Der Fluch der Muskatnuss - Amitav Ghosh - E-Book

Der Fluch der Muskatnuss E-Book

Amitav Ghosh

0,0

Beschreibung

Auf einer indonesischen Insel fällt eine Öllampe zu Boden, kurz danach begehen niederländische Soldaten ein Massaker an den Inselbewohnern. Wie hängen diese beiden Geschehnisse zusammen und was geschah danach? Mit dieser Frage beginnt Amitav Ghosh seine Recherche auf den Spuren der Muskatnuss. Heute alltägliches Gewürz, galt sie im 17. Jahrhundert als Luxusgut ‒ allein eine Handvoll davon reichte aus, um einen Palast zu erbauen ‒, denn die seltene Frucht wuchs nur auf jener Insel, die niederländische Truppen vornehmlich deshalb in Besitz nahmen, um das Handelsmonopol für die Niederländische Ostindien-Kompanie zu sichern. Während Amitav Ghosh die Reise der Muskatnuss nachzeichnet, veranschaulicht er eindrucksvoll die Mechanismen von Kolonialismus und Ausbeutung der Einheimischen sowie der Natur durch westliche Länder. Mitreißend stellt er dabei die Verbindung geschichtlicher Entwicklungen mit aktuellen Realitäten her, verkettet niederländische Stillleben und die Nomenklatur nach Linné mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Covid-Pandemie und der Standing Rock Sioux Reservation, um zu zeigen, dass der heutige Klimawandel in einer jahrhundertealten geopolitischen Ordnung verwurzelt ist, die vom westlichen Kolonialismus und seiner mechanistischen Weltsicht – die Erde als bloßem Ressourcenlieferant für die Menschheit – geschaffen wurde.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 474

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Fluch der Muskatnuss

AMITAV GHOSH

Der Fluch der Muskatnuss

Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Zum Gedenken an

Anjali Ghosh,

Barbara Bernache Baker,

Jeffrey J. W. Baker

Inhaltsverzeichnis

1 Eine Lampe fällt um

2 »Brennt ihre Behausungen überall nieder!«

3 »Die Früchte des Muskatnussbaums sind gestorben«

4 Terraforming

5 »Bald sind wir alle tot«

6 Fesseln der Erde

7 Gaia, die Riesin

8 Fossile Wälder

9 Engpässe

10 Der Vater aller Dinge

11 Gefährdungen

12 Im Zahlennebel

13 Krieg unter anderem Namen

14 »Der göttliche Engel der Unzufriedenheit«

15 Bestien

16 »Der Sturz des Himmels«

17 Utopien

18 Eine vitalistische Politik

19 Stille Kräfte

Danksagung

Anmerkungen

Johannes Van Keulen, Ostindien, 1689. Biblioteca Digital Hispánica. (Die Banda-Inseln sind in dem weißen Kreis.)

Jacques-Nicolas Bellin, Die Banda-Inseln, (1749-1755), Kupferstich.

1

Eine Lampe fällt um

Bis heute weiß niemand genau, was in jener Aprilnacht im Jahre 1621 in Selamon geschah. Man weiß nur, dass in dem Gebäude, in dem der niederländische Kolonialbeamte Martijn Sonck einquartiert war, eine Lampe zu Boden fiel.

Selamon ist ein Dorf auf der größten der Banda-Inseln, einer winzigen Inselgruppe am äußeren südöstlichen Ende des Indischen Ozeans.1 Genauer, am nördlichen Ende Lonthors, manchmal auch als Groß Banda (Banda Besar) bezeichnet, weil sie die größte der Gruppe ist.2 Der Beiname ›Groß‹ ist ein bisschen übertrieben für ein Eiland, das nur gut vier Kilometer lang und etwa achthundert Meter breit ist. Doch innerhalb eines Archipels mit Mini-Inseln, die auf den meisten Karten nur als ein paar verstreute Pünktchen eingezeichnet sind, ist es auch gar nicht so klein.3

