfernte. Der kleine Joachim war erschrocken in seinem Laufställchen zusammengefahren, als die Mutter laut schreiend am Herd niedersank.

Nach dem Krieg hatte sie hart arbeiten müssen, um sich und den Jungen durchzubringen. Er war sich selbst überlassen. Mutter war Waschfrau geworden für viele.

Joachim war in den folgenden Jahren seine eigenen Wege gegangen, als Einzelgänger, menschenscheu, bis Evi auftauchte. Diese anderthalb Jahre mit ihr zählten zu den schönsten …

»Joachim?«

Er blickte auf.

»Ich weiß«, sie verbarg ihre abgearbeiteten Hände in der Schürzentasche, »du hast an Vater gedacht. Wenn er noch lebte, ging es uns besser.«

»Du hast sehr gelitten, Mutter …«

»Nun bin ich glücklich, dass du wieder da bist.«

Erneut bot sich eine Gelegenheit, das unausgesprochene Wort von der Schuld über die Lippen zu bringen. Das weiße Licht der Neonröhre glitt über ihr Gesicht. Ihre lebhaften, grauen Augen standen in merkwürdigem Kontrast zu den unzähligen Falten und Rinnen, die besonders um die Augen und auf der Stirn ihre Haut durchzogen.

»Ja, ich bin älter geworden, Joachim.«

Er wandte den Kopf zur Seite, ertappt in seinen Gedanken, die wohl zu deutlich in seinen Blicken zu lesen gewesen waren.

»Ach, Mutter, alt werden ist keine Schande; aber ich …« Er schwieg.

»Was du?«

»Ich hab' dir Schande gemacht – und es tut mir so leid.«

Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch und verbarg seinen Kopf in beiden Händen.

»Es wird alles gut, Joachim. Ich habe Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Ich trag' dir nichts nach. Du wirst genug gelitten haben in Selbstvorwürfen und der Frage, wie es nur dazu kommen konnte.«

Er fühlte ihre harte, etwas kühle Hand auf seinem Scheitel. Zwischen seine Augen und seine Handflächen presste sich ein feuchtheißer Fleck.

Das fehlte noch, dass er zu heulen anfing! Wie aber konnte man es abstellen, wenn es einfach herausquoll? Die Zeit schien zurückzurollen. Er sah sich als kleinen Jungen im ärmlichen Schlafzimmer seiner Eltern liegen. Aus angsterregenden Fieberträumen erwacht, hatte die selbe tröstende Hand auf seinem schweißnassen Haarschopf gelegen: die selbe Hand wie heute.

Kapitel 2

Nach einer stürmischen Herbstnacht war der Himmel wie leergefegt. Über der Stadt im Tal lag der Nebel, während die Sonne rotglühend hinter den Bergen aufstieg. Die buchenbestandenen Bergrücken flimmerten wie glänzendes Kupfer. Schreiend, in spitzen Keilen zogen die letzten Vögel in Kettenform dem sonnigen Süden entgegen.

Kunstvolle Spinnweben rankten in Büschen und Gräsern, durchsetzt von unzähligen Tautropfen. Kein Lüftchen regte sich. Diesem sonnigen Morgen folgte ein Spätherbst, wie ihn niemand mehr erwartet hatte.

Dass sich der Himmel auch in menschlichen Augen spiegeln konnte, davon konnten sich die Einwohner der Kleinstadt seit einiger Zeit überzeugen. Befremdend für viele ältere Leute blieb nur, dass diese lebensfrohen Augen dem jungen Pfarrer gehörten. Wie ein Geistlicher sein müsste, maßen sie an dem Vorgänger, Pastor Stenger. Selten hatte in dessen stahlblauen Augen ein Lächeln gelegen. Beherrschung, Würde, Abstand, diese drei Merkmale hatten ihn ausgezeichnet. Säumige Kirchgänger waren auf die andere Straßenseite gewechselt, wenn er ihnen von ferne entgegenkam. Beinahe zwanzig Jahre hatte er die Gemeinde betreut, ohne dass es zu einem Vertrauensverhältnis zwischen dem Hirten und seiner Herde gekommen war.

Mit dem jungen Pfarrer Klingberger hatte der Kirchenbesuch stark zugenommen. Die Anhänger des Vorgängers pfiffen vielsagend durch die Zähne. »Neue Besen kehren gut. Bald wird auch er mehr Bänke als Köpfe sehen, und wenn schon etliche Köpfe mehr, dann vom Schlaf übermannte.«

Diese Vorhersagen hatten sich bis jetzt noch nicht erfüllt. Im Gegenteil, noch stieg die Zahl der Kirchenbesucher, und der junge Seelsorger feierte bald sein einjähriges Jubiläum. Was zog die Hörer so an? In den Nachbargemeinden waren es immer' weniger Gottesdienstbesucher, während die geräumige Stadtkirche oft über die Hälfte gefüllt war.

Der junge Pfarrer hatte die Wellenlänge des modernen Menschen getroffen. Jede seiner Predigten trug Erdgeruch an sich. Selbst Uninteressierte hoben plötzlich ihre Köpfe, weil ihr ureigenes Problem zur Sprache kam.

»Wenn die Bibel schon sagt, dass Gott sich zu den Menschen gewandt hat, so lasst uns diese Menschlichkeit dankbar festhalten und nicht aus Jesus von Nazareth dauernd eine Gestalt machen, die hilflos zwischen Himmel und Erde schwebt, dem Himmel näher als dem Elend der Menschen.

