Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Weil Gott uns an Weihnachten mit seinem Sohn beschenkt, möchten wir auch anderen Menschen gerne eine Freude machen. Dieser Wunsch steht im Mittelpunkt dieser acht Erzählungen. Auch wenn die Freude manchmal einige Umwege macht, kommt sie doch zum Ziel.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 84
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ein einzigartiges Weihnachtsgeschenk
und sieben weitere Weihnachtsgeschichten
Heinz Böhm
© 2013 Folgen Verlag, Wensin-Garbek
Autor: Heinz Böhm
Cover: Eduard Rempel, Düren
Lektorat: Regina Penner
ISBN: 978-3-944187-07-5
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
Ein einzigartiges Weihnachtsgeschenk besteht aus den Büchern Die ganze Nacht ist voller Licht und Ein einzigartiges Weihnachtsgeschenk.
Die ganze Nacht ist voller Licht ist erstmals als Buch 1997 im Johannis-Verlag, Lahr, Deutschland, erschienen.
Ein einzigartiges Weihnachtsgeschenk ist erstmals als Buch 1988 im Johannis-Verlag, Lahr, Deutschland, erschienen.
Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.
Der Weihnachtsbaum
Ein einzigartiges Weihnachtsgeschenk
Stärker als alle Mauern
Ein Spielauto zu viel
Zwei Gesichter
Das Verkündigungsspiel
Omas Brief
Weihnacht
Erwin Rimbach verharrte einen Augenblick und lauschte in die weiße Einsamkeit. Er zog die dünnen Fingerhandschuhe von den Händen und blies mit seinem warmen Atem gegen die Fingerkuppen.
In seine Gedanken hinein hörte er die Stimme seiner Mutter. Er sah ihre abgearbeitete Hand, wie sie ihm den grünen Zwanzigmarkschein hinhielt. Er solle dafür ein schönes Weihnachtsbäumchen kaufen. »Und wenn du noch was übrig behältst, wird es wohl für eine Bratwurst oder sonst für etwas reichen.«
Auf dem Weihnachtsmarkt war reger Betrieb. Die Leute umlagerten die Verkaufsbuden, eingehüllt in verlockende Düfte von Pfefferkuchen und Bratäpfeln. Obwohl er sich stets vorgenommen hatte, den Weihnachtsbaum vor Heiligabend zu kaufen, war es auch in diesem Jahr wie in allen andern. Er kam sozusagen in letzter Minute. Nun gab es nichts mehr aufzuschieben. Die meisten Leute hatten ihren Christbaum schon ausgewählt.
Was da noch neben dem vereisten Brunnen stand oder herumlag, war entweder zu teuer, oder man meinte, sie seien vom vergangenen Jahr übrig geblieben. Brauchbare Bäume waren unter zwanzig Mark nicht mehr zu haben.
Plötzlich, als habe der Duft eines Hähnchengrills seine Umwelt erweitert, sah er die Schonung mit den herrlichen Blautannen vor sich. Wem würde es schon auffallen, wenn ein Bäumchen davon fehlte?
Seine Mutter allerdings, die durfte er sich nicht vorstellen. Unter einem geklauten Weihnachtsbaum brächte sie kein Weihnachtslied über ihre Lippen.
Magisch zog ihn zunächst der Hähnchengrill an. Schon wenige Augenblicke später zog er mit seiner warmen Tüte davon. O, wie das schmeckte! Mit einem schlechten Gewissen, aber einem gefüllten Magen schlich er die Häuserzeilen entlang.
Bald hatte er das Eckhaus mit den erleuchteten Fenstern erreicht. Lauschend stand er vor dem niedrigen Schuppen, in dem die Gartengeräte und andere Werkzeuge zu einer langen Winterpause verurteilt waren. Der scharfe »Fuchsschwanz« sollte heute Arbeit bekommen. Zögernd stand Erwin Rimbach vor dem Regal, dann ließ er die Säge unter seinem Mantel verschwinden.
Für Sekunden spielte er mit dem Gedanken, seiner Mutter Farbe zu bekennen, ihr zu beichten, dass er der goldgelben Verlockung knusprig gebratener Hähnchen nicht widerstanden hatte. Wie würde sie wohl reagieren? Immerhin ein Risiko, mindestens so gewagt, wie der Entschluss, sich ein Bäumchen zu organisieren.
Mit dem versteckten »Fuchsschwanz« unter dem Mantel rannte er durch die lange Straße dem Ortsausgang entgegen. Unmittelbar hinter dem gelben Ortsschild dehnten sich Wiesen und Felder. Zwischen einigen Schlehenhecken blitzte die Blautannenschonung herüber. Er wandte sich kurz um, dann hastete er über die wellige Wiese.
Vor ihm standen die verschneiten Blautannen. Erwin Rimbach wandte sich um. Es wäre nicht auszudenken, wenn ihn der Förster oder irgendein Aufseher erwischte. Als hätte der Mond beschlossen, heimlicher Komplize zu sein, drückte er die Wolken auseinander. Voll stand er über der nächtlichen Landschaft. Erwin Rimbach sah die überzuckerten Äste der Tannen. Eine schöner als die andere. Er zog den »Fuchsschwanz« aus dem Mantel und hockte vor einer mannshohen Tanne nieder. Sacht stieß er gegen den zierlichen Stamm. Mindestens sechzig Mark hätte er für dieses Prachtexemplar hinblättern müssen. Bevor er zum Sägen ansetzte, richtete er sich noch einmal auf und lauschte. Der gute alte Mond hielt ihm seine Laterne hin.
Erwin Rimbach ging erneut in die Hocke, und mit festem Griff umschloss er den schuppigen Stamm der Tanne. Behutsam setzte er die Säge an. »Der schönste Baum, den wir je hatten.« Erwin Rimbach schüttelte die letzten Schneereste aus den Zweigen. Seine Finger waren zum Zerspringen kalt.
Über der Wiese schwebte ein silbergrauer Schleier. Wenn nur die eisige Kälte nicht wäre. Wie weit schimmerten doch die Lichter aus dem Dorf herüber. Erwin Rimbach fasste den Baum am Ende des Stammes und zog ihn hinter sich her. Die Streifen im Schnee verwischten seine Fußabdrücke. »So verwischt ein Tannendieb seine Spuren«, ging es durch seine Gedanken. Tannendieb?
Während der junge Mann über die Wiese stapfte, versuchte er das hässliche Wort »Dieb« wenn auch nicht ganz auszulöschen, so doch wenigstens zu mildern. Ein Dieb klaut dauernd. Also konnte er sich als einen Gelegenheitsdieb, oder noch behutsamer ausgedrückt, als einen Verlegenheitsdieb einstufen. Er war ja, was seine Situation anbetraf, in einer doppelten Verlegenheit. Einmal, dass zeitlich nichts mehr aufzuschieben war, und zweitens, dass er für seine paar Kröten niemals solch einen tollen Baum bekommen hätte. Die Lichter des Ortes kamen näher.
Auf einem Hügel, nahe des Marktplatzes, von einer Tannengruppe umgeben, schimmerte der warme, gelbe Glanz erleuchteter Kirchenfenster herüber. Zu der stummen Einladung des herausfallenden Lichtes gesellte sich die akustische Einladung der Kirchenglocken. Und was Erwin Rimbach eigentlich anzog, die Kirche war geheizt. Zögernd blieb er stehen. »Du willst doch nicht etwa mit einem geklauten Baum ...?« Als schöbe ihn jemand auf den Hügel zu, folgte er dem Klang der Glocken. Seine eiskalten Hände vermochten die Tanne kaum noch zu halten. Zwischen zwei älteren Frauen schlupfte er durch die Tür, um mit den »anständigen Bürgern« den Gottesdienst am Heiligabend zu besuchen.
Eingekeilt zwischen Leuten, die ihren Gänsebraten nach der Gottesdienst unter ihrem gekauften Christbaum genießen würden, hoffte er, dass wenn möglich sein Herz, aber vor allem seine Finger warm wurden. Die Blautanne hatte er nahe der Sakristei hinter einem Mauervorsprung versteckt. Bei dem Gedanken »hoffentlich klaut sie niemand« konnte er ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Die Kirche war brechend voll, sodass es nur für einen Stehplatz reichte. Er schaute zwischen den Schultern der vielen Besucher hinüber zum Altar. Über dem Altar schwebte ein Stern, links und rechts von breitästigen Tannen flankiert. »Die sind bestimmt von edlen Spendern gestiftet«, dachte Erwin Rimbach.
Nach dem Lied »Fröhlich soll mein Herze springen« trat ein junger Mann vor den Altar. Er las die Weihnachtsgeschichte nach einer neuen Übersetzung. Erwin Rimbach hörte fasziniert zu. Seinen Weihnachtsbaum hatte er fast vergessen. Er schob den Ärmel seines Mantels zurück und schaute auf seine Uhr. Es war fast halb sechs. Seine Mutter, das wusste er, saß daheim wie auf heißen Kohlen. Aber bot sich ihm nicht die beste Ausrede an? »Mutter, ich war im Gottesdienst.« Allerdings konnte er wohl kaum den gesamten Gottesdienst abwarten. Schon überlegte er, wie er aus dieser Menschentraube herauskommen sollte, da packte ihn die klare Stimme des jungen Pfarrers.
»Liebe Festgemeinde! Vielleicht sind unsere Gedanken schon beim Gabentisch. Aber ich möchte Sie einladen, einige Minuten umzuschalten, um der unaussprechlichen Gabe zu gedenken, die Gott in eine erbärmliche Krippe gelegt hat. Sicher machen Sie heute Abend untereinander manche Freude, und zwar mit den Gaben, die ein Loch in ihrem Geldbeutel hinterlassen. Doch was tut’s, die Freude in den Augen ihrer Lieben, besonders in den leuchtenden Kinderaugen, steckt zur Mitfreude an.«
Erwin Rimbach sah die Aufmerksamkeit auf den Gesichtern der Männer und Frauen. War das nicht die Gelegenheit zu verschwinden. Da nagelte ihn ein Satz des Pfarrers auf seinem Platz fest.
»Liebe Festgemeinde. Weihnachten gibt es nicht umsonst. Lassen Sie es mich an einer Hypothese illustrieren. Es könnte doch sein, dass jemand nach diesem Weihnachtsgottesdienst seine Weihnachtslieder unter einem geklauten Weihnachtsbaum singt.« Manche der Besucher grinsten, andere stießen einen Atemzug der Empörung aus. Der Redner legte eine Pause ein. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hatte mein Beispiel als Illustration gemeint, aber keineswegs als eine Unterstellung. Ich möchte Ihnen lediglich das Wunder der Weihnacht verdeutlichen. Ein geklauter Weihnachtsbaum ist umsonst, aber er ist nicht geschenkt. Gott lässt sich seinen Sohn nicht klauen. Wer wollte das auch tun?
Es geht allein nach der Weise des alten Weihnachtsliedes ›Und schenkt uns seinen Sohn‹. Das ›Umsonst‹ von Weihnachten hat seinen Preis. Für uns als versammelte Weihnachtsgemeinde geht es um die Frage: Wollen wir uns beschenken lassen oder mit eigenen Werken bezahlen? Man kann es versuchen, doch nur der hat das Weihnachtswunder begriffen, der sich beschenken lässt!«
Nach dem Gottesdienst war Pfarrer Wollgräber noch allein in der Sakristei. Er überlegte, ob seine Bemerkung von dem geklauten Weihnachtsbaum der feierlichen Stunde den Schleier weggerissen hatte. Und wenn Feierlichkeit gefragt war, dann besonders zu Weihnachten. Ihm waren die herabfallenden Jalousien in den Gesichtern mancher Leute nicht entgangen! Er wischte die lästigen Gedanken mit einer Handbewegung fort. »Alter Junge, halt dich ans Konzept und bedenke, manche Einfälle können sich auch in Unfälle verwandeln.«
Plötzlich schreckte ihn ein Klopfen in seinen Gedanken auf. »Herein!« Nachdem sich nichts tat und niemand die Klinke herunterdrückte, öffnete der Seelsorger die Tür. Vor ihm stand ein sichtlich verlegener, junger Mann. Neben ihm lehnte eine Tanne, oder mehr umgekehrt, er an ihr. »Kann ich Sie kurz sprechen, Herr Pastor?« - »Klar, doch treten Sie erst mal ein.« - »Danke!« Schnell huschte der Besucher in die Wärme des Raumes. Den Tannenbaum presste er dicht an seine Seite. Die beiden Männer blickten einander an. Pfarrer Wollgräber zeigte auf den Baum. »Ein Prachtexemplar haben Sie da.« - »Kann man schon sagen, mindestens sechzig Mark. Aber ganz umsonst«, fügte er hinzu.
Der Pfarrer schaltete augenblicklich. »Umsonst, aber nicht geschenkt.« Sein Gegenüber nickte bestätigend. »Mein Gott. Und ich war schon besorgt, einigen Leuten die Weihnachtsfreude angekratzt zu haben.« Der junge Mann wich den Blicken des Seelsorgers aus. »Dass Ihre Hypothese wahr sein könnte, das hatten Sie wohl kaum vermutet«, flüsterte er. »Ehrlich gesagt, nein. Aber immerhin, Sie haben den Unterschied zwischen umsonst und geschenkt sehr handgreiflich kapiert?« - »So handgreiflich, wie ich den Stamm des geklauten Baumes fühle.« Er hielt die Tanne ein Stück von sich weg.
»Lieber Weihnachten ohne Baum, als mit einem geklauten. Auch meine Mutter hätte ich belügen müssen. Unter einem gestohlenen Baum hätte sie nämlich nicht gefeiert.« - »Und Sie jetzt auch nicht mehr?« Die Gebärde des jungen Mannes war deutlich genug. Pfarrer Wollgräber lächelte sein Gegenüber freundlich an. »Aber was machen wir nun mit diesem Prachtexemplar?« In den Augen des andern blitzte es hoffnungsvoll auf. »In Ihrer Predigt haben Sie auf etwas drastische Art das Weihnachtswunder erklärt. Umsonst und doch nicht geklaut, also geschenkt. Damit ich ruhigen Gewissens Weihnachten feiern kann, bleibt nur ein Weg.«
»Und der wäre?«, fragte der Pfarrer. Erwin Rimbach rüttelte die Blautanne, als wäre sie schuldig geworden. »Es bleibt mir nur übrig, sie zu bezahlen. Nur wem ... bezahlen?« Der Seelsorger sah den ratlosen Blick seines Gegenübers. »Meiner Mutter sage und bekenne ich alles. Ihr will ich nichts vormachen.« - »Und keinem anderen brauchen Sie etwas zu sagen. Sie haben mir doch etwas gebeichtet, etwas ausgeräumt. Und das bleibt unser Geheimnis.«
Erwin Rimbach spürte, wie eine Stein von seinem Herzen fiel. »Ich werfe einen Briefumschlag bei Ihnen ein. Damit wir ehrlich Weihnachten feiern können.« - »Einverstanden. Ich gehe zum Forstamt und regle die Sache. Ohne Namensnennung versteht sich.«
»Wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Pastor!?« Als der Seelsorger nicht antwortete, nannte Erwin Rimbach den Preis. »Fünfzig Mark, genügen die?« Dabei sah er seine Tanne beinahe zärtlich an. »Für Sie nur zwanzig«, lachte der Pfarrer. »Heut ist doch Weihnachten!« - »Aber, aber«, stotterte der andere überrascht, »das reicht doch nicht.« -
»Aber es genügt. So wie das Kind in der Krippe genügt. Gerade weil es nicht reicht, wenn wir selbst bezahlen wollen«, schloss der Seelsorger das Gespräch ab.
Die Fabrikantenwitwe Silvia Strutthof stand am Fenster des Hotelzimmers und schaute in die winterliche Landschaft hinaus. Unaufhaltsam schwebten große Flocken hernieder und legten eine weiße Decke über Bäume, Sträucher und Wiesen.
Auf der schimmernden Fläche sprangen farbige Tupfer. Es waren Kinder, die ihre Schlitten hinter sich herzogen. Auf einen Hügel in der Nähe des Hotels.
Jauchzend glitten sie den Berg hinunter. Silvia Strutthof strich eine Haarsträhne zurück.
Waren es wirklich schon zwei Jahre her, dass sie am Heiligabend am gleichen Fenster gestanden und die gleichen Bilder gesehen hatte? Allerdings mit einer Ausnahme. Damals lag die Hand ihres Mannes auf ihrer Schulter. Bei leicht geöffnetem Fenster hatte der Wind das fröhliche Kinderlachen zu ihnen herübergetragen. »O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.« Beide hatten sich angesehen und wohl das gleiche gedacht. Dass die nächsten Tage auch mit einem Kind zu tun hatten, dem Kind in der ärmlichen Krippe zu Bethlehem. Es gehörte zur eingeschliffenen Tradition, dass sie an Weihnachten den festlichen Bratengeruch, den Duft von Kerzen, Tannen und Weihrauch vorangehen ließen. Kurz, ohne Kirchgang am Heiligabend oder dem ersten Feiertag, hätte dem alten Familienfest gewissermaßen die Würze gefehlt.