Und da sitzt nun Martijn Sonck am 21. April 1621, den halben Globus von seinem Heimatland entfernt, in Selamons bale-bale, der Versammlungshalle des Dorfes, die er als Quartier für sich und seine Berater beschlagnahmt hat.4 Er hat auch die altehrwürdigste Moschee der Siedlung besetzt, »ein wunderschönes Gebäude« aus weißem Stein, innen luftig und sauber, zwei große Gefäße mit Wasser am Eingang, damit sich die Gläubigen vor dem Eintreten die Füße waschen können. Die Dorfältesten sehen die Inbesitznahme ihrer Moschee alles andere als gern, doch Sonck hat ihre Unmutsbekundungen barsch abgetan – sie hätten jede Menge andere Orte, an denen sie ihre Religion ausüben könnten.

Das ist typisch für alles, was Sonck in der kurzen Zeit seit seiner Ankunft auf der Insel Lonthor veranstaltet hat. Er requiriert die besten Häuser für seine Truppen und sendet Soldaten in die Dörfer aus, die die Leute dort in Angst und Schrecken versetzen. Doch das ist nur ein Vorspiel, sozusagen die Vorarbeit für das, was er eigentlich vorhat. Sein Auftrag lautet nämlich, das Dorf zu zerstören und alle Bewohner von der idyllischen Insel mit ihren üppigen grünen Wäldern und dem glitzernden blauen Meer zu vertreiben.

Dieser Plan ist so brutal, dass die Dorfbewohner ihn vielleicht noch nicht in seiner ganzen Tragweite begriffen haben. Sonck selbst macht allerdings kein Hehl aus seinen Absichten. Im Gegenteil, er hat den Dorfältesten unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihre unbedingte Kooperation bei der Zerstörung ihrer Siedlung und der Vertreibung ihrer Landsleute erwartet.

Sonck ist auch nicht der erste niederländische Kolonialbeamte, der Selamon diese Ansage macht. Die Dorfbewohner samt den anderen Inselbewohnern ertragen schon seit Wochen stets von den gleichen Forderungen begleitete Drohungen und Machtdemonstrationen. Sie sollen die Mauern um ihr Dorf niederreißen, ihre Waffen und Werkzeuge – sogar die Ruder ihrer Boote – abgeben und Vorkehrungen für den bevorstehenden Wegzug von der Insel treffen. Diese Forderungen sind so radikal, so haarsträubend, dass sich die derart Bedrängten sicherlich gefragt haben, ob die Niederländer noch recht bei Trost seien. Doch Sonck hat keine Mühe gescheut, ihnen klarzumachen, dass er es ernst meint: Sein Vorgesetzter, kein Geringerer als der Generalgouverneur höchstpersönlich, sei mit seiner Geduld am Ende. Die Menschen in Selamon müssten seine Befehle bis ins kleinste Detail befolgen.

Wie muss es sich anfühlen, vor jemandem zu stehen, der einem unmissverständlich zeigt, dass er die Macht hat und fest dazu entschlossen ist, die Welt, in der man lebt, zu zerstören?

Seit Jahrzehnten schon wehren sich die Bewohner Selamons und ihre bandanesischen Landsleute nach Kräften gegen die Niederländer und haben sie manchmal sogar vertrieben. Aber mit einer Truppe, die so groß und gut bewaffnet ist wie die von Sonck, haben sie es noch nie zu tun gehabt. Zahlenmäßig unterlegen, versuchen sie, soweit es geht, Sonck Zugeständnisse zu machen: Während manche Dorfbewohner in die umliegenden Wälder geflüchtet sind, bleiben auch recht viele vor Ort, vielleicht in der Hoffnung, dass das Ganze ein Irrtum sei und die Niederländer abzögen, wenn sie, die Bandanesen, nur durchhielten.

