Der etwas andere Detektiv - Wolfgang Wallenda - E-Book

Der etwas andere Detektiv E-Book

Wolfgang Wallenda

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Beschreibung

Herbert "Berti" Schmadtke und Konrad "Konny" Wels sind ein liebenswertes, homosexuelles Paar. Das unfreiwillige Outing des Ladendetektivs Berti befördert ihn in die Arbeitslosigkeit und löst gleichzeitig ein Feuerwerk skurriler Ereignisse aus. Berti möchte fortan den Beruf des Privatdetektivs ausüben. Nach einer ungewöhnlichen Werbetour durch eine Arztpraxis sowie einem elitären Tennis-Club, entkommt das Paar nur aufgrund der Hilfe ihrer kuriosen Hausgemeinschaft einem Racheakt russischer Schlägertypen. Der Gewinn eines Preisausschreibens verspricht ein erholsames Wochenende in einem Luxus-Ski-Hotel. Die Reise beginnt mit einer unvergesslichen Zugfahrt. Doch statt sich im Schlafwagen zu erholen, sorgen eine ausgeflippte Sekte sowie eine nymphomane Zugbegleiterin für Furore. Endlich in München angekommen, muss das Paar feststellen, dass ihnen der Sekten-Guru ein Päckchen Drogen untergeschoben hat. Natürlich geraten sie in die Fänge eines außergewöhnlichen Polizisten. Nachdem ihre Unschuld bewiesen ist, setzen sie die Reise fort. Um den verpassten Bus einzuholen, steigen sie in ein Taxi. Damit schlittern sie in die ereignisreichste Fahrt ihres Lebens. Sie werden als Geiseln genommen, müssen eine Bank überfallen und kämpfen sich anschließend durch die winterliche bayerische Wildnis. Gemeinsam meistern die Freunde auch diese Hürden und erreichen letztendlich doch noch das Ski-Hotel. Ein Schneesturm schneidet sie von der Außenwelt ab. Zeitgleich wird ein Hotelgast ermordet aufgefunden. Der selbst ernannte Privatdetektiv Berti steht vor seinem ersten großen Fall.

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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Dieses Buch ist eine überarbeitete Neufassung des Romans:

Schneespuren gibt es nicht, Himmelstürmer Verlag, Originalausgabe September 2013, Autor: W. T. Wallenda

ISBN Print: 978-3863613341

Art 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(Auszug aus dem Grundgesetz)

„Solange wir dieses Grundrecht in unserer Gesellschaft noch nicht umgesetzt haben, liegt noch jede Menge Arbeit vor uns. Jeder darf lieben, wen er lieben möchte. Jeder darf glauben, an was oder wen er glauben will und jeder ist irgendwo auf der Welt aufgrund seines Aussehens seiner Herkunft und seiner Sprache „fremd“.

Friedlich und Hand in Hand müssen wir auch die letzten Hürden überwinden, um lokale, aber auch globale Harmonie zu erreichen.

Mein Traum: Kein Rassismus – keine Kriege – kein Hass und keine Ablehnung, nur weil man anders ist. Kämpfen wir mal dagegen an. Diesmal mit völlig überzogenem Humor, um einigen Leuten dezent einen Spiegel vor Augen zu halten.“

W. Wallenda

„Ich würde mich schrecklich gern geistig mit Ihnen duellieren, doch ich trete nicht gegen Unbewaffnete an.“

Konny Wels (geklaut von einem Unbekannten)

„Sein Verstand ist sein Vermögen, und Armut ist keine Schande.“

Berti Schmadtke (hat das Zitat irgendwann mal gelesen)

„Rassismus gehd gah ned! Denne Debbn ka ma enne glatschn.“

Papa Schmadtke (auch Babba Schmaddge genannt)

„Wer die Fähigkeit besitzt auch über sich selbst herzhaft lachen zu können, kann aufrecht durchs Leben gehen. Er gehört definitiv zu den starken, selbstbewuss ten und glücklichen Menschen.“

W. Wallenda (Meinung des Autors)

Foto: 357 Magnum mit Schal © Sophia und Wolfgang Wallenda, 2021

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Outing in Strapsen

Kapitel 2: Hauptgewinn

Kapitel 3: Hausgemeinschaft

Kapitel 4: Reisebekanntschaften

Kapitel 5: Bonnie und Clyde

Kapitel 6: Hüttenzauber

Kapitel 7: Lagerfeuerromantik

Kapitel 8: Wiedersehen macht Freude

Kapitel 9: Diavolo und Dalmore

Kapitel 10: Dancing Queen

Kapitel 11: Die üblichen Verdächtigen

Kapitel 12: Eisbein mal anders

Kapitel 13: Entlarvt

Kapitel 14: Rache ist Blutwurst

1

Outing in Strapsen

Würde es einen für alle sichtbaren roten Faden im Leben geben, so wäre der von Herbert Schmadtke, den alle nur Berti nennen, wohl eher pechschwarz als purpurrot. Und lägen für jeden Menschen die üblichen Stolpersteine erkennbar auf ihrem Lebensweg, wäre Bertis Straße mit einem voralpinen Terrain vergleichbar.

Wo immer sich ein Fettnäpfchen auftat, Berti trat hinein. Was immer Berti auch anfing, es ging schief. Anfangs bemerkte der überdurchschnittlich kalorienreich ernährte Junge diesen Alltagsmissstand gar nicht. In seinem Leben war es schließlich Standard, dass nichts auf Anhieb klappte.

Herbert Schmadtke wuchs wohlbehütet in einer Vorstadt-Reihenhaussiedlung auf. Er war das Nesthäkchen von insgesamt vier Kindern, worin das persönliche Schicksal auch schon seinen Lauf nahm. Der adipöse Junge trug seiner Kinderrangzahl entsprechend ausschließlich die abgetragenen Klamotten seiner Geschwister auf. Gebrauchte Kleidung war allerdings nicht das eigentliche Problem. Man lachte in der Schule vielmehr darüber, dass Bertis Outfit nicht gerade dem jeweiligen aktuellen Modetrend entsprach. Das lag daran, dass seine Geschwister einige Jahre älter waren als er.

Bertis Vater stammte aus Franken. Den Dialekt konnte er nie ablegen. Er sprach nicht diesen Loddar-Weichei-Slang, nein Papa Schmadtkes Aussprache glich eher den harten, fast unnachahmlichen Lauten der von Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig kreierten und zwischenzeitlich etwas angestaubten Kultfigur Hartmut. Unbedarfte könnten sogar denken, dass Papa Schmadtke Pate für den fränkischen Vorzeige-Prolo Hartmut gestanden hatte.

„Wo iss´n mei glenna Varegga? Na komma her, Berdi! Lass dich amall a´schau! Dess iss noch guud, dess kannsd noch anzieh´, Junge“, war Vaters Meinung, und die war maßgebend beim großen Schiedsgericht, wenn über Aussortieren und Weitertragen von Kleidung abgestimmt wurde.

„Papa, die lästern in der Schule immer über meine Klamotten“, versuchte sich Berti zu wehren.

Papa Schmadtke hatte allerdings immer eine Lösung parat. „Dann sachste denne eb´n, dass du aus denna Glamott´n rauswächst, denne ihr blöds G´sicht abba bleibt. Dess Reih`nhaus will a bezahld sei´. Basda! Des Zeuch ziehst noch aa, des is noch gud“, war Papa Schmadtkes üblicher Abschlussspruch.

Dann war da noch die Sache mit der Brille. Bertis Hornbrille war damals nicht modern, wohl eher praktisch. Sie war so groß und unübersichtlich, dass man eigentlich nie verlegen konnte. Trotz intensivster Bemühungen hatte Berti die Brille deshalb auch nie verloren. Das nun mal ein Ding der Unmöglichkeit und nicht einmal Bertis allgemeine Talentfreiheit hatte es geschafft.

„Mia Schmadtkes draach´n seid Großvadders Zeid´n immer die gleiche Brille! Dess Modell iss für unsan Kopf wie gschaff´n“, schoss es dem damals pubertären, übergewichtigen Jungen immer entgegen. Dabei hatte Papa Schmadtke stets in der linken Hand eine Flasche Bier und in der Rechten eine Semml mit Braadwuaschd. Papas Lieblingsessen.

Heckten die Kinder in der Schule Streiche aus, war es immer ein unkalkulierbares Risiko, wenn Berti mit von der Partie war. Abhauen war nicht seine Spezialität. Bei diesen sogenannten Fluchtstreichen wurde immer der gleiche Kerl erwischt. Berti! Hatte man einen, hatte man alle. Das erhöhte den Nervenkitzel für die anderen Kids ungemein. Nur wer es schaffte, ohne erwischt zu werden, eine Albernheit mit Berti zu vollenden, galt als clever, mutig, raffiniert und war die coolste Nummer der Schule.

Berti glaubte, dass dieses permanente erwischt werden wohl der Schlüssel zu seinem persönlichen Erfolg war. Beim Nachsitzen hatte er Zeit zum Lesen. Er fühlte sich ohnehin stets gebildeter, als es seine Schulnoten ausdrückten. Und dass er beim Sport stets der Letzte war, der in eine Mannschaft gewählt wurde, betrachtete er nachträglich als reinstes Glück. Er lernte nicht nur geduldig zu sein, sondern hatte Gelegenheit während des Wartens die Mimik und Gesten der anderen zu studieren.

Berti betrachtete diese Lebensphase als Grundpfeiler seiner eigentlichen Ausbildung. Eine Ausbildung zum Super-Detektiv. Er wollte einmal werden wie James Bond und all die anderen Fernseh-Ermittler in den Spielfilmen, Kinoreißern oder Fernseh-Serien.

Er wollte nur nie so sein wie Tom Cruise, den Hauptakteur in den Mission Impossible-Filmen. Er konnte den Scientology-Fuzzi nicht leiden und dessen ganzes Gehabe ebenfalls nicht. Tom Cruise hatte bei Berti den Status Doppel-A. Ein sogenannter aA-Typ war nichts anderes als ein arrogantes Arschloch.

Berti wollte genauso werden wie seine Leinwand-Idole und exakt so auftreten wie sie es in ihren Filmen taten. Überlegen, cool und clever.

Als es um die Berufswahl ging, gab es nur eine einzige Möglichkeit. Er bewarb sich am Ende seiner Schullaufbahn bei der Polizei.

Nachdem er während der Sportprüfung, besser gesagt irgendwo zwischen dem Startblock und der Zweihundertmeter-Marke eines Zweitausend-Meter-Laufs zusammenklappte und im Krankenzimmer der Polizeikaserne wieder aufwachte, legte man ihm nahe, ein paar Kilogramm abzunehmen.

„Sie können die Prüfung ein anderes Mal wiederholen“, wurde ihm geraten.

Er wiederholte nicht, sondern griff in die Lostrommel der Berufschancen. Nun, viele Lose waren nicht vorhanden. Um genau zu sein, lag nur ein einziges Los im Pott. Es war eine Stelle als Bürokaufmann in der nahegelegen Futtermittelfabrik. Aufgrund von Papa Schmadtkes Stammtisch-Connections bekam Herbert Schmadtke den Ausbildungsplatz.

„Berdi, dess mit da Bolizei wa´n Scheiß. Jezd mach´ kee Wallung, sondern lern` was G´scheids, dann wirsd´s im Leb´n zu was bring´“, sagte sein Vater. „Schau ´n Onkel Alberd ah, der hadd ´ne guude Bension. Geh zur Bosd odda ins Büro.“

Drei Jahre später hatte Berti den Kaufmannsbrief in der Tasche und vom Beruf des Bürokaufmanns die Nase gestrichen voll. Es war an Zeit, nach den Sternen zu greifen.

„Jetzt bin ich soweit“, stellte er fest.

Berti war sich absolut sicher nicht, für das einfache Leben geschaffen zu sein. Er brauchte mehr. Er brauchte Nervenkitzel. Er war der Abenteuer-Typ, der Mann mit Sonnenbrille im Leinenanzug, der lächelnd an der Bar einen Longdrink schlürft, nachdem er einen kniffligen Fall gelöst hat.

Berti suchte das Abenteuer. Er würde es zukünftig benötigen, wie die Luft zum Atmen. Das war Fakt. Um überleben zu können, brauchte er seine tägliche Dosis Adrenalin. Er benötigte ein gewisses Pensum an Gefahr, sonst war er nicht glücklich. Auch das war klar, wie Kloßbrühe. Die Polizei wollte ihn nicht haben, was er für äußerst lächerlich hielt, also blieb nur eine Option übrig. Er musste Privatdetektiv werden. Nicht ein Privatdetektiv, sondern DER Detektiv.

„Als ob Sherlock Holmes je einen Kriminalfall nach einem 2000 Meter Lauf gelöst hatte“, redete er sich ein.

„Warten Sie, Mrs. Tacklestone, ich laufe noch schnell 2000 Meter, bevor ich ihren verschwundenen Gatten wiederfinde. Dr. Watson, wo sind meine Lauf-Denk-Schuhe?“, ulkte er herum.

Sherlock Holmes war Privatdetektiv, kein Sport-Star. Dieser Gedankengang war die Initialzündung für Bertis weiteren Lebenslauf. Nicht der Beruf des Polizeibeamten war seine Bestimmung, sondern der des Privatdetektivs. Mit jedem weiteren Tag, jeder Woche und jedem Monat verfestigte sich diese Idee. Eines Tages wachte Berti auf und wusste, dass es so weit war.

Das ist DER Tag, war ihm sofort klar.

Die Entscheidung war gefallen. Berti erfüllte sich seinen Lebenstraum. Er wurde Privatdetektiv.

Der junge Mann plünderte sein Sparkonto, zog von zu Hause aus und suchte das Abenteuer in der großen Stadt.

„Wenn was iss, rufsd a´. Du wessd, dass de imma hemm komm kannsd“, verabschiedete Papa Schmadtke seinen Junior und biss in die Braadwuaschd-Semml, um ein Unverständliches: „Servus Berdi“ nachzuschieben.

Losgelöst von seinen Eltern bezog der selbst ernannte Privatschnüffler ein Appartement in der City. Er ließ sich ein Türschild anfertigen, entwarf eine Homepage und setzte an allen möglichen Internetseiten Werbebanner. Zudem knallte er in eine Tageszeitung eine Zeitungsannonce, die erste Kunden bringen sollte.

Privatdetektiv hat noch Termine frei. Ermittlungen aller Art. Die Anzeige prangerte in dicken Lettern zwischen Tiermarkt und Immobiliensuche unter der Rubrik: Vermischtes.

Voller Stolz kaufte Berti sich ein Exemplar der Tageszeitung, setze sich zu Hause aufs Sofa und wartete. Zwei Tüten Chips und vier 0,33 Liter Flaschen Cola später saß er immer noch da. Das Telefon schwieg. Nichts! Nada! Nothing! Niente! Kein einziger Anruf. Er prüfte mehrfach, ob das Telefon auch wirklich funktionierte.

Passt! Stellte er jedes Mal fest. Es kam nicht einmal ein Anruf, in dem sich jemand nach der Höhe seines Honorars erkundigte.

Als ihm das Stichwort Honorar durch den Kopf ging, schlug er sich auf die Schenkel. „Genau! Wie viel Geld soll ich denn verlangen?“

Herbert Schmadtke schmunzelte. Er würde es voll cool angehen. Den Armen würde er als Robin Hood der Großstadt kostenlos zur Seite stehen und die Wohlhabenden würden ihn reich machen. Er war mit dem Konzept zufrieden. „Ob 1.000 Euro plus Spesen am Tag in Ordnung sind?“, fragte er sich laut.

Berti ging vor den Spiegel und probte. „Mein Honorar? Einen Tausender plus Spesen pro Tag. Was? Sie können sich das nicht leisten? Suchen Sie sich im Spielwarenladen bei den Action-Figuren einen Privatschnüffler. Ich arbeite nur für solvente Kunden. Ich bin Profi. Erfolg ist bei mir Garantie. Probleme gibt es nur, damit mir nicht langweilig wird. Ich löse sie. Für immer.“

Beim Sprechen verstellte seine Stimme, verzog das Gesicht und ahmte Leinwandhelden nach. Nach Marlon Brando aus dem Paten mimte er Robert de Niro. Er glaubte, dass ihm der Typ besser lag. Mit heißerer Stimme sagte er zu seinem Spiegelbild: „Hey, du Waschlappen. Ja, genau du, ich rede mit dir. Entweder du rückst mit den Fotos raus oder du wirst dir wünschen, die Mafia stünde hier und nicht ich. Ich weiß, du würdest jetzt lieber mit Beton-Füßen in der Nordsee schwimmen als mich hier zu sehen.“

Berti war zufrieden. Jetzt war er vorbereitet. Das Telefon konnte loslegen. Wieder wartete er. Es passierte … nichts. Stille. Quälende, nervenzerfetzende Stille erfüllte den Raum.

Ein erneuter Telefontest folgte. Festnetz und Mobiltelefon. Beide funktionierten. Mit dem Handy rief er seine eigene Festnetznummer an. Der bekannte Klingelton war zu hören. Berti wartete auf den Spruch des Anrufbeantworters. „Schmadtke, Privatdetektiv. Legen Sie nicht auf. Ich rufe zurück. Ihr Problem ist ab sofort mein Problem und ich habe keine Probleme, ich schaffe sie aus der Welt.“

Er war mehr als zufrieden, lehnte sich zurück und wartete weiter auf den Anruf des ersten Klienten. Er wartete, und wartete, und wartete.

Vor lauter Verzweiflung begann der Detektiv die Zeitung zu lesen. Er breitete sie vor sich aus, putzte die Gläser seiner Brille und überflog die Schlagzeile. Mieten explodieren!

„Als ob das keiner wüsste!“

Berti las einen Artikel über das Schicksal einer verarmten Millionärin und dass sie ein monatliches Harz IV-Taschengeld in Höhe von 50.000 Euro forderte, um ihre Fixkosten zu decken.

Den nachfolgenden Sportteil überblätterte er geflissentlich. Nachdem sämtliche Kfz-Angebote durchgeschmökert waren, kam er auf die Seite der Bekanntschaften. Berti rieb sich die Hände, öffnete eine neue Tüte Chips, nahm einen Schluck Cola und lehnte sich zurück. Genüsslich verschlang er die ersten Anzeigen.

„Hengst sucht Stute! Melde dich!“

„Die Tierseite kommt doch erst später“, kommentierte er belustigt und las weiter.

„Junggebliebene Witwe, Mitte sechzig, sucht neuen Lebensgefährten.“

Berti lächelte. „Fehlt noch der Zusatz: Hobby Pilze kochen. Damit hat sie ihren ersten Gatten unter die Erde gebracht, jetzt ist der nächste dran.“

„W sucht W zum zärtlich sein. Bin schlank, 35 und ungebunden. Und du?“

„Ich bin kein Mädel“, kicherte er.

„Suche lustigen Freundeskreis für Unternehmungen aller Art.“

„Kauf dir ´nen Knochen, dann spielen wenigstens die Straßenhunde mit dir, wenn dich sonst schon keiner mag.“

„Bin neu in der Stadt, Ende zwanzig, männlich und suche auf diese Weise einen treuen Freund. Gerne auch mollig. Ehrlichkeit zählt! Sympathie ist wichtig. Melde dich!“

Berti las die Anzeige dreimal. Ihm wurde heiß und kalt. Er bekam Herzklopfen. Der ansteigende Puls ließ die Handinnenflächen feucht werden. Am Ende der Annonce war eine Handynummer abgedruckt. Kein Chiffre-Scheiß, kein Partnerinstitut und keine SMS-Verarsche. Es war eine ganz normale Handy-Nummer. Sollte er anrufen? Ein Mann suchte einen treuen und ehrlichen Freund.

Der Typ ist Ende zwanzig und steht auf mollige Männer. Das ist Schicksal, krabbelte es ständig durch Bertis Kopf. Genau in der gleichen Zeitung, die durch mein Inserat mein berufliches Leben verändert, steht eine Anzeige. Er hörte auf weiter nachzudenken.

Für Berti war alles klar. Schließlich war er schwul und solo. Zudem hatte er gerade keinen Klienten, was jede Menge Zeit bedeutete.

Also, warum nicht?

Aufgeregte tippte er die Telefonnummer ins Handy. Es läutete. Schweißperlen traten an seiner Stirn hervor.

Was soll ich nur sagen?

Sein Zeigefinger war auf dem Weg zum Auflegen, als jemand mit einer sehr symphytischen Stimme das Gespräch entgegen nahm.

„Hallo, hier ist Konny.“

„Hi, mein Name ist Herbert ... besser Berti.“

„Hi, Berti.“

„Ich habe deine Annonce gelesen und ...“

„Bis du von hier?“, unterbrach Konny die kleine Pause.

„Ja. Ich dachte mir, wir ... also, ich habe Zeit und ...“

Konny lachte. „Du meinst, wir könnten uns mal treffen?“

„So war das gedacht.“

„Du gehst aber ganz schön ran.“

„Ich habe keine Hintergedanken“, sprudelte Berti hervor. Er kam sich ziemlich dumm vor.

„Habe ich auch gar nicht so gemeint. Aber wie es der Zufall will, ich habe heute auch noch nichts vor.“

„Du meinst, es klappt?“

„Sollen wir essen gehen? Da kann man sich bei gemütlicher Atmosphäre kennenlernen.“

„Essen gehen ist super!“

„Ich bin ja neu hier. Kennst du ein gutes Lokal in der Innenstadt? Ich würde es sonst nicht finden.“

„Klar! Wie wäre es mit italienisch?“

„Sehr gern.“

Seit diesem Tag war er mit Konrad Wels zusammen. Konny war super. Er passte zu Berti wie die berühmte Faust aufs Auge. Sie verstanden sich auf Anhieb bestens. Es war Liebe auf den ersten Blick. Konny war schlank, sportlich und auch optisch eher das Gegenteil von Herbert Schmadtke. Vielleicht war es genau das, was das Geheimnis ihrer gegenseitigen Zuneigung ausmachte.

„Kann doch jedem passieren“, lächelte Konny, als Berti während ihres Kennenlern-Abendessen beim Italiener etwas Parmesan über die Nudeln streuen wollte, dabei jedoch der Deckel des Käsestreuers inklusive des gesamten Inhalts in seinem Teller landete.

„Ich liebe Parmesan“, kicherte Berti, um dem Malheur etwas Positives zu verleihen.

Und auch später, als er Rotwein nachschenkte und dabei das Glas umwarf, blieb Konny gelassen. Schmunzelnd und fasziniert, hörte er den Ausführungen des vor ihm sitzenden tough guy zu.

„Ich kann weiße Jeans ohnehin nicht leiden. Da sehe ich aus wie ein Arzt. Die werfe ich später weg“, verharmloste der Neu-Detektiv diese Peinlichkeit.

Für Herbert Schmadtke war sein Gegenüber ein Traumtyp. Konny hatte ein Germanistikstudium abgeschlossen. Er schrieb für sein Leben gern Romane und träumte davon, ein großer Schriftsteller zu werden. Als Konny Wels gelang ihm bereits ein erster Achtungserfolg. Einer der großen Verlage veröffentlichte hin und wieder ein Manuskript des Nachwuchs-Autoren.

„Es sind zwar klischeebehaftete Liebesromane, genauer ausgedrückt handelt es sich um die wöchentlichen Groschenhefte, die von Frauen im gewissen Alter verschlungen werden, doch mit den Geschichten um Dr. Wenzel Langedoorn, treffe ich bei diesem Klientel mitten ins Schwarze“, erzählte er.

„Warum Konny Wels und nicht Konrad Wels?“, wollte Berti wissen.

„Weil die Frauen wohl lieber etwas von Frauen lesen als von Männern. Der Verlag hat aus Konrad Konny gemacht. Das klingt weiblicher.“

„Verstehe ich nicht.“

„Egal. Ich werde mich als männlicher Autor erst öffentlich präsentieren, wenn ich meinen ersten Bestseller in den Läden stehen habe. Bis dahin kann ich gut damit leben, dass alle denken, Konny Wels ist eine Frau.“

Als sich die Beine der beiden Männer unter dem Tisch zufällig berührten, schnellte ihr Puls augenblicklich nach oben. Ein Prickeln lief vom kleinen Zeh bis zu den Haarwurzeln. Ihre Blicke klebten aneinander. Amor hatte einen Pfeil abgeschossen und zeitgleich beide Herzen durchbohrt.

Broke back Mountain beim Italiener. Zwei Cowboys fühlen sich voneinander angezogen. Sie kannten sich erst seit wenigen Stunden, doch sie waren sich von Beginn an so vertraut wie zwei Freunde aus längst vergangenen Sandkastentagen. Das war für beide der Jackpot.

Eine gemeinsame größere Wohnung musste her. Ein Auto sollte folgen. Auch der Berufsplan war perfekt. Konny schrieb seine Liebesgeschichten. Nebenbei sollte er den Bürokram von Berti erledigen, während dieser mit gefährlichen Missionen unterwegs war.

Leider stellte sich die Auftragslage so dar, dass Anrufe potentieller Klienten ausblieben und Berti letztendlich als Kaufhausdetektiv für einen großen Konsumtempel arbeitete. „Nur vorübergehend, damit die laufenden Kosten gedeckt werden“, meinte er.

„Betrachte es als Trainingsprogramm“, hatte Konny gesagt, und wie jede Woche seinem Freund die Postkarte mit dem Lösungswort des Kreuzworträtsels aus der Fernsehillustrierten mitgegeben, als Berti zur Arbeit ging. „Wirfst du sie wieder ein?“

„Das Geld für die Briefmarke könnten wir uns sparen. Wir gewinnen sowieso nichts.“

Konnys Augenschlag war ausreichend. Berti nahm wie üblich die Postkarte mit, um sie im Briefkasten vor dem Kaufhaus einzuwerfen. Anschließend betrat der das Gebäude, ging an der Personalabteilung vorbei, grüßte Frau Perla und wollte in seinem Vier-Monitor-Überwachungsraum verschwinden.

„Herr Schmadtke, der Chef möchte sie sprechen.“

Berti blieb stehen.

Verdammt! Was ist jetzt schon wieder los?

Erst letzte Woche konnte er sich anhören, dass der Verlust aufgrund von Ladendiebstählen im letzten Quartal die 20.000 Euro-Grenze überschritten hatte. Weiterhin musste er sich garantiert wieder vorhalten lassen, dass die Firma ihn dafür eingestellt hatte, um genau das zu verhindern. Alles, was er bislang dingfest gemacht hatte, waren aber lediglich ein paar Jugendliche, die sich aufs mopsen von Mädchen-BHs spezialisiert hatten. „Hey Alder, das war nur ´ne Mutprobe und so, um vor den Tussies cool dazustehen und so, weißt du. Ist doch besser als ´ne Tüte durchzuziehen oder Hülsenfrüchte zu vernichten, oder?“

„Hülsenfrüchte vernichten? Von was quatscht du da?“

„Na, Alder, wo bist du aufgewachsen und so? Hey Jungs, der Knödel mit Augen weiß nicht was Hülsenfrüchte sind.“

Die anderen beiden Diebe lachten.

„Das ist Dosenbier. Kann ich jetzt gehen, Alder? Meine Erzeugerfraktion macht Terror, wenn … Scheiße, die Bullen!“

Die drei Halbstarken wurden von der Polizei abgeholt und nach Hause gebracht. Berti feierte seinen ersten Erfolg. Er fühlte sich großartig. Das war gerade mal zwei Wochen her. Und jetzt? Jetzt verlangte der Chef nach ihm. Er würde ihn wohl kaum bezüglich der Sache von vor 14 Tagen loben. Berti atmete tief durch.

„Danke, Frau Perla“, antwortete er. Erst wollte Berti weitergehen, dann kehrte er spontan um. Er ging zurück zum Schreibtisch der Sekretärin. Der Ladendetektiv setzte ein besonders freundliches Lächeln auf. „Sie tragen ja schon wieder diese reizende Bluse in zartrosa. Gehen Sie heute noch aus?“

Frau Perla betrachtete wohlwollend ihre Oberbekleidung. „Ach, Sie alter Charmeur. Das ist doch nichts Besonderes“, antwortete die in die Jahre gekommene Dame und errötete leicht.

„Hören Sie auf, Frau Perla. So wie Sie aussehen, stehen bestimmt die Kavaliere Schlange.“

„Herr Schmadtke, Sie sind mir aber einer“, lächelte sie.

„Und schön gebräunt sind sie auch.“

„Ich bin ein paarmal ins Solarium gegangen. Wissen Sie, ich fliege bald in den Urlaub“, kam es seifenblasenartig in Blümchenbetonung. „Ich möchte mir keinen Sonnenbrand holen, wenn wir unter Palmen einen Cocktail schlürfen.“

„Wohin geht es denn?“

Insgeheim dachte er sich, dass es schade um die Kohle war, die Frau Perla nach Münz-Mallorca getragen hatte. Das künstliche Braun ließ ihre Haut eher wie faltige Lederlappen aussehen, als einen schönen Teint zu präsentieren.

„In die Südsee. Ich freue mich schon.“

Die Vorfreude auf die Reise war der Sekretärin regelrecht ins Gesicht geschrieben.

„Südsee. Ist das nicht teuer?“

„Ich habe dafür lange gespart.“

Berti setzte sich auf das Eck des Schreibtisches, um locker zu wirken. Als dieser unter dem Gewicht knarzte und sich der gegenüber liegende Teil leicht anhob, stand er jedoch sofort wieder auf. „Was will denn Herr Römer von mir?“, flüsterte er leise.

Der Gesichtsausdruck von Frau Perla ließ nichts Gutes erahnen. „Ich glaube, es ist wegen …“

„Schmadtke, da sind Sie ja“, durchbrach die Stimme des Filialleiters die Unterhaltung. „Kommen Sie gleich mal mit in mein Büro. Ach, Frau Perla, ich benötige immer noch die Einkaufsbelege vom letzten Quartal!“

Vor Berti stand Herr Römer. Der Filialleiter, den keiner leiden konnte. Wie jeden anderen Tag auch, trug der Chef wieder einen schlechtsitzenden Anzug, da das Bauchvolumen nicht zur Ärmellänge und diese nicht zur Schulterbreite passten.

Den Begriff Schneider kennt Römer nur als Nachname, kam es Berti in den Sinn. Gedanklich sah er seinen Boss beim Einkaufen. Alles von der Stange.

„Ich nehme den hier. Er passt zwar nicht richtig, ist aber reduziert.“

Man nennt ihn sicherlich überall nur Stangen-Römer.

Herbert Schmadtke konnte sich ein verachtendes Grinsen nicht mehr verkneifen. Er musste sich konzentrieren, um nicht loszuprusten. Sein Chef hatte soeben einen neuen Spitznamen verpasst bekommen. Sofort nach dem Gespräch würde Berti es Frau Perla erzählen. Sie war Garant dafür, dass sich Neuigkeiten extrem schnell verbreiten. Insbesondere wenn man den Zusatz: aber bitte nicht weitersagen anfügt.

Stangen-Römer sah zehn Jahre älter aus als er eigentlich war. Ein optischer Parade-Spießer. Nein! Nicht ein optischer Parade-Spießer, sondern der optische Parade-Spießer schlechthin! Jeden Tag ein anderer Anzug, allerdings gleichen Aussehens. Aschgrau.

Bertis Gedanken drehten sich um seinen Chef.

Bei ihm läuft alles exakt nach Plan ab. Punkt zwölf Uhr gibt es Mittagessen. Abendbrot um 18.00 Uhr. Am Samstag wird eingekauft. Sonntagabend ist Sex an der Reihe. Entweder vor der Tagesschau oder nach dem 20.15 Uhr - Krimi. Aber es muss dunkel sein und es durfte nicht länger dauern als zehn Minuten. Insgesamt. Also mit Ausziehen, Vorspiel und Höhepunkt. Seinem Höhepunkt. Stöhnen war unerwünscht, die Missionarsstellung vorgegeben. Miteinander sprechen, vorher, während und nach dem Geschlechtsakt war verboten.

Berti musste sich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Genauso stellte er sich das Leben von Stangen-Römer vor.

Er konnte dieses Sackgesicht von Anfang an nicht leiden.

„Was gibt es denn?“, kam es erstaunlich freundlich über Bertis Lippen. Eigentlich wollte er dem Kerl in Jason Statham-Manier eine betonieren, doch Römer war für die Anweisung von Bertis Geld verantwortlich. Also beherrschte sich der Ladendetektiv.

Das Büro war kalt eingerichtet. Feng-Shui im Gefriertruhen-Stil. Gefühlsmäßig ausgedrückt, hätte Berti es zwischen langen Opa-Unterhosen und ockerfarbenen Damenmiedern aus dem Otto-Katalog eingegliedert. Hier lebte nichts. Vermutlich türmten sogar die Fliegen aus diesem sterilen Raum. „Raus hier, Stubenfliegen. Das ist der Vorhof zur Hölle! Jedes Spinnennetz ist bequemer.“

Der einzige Farbklecks im Zimmer war ein herumliegender Reiseprospekt für Fernreisen.

Berti fühlte sich leicht unwohl. Verglich man seine Leistungskurve mit den Arbeitsergebnissen anderer Ladendetektive, könnte man sagen, er hatte bislang wenig Erfolg. Die Konkurrenz hingegen heimste eine Fangprämie nach der anderen ein. Er wurde nur belächelt. Allerdings setzte ihn der Filialleiter seit seinem letzten Erfolg am Brennpunkt des Geschehens ein, während die anderen ihr Dasein in der PC-Abteilung, bei den Kinderspielsachen oder im Haushaltswarenbereich des Basements fristeten.

Und wie Römer die Gespräche stetes einleitete, ging Berti auch auf den Keks. Dieses Herr Schmadtke konnte er schon nicht mehr hören. Römers Stimme war definitiv Vorbild für etliche Filmschurken.

„Herr Schmadtke! Wir haben schon wieder einen Fehlbestand in der Damen-Dessous-Abteilung. Ich habe Ihnen letzte Woche gesagt, dass ich Ergebnisse wünsche, ansonsten werden sich unsere Wege trennen.“

„Ich … hmhm“, Berti räusperte sich, „… ich bin dran.“

„Wie dran? Was heißt bei Ihnen ich bin dran?“, äffte er mit komischen Kopfbewegungen nach. „Ich möchte Ergebnisse sehen!“

Die Hände des Detektivs wurden feucht. Was sollte er Römer nur sagen? Denk nach, Berti! Erzähl ihm irgendwas. Nur quatschen rettet deinen Kopf! Schweigen heißt verlieren!

„Ich habe observiert und kann den Kreis der Verdächtigen einschränken.“

„Einschränken?“ Römers Stimme erhob sich. Er wurde laut. Sehr laut. „Ich möchte sie dingfest haben! Ich möchte Anzeigen sehen! Festnahmen! Ich wünsche, dass die Diebe in Handschellen von Polizisten abgeführt werden!“ Der Filialleiter war aufgestanden. Sein Kopf glühte hochrot.

Hätte er einen Wasserkopf, würde er zu pfeifen beginnen. „Fertig, das Wasser brodelt“, schweifte Berti gedanklich vom Thema ab, doch es half nichts. Unbarmherzig prallten Römers Worte in seine Ohren.

„Dieses Wochenende haben Sie noch, Schmadtke. Nur noch dieses Wochenende! Am Montag kommt der Regionaldirektor zur Revision. Entweder präsentiere ich ihm den oder die Täter, oder Sie fliegen! Sie tragen die gesamte Verantwortung für diesen enormen Fehlbestand!“

„Kein Problem, Herr Römer. Wie gesagt, ich bin dran.“

„Raus!“

Himbeertoni, Vollidiot und Arschgesicht waren noch die harmlosesten Schimpfwörter, die Berti durch den Kopf rasten. Ich werde Stangen-Römer zeigen, wer ich bin. Erst schnappe ich mir die perverse Straps-Diebin, dann kaufe ich mir diesen vollgefressenen …, Berti dachte an seine eigene Figur und strich das letzte Wort. Er ersetzte es durch, … diesen Sesselpupser.

Der Tag verstrich ergebnislos. Die große Hoffnung lag auf dem morgigen Samstag. Samstag war Damen-Einkaufstag. Rumble in the Jungle! Genauso wie Fliegen um einen Hundehaufen kreisen, würden die Damen der Stadt an den Dessous-Körben stehen und darin so lange herumwühlen, bis sie etwas gefunden hatten, dass den Blick ihrer Gatten von den Zellulitis-Beinen ablenkte.

Wer Herbert Schmadtke kannte, wusste, dass er niemals aufgab. Erst recht nicht, wenn er wütend war. Wütend auf Römer, wütend auf die Diebin, wütend auf die ganze fatale Lage.

Mit der hochkochenden Wut machte sich aber auch Enthusiasmus breit. Er wolle den Fall lösen.

Mein erster großer Fall.

Berti ahnte, dass bei der hohen Anzahl von Diebstählen ein System dahinter steckte. Das war kein Zufall. Hier war eine professionelle Diebin am Werk.

Tags darauf war er bereits beim Frühstück hoch konzentriert. „Heute kriege ich sie“, spürte er.

Konny saß ihm wie üblich gegenüber. Er war bestens gelaunt. Sein dunkles, fast schwarzes Haar glänzte mit dem neuen Wet-Gel, als käme er gerade aus Meer. Rehbraune Augen blickten Berti an.

„Klar erwischt du sie“, lächelte der Schriftsteller. Der Augenblick war ideal. Freudestrahlend präsentierte Konny seine gute Nachricht, den Hammer des Tages. „Sitzt du gut? Ich habe eine tolle Überraschung. Vielleicht sogar die Lösung unseres Problems.“

Berti stellte die Kaffeetasse ab. Lösung des Problems? Welches Problem? Er war voller Hoffnung.

„Diesmal habe ich das große Kreuzworträtsel gelöst. Man kann ein Wochenende in einem Ski Hotel gewinnen. Zweiter Preis sind 500 Euro und als dritten Preis bekommt man einen Einkaufsgutschein im Wert von 50 Euro.“

Die Hoffnung verpuffte. Der helle Schein am Firmament stürzte ab. Konnys unbekümmerte Leichtfüßigkeit, mit der er durchs Leben ging, schien die fatale Situation, in der sie sich befanden, zu unterschätzen. Mit Problemlösung meinte sein Freund den zweiten Preis. 500 Euro waren ein kleines Vermögen für die beiden jungen Männer.

„Wir gewinnen doch sowieso nichts.“

„Miesepeter!“

„Was hast du bisher gewonnen?“

Konny runzelte die Stirn. „Einen Messerblock, ein Probe-Abo von Bild der Frau und ...“

Berti verzog das Gesicht. „Ich weiß“, unterbrach er seinen Freund, „und den roten Gummiball zum Aufblasen.“

„Immerhin.“

„Konny, wir sind pleite. Dein Honorar und mein Detektivgehalt reichen gerade mal für die Miete und die ersten vierzehn Tage unseres Haushaltsbedarfs. Was sollen wir denn in der zweiten Monatshälfte essen?“

„Ich bin ein Glückspilz oder ein lucky mushroom, wie der Engländer zu sagen pflegt“, entgegnete der Groschenheft-Autor, grinste unwiderstehlich und hob die berühmte wöchentliche Postkarte hoch. „Ich habe unsere letzte Briefmarke aufgeklebt. Das bringt Glück. Wirfst du sie auf dem Weg zum Kaufhaus ein?“

Berti ließ sich breit schlagen. Die Marke klebte ohnehin schon auf der Karte. „Na gut, der zweite Preis wäre immerhin schon hilfreich.“

Konny stand auf, Berti schenkte Kaffee nach. Wie immer plätscherte auch etwas daneben. Auf dem Unterteller hatte sich die übliche kleine braune Pfütze gebildet.

„Stell ihr doch eine Falle“, kam Konny auf die Anfangsbemerkung seines Lebenspartners zurück.

„Der Straps-Diebin?“

„Klar! Du musst gewiefter sein als deine Konkurrenten und durchtriebener als deine Gegner.“

Berti hob Untertasse und Tasse nach oben. Erst schlürfte er den verschütteten Kaffee von dem kleinen Tellerchen, dann nahm er einen Schluck aus der Tasse. Konny hatte recht. „Eine Falle“, wiederholte der Detektiv langsam. „Daran habe ich auch schon gedacht“, schob er ein, um nicht ganz dumm dazusitzen. „Das ist eine sehr gute Idee. Ich muss nur noch wissen, wie ich es anstelle. Ich darf in der Dessous-Abteilung nicht auffallen.“

„Tarne dich als Kunde“, schlug Konny vor.

„Meinst du wirklich?“

„Schatz, nun stell dich nicht so an. Du kannst das. Du bist doch der beste Detektiv, den ich kenne. Keiner ist besser, als mein Dickerchen.“

„Nenn mich nicht immer Dickerchen!“

„Dickerchen. Dickerchen.“

„Konny“, wurde förmlich hinausgeschmettert. Berti war sichtlich sauer.

„Ist schon gut“, lenkte der Schriftsteller ein. „Du musst los. Und nimm die Karte mit.“

„Gib schon her.“

„Was wurde denn bisher alles geklaut?“

„Dessous aller Art im Wert von rund 20.000 Euro.“

„Jede Menge Zeug. Das klingt mir eher nach professionellem Handeln als nach Zufalls-Klauen von frustrierten Hausfrauen.“

Berti zog sich an. Er öffnete die Wohnungstür, grüßte Frau Kapaunke, die gerade Treppendienst hatte und wendete sich wieder Konny zu. „Ich kriege sie.“

„Alles klar, bis später Knuffelchen.“

„Konny! Bitte! Nicht wenn die Tür zum Hausflur offen steht“, raunzte er zurück, freute sich aber insgeheim über die Liebkosungen. Mein Konny ist schon ein toller Mann.

Das Wetter war so schlecht wie Bertis Laune, wenn er an Stangen-Römer dachte. Es regnete. Das Nasskalte hatte lediglich einen einzigen Vorteil. Berti bekam einen klaren Kopf. Er war heute etwas früher dran als üblich. Das Wartehäuschen an der Bushaltestelle war schon prall gefüllt. Er hatte ohnehin keine Lust auf den Bus zu warten. Scheiß drauf, dachte er. Heute gehe ich zu Fuß.

Er schlug den Mantelkragen hoch, zog die farblich nicht dazu passende Baseballkappe ein Stück weiter ins Gesicht und marschierte los. Rush-hour. Die Straßen waren vollgestopft mit genervten Autofahrern, die Gehwege waren allerdings frei. Kaum Fußgängeraufkommen.

Bei dem Regen bleiben sie zu Hause.

In Bertis Unterbewusstsein reifte ein Plan. Immer wieder kreisten die gleichen Worte umher.

Professionelles Handeln … zwanzigtausend Piepen … ich bin der einzige Detektiv, der darauf angesetzt ist. Da ist etwas faul. Oberfaul!

Es summte ständig in seinem Kopf herum. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch war er da. Das Kaufhaus stand wie immer protzig seinem Platz. Das rote Backsteingebäude trotzte Wind und Wetter. Die Schaufensterpuppen starrten teilnahmslos auf den regennassen Asphalt. Bertis Mantel und die Baseballkappe waren durchnässt, trieften aber nicht. Der gelbe Briefkasten, der neben dem Personaleingang hing, wartete schon auf die wöchentliche Postkarte.

„Hier, friss oder stirb“, hauchte der Detektiv aus, als er die Karte in den Briefschlitz schob.

Fünf Minuten später saß er in seinem Büro. Dem Ladendetektiv blieb noch eine Viertelstunde, dann wurden die Eingangstüren geöffnet. Die kaufhungrige Masse würde einfallen wie die Vandalen im alten Rom. Erste schnäppchenjagende Wölfinnen warteten bereits unter dunklen Knirps-Regenschirmen auf den Einlass.

Mit der Ladenöffnung kommen die Diebe. Sie ist sicherlich dabei.

Berti wusste es. Er ahnte es. Er spürte es. Äußerlich nicht zu erkennen, schlichen sie zwischen den Frau Müllers, Frau Meiers und etlichen weiteren Kundinnen herum. Sie warteten auf günstige Gelegenheiten, um dann in einem unbeobachteten Moment gnadenlos zuzuschlagen.

Stangen-Römers Gesicht tauchte in Bertis Gedanken auf. Hochrot angelaufen, posaunte er den Namen des Detektivs aus. „Herr Schmadtke!“ Dabei spuckte er herum. Berti bekam bei diesem ekelhaften Gedanken Gänsehaut. Das Kribbeln der Erpelfolie zog sich vom Genick bis zur Hüfte. Angewidert sprang er auf. Ein kurzer Gedanke pfiff in sein Hirn. Es war, als hätte er den berühmten Fuß von der Leitung genommen. Berti hatte tatsächlich einen Einfall.

„Blitzidee“, schmetterte er laut.

Die Sichtung der Kameraaufzeichnungen brachte keinen wirklichen Hinweis. Er hatte sie immer wieder angesehen, konnte aber weder Diebstahlshandlungen beobachten, noch wichtige Fragen klären, wie die, auf welche Art und Weise die entwendeten Waren hinausgeschmuggelt werden. Oder welche Gesichter immer wiederholt auftauchten? Arbeiteten sie allein oder im Team?

Darin lag das ganze Geheimnis. Keine Antwort war in diesem Fall auch eine Antwort. Berti hatte zwar keine Ahnung, aber zumindest keimte ein vager Anfangsverdacht auf. Er glaubte zu wissen, wie die heiße Ware das Kaufhaus verließ und musste nur noch die Probe aufs Exempel machen.

Jetzt!

In Windeseile verließ er das Büro. Er hetzte durch den Flur und betrat den Verkaufsraum. Dort hastete an Schuhen und Handtaschen vorbei, stieß einen Wühlkorb mit Socken um und stürmte vor bis zur Damenunterwäsche. Die Dessous, oder sinnliche Mode für drunter, wie der neueste Werbeslogan auf einem Plakat prangerte, befanden sich gleich gegenüber den beiden Umkleidekabinen.

In wenigen Minuten werden die Türen geöffnet.

Danach dauerte es nicht lange, bis die ersten Kundinnen vor den Regalen, Stangen und Wühlkörben auftauchten. Zeit war jetzt wertvoll. Berti hatte nur wenig davon. Zu wenig, um wählerisch zu sein. Vor dem Ständer mit Strumpfhosen und Strümpfen griff er zur größten Größe. Mit ein paar schwarzen Netzstrümpfen XXL bewaffnet, rannte weiter. Seine rechte Pranke packte einen Slip in Übergröße, mit der linken Hand fingerte aus dem Erotik-Korb etwas heraus.

Noch sieben Minuten, schätzte er.

Berti verschwand in der Umkleidekabine. Das Licht im Verkaufsraum wurde angeschaltet. Der Countdown begann. Fünf Minuten blieben ihm für sein Vorhaben. In Windeseile entkleidete sich der Detektiv bis auf die Unterhose.

„Wie machen die das nur?“, murmelte er, als er sich die schwarzen Netzstrümpfe über seine stattlichen Waden zog.

Seine Anfangsbedenken zerschlugen sich. Erstaunlicherweise hatte er keine Probleme beim Anziehen der Reizwäsche. Berti zog den Damenslip über seine Unterhose. Der String sah furchtbar aus. Hätte er seine Retropants nicht an, würde das vordere Mittelteil des Damen-Tangas gerade mal die Hälfte seines Joysticks überdecken. Die Hoden wären unweigerlich links und rechts davon dem freien Fall preisgegeben. Mit den Strapsen kämpfte er etwas. Der Detektiv war schon zufrieden, als er die Knöpfe an einem Bein befestigt hatte.

„Gott sei Dank gibt es Rubens-Damen. Das normale Zeug hätte mir nie gepasst.“

Berti betrachtete sich im Spiegel. Sein dunkelblondes Haar war sowohl seitlich als auch im Nacken ausrasiert. Das Deckhaar ließ er etwas länger wachsen. So konnte er verschiedene Frisuren tragen. Je nach Wunsch gescheitelt oder mit Haarwachs im wake up Style wild zurechtgelegt. Die Brille wirkte sportlich-elegant. Zufrieden glitt der Blick des wohlproportionierten Detektivs nach unten.

„Um Gottes Willen“, rutschte ihm heraus. „Ich sehe aus wie eine selbst gebastelte Tunte. Ich bin eine Drag-Queen im Harz IV-Look. Ich bin eine Drag IV.“

Sein freier Oberkörper mit dem mächtigen Bauch war für ihn ein gewohnter Anblick. Wilder sah der untere Part aus. Berti trug eine weiße Unterhose im Retro-Stil, darüber lag der rote Damen-String-Tanga, dessen String rektal komplett verschwunden war, um natürlich auch den davor liegenden Retro-Pants-Teil mit in die Spalte zu ziehen. „AfH“, schimpfte Berti. „Arsch frisst Hose!“

Um die speckige Hüfte war das Halteband der Strapse geschlungen. Am rechten Bein waren die erotischen Strumpfhalter mit dem Netzstrumpf verknüpft. Am linken Bein hingen sie wie Lianen locker herum. Berti hielt ein zweites Paar Strapse in der Hand.

„49,99“, presste er aus und klemmte die verpackte Kaufhaus-Reizwäsche unter die zugeknöpften Strapse des rechten Beines. Sie hielten.

„So machen sie es“, freute er sich. „Das ist ein Weg, wie man die Ware aus dem Kaufhaus schmuggeln kann.“

Die Freude wich. Stutzend schüttelte er den Kopf.

Nein! Geht nicht! Diebstahlsicherung! Verflucht nochmal.

Berti zuckte zusammen, als er Schritte hörte. Ein Blick auf seine Armbanduhr folgte. Der Countdown zur Ladenöffnung betrug noch exakt zwei Minuten. Wer marschierte hier herum? Der Detektiv schob den Vorhang der Umkleidekabine einen Spalt zur Seite. Vorsichtig spähte er durch den kleinen Schlitz. Berti bekam Herzklopfen. Er traute seinen Augen nicht, als er Frau Perla sah. Die Sekretärin stolzierte an den Dessous entlang. Gezielt griff sie sich ein Kleidungsstück nach dem anderen. Alles wanderte in eine mitgebrachte Kühltasche.

Dieses Miststück, schoss es durch Bertis Kopf. Sie umgeht damit die elektronischen Diebstahlsicherungen. Frau Perla ist ein Wolf im Schafspelz. Von wegen, sie habe lange für den Südsee-Urlaub gespart.

Die Sekretärin kramte einen Zettel hervor und nickte zufrieden. Der Detektiv vermutete Diebstahl auf Bestellung. Er kochte innerlich.

Diese alte Fregatte! Jetzt weiß ich, wer für die Schadenssumme von 20.000 Euro verantwortlich ist. Und ich Dummkopf habe mir stundenlang Überwachungsaufzeichnungen angesehen. Klar, dass ich nichts Auffälliges beobachtet habe. Die Kameras werden erst mit dem Einlass der Kunden gestartet. Automatisch.

Die dreiste Diebin sah sich sichernd um. Sie war gerade dabei, die Dessous-Abteilung wieder in Richtung Büro zu verlassen, als Berti aus der Umkleidekabine sprang. Mit blankem Oberkörper, wabbelnden Bauch und schlendernden Strapsen am linken Bein stand er vor Frau Perla.

„Habe ich Sie endlich erwischt!“, plärrte er.

„Iiiiihhhiiiii!“, kreischte die überraschte Sekretärin. Ihr fiel die Tasche mit dem Diebesgut aus der Hand. Geschockt vom Anblick des in Strapsen gekleideten Herbert Schmadtke, schlug sie die Hände vor dem Mund zusammen. Ihre Augen rasten wie wild an Bertis Körper auf und ab.

Genau in diesem Moment strömten die ersten Kundinnen in die Dessous-Abteilung. Kaum sahen sie den halb nackten Straps-Träger, begannen auch sie zu schreien.

Eine ältere Dame lief entrüstet auf Berti zu. „Lustmolch“, pfefferte sie ihm entgegen. Dabei fuchtelte die betagte Rentnerin unentwegt mit ihrem Regenschirm in der Luft herum.

Von hinten hörte er Ausdrücke aller Art.

„Spanner!“

„Kastriert den Perversling!“

„Haltet den Drecksack!“

„Ich bin Detektiv! Ich habe eine Seriendiebin auf frischer Tat ertappt“, wehrte sich Berti, doch es war, als würde er unter Wasser um Hilfe rufen. Sein Satz verblubberte ungehört in der Masse der aufgebrachten Frauen.

Hingegen war Frau Perlas Geschrei gut zu hören. Ihre schrille Stimme fand immer die richtige Lücke im Geschnatter des Damengeschwaders. „Hilfe! Er wollte mich vergewaltigen!“

Berti bekam Angst. Der Kreis um ihn herum zog sich immer enger. Die Gesichter der aufgebrachten Frauen wirkten verzerrt, angsteinflößend. Sie schienen entschlossen zu sein, ihn zu meucheln. Alle gafften ihn mit Hass in den Augen an. Von hinten öffnete sich die Menge.

Berti war erleichtert. Eine Filmszene schwirrte durch seinen Kopf. Moses teilte das Meer. Doch es war nicht Moses, der durch die geteilte Frauenflut schritt, es waren Herr Römer und ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Beide kamen im Trab angelaufen. Der muskelbepackte Rammbock von Sicherheitsmann bahnte wie ein Eisbrecher den Weg durch den Mob. Stangen-Römer folgte.

Mindestens drei der Kundinnen tippten auf ihren Smartphones die 110 ein. „Notruf? Polizei, bitte kommen Sie schnell ...“

„Herr Schmadtke!“, stieß Römer aus. Er war direkt vor Berti und Frau Perla stehen geblieben. Auch er starrte Bertis in Dessous gehüllten Body an. Es war eine Mischung aus Wut, Entsetzen und Verabscheuung, die eine Schimpfkanonade verhinderte und Römer sekundenlange Sprachlosigkeit bescherte. „Sie … sind … Sie sind ein …“, weiter kam Römer nicht.

Der Mann vom Sicherheitsdienst schob den Filialleiter zur Seite. „Dään gooofe isch mia“, kam es in tiefsten sächsisch.

„Ich habe die Diebin festgenommen“, stieß Berti verteidigend aus.

Der Sicherheitsmann wollte am Filialleiter vorbeigleiten, stolperte über dessen Bein, fiel nach vorn und krallte sich an Bertis Retro-Unterhose fest. Gemeinsam mit dieser rutschte er langsam in Richtung Boden. Nachdem die Kundinnen mit den nackten Tatsachen des in Strapsen vor ihnen stehenden Ladendetektivs konfrontiert waren, erreichte das Geschrei in der Dessous-Abteilung des Kaufhauses nun den obersten Bereich einer gigantischen Lärmpegelskala.

Vermutlich wurde sogar das wilde Gejaule einer mit mannstollen Frauen ausverkauften Halle eines Chippendales-Auftritts überboten. Mehrere Fotos wurden geschossen. Die Szene war eingefangen.

„Ich bin von Ihnen enttäuscht, Schmadtke! Ich … ich … hoffe, Sie kommen so schnell nicht wieder aus dem Gefängnis frei“, donnerte Römer halb stotternd aus.

„Verdammt noch mal! Frau Perla ist die Diebin! Ich habe sie in flagranti erwischt!“ Bertis Stimmung war vergleichbar mit einem ausbrechenden Vulkan.

„Er wollte mich vergewaltigen“, kreischte die Sekretärin wiederholt.

„Niemals“, entgegnete Berti.

Eine Polizeistreife kam angelaufen. „Wir waren zufällig auf Fußstreife und direkt vor der Tür, als der Einsatz durchgegeben wurde“, erklärte einer der Beamten, während der andere immer verzweifelter versuchte für Ruhe zu sorgen.

Berti zog seine Retro-Unterhose nach oben. Auch die beiden Polizisten ließen ihre Blicke mehrfach über den Körper des mit Strapsen und Netzstrümpfen bekleideten Mannes gleiten.

„Ich bin Detektiv, habe mich getarnt und eine Seriendiebin erwischt.“

„So, so!“, meinte einer der Uniformträger.

„Sie stiehlt auf Bestellung. In der Gefriertasche befindet sich sowohl die Ware als auch ein Zettel, auf dem sie garantiert ihre Kundenwunschliste notiert hat. Ich wollte sie nicht vergewaltigen“, sprudelte es aus Berti heraus. Er wollte nur noch eines, endlich aus dieser hochnotpeinlichen Situation herauskommen.

„Rudolf, mach doch was“, zischte Frau Perla Herrn Römer zu.

Berti stutzte zwar, dass sich beide duzten, doch sie kannten auch schon jahrelang.

„Frau Perla“, wehrte Römer ab.

Berti wollte nachhaken, doch dann begann der Polizist zu sprechen.

„Und das sollen wir glauben? Das klingt alles ein wenig hanebüchen.“

„Hier sind doch die Beweise! Schauen Sie in Frau Perlas Tasche. Da ist alles drin, was sie sich im Fünf-Finger-Rabatt geschnappt hat.“

„Und Ihr Aufzug?“, deutete der Beamte auf die Damenwäsche.

„Tarnung! Oder glauben Sie, ich renne gern mit dem Eierkneifer und den blöden Strapsbändern herum?“

„Was weiß ein Fremder?“, bemerkte der Beamte. „Und die Angaben der Dame?“, schob er schnell nach.

„Gelogen!“

„Und warum sollten wir annehmen, dass sie die Unwahrheit sagt? So wie Sie aussehen, ist es gut möglich, dass Sie sie vergewaltigen wollten.“

Lauter saudumme Fragen. Berti geriet in Rage, war kurz vorm Platzen. Er war ein Held, kein Sexualstraftäter. Außerdem war Frau Perla zu alt für ihn. Zudem, und das kam erschwerend hinzu, war sie eine Frau. Es reichte. Wütend prustete sich der Detektiv vor Römer, dem Mann vom Sicherheitsdienst, den beiden Polizisten und dem gesamten Publikum auf. Es musste raus. Hier und jetzt! Die Zeit war reif.

„Weil ich schwul bin!“, brüllte er dem Mob lauthals entgegen. Die Stimme war kurz davor sich zu überschlagen. Etwas Speichel schoss nach vorn weg. Bertis Augen tanzten wild hinter dem Brillenglas. Die Wangen waren vor Zorn blutrot gefärbt und schwabbelten etwas hin und her.

Stille. Eisige, trostlose Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Hastig versuchte Berti etwas Passendes nachzuschieben. Sein Gemütszustand konnte bedenkenlos als aus dem Häuschen bezeichnet werden. Der Detektiv bemühte sich wieder einigermaßen normal zu klingen, sprach aber immer noch mit dosierter Wut.

„Ich bin homosexuell, lebe in einer festen Beziehung, habe keinerlei Interesse an Frauen und erst recht nicht an Frau Perla! Haben Sie das jetzt kapiert oder soll ich es Ihnen schriftlich bestätigen?“

Das war ein gedanklicher Knock-out. Berti hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben öffentlich geoutet. Wäre Papa-Schmadtke hier, würde ihm die Braadwuascht-Semml aus der Hand fallen. „Mei Sohn iss a warma Bruda? Ja varregg! Dess hädd ich ned geglebbt, dass da Berdi a Hindalada iss!“

Der Detektiv starrte in offene Münder. Die Menge war immer noch sprachlos. Auch Frau Perla hielt zum ersten Mal seit etlichen Minuten ihre Klappe. Römer und der Sicherheitsmann warfen sich fragende Blicke zu.

„Aha“, war der Kommentar des Polizisten, der sich als erster wieder fing. „Daher weht der Wind.“

Durch die Reihen der gebannten Zuschauerinnen ging langsam ein Murmeln. Abgelöst wurde es von Tuscheln, das sich zu einem wilden Gegacker steigerte.

Der Tag war gelaufen.

Die Schlagzeile in der Lokalpresse war niederschmetternd. „Detektiv in Strapsen stellt vermeintliche Diebin!“ Bertis Foto prangerte daneben. Man hatte das übelste aller Bilder ausgewählt. Der Sicherheitsmann lag mit Bertis Unterhose in den Fäusten zwischen den mit Netzstrümpfen bekleideten Beinen des Detektivs. Die Strapse hingen herum, Bertis Hinterteil wirkte überdimensional. Der Fall war Stadtgespräch, die Zusammenarbeit mit dem Kaufhaus aufgekündigt.

„Herr Schmadtke, das ging zu weit. Der Ruf unseres Hauses hat erheblich darunter gelitten“, verabschiedete ihn Römer.

Berti war es egal. Er hätte dort ohnehin nicht mehr arbeiten können.

„Sieh es doch mal von der guten Seite“, tröstete Konny seinen Freund. „Man kann dein Gesicht nicht sehen. Die Fotografin hat sich auf etwas anderes konzentriert.“

„Und jetzt kennt die ganze Stadt meinen Arsch.“

„Ich finde, die Strümpfe und Strapse stehen dir nicht schlecht.“

„Meinst du wirklich?“

„Hast du sie noch, oder musstest du die Dinger zurückgeben?“

Berti lächelte. „Hm, wenn du mich so fragst. Die durfte ich behalten.“

„Würdest du sie noch mal anziehen?“

„Konny … das sieht doch echt bescheuert aus.“

Ein Augenschlag reichte.

2

Hauptgewinn

Es gab nur eine Sache, die das Leben eines extrem blamierten Ladendetektivs unterbieten konnte. Das war das Leben eines arbeitslosen blamierten Ladendetektivs. Egal in welchem Geschäft Berti sich bewarb, es hagelte eine Absage nach der anderen.

„Sind Sie nicht der mit den Strapsen und …“, fing es meistens an.

Jeder kannte das Foto aus der Zeitung, aber keiner erwähnte dabei den gelösten Fall. Berti betrachtete es dennoch seinen bisher größten Erfolg. Er war sich sicher, dass ihm früher oder später eine Anerkennung für Entlarvung dieser Seriendiebin ausgesprochen werden würde.

Momentan blieb dem Privatdetektiv jedoch nichts anderes übrig, als die viele Freizeit, die ihm zwangsweise zur Verfügung stand, zu Hause mit seinem Lebensgefährten zu verbringen. Konny arbeitete vormittags an einem neuen Dr. Wenzel Langedoorn-Roman, der Nachmittag gehörte ihnen.

Internet und Zeitungen wurden durchforstet, Ideen ausgearbeitet, Bewerbungen geschrieben, Absagen gesammelt. Tagein, tagaus immer der gleiche Ablauf. Bis es Konny Wels irgendwann zu bunt wurde. Eines Tages brachte er vom Einkaufen eine Überraschung mit.

„Dickerchen, ich habe etwas für dich.“

„Nenn mich nicht immer Dickerchen.“

„Schau mal.“

„Unser Girokonto steht schon fast auf Anschlag und du kaufst Klamotten?“, wunderte sich Berti als Konny eine Tasche mit diversen Kleidungsstücken auf den Tisch stellte.

„Ich habe investiert.“

„In was?“

„In dich! Das ist Arbeitskleidung. Wir forcieren deine Privatdetektei mal auf meine Art und Weise. Ich habe sogar eine Rechnung fürs Finanzamt“, strahlte der Autor. Konny packte weiter aus. Freudestrahlend legte er einen Packen Visitenkarten auf den Tisch. „Unsere erste Werbeaktion. Du verteilst einfach überall deine Visitenkarten.“

Berti starrte seinen Freund überrascht an. In den Augen des Detektivs war ein gewisser Glanz zu erkennen.

„Das ist eine Spitzen-Idee! Kleider machen Leute. Ich muss nur die High Society der Stadt abklappern, ein bisschen Eindruck hinterlassen und den Leuten die Visitenkarten zuschieben. Konny du bist ein Genie! Zeig mal her.“

Konny reichte seinem Lebensgefährten eine der Karten. Goldener Untergrund, schwarze Schrift. Als Schriftart hatte der Autor Verdana gewählt. Berti las laut vor: „Herbert Schmadtke, Privatdetektiv, ihr Problem ist mein Problem, Ermittlungen mit Garantie“, drunter waren die Telefon- und Handynummer abgedruckt.

„Keine Adresse?“

„Wir können hier keine Kunden empfangen. Das Büro muss warten. Sie rufen dich an, du kommst hin, fertig!“

„Sag mal, Konny. Ist das mit der Garantie nicht ein wenig übertrieben?“

Der Schriftsteller grinste kopfschüttelnd. „Oh nein, ganz im Gegenteil. Das ist der Unterschied zu deinen Konkurrenten.“

„Und wenn ich einen Fall nicht lösen kann?“ Bertis Stimme schwankte etwas. „Nicht, dass ich zweifle, ich meine nur …, also es könnte doch vorkommen … nun ...“ Er atmete heftig durch. „Ich bin ja schließlich auch nur ein Mensch.“

„Egal! Du garantierst es den Kunden! Es ist doch erwiesen, dass 99 Prozent aller Fälle lösbar sind. Das eine klitzekleine Restprozentchen an unlösbaren Fällen kannst du ja wegen Auslastung ablehnen“, zwinkerte er.

Berti hatte Feuer gefangen. „Wieso sind wir nicht früher auf diese Idee gekommen?“

„Wir haben einfach nicht gut genug nachgedacht, beziehungsweise vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen, wie man so schön sagt. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wo wir die zahlungskräftigsten Klienten finden.“

Berti schnipste sofort mit den Fingern. „Beim Tennis-Klub. Dort findet man die Reichen und die Schönen.“

Konny nickte. „Perfekt.“

„Wenn wir zum Tennis-Klub gehen, ziehe ich Sportsachen an. Ich treibe mich ein wenig im Bar-Bereich herum und lasse hier und da eine der Karten liegen.“

„Gute Idee, allerdings musst du dort im Anzug aufkreuzen, nicht mit Sportsachen. Die haben Türsteher.“

„Türsteher vor dem Tennis-Klub?“, fragte Berti. „Wie vor der Disse?“

„Ja. Genauso, wie vor der Diskothek.“

Berti war verblüfft. „Warum? Da gehen doch ohnehin nur Mitglieder rein.“

„Blöde Frage. Du weißt doch welches Klientel dort verkehrt. Die sind zu deren Schutz da.“

„Sollen wir diese Adresse von unserer Liste streichen?“

Konny schüttelte den Kopf. „Niemals! Von den Bonzen-Sport-Heinis gehen immer wieder welche fremd und betrügen ihre reichen Ehepartner. Da ist jede Menge Kohle zu holen. Zwei, drei beweiskräftige Fotos, ein paar kleine Notizen, schon wird eine saftige Rechnung gestellt.“

„Vielleicht gehe ich auch noch ins Rathaus und lege Visitenkarten aus. Die Fuzzis vom Stadtrat haben doch auch überall ihre Finger im Spiel. Ich glaube, da gibt es einige Observierungsaufträge einzuheimsen.“

„Du meinst in den großen Filz hineinstechen?“

„Logisch. Schmiergeld-Mafia, Wahlkampf-Skandale und so weiter. In der Politik sind Privatdetektive ein probates Mittel im allgegenwärtigen Parteienkampf.“

„Und uns ist es egal, aus welchen dunklen Kanälen wir das Honorar beziehen“, rieb sich Konny die Hände.

„Ich könnte noch bei den Ärzten vorbeischauen. Heute Nachmittag habe ich ohnehin einen Termin bei Dr. Kleefuß.“

„Ist das mit deinem Rücken schlimmer geworden?“

„Nur ein bisschen, aber ich habe Zeit ohne Ende, also kann ich mich auch zum Onkel Doktor setzen und mir ein paar Massagen verschreiben lassen. Die wirken immer.“

„Sieh dir mal deine Arbeitskleidung an.“

Voller Enthusiasmus griff Berti in die große Plastiktüte mit dem Werbeaufdruck seines letzten Arbeitgebers.

„Sie hatten im Second-Hand-Shop keine anderen“, entschuldigte sich Konny.

Zwei Hemden, drei Krawatten, eine Fliege, ein Anzug, der locker mit denen von Stangen-Römer konkurrieren konnte, ein Norweger-Pulli mit Elchmuster sowie eine flippige Hippie-Jacke lagen schon auf dem Tisch. Dann griff Berti in etwas Haariges. Konny riss strahlend die Augen auf, als sein Freund eine Agnetha Fältskog-Perücke aus der Tüte zog.

„Was ist das?“

„Agnetha von Abba! Dancing Queen, du weißt schon.“

„Und? Soll das meine Arbeitskleidung sein?“

„Setz doch mal auf.“

Berti zierte sich. „So ein Quatsch.“

„Mach schon“, drängte Konny.

Berti hatte an und für sich vom Verkleiden genug. Die Sache mit den Strapsen hatte sich in seinem Hinterstübchen festgefressen. „Hast du einen Hetero-Anfall, oder was? Ich bin doch keine Tussi.“

Das berühmte Augenzwinkern mit Kussmund folgte und der gewichtige Detektiv wurde weich. „Also gut. Einmal aufsetzen ist okay“, sagte er und zog die blonde, langhaarige Perücke über seine Haare.

Konny betrachtete seinen Freund und war begeistert. „Super“, stieß er aus. „Das Teil steht dir total.“

Berti konnte es nicht so richtig glauben und ging zum Spiegel. „Hallo Freunde. Agnetha ist zurück. Sie hat sich kaum verändert. Vielleicht ein oder zwei Kilo zugelegt“, äffte er herum.

Konny lachte herzhaft. „Ich weiß doch, dass du glühender Abba-Fan bist.“

„Na gut. Ich muss zugeben, dass mir die Perücke gefällt. Aber das ist keine Arbeitskleidung“, kam es energisch. „Die ist eher was für zu Hause.“

„Und wenn du als Kerl observierst, entdeckt wirst, hinter einer Mauer verschwindest und als blonder Cindy von Marzahn-Verschnitt wieder auftauchst, vermutet kein Mensch der Welt den berühmten Detektiv Herbert Schmadtke unter dieser Perücke.

Berti schmolz bei den Worten dahin. „Wie schön du das sagst.“

Konny blieb beim Thema. „Also, wo fängst du an? Ich meine mit dem Auslegen der Visitenkarten.“

„Wie gesagt, beim Arzt.“

Nachdem Berti etwas später die Wohnung verlassen hatte, griff Konny zum Telefonhörer. Er wählte die Nummer eines Bekannten.

„Gerd? Hallo, grüß dich … ja, mir geht es gut … und wie läuft es bei euch so? ... Schön! Pass mal auf. Ich habe da ein kleines Problem. Arbeitest du immer noch bei eBay? ... Prima! Mir ist aufgefallen, dass ein gewisser Anbieter bei euch seit geraumer Zeit Dessous in allen Varianten versteigert. Der Benutzername lautet: Erotik-Traum. Kannst du mal nachsehen?“

Konny wartete. Am anderen Ende der Leitung tippte Gerd am PC herum, fand den Account und teilte seinem Bekannten die Einzelheiten mit.

„Was?“, stieß Konny erstaunt aus. „Zwölftausend Euro in den letzten vier Wochen? Kannst du mir sagen, wer das ist? ... Komm schon, du bist mir einen Gefallen schuldig. Ich war es schließlich, der euch zusammengebracht hat …“

Es dauerte wieder einen kleinen Moment, bis die Information herausgegeben wurde. Als Konny den Inhaber des Accounts erfuhr, war für ihn alles klar.

„Vielen Dank, Gerd. Du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen.“

Nur zwei Minuten später saß Konny am PC. Er kreierte analog der Visitenkarte einen Detektei-Briefkopf und begann zu schreiben. „… habe ich ermittelt … muss ich sie darauf aufmerksam machen … Honorarabsprachen sind mit meinem Sekretariat, Herrn Wels … gezeichnet Herbert Schmadtke, Privatdetektiv.“

Konny las sich das Schreiben noch einmal durch, druckte es zweimal aus, unterzeichnete mit dem vorangesetzten Kürzel pps und kuvertierte sie ein. Anschließend ging er zur Post. Die Geburtshilfe für Bertis ersten gelösten Fall war geleistet. Sobald ein positives Feedback kam, würde er es seinem Freund als Geschenk präsentieren. Konny lehnte sich gut gelaunt zurück.

„Haben Sie die Karte dabei?“, fragte die robuste Sprechstundenhilfe von Dr. Kleefuß. Selbstredend kam die Frage ohne einen Hauch von Höflichkeit. Das Monster hinter dem Tresen war der Inbegriff den Bösen. Sie war der Grund dafür, dass Kinder Angst vor Ärzten hatten.

„Komm, wir gehen zum lieben Onkel Doktor.“

„Nein, dort sitzt der böse Drache.“

So in etwa konnte sich Berti den ewigen Kampf der Mütter vorstellen, die ihre Balgen mit Mumps, Masern, Kopfläusen oder Magen-Darm-Erkrankungen in diese Praxis schleiften.

„Bitteschön“, antwortete Berti höflich und schob seine Krankenkassenkarte über den Tresen.

Der Drache nahm sie, warf einen Blick drauf und meinte: „Herr Schmadtke, Sie können im Wartezimmer Platz nehmen. Wir rufen Sie dann auf.“

Es war die gleiche, stoische Stimmlage, wie zuvor. Der Roboter-Stil war der Schrulle scheinbar angeboren. Manchmal bezweifelte Berti, dass diese Frau lebte. Sie war irgendwie mechanisch und funktionierte bei jedem seiner Arztbesuche gleich.

„Ich bin Nr. 5 … ich möchte Arzthelferin werden … bitte ölen Sie meine Stimmbänder … abends muss ich meinen Akku aufladen … bitte setzen Sie sich ins Wartezimmer.“

Berti betrat das Wartezimmer. Ein junges Paar tuschelte im Eck. Rechts daneben saßen zwei ältere Damen. Sie gehörten offenbar zu den täglichen Stammkunden des Allgemeinmediziners. Gegenüber, hockte eine Mutter auf der Bank. Ihr Säugling hustete, der etwa dreijährige Bruder stöberte in einer virenverseuchten Spielekiste herum. Seine Nase lief unentwegt, was mit permanentem Schniefen behoben wurde. War die Rotzfahne mal etwas länger, half der Ärmel.

„Yannik-Konstantin, bitte“, war alles, was die überforderte Mama dazu sagte.

Neben der Kleinfamilie hatte sich eine übergewichtige Mitfünfzigerin gesetzt. Sie war der lebende Inbegriff des Doppel-Whopper und musste auf der Bank sitzen. Aus einem Armsessel wäre sie sicherlich nicht mehr hochgekommen. Der Anblick der Frau löste in Berti eine ungemeine Daseinsfreude aus. Er fühlte sich augenblicklich schlank.

Zwei Männer, die zu der Garde gehörten, sich per gelben Zettel öfter mal einen Sondertag Urlaub zu ergattern, rundeten das Patientenprogramm der ersten Stunde ab. Berti setzte sich neben das Pärchen.

„Ein netter Kleiner“, fing die Dicke ein Gespräch an. Als sie sich dem Kleinkind zuwandte, schwabbelten ihre Wangen, als wäre es Wackelpudding. „Was suchst du denn?“

Yannik-Konstantin erschrak. Er betrachtete den Fleischberg, begann zu weinen, rannte zu seiner Mutter und vergrub den Kopf in Mamas Pullover. Diese lächelte etwas zurückhaltend.

„Er ist gerade in der Fremdelphase.“

Quatsch! Er hat Todesangst davor, dass der Fleischberg ihn fressen könnte, dachte Berti und konnte sich die Szene bildlich vorstellen. „Ich liebe kleine Kinder! Am liebsten habe ich sie süß-sauer oder knusprig frisch aus dem Backofen.“

Das Pärchen neben Berti tuschelte ständig etwas von Kindern, beide starrten jedoch ein wenig verunsichert auf den Dreijährigen, der sich wieder von seiner Mutter löste. Zurück blieb ein unübersehbarer Streifen Nasenschleim, den Mama mit einem Papiertaschentuch abzuwischen versuchte.

Von einem der beiden Männer ging eine unverkennbare Alkoholfahne aus. Er erhielt von Berti den Beinamen der Fähnrich. Der andere Typ schien geistesabwesend zu sein. Berti taufte ihn im Gedanken Koks-Kopf.

Die beiden Alten quatschen die ganze Zeit über ihre ewigen Krankheiten, und dass der alte Dr. Kleefuß besser war als der Sohn.

Nach gefühlten dreißig Minuten, tatsächlich waren aber nur fünf Minuten vergangen, plärrte Roboter Nr. 5 in das Wartezimmer.

„Frau Schmitz, wir brauchen eine Urinprobe! Becher gibt es hier, die Toilette ist dort“, deutete sie mit der Hand an. „Die Probe im Fensterchen der Toilette abstellen.“

Das war unverkennbar militärischer Kasernenton. „Antreten, oder es gibt was auf die Mütze“, dachte Berti. Die Alte war doch vor diesem Job garantiert Aufseherin im Frauenknast.

Die junge Frau errötete. Sie stand auf und ging zum Tresen. Mit einem leeren Urinbecher in der Hand verschwand sie in der Toilette.

„Herr Niederreiner, von ihnen brauchen wir auch eine Urinprobe und wenn wir schon einmal dabei sind, Frau von Emmering, Sie müssten uns auch einen Becher füllen.“

Berti ekelte sich. Der Fähnrich stand auf. Die dicke Frau war der Reaktion nach Frau von Emmering. Ächzend erhob auch sie sich, um schwerfällig Schritt für Schritt zum Tresen zurück zu legen.

Vor der Toilette warteten beide ungeduldig.

Die junge Frau kam heraus. „Entschuldigung“, hauchte sie, als sie sich an dem Alki und der Tortenfestung vorbeischleuste.

Verdruckst nahm sie wieder neben ihrem Lover Platz. Das Tuscheln begann von vorn. Hin und wieder betrachteten beide Berti. Streiften sich die Augenpaare von ihm und seinen Sitznachbarn, sahen diese schnell weg. Sie sprachen über ihn. Das war unverkennbar. Beide lachten.

Wie kann man über eine Urinprobe nur so viel quatschen, fragte sich Berti anfangs.

„Und? Wie war es?“

„Wahnsinn! Ich habe mit dem ersten Strahl hineingetroffen.“

„Oh, wie toll. Ich nenne dich jetzt Robin Hood“, äffte der Detektiv im Gedanken herum. Dann fiel ihm der verstohlene Blick der Tussi auf. Berti hatte sie entlarvt. Er war sich jetzt ganz sicher. Sie quatschten nicht über das Becher-Pinkeln, sie unterhielten sich über ihn.

Verdammt! Jetzt reden sie über mich. Arrogante Hungerleider! Brüskiert stellte Berti sein freundliches Lächeln ein und widmete sich einer Zeitschrift.

Und diese beiden Lachnummern möchten zur künftigen Erzeugerfraktion gehören und Kinder in die Welt setzen, wunderte sich der Detektiv. Der Alki brauchte wohl etwas länger zum Pinkeln. Er ist schon ziemlich lang da drin. Naja, vermutlich hat er alles daneben gezittert, schmunzelte Berti. Ist ja auch kein Korn, der in ein Schnapsglas eingeschenkt wird.

Aufgrund seiner gedanklichen Ausschweifungen, begann er sich wohlzufühlen. Der Arztbesuch entpuppte sich als recht witzig.

Die Toilettenspülung hörte man bis ins Wartezimmer. Die Glühnase tauchte auf, Miss Doppel-Whopper zwängte sich ins WC. Berti blendete seine Fantasie aus. Er musterte die Tapete, wollte sich ablenken. Zwischenzeitlich wurde die Mutter mit den Kindern in das Behandlungszimmer gerufen.

Ob die Kloschüssel überlebt hat? Du musst das Kopfkino ausschalten, schimpfte sich Berti selbst und zwang sich zur Raison. Um sich abzulenken, glitt eine Hand in die Brusttasche seines Hemdes. Er fühlte die Visitenkarte. Sollte er sie dem Arzt so in die Hand drücken oder einfach nur liegen lassen?

„Herr Schmadtke! Von Ihnen brauchen wir auch eine Urinprobe!“

Berti zuckte zusammen. Hier musste ein Irrtum vorliegen. Er sollte das am besten gleich mal klären.

„Ich habe Rückenschmerzen“, antwortete er.

Er spürte Farbe in sein Gesicht schießen und stand auf. Das musste er am Tresen klarstellen. Aus der Toilette war ein Furz zu hören. Drei Tonlagen. Die Dicke hatte Blähungen ohne Ende. Gesäßhusten im Endstadium.

„Tut mir leid, wir können nichts mehr für Sie tun. Ihre rektale Disharmonie ist unheilbar. Übrigens empfehlen wir einen luftdichten Sarg in Übergröße. Verbrennen ist leider wegen akuter Explosionsgefahr nicht möglich. Die UNO würde uns wegen unerlaubter Atombombenversuche verklagen.“

„Ich habe Rückenschmerzen“, wiederholte Herbert Schmadtke, als er vor Roboter Nr. 5 stand.

„Wir brauchen Ihren Urin“, kam es unbarmherzig.

Der Becher wurde direkt vor Berti platziert. „Schmadtke mit dt?“

„Ja! Das steht doch auf meiner Karte, aber ...“

„Kein aber! Dr. Kleefuß weiß, was er benötigt. Er führt grundsätzlich Ganzkörper- und Komplettuntersuchungen durch.“

Roboter Nr. 5 hatte gewonnen.

„Selbst … selbstverständlich“, stotterte Berti etwas verlegen.