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Es gibt Zeiten im Leben eines Menschen, da spricht Gott zu ihm durch die Worte der Bibel. Sie hilft ihm, Gottes Handeln in seinem Leben und in seiner Umgebung zu erkennen. Doch wenn Gott schweigt? Beim Beten kommt sich der Mensch plötzlich vor wie gegenüber einer Wand. Er versteht die Ereignisse in seinem Leben nicht mehr. Er fragt sich: Warum hilft Gott mir nicht? Hat er mich verlassen, oder stimmt etwas mit meinem Glauben nicht? Wie kann Gott dieses Leid in der Welt zulassen? Können wir Gott nach Auschwitz noch loben? Ist Gott tot, oder hat er keine Macht auf der Erde? Wichtig ist, dass wir diese Fragen stellen dürfen. Wir müssen Zeiten der Anfechtung nicht verbergen. Sie können uns lehren, in einer neuen Weise auf Gottes Wort zu hören und offen zu werden für Erkenntnisse und Erfahrungen, die uns vorher verschlossen waren. Dabei ist immer wieder zu betonen: Das Ziel Gottes ist nicht das Dunkel, sondern die Freude und die Gewissheit.
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Seitenzahl: 95
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Und wenn Gott schweigt?
Über Zweifel, Anfechtung und Trost
Heinz Böhm
© 2014 Folgen Verlag, Wensin
Autor: Heinz Böhm
Cover: Eduard Rempel, Düren
Lektorat: Markus Rempel, Düren
ISBN: 978-3-944187-26-6
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Und wenn Gott schweigt? ist früher als Buch im R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, unter dem Titel Wenn Gott schweigt erschienen.
Einleitung
Anfechtung durch die Vernunft
Der verborgene Gott
Die Frage nach der Macht Gottes
Moralische Anfechtung
Der betende Asaph
Gesegnete Kapitulation
Befreiende Erkenntnis
Geistliche Anfechtung
Die Anfechtung des Propheten Elia
Die Anfechtung Johannes' des Täufers
Zweifel nicht unterdrücken
Das Geheimnis der leisen Stimme
Anfechtung im Leben Martin Luthers
»Nun freut euch, lieben Christen gmein …“
»Die Sünd hat mich besessen …«
»Die Angst mich zu verzweifeln trieb …«
»Er wandt zu mir das Vaterherz …«
»Uns soll der Feind nicht scheiden …«
»Und hüt dich vor der Menschen Satz …«
Es gibt Zeiten im Leben eines Menschen, da spricht Gott zu ihm durch die Worte der Bibel; der Mensch erkennt Gottes Wirken in seinem Leben. Wie aber, wenn Gott schweigt? Wenn der Mensch nun betet, kommt er sich vor wie gegenüber einer Wand. Er versteht die Ereignisse in seinem Leben nicht mehr. Er fragt sich: Warum hilft mir Gott nicht? Hat er mich verlassen oder stimmt etwas mit meinem Glauben nicht?
Der Mensch kann so in Ratlosigkeit, Dunkel, Angst und Verlassenheit geraten, dass ihm alles in Frage gestellt ist, sein Leben, sein Glaube, sein Verhältnis zu Gott, Gottes Verhältnis zu ihm und zur Welt. Das nennen wir Anfechtung.
Ich unterscheide im folgenden drei verschiedene Arten von Anfechtung: die Anfechtung durch die Vernunft (auch intellektuelle Anfechtung), die moralische Anfechtung und die geistliche Anfechtung. Im Leben gehen diese Ebenen häufig ineinander über.
Die Anfechtung durch die Vernunft entsteht im Verstand des Menschen: Wenn Gott ein Gott der Liebe ist, wie kann er das zulassen? Dabei ist der Mensch in seiner Person, in seiner Existenz, meist nicht berührt.
Die moralische Anfechtung teilt ein in Gut und Böse und fragt zum Beispiel: Warum geht es diesen schlechten Menschen so gut, ich aber, der ich mich nach den Geboten Gottes richte, habe nichts als Schwierigkeiten? Ist das gerecht?
Die geistliche Anfechtung geht am tiefsten. Sie entsteht zum Beispiel an der Frage: Kann Gott mir vergeben, wo ich doch immer wieder sündige? Sie zweifelt und verzweifelt an der Gültigkeit von Gottes Zusagen auch für den Angefochtenen. Der geistlich Angefochtene kann diese Zusagen nicht mehr für sich annehmen.
Es ist wichtig zu wissen, dass Anfechtungen im Leben jedes Glaubenden Vorkommen. Sie können von Gott sein, aber auch vom Bösen. Aber Gott kann sie immer gebrauchen. Durch Anfechtungen zeigt uns Gott unter Umständen unsere Selbstüberschätzung. Wir erkennen, wie sehr wir auf ihn angewiesen sind, und werden bereit für Erkenntnisse und Erfahrungen, die uns vorher verschlossen waren.
Gelegentlich gibt Gott selbst Aufschluss darüber, warum er schweigt, wie im Propheten Jesaja:
»Siehe, des Herrn Arm ist nicht zu kurz, dass er nicht helfen könnte, und seine Ohren sind nicht hart geworden, so dass er nicht hören könnte, sondern eure Verschuldungen scheiden euch von eurem Gott, und eure Sünden verbergen sein Angesicht vor euch, dass ihr nicht gehört werdet.« (Jesaja 59,1-2)
Damit wird der Mensch nach seiner Ehrlichkeit gefragt. Wenn er erkennt, welche Schuld ihn von Gott trennt, ist für ihn der Weg frei zur Umkehr, und er wird Gott wieder hören. – Es kann allerdings auch geschehen, dass dem Menschen die Augen über seine Schuld nicht auf gehen. Er erlebt Gottes Schweigen unter Umständen sogar als Befreiung, weil Gott ihm nun nicht hereinredet. Wenn Gott nämlich spricht, dann lässt er sich nicht die für den Menschen unangenehmen Töne »herausschneiden« wie etwa ein störendes Geräusch bei einer Tonbandaufnahme.
In der Anfechtung scheint es einem Unerfahrenen leicht so, als ob sein Glaube zu schwach sei. Er hadert mit sich selbst, weil er denkt: Wäre mein Glaube stärker, wäre ich jetzt nicht so unsicher und ratlos. Hierzu ist zu sagen, dass die Reife des Glaubens nicht vor Anfechtung bewahrt. Auch Martin Luther hat immer wieder schwere Anfechtungen erlebt und durchgestanden, sogar nachdem er erkannt hatte, dass ihn Gott allein aus Gnaden gerecht und selig gemacht hatte. Luther konnte andere trösten, da er selbst getröstet worden war. Dieses Buch beschäftigt sich deshalb ausführlich mit Luthers Anfechtungen und Ratschlägen.
Wer in einer Anfechtung denkt, mit seinem Glauben sei es vorbei, der lasse sich sagen: Wer nicht an Gott glaubt, dessen Glaube kann auch nicht angefochten werden.
Wer nicht erwartet, dass Gott redet, kann auch nicht unsicher werden, wenn er schweigt. Aber dem, der Gott sucht, können solche Fragen kommen: Wenn es Gott gibt, wie konnte dann Auschwitz geschehen? Wie konnte Gott das zulassen? Gibt es ihn vielleicht gar nicht, den Vater Jesu Christi und Schöpfer der Welt? Ist Jesus nur als ohnmächtiger Mensch am Kreuz gestorben? Vielleicht habe ich mein Leben auf einem Irrtum begründet?
Gott selbst kann und musst uns die Augen öffnen, damit wir ihn erkennen. Von unserem natürlichen Denken her ist uns das Evangelium verschlossen, erreichen die Worte der Schrift nicht unser Leben. Wir sind angewiesen auf den Heiligen Geist. Gott ist der lebendige Gott. Er ist für uns nicht berechenbar. Aber er will sich allen offenbaren, die ihn darum bitten.
Nicht selten kommen Unsicherheit und Zweifel im Glauben durch das Verwechseln von Glaube und Gefühl. Viele Menschen meinen, Gott sei nur gegenwärtig, wenn sie es auch fühlen. Ihr Glaube sei nur Glaube, wenn sie ein Gefühl von innerem Frieden haben. Manchmal spüren wir nichts von Gottes Gegenwart, obwohl er da ist. Wir können uns jedoch an seinen Worten und Zusagen festhalten, auch wenn wir dabei nicht gleich Erleichterung fühlen. Wir können getrost auf Gott warten. Er will uns beschenken. Dabei ist es wichtig, auf ihn zu warten. Das macht uns bereit für sein Kommen.
Ein Wort von Christoph Blumhardt fasst dies so zusammen:
»Einmal nichts haben und auf Gott warten ist besser, als immerfort sich religiös herausputzen. Man wird nicht gottlos mit dem Warten auf Gott, – im Gegenteil, es vermehrt sich die eigentliche Wahrhaftigkeit der Sache Gottes in unsern Herzen, und an dem liegt alles.«1
Wer so tief in Anfechtung und Zweifel gerät, dass ihm alles unsicher wird und er seine Fragen als drückende Last empfindet, der vertraue sich einem Menschen an, der Erfahrung im Glauben hat. Es ist wichtig, den Zweifel und die eigene Dunkelheit nicht allein mit sich herumzutragen. Ein anderer Mensch kann mich auf Gott hinweisen. Er kann mir mit einem Wort helfen, das ich mir selbst nicht zusprechen konnte. Jesus sagt: »Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.« (Matthäus 9,12 Zürcher Bibel) Und: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« (Matthäus 11,28)
1 Christoph Blumhardt, Warten ist eine große Tat. Eine Auswahl von Hanno Marcus. Neukirchen, 3. Aufl. 1981
Die intellektuelle Anfechtung, die Anfechtung durch die Vernunft, beginnt meistens mit der Frage: Wenn es einen Gott der Liebe gibt, wie kann er dann das alles zulassen? Schon bei dieser Frage kommt die Anklagebank in Sicht, und Gott selbst ist angeklagt. Das kleine Wort wenn zeichnet den Weg des menschlichen Denkens vor. Hier wird Gott unter einer Bedingung sein Gottsein zugebilligt. An diesem Wenn wird er gemessen, wobei er schlecht abschneidet, wenn er als der sogenannte »liebe Gott« die Liebe schuldig bleibt.
Der nächste Schritt: Wäre er wirklich der liebe Gott, dann könnte er das Lob seiner Geschöpfe beanspruchen. Jedoch haben die Geschichtsgräuel, besonders in diesem Jahrhundert, zu dem Ausspruch geführt: Wie man nach Auschwitz den Gott, der alles so herrlich regiert, noch loben könne, das erscheine unverständlich (Dorothee Solle). Das ist Anfechtung durch die Vernunft. Wenn etwas so Schreckliches geschehen sei wie Auschwitz, könne man Gott doch logischerweise jetzt nicht mehr loben.
Wie Dorothee Solle denken viele. Nach ihrem Urteil ist Gott durch Auschwitz in eine ungeheure Krise geraten, so tief, dass er die Lobgesänge seiner Geschöpfe getrost »abhaken« kann. Nach Auschwitz habe sich herausgestellt, dass Gott, wenn schon ein mächtiger, dann doch zumindest kein liebender Gott sei. Auschwitz habe das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht; denn die erste große Erschütterung, ob man an dem Bekenntnis des gerechten und liebenden Gottes noch festhalten könne, kam nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 (etwa 30.000 Tote) über die aufgeschreckten Menschen. Wie die Mäuse einen Deich unterhöhlen, begann der Zweifel zunächst bei den Führungen und Fügungen Gottes (warum hat Gott das zugelassen?) und endete beim Zweifel an der Existenz Gottes überhaupt.
Hier wird die Möglichkeit des bewusst schweigenden Gottes überhaupt nicht in Betracht gezogen. Genau an dieser Stelle unterscheiden sich die Psalmbeter von den durch die Vernunft Angefochtenen unserer Tage. Die Beter im Alten Testament kannten auch die Anfechtung. Sie litten darunter, wenn sie Gott in manchen Zeiten ihres Lebens nicht hören oder spüren konnten. Aber sie beteten und schrien in ihren Psalmen zu dem schweigenden, verborgenen Gott. Sie dachten niemals, dass es Gott deshalb nicht gebe, weil er schwieg; dass er tot sei. Sie hätten nie die Folgerungen vieler unserer Zeitgenossen gezogen, dass ein unverstandener Gott zugleich ein unwirklicher Gott sein müsse. Die Anfechtung der Psalmbeter nenne ich hier eine geistliche Anfechtung.
Nehmen wir aus der Fülle der Psalmen nur einen Vers. Da klagt König David: »Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?« (Psalm 13,2) Dieser Schrei Davids, »Herr, wie lange erweist sich als eine tiefe Anfechtung, die den ganzen Menschen erfasst, nicht nur den Verstand. Während die Anfechtung durch die Vernunft bewirken kann, dass der Mensch Gott abschreibt und gar nicht mehr damit rechnet, dass er zu ihm spricht, wartet und hofft der geistlich Angefochtene sehnlich darauf, dass Gott sich ihm wieder spürbar zuwendet.
Die Anfechtung bringt den Menschen in eine Unsicherheit oder sogar eine Krise, die heilsam sein kann. Denn manche Antworten finden wir erst dann, wenn wir durch Anfechtung und Zweifel gelernt haben zu fragen. Die Anfechtung durch den Verstand (wie konnte Gott Auschwitz zulassen?) kann auch Menschen erfassen, die schon lange an Gott glauben und ihr Leben in seine Hand gestellt haben. Solche Fragen werden durchaus nicht nur von besonders kritischen Menschen gestellt. Sie können aber auch anders beantwortet werden als mit dem Schluss, dass Gott tot sei oder uns nicht liebe.
Wo jedoch der »Tod Gottes« ohne Schmerz registriert wird und nur zu einem interessanten Schlagabtausch innerhalb der theologischen Wissenschaft führt, kann von einer ernsten Anfechtung nicht mehr gesprochen werden.
Wie ist es nun aber mit der Frage nach den Vernichtungslagern im Dritten Reich? Wie konnte Gott Auschwitz zulassen? Wir können mit der Vernunft weiterfragen: Warum lässt sich Gott die Bosheiten und Lästerungen der Menschen seit Jahrhunderten gefallen? Ist ihm seine Ehre nichts wert? Oder hat er keine Macht, seine Ehre zu verteidigen? Liegt letztlich das Problem von Auschwitz und anderen Gräueln für die von der Vernunft Angefochtenen nicht allein bei der Machtfrage? Steht Auschwitz nicht als Ausweis für die Macht- oder Lieblosigkeit Gottes?
Hat Dorothee Solle nicht ausgesprochen, was viele ebenso denken, man müsse Gott doch endlich von der »Rolle« des lieben Gottes befreien? Warum hat man nie nach dem Wesen des heiligen Gottes gefragt? Der Prophet Jesaja hat dem Volk Israel einmal eine Antwort gegeben, die zu unserer Frage passt:
»Siehe, des Herrn Arm ist nicht zu kurz, dass er nicht helfen könnte, und seine Ohren sind nicht hart geworden, so dass er nicht hören könnte, sondern eure Verschuldungen scheiden euch von eurem Gott, und eure Sünden verbergen sein Angesicht vor euch, dass ihr nicht gehört werdet.« (Jesaja 59,1-2)
Die Menschen sind selbst für ihre bösen Taten verantwortlich. Sie können Gott für ihre eigenen Sünden in der Geschichte nicht zur Rechenschaft ziehen.
Ist es dann aber nicht so, dass der heilige Gott unberührt vom Leid der Menschen über allem thront und der Geschichte ihren Lauf lässt? Nein, Gott handelt. Aber ganz anders, als die Menschen es erwarteten. An einer Stelle verzichtete er bewusst auf alle Macht. Da spotteten Menschen unter dem Kreuz Jesu: »Ändern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben.« (Matthäus 27,42)
Der Tod Jesu wird vom Propheten Jesaja schon vorhergesagt:
»Verachtet war er und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit, wie einer, vor dem man das Angesicht verhüllt; so verachtet, dass er uns nichts galt. Doch wahrlich, unsere Krankheit hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen; wir aber wähnten, er sei gestraft, von Gott geschlagen und geplagt. Und er war doch durchbohrt um unserer Sünden, zerschlagen um unserer Verschuldungen willen; die Strafe lag auf ihm zu unsrem Heil, und durch seine Wunden sind wir genesen. Wir alle irrten umher wie Schafe, wir gingen jeder seinen eignen Weg; ihn aber ließ der Herr treffen unser aller Schuld. Er ward misshandelt und beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt.« (Jesaja 53,3-7 Zürcher Bibel)
Gott wendet sich uns zu, indem er unsere Schuld und unser Elend selbst trägt und erträgt. Kein Mensch kann wohl erklären, warum Gott so handelt, warum er die bösen Taten der Menschen nicht einfach mit einem Schlag beendet und sein Friedensreich für alle sichtbar errichtet.
Aber er riskiert seine eigene Haut, um uns aus der Trennung von ihm den Weg in die Gemeinschaft mit ihm zu bahnen. Er löscht unsere Schuld aus und heilt uns. Am Ende der Zeit, das er selbst bestimmt – das kann morgen sein –, wird er die Erde erneuern »und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.« (Offenbarung 21,4)
Auch heute gibt es überall Zeichen seiner Liebe, die auf seine Macht hinweisen. Schon heute führt und bewahrt er Menschen, erhört wunderbar Gebete, schenkt Befreiung und Leben. Doch sein Sieg ist für menschliche Augen oft noch verborgen. Wir sehen gewissermaßen nur die Außenseite der Dinge.
Wenn man Menschen fragt, die das Schreckliche selbst erlebt haben, erfährt man manchmal, wie sie von Gott in dieser Zeit gehalten und getragen worden sind. So ahnen wir etwas von der »Innenseite« der Dinge. Man denke zum Beispiel an Nikolaus Graf von Lehndorffs »Ostpreußisches Tagebuch« vom Ende des Zweiten Weltkriegs.
Ein anderes Beispiel ist der Dichter Paul Gerhardt. Seine Lieder sind in und nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden. Sie spiegeln das Leid dieser Zeit, aber auch ein Vertrauen und eine Freude, deren Tiefe uns heute noch trösten kann.
Ich will das Grauen hier nicht beschönigen. Es soll nur angedeutet werden, dass Gottes Weg durch die Geschichte der Menschen durchgeht. Er trägt Menschen, er ist ihnen nahe. Er hat die Sünde aller Menschen selbst auf sich genommen und trägt sie. So beginnt seine Erlösung der Welt.
Gott ist nicht machtlos, sondern er hat beschlossen, einen anderen Weg zu gehen als den, den wir für ihn vorgesehen hatten.
An dieser Stelle beginnt der Protest des Menschen. Er sieht sich hier vor vollendete Tatsachen gestellt, die seinen Horizont übersteigen. Wenn Gott die Schuldfrage löst, indem er seinen Sohn in den Tod gibt, ist das für uns eine vorgegebene Tatsache. Mit Schuld ist in diesem Fall nicht allein die Schuld im mitmenschlichen Bereich gemeint; vielmehr kommt der Bruch zwischen Gott und seinem abgefallenen Geschöpf ebenfalls zur Sprache. In der Begegnung mit Gott erkennt der Mensch sich selbst als Sünder.
Friedrich Nietzsches Zorn hat sich gerade am Sündersein des Menschen immer wieder neu entzündet. Dieses vom Neuen Testament »eingeimpfte« Schuldbewusstsein nennt er Sklavenbewusstsein, geschickt eingefädelt, um die schuldigen Menschen in Gottes Abhängigkeit zu bringen. Zu bedenken bleibt, warum Nietzsche bei dem Zentrum der neutestamentlichen Botschaft nicht kühl, sachlich, intellektuell gelassen argumentiert. Diese Reaktion zeigt, dass er nicht nur im Verstand angefochten war. Es scheint ihm unmöglich gewesen zu sein, den Altar des einst leidenschaftlich gesuchten »unbekannten Gottes« ohne Poltern einzureißen, nachdem sich in dem »unbekannten Gott« das leidende Antlitz des Gekreuzigten abzeichnete. Nietzsche empfindet eine tiefe Wunde, auch wenn er sie leugnet: In den tieferen Schichten seines Wesens hat er ein Wissen beerdigt.
Vielleicht waren Anfechtungen durch die Vernunft Ausgangspunkt für eine Grundlinie in der Theologie Rudolf Bultmanns. Nach seinem Verständnis und dem seiner Schüler spiegelt die Botschaft des Evangeliums nur eine Erlösungslehre wider, bei der sich die Verfasser des Neuen Testaments als Kinder ihrer Zeit erweisen und ganz vom Denken ihrer Zeit geprägt sind. Damit ist das Evangelium im Grunde auf derselben Stufe wie andere Religionen.
Bei Bultmann heißt es zum Beispiel: »Besonders die Vorstellung des präexistenten Gottessohnes, der in menschlicher Verkleidung in die Welt herabsteigt, um die Menschheit zu erlösen, ist Teil einer gnostischen Erlösungslehre, und niemand würde zögern, diese Lehre ‹mythologisch‹ zu nennen.« Damit ist die Frage nach der Erlösung von unserer Schuld durch Jesus Christus überflüssig geworden. Die Vorstellungswelt des heutigen Menschen wird so zum ausschlaggebenden Maßstab für das Bibelverständnis und macht sich – wenn auch manchmal ungewollt – zum Richter über das Evangelium. So schreibt Rudolf Bultmann: »Für den Menschen von heute sind das mythologische Weltbild, die Vorstellung vom Ende, vom Erlöser und der Erlösung vergangen und erledigt.«2
Glücklicherweise hängt die Wahrheit einer biblischen Aussage nicht von menschlichen Urteilen ab, auch wenn sie von Theologen kommen. Keine menschliche Erkenntnis macht die neutestamentlichen Aussagen erst wahr; vielmehr ist die Wahrheit schon vorher da.
Doch diese Wahrheit Gottes befreit den Menschen nicht »automatisch« von seinen Anfechtungen. Sie kann ihm theoretisch völlig klar sein und doch scheinbar keine Beziehung zu seinem Leben haben.
Merkwürdigerweise fällt es uns Menschen auch schwer, Gott hinter seinen offensichtlich guten Taten zu erkennen. Wie viele Kinder werden täglich gesund geboren, wie viele mögliche Kriege haben nicht stattgefunden! Wie viele Gebete sind erhört worden! War das nicht alles Zufall? fragen viele.
Während Dorothee Solle sich an dem abgewandten, verborgenen, wie sie meint, »toten« Gott wundreibt und sein Zulassen schrecklicher Ereignisse in der Geschichte nicht einordnen kann, ärgern sich andere über die Botschaft von dem gütigen Gott, der unser Vater sein will, oder stehen ihr verständnislos gegenüber.
Wohl kaum angefochten, aber doch erstaunt über die Kraft religiöser Phantasie registriert der Philosoph Ernst Bloch die Tatsache, dass die biblische Botschaft von einem die Menschen suchenden und liebenden Gott ohne Parallelität in der Religionsgeschichte sei. Bloch setzt in seiner Religionskritik die Atheismusthese Ludwig Feuerbachs voraus (Gott sei nur eine an den Himmel geworfene Projektion des Menschen, der Mensch habe sich diesen Gott selbst ausgedacht, und zwar so, wie er ihn haben wollte). Nichtsdestoweniger versetzt dieser herabkommende Gott Bloch in Erstaunen. Für Bloch ist er allerdings eine Erfindung; die Fleischwerdung Gottes wird ihm nicht zur Anfechtung seines Denkens, weil er durch Feuerbach immun geworden war.
Der ewige Gott hat entscheidend in seinem Sohn, Jesus Christus, geredet (Hebräer 1,2). An diesem Offenbarungs-Ereignis scheiden sich die Geister. So meinte ein Theologe des neunzehnten Jahrhunderts; Gott liebe es nicht, seine ganze Fülle in ein Exemplar auszuschütten (Friedrich David Strauß). Unphilosophisch ausgedrückt besagt dieser skeptische Satz, dass Jesus nicht Gottes Sohn sein könne und der Apostel Paulus mit seinem Bekenntnis »in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« (Kolosser 2,9) zu den Schwärmern zu rechnen sei.
Sollen wir uns hier empören? Keineswegs! Gerade hier gilt die Feststellung Martin Luthers, dass die Anfechtung den Theologen mache. Luther spricht aus eigener Erfahrung; denn er hat in diesem »Spital« gelegen; erschüttert und von Zweifeln zerquält. In solchen Anfechtungen floh er ins Gebet, schrie und erwartete den helfenden und eingreifenden Gott. Weil wir die Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht mit unserem Verstand, sondern nur durch den Heiligen Geist erkennen können, ist jegliche Glaubensüberheblichkeit fehl am Platze. Sie würde nur zeigen, wie wenig man vom Geheimnis des Glaubens berührt ist.
Bevor wir uns in einem zweiten Kapitel dem Thema der moralischen Anfechtung zuwenden, wollen wir durch ein abschließendes Beispiel aufzeigen, wie ein bedeutender Theologe, angefochten vom Zeugnis über die Fleischwerdung Gottes, in seinen bedrängenden Fragen getröstet wurde. Es handelt sich um Romano Guardini. Fragend, grübelnd und zweifelnd, wie der ewige Gott aus seiner Ewigkeit in das Endlich-Vergängliche eintreten könne, stand er vor der Grenze des menschlich Erkennbaren. Er blieb mit seiner Not nicht allein, sondern vertraute sich einem Freund an. Guardini berichtet, dass dieser Freund ihm eine Antwort gab, in der er mehr verstand als durch alles vorherige Grübeln und Denken. Die Anfechtung verblasste durch den einen Satz: »Die Liebe tut solche Dinge!« Guardini schreibt abschließend: »Dieses Wort hilft mir immer wieder. Nicht, dass es dem Verstände etwas erklärte, aber es ruft das Herz, lässt es ins Geheimnis Gottes hinüberfühlen. Das Geheimnis wird nicht begriffen, aber es kommt nahe, und die Gefahr des ‹Ärgernisses‹ schwindet.«3
2 Rudolf Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik. Hamburg 1964, S. 14
3 Romano Guardini, Der Herr. Uber Leben und Person Jesu Christi. Freiburg 1980, S. 14
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