Zahlreiche Geschichten im Neuen Testament berichten, wie Jesus selbst die neugierigen Frager nach Himmel und Ewigkeit auf die Erde, zum Mitmenschen verwiesen hat. Und das möchte ich in dieser Stadt auch tun. Wenn es doch die Leute endlich begreifen könnten, dass die Kirchenglocken nicht nach ,oben`, sondern nach ,unten` rufen, zum Nächsten!«

In diesen Linien bewegten sich seine Predigten und fanden – von einigen wenigen abgesehen – ungeteilte Zustimmung. Diese wenigen gehörten einer christlichen Gemeinschaft an, die seit sieben Jahrzehnten neben den Gottesdiensten ihre Versammlungen im eigenen Vereinshaus abhielten.

In der Stadt nannte man diese Leute Frömmler, Mucker, Kopfhänger oder Pharisäer. Sonntagabend trafen sie sich zu Bibelstunden, in denen Texte der Bibel Vers für Vers durchforscht wurden, ohne den geringsten Zweifel, ob man die Bibel so nehmen könne, wie sie geschrieben ist.

Vor sieben Jahrzehnten hatte ein freigeistiger Pfarrer, beeinflusst von Strauß, Overbeck und einigen Philosophen, seine gelehrten Thesen über die neuesten Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung von der Kanzel verkündigt. Diese willkürliche und falsche Auslegung der Bibel trieb einige Männer aus den Gottesdiensten, und sie gründeten eine Gemeinschaft. Sie waren bewusst dem einen Ziel verpflichtet, sich das Licht der Bibel durch keinen Zeitgeist verdunkeln zu lassen. In den folgenden Jahren war mancher harte Kampf ausgefochten worden.

Etliche Pfarrer besuchten diese sogenannten Versammlungen der christlichen Gemeinschaft. Andere wurden zu erbitterten Gegnern. Eine dritte Gruppe ließ sie gewähren. War also weder für noch gegen sie.

Der neue Pfarrer kam aus einem Gebiet, in dem eine solche Art Gemeinschaft nicht bekannt war. Wohl hatte er sich in seinen Studien damit befasst, aber ein eindeutiges Urteil konnte er sich nicht bilden.

Der ergraute Küster, der Kirche völlig ergeben, konnte diese »Mucker« nicht leiden. Er nutzte jede Gelegenheit, sie kritisch als fanatisch und krankhaft darzustellen. Ihm genügte es, ein treuer Kirchgänger zu sein und anständig zu leben. Dass jeder sich bekehren müsse, um vor dem heiligen Gott zu bestehen, wie es die Gemeinschaftsleute forderten, trieb ihm heißes Blut in den Kopf. So hatte er auch dem Pfarrer gesagt: »Jede Predigt wird lauernd abgehorcht, ob das Wort Bekehrung darin vorkommt. Überhaupt, diese Leute hören nicht zu, sie hören ab.«

Seines Urteils gewiss, hatte sich der Küster mit hinter-gründigen Gedanken entfernt. Der Pfarrer hatte ihm betroffen nachgesehen. Getestet sollte er werden? Doch dann überlegte er. Setzte sich nicht jeder Redende der Kritik aus? Lag nicht die Not des heutigen Menschen darin, dass er nicht mehr hören konnte? Aus rechtem Hören kann rechtes Verstehen werden, daraus folgt dann der Gehorsam. Hier lag sein Ziel für die Gemeinde: sie vom rechten Hören zum Verstehen und zum Gehorsam zu führen. So gesehen, taten ihm diese Leute noch einen Dienst.

Eines Tages war ein Brief in sein Haus geflattert mit dem Absender eines ihm unbekannten Herrn Brauner. Er öffnete den Brief und zog eine Einladung heraus. Man bat ihn, zum Gemeinschaftsfest im Namen der Kirchengemeinde ein Grußwort zu sagen. Herr Pfarrer Stenger hätte es auch immer so gehalten.

Kapitel 3

Heute war dieser Tag gekommen. Pfarrer Klingberger, begleitet von seiner jüngeren Schwester, die in der Nähe ein pädagogisches Seminar besuchte, erschien eine Viertelstunde vor Beginn des Festes. Das Mädchen hatte die gleichen leuchtenden Augen wie ihr Bruder.

»Rolf, ich bin froh, dass du die Leute mal aus eigener Anschauung kennenlernst, um sie richtig beurteilen zu können.«

»Und nicht aus zweiter Hand von einem gemeinschaftsfeindlichen Küster, wolltest du doch sagen.«

Sie lächelte.

»Du hast mich genau verstanden.«

Er sah sich in dem geräumigen Saale um. Immer mehr Menschen strömten herein. Alte und Junge, auch viele Kinder. Er erkannte manche Gesichter von den Gottesdiensten wieder. Zuerst wurden die hintersten Bänke besetzt, so wie in der Kirche. Seine Blicke glitten zu dem hellbraunen Holzkreuz, das sich plastisch von der rosa getünchten Stirnwand des Saales abhob. Vor dem Rednerpult stand ein geschmückter Tisch: polierte Äpfel und Birnen, Weintrauben, leuchtende Tomaten, Kartoffeln, ein schimmernder Brotlaib, goldgelbe Ähren, dahinter zwei riesige Blumensträuße in cremefarbenen Vasen.