Die restliche Zeit des Jahres gehörte allerdings ihrem überschaubaren, gut florierenden Betrieb.
Vor zwei Jahren waren sie gemeinsam zum Gottesdienst am Heiligabend gegangen und hatten der zu erwartenden Botschaft gelauscht. Eine immer wieder zu hörende Geschichte vom Egoismus der menschlichen Herzen. Aufschlussreich der knappe Satz: »Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.« War es heute etwa anders? Der Prediger betonte: »Bethlehem ist überall.«
Dann aber rückte er der versammelten Weihnachtsgemeinde auf den Pelz, packte sie am Gewissen.
»Bethlehem ist überall, aber einmalig und unvergleichlich ist das Kind in der Krippe.
Flüchtlingsschicksale in vielen Ländern, aber in dem Kinde sollen alle die erreicht werden, die vor Gott auf der Flucht sind. Die sich in ihren Wohlstand vergraben, das Scherflein der Witwe an Weihnachten und Ostern in den Gotteskasten werfen und dabei noch glauben, ihr religiöses Soll für ein Jahr erfüllt zu haben.
Haben wir über dem Flitter und dem Kassenklingeln vergessen, wozu Gott seinen Sohn in die Krippe legt? Nun, dann lassen Sie sich von dem Dichter Jochen Klepper eine Antwort geben.« Der Pfarrer hielt einen Augenblick inne, dann rezitierte er eine Strophe des Liedes.
»Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht. Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.«
Betroffen und ein wenig ärgerlich waren sie an diesem Abend in das Hotel zurückgekehrt. Dieser Prediger hatte nicht in der üblichen Art das christliche Furnier ein wenig nachgestrichen, sondern auf seine Weise die Frage nach dem Kern gestellt.
Schon vier Monate später hatte die Frau am Bett ihres Mannes gesessen. Vom Tode gezeichnet, hielt er ihre Hand. Dann zeigte er auf das Gesangbuch neben sich auf dem Nachttisch. »Weihnachten, wenn der Kirschbaum blüht«, flüsterte er mit matter Stimme. »Schlag auf, Nummer vierzehn, den zweiten Vers«. Tränen trübten ihren Blick, als sie die Zeilen überflog. »Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.«
Die Augen geschlossen, hatte er immer wieder den einen Satz geflüstert: »Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.« So war er in die andere Welt hinübergegangen, alles loslassend, was ihm auf Erden wichtig gewesen war.
Die Witwe hatte sich vorgenommen, dem Pfarrer jenes Kurortes einen Brief zu schreiben. Ihm zu schreiben, wie seine Botschaft das Herz ihres Mannes erreicht hatte. Weniger im Gottesdienst selbst, aber einige Monate später. Leider hatte sie sich nicht aufgerafft, es wirklich zu tun. Es war einer jener Briefe, die man in Gedanken schreibt, aber nicht aufs Papier bringt.
Dass sie nach knapp zwei Jahren die Weihnachtstage wieder in dem Hotel verbringen wollte, war im Unterbewusstsein von dem Gedanken gesteuert, in dem Gottesdienst am Heiligabend dem Pfarrer zu begegnen und ihm von dem Sterben ihres Mannes zu berichten. Besonders von der heilenden Wirkung jenes Liedverses: »Er kann errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.«
Silvia Strutthof wandte sich um. Es hatte jemand an die Tür geklopft. »Herein!« Die Tür öffnete sich und das junge Zimmermädchen stand auf der Türschwelle. »Die Chefin meinte, diesen kleinen Gruß sollte ich Ihnen reinreichen.« Über das Gesicht der Frau glitt ein Lächeln. Sie ging der anderen entgegen und nahm das Geschenk ab. Es war eine kleine Tanne, geschmückt mit weißen Sternen und bunten Puppenlichtern. »Es soll aber kein Ersatz für den großen Baum sein, der unten im Speiseraum steht. Nach der Gottesdienst, so meint Frau Lörscher, soll die interne Weihnachtsfeier in unserem Hotel sein. Alle Gäste sind herzlich dazu eingeladen.«
»Vielen Dank. Ich komme gern.« Kaum hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, quollen Tränen aus den Augen der Witwe. »Diese Tanne auf dem runden Tisch schien eine Stimme zu bekommen. ›Du bist nicht allein gelassen«
Inzwischen hatte der graue Winterhimmel den letzten Rest Licht aufgesogen und Frau Strutthof stand vor dem Kleiderschrank, um sich für die bevorstehende Weihnachtsfeier mit den Hotelgästen ein Kleid auszuwählen. Sie entschied sich für ein Strickkleid, in dem sie ihrem Mann immer besonders gefallen hatte. Überhaupt ertappte sie sich wiederholt bei dem Gedanken, in manchen Dingen so zu handeln, als ob ihr Mann beratend neben ihr stünde oder gleich eintreten würde.
Sie drehte sich vor dem Spiegel, bürstete über ihr Haar. Dabei fiel ihr auf, wie still es in dem Raum war. Seine Stimme fehlte. Er selbst fehlte. Wie am Horizont dunkle Wolken aufziehen und ihre Schatten vorauswerfen, wollte die Vergangenheit sich ihrer bemächtigen, um die kurz aufgekommene Freude zu erdrosseln. Da geschah etwas Überraschendes. Glockenreine Kinderstimmen drangen von unten herauf und sangen das bekannteste Weihnachtslied Martin Luthers. »Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär ...«
Mit schnellen Schritten war die Frau an der Tür und öffnete sie. Sie ging ans Geländer und schaute hinunter in die Halle, den Empfangsraum des Hotels.
Sie sah die Gestalten einiger Mädchen, wie sie leicht im Takt die Arme schwenkend, das bekannte Weihnachtslied sangen. Silvia Strutthof lief die Treppe hinunter und lief der Besitzerin des Hotels direkt in die Arme. Verschiedene Gäste standen und ließen sich durch den Singkreis in vorweihnachtliche Stimmung versetzten. Frau Lörscher flüsterte ihrem Gast etwas zu und deutete auf die singenden Mädchen. »Letzte Probe vor ihrem Auftritt!« - »Und wo treten sie auf?« flüsterte Silvia Strutthof zurück. Indessen hatten die Mädchen das Lied beendet, und die temperamentvolle Dirigentin blätterte in dem unübersehbaren Liederheft. »Alle Jahre wieder, Weihnachtsfeier im Kinderheim.«
Eifrig drängte sich die Witwe an die Hotelbesitzerin. »Könnte ich wohl den Chor in das Kinderheim begleiten und einfach mit dabei sein?«
Sie überlegte. »Und für die Kinder noch etwas zum Naschen dazulegen.« - »Sehr gern, Frau Strutthof, nur sind die Geschäfte alle geschlossen. Moment, wenn ich meine Schwägerin anrufe. Die haben eine Konditorei.« - »Genau das schwebt mir vor. Schokolade, Marzipan, was Kinder halt gern essen.« - »Damit werden Sie die Freude steigern.« - »Dann hol ich schnell meinen Mantel.« - »Gut, ich fahre Sie mit dem Auto hin.« Als sie nach einer halben Stunde die Konditorei verließen und die zwei gefüllten Kartons in den Kofferraum hievten, hatten knapp zweihundert Mark den Besitzer gewechselt. Die Fabrikantenwitwe war in ihrem Eifer kaum noch zu bremsen. Darüber war die Zeit vergangen, und die Weihnachtsfeier in dem Kinderheim hatte bereits begonnen. Der Heimleiter kam ihnen auf der Treppe entgegen. Durch die angelehnte Tür hörte man die Stimmen der Mädchen. »Die Feier hat gerade erst angefangen.« Frau Lörscher stellte dem Heimleiter ihren Gast vor und nannte auch die Überraschung für die Kinder. »Herzlichen Dank!« Er begleitete die beiden in den geschmückten Saal. »Wunderbar«, flüsterte die Witwe den beiden zu, »aber unübertroffener Schmuck bei einer Weihnachtsfeier sind stets die leuchtenden Kinderaugen.« - »Kann man wohl sagen«, stimmte der Mann ihr bei. Dann führte er seine beiden Gäste an einen Tisch, weiß gedeckt und in der Mitte je ein Teller mit Streusel und Butterkuchen. »Danke!« Sie nahmen Platz und wandten sich dem Singkreis zu.
Von dem Lied, »Süßer die Glocken nie klingen«, sangen die jungen Mädchen gerade die letzte Strophe. Danach kam ein Junge und sagte einen Teil der Weihnachtsgeschichte auf. Natürlich hatte er den Text auswendig gelernt.
Silvia Strutthof hörte die vertrauten Verse. Besonders den einen: »Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll; denn euch ist heute der Heiland geboren.«
Sie sah die brennenden Kerzen auf den Tischen und die leuchtenden Kinderaugen.
Nach einem Weihnachtsgedicht, das der Heimleiter selbst geschrieben hatte, folgte noch ein Lied, dem zumindest die Kinder mit nachlassender Aufmerksamkeit lauschten. Faszinierend waren jetzt nur noch die gefüllten Kuchenteller.
Silvia Strutthof bekam ihren Platz zwischen den Kindern, und es war ihr gerade recht so. Ihr gegenüber saß ein blasses Kerlchen und knabberte an einem Randstück herum. Er schien sich überhaupt nicht zu freuen. Später erfuhr sie durch den Heimleiter, dass der Kleine einen Weihnachtsbrief zu verdauen hatte, der gestern ins Heim geflattert war. Schon dass die Mutter, wie sie versprochen hatte, nicht selbst auftauchte, erschütterte den Jungen. Hinzu kam der Inhalt des Briefes. Kurz teilte die Mutter mit, dass sie mit einem Freund sechs Wochen in die Sonne zu fliegen gedachte. Er habe sie eingeladen, mit ihm in der Karibik dem Winter ein Schnippchen zu schlagen. Dafür würde man wohl im Heim Verständnis aufbringen. Und sie wüsste ja auch, dass ihr Kleiner in dem Heim gut aufgehoben sei und wohl die verständliche Enttäuschung schnell überwinden werde.
»Immerhin«, lachte der Heimleiter, »ein Stück Gewissen ist ja in den Zeilen noch zu spüren.«
Nachdem die Kuchenberge zusehends kleiner wurden, richtete sich die Spannung der Kinder auf die Geschenke. Silvia Strutthof bekam nicht allein wegen der Wärme im Festsaal eine stärkere Farbe. Mit dem nötigen Pathos stellte der Heimleiter die edle Spenderin vor. Die Kinderhände klatschten Beifall.
Er galt weniger ihr selbst, als vielmehr den Geschenken. Noch während sich die Kinder freuten und auch der blasse Junge von der Freude ansteckt wurde, verließ die Frau den Saal und zog sich in der Garderobe ihren Mantel an. »Wollen Sie schon gehen?« hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie wandte sich um. »Ja, Frau Lörscher. Und nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich mich für heute zurückziehe. Die Erinnerung hat doch massiv ihr Netz ausgeworfen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Durchaus, Frau Strutthof, aber wir würden uns trotzdem freuen, wenn Sie für ein halbes Stündchen mit uns feiern wollten.« - »Ich werde es mir überlegen, Frau Lörscher.«
»Ich werde es mir überlegen!« Dieser Satz begleitete die Witwe durch die Stille des eingeschneiten Kurortes. Honiggelbes Licht drang aus manchen Fenstern und überall die leuchtenden Kerzen der Weihnachtsbäume. Plötzlich spürte sie, wie in ihrer Einsamkeit oder sollte sie sagen, in ihrer Vereinsamung, sich ihr ein Begleiter anbot.
Keiner, der es auf ihr Geld abgesehen hatte, weil er einen größeren Reichtum anzubieten hatte. »Ich werde es mir überlegen.« Es war eine Antwort auf ein Angebot. Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wie oft hatte sie in den letzten Monaten die Erfahrung ihres Mannes weitergegeben: »Und soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.« Und sie selbst? Hatte sie ernstlich darüber nachgedacht, ob sie das Bekenntnis in eigener Betroffenheit, ob sie es nur ihrem Mann nachgesprochen hatte? Weihnachten aus »zweiter Hand«. Warum nicht unmittelbar von dem Kind selbst? Sie spürte, wie die Lichter sich durch Tränen verschleierten. Hell schwangen Glockentöne von der Kirche herüber. Gottesdienst am Heilig Abend. Die Frau ging auf das Kirchlein zu. Voller Erwartung, zubereitet, das größte Geschenk zu empfangen.
Zum Weiterlesen HIER klicken
Zum Weiterlesen HIER klicken
Zum Weiterlesen HIER klicken
Zum Weiterlesen HIER klicken
Zum Weiterlesen HIER klicken
Zum Weiterlesen HIER klicken