Die Dagebliebenen, darunter viele Frauen und Kinder, achten darauf, den Niederländern keinerlei Vorwand zur Gewaltanwendung zu geben. Aber Sonck hat einen Auftrag zu erfüllen, wofür er denkbar schlecht geeignet ist – er ist Steuerbeamter, kein Soldat –, und vermutlich plagt ihn das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. In der Gefügigkeit der Dorfbewohner wittert er aufkeimende Wut und wünscht sich womöglich, dass sie ihm einen Grund liefern – irgendeinen –, seine Befehle vollständig auszuführen.

So steht es auch am Abend des 21. April, als er sich mit seinen Beratern in das requirierte Versammlungshaus in Selamon zurückzieht, um seine Gemütsverfassung nicht zum Besten. Es liegt eine solche Spannung in der Luft, dass die Stille wie der Vorbote eines Erdbebens scheint.

Die Atmosphäre ist so geladen, dass jemand in Soncks Seelenzustand das Herunterfallen eines Gegenstandes wahrscheinlich nicht als normales Missgeschick erlebt, sondern als böses Omen. Da muss sich doch ein finsteres Vorhaben ankündigen. Als die Lampe also umkippt, denkt Sonck sofort, das sei das Signal für einen Überraschungsangriff auf ihn und seine Soldaten. Er und seine in Panik versetzten Berater schnappen sich ihre Waffen und beginnen willkürlich um sich zu schießen.

Die Nacht ist dunkel, »so dunkel wie nur eine mondlose Nacht in Ostindien sein kann«, und wenn man die Hand nicht vor Augen sieht, fällt es leicht, sich einzubilden, eine gespenstische Armee schleiche sich heran. Sonck und seine Berater feuern Salve um Salve auf ihren unsichtbaren Feind ab, selbst zur Verblüffung ihrer eigenen Wachen, die keinerlei Anzeichen eines Angriffs bemerkt haben.

Die Banda-Inseln liegen auf einer der Bruchlinien, an denen die Erde spürbar lebt. Die Inseln und ihr Vulkan verdanken ihre Existenz dem Pazifischen Feuerring, der von Chile im Osten bis zum Rand des Indischen Ozeans im Westen verläuft. Der noch immer aktive Vulkan Gunung Api (»Feuerberg«) mit seinem beständig in wirbelnde Wolkenschwaden und hochwabernden Dampf gehüllten Gipfel erhebt sich hoch über den Bandas.

Er ist einer von vielen Vulkanen in diesem Teil des Ozeans; die ihn umgebenden Gewässer sind von wunderschön geformten, majestätisch aus den Wellen aufragenden kegelförmigen Bergen übersät, manche bis zu tausend Meter hoch und höher. Ja, die Namen selbst der Region, Maluku, und der Inseln, Molukken, leiten sich angeblich von dem Wort Molòko her, das Berg oder Berginsel bedeutet.5

Die Inselberge von Maluku brechen oft mit verheerender Kraft aus und bringen den Menschen in ihrer Umgebung Tod und Verderben. Aber die Ausbrüche haben auch etwas Magisches, Geburtswehen Ähnliches, und sie schleudern Mischungen von chemischen Substanzen heraus, die mit den Winden und dem Wetter in der Region zusammenwirken und Wälder erschaffen, die nur so strotzen vor Wundern und seltenen Dingen.

Der Gunung Api hat den Banda-Inseln eine Pflanzenart geschenkt, die auf dem winzigen Archipel wächst und gedeiht wie nirgendwo sonst, einen Baum, auf dem sowohl die Muskatnuss als auch die Muskatblüte wachsen.

Dabei sind er und seine Sprösslinge von ganz unterschiedlichem Temperament. Bis zum achtzehnten Jahrhundert war er sehr heimatverbunden und begab sich aus seinem heimischen Maluku nicht hinaus, während die Muskatnüsse und die Muskatblüte unermüdlich reisten. Ihre weiten Wege kann man leicht auf einer Karte nachvollziehen, weil jede einzelne Muskatnuss und jedes Fetzchen Muskatblüte von den Banda-Inseln und Umgebung kamen. Mit der Folge, dass natürlich, wo immer vor dem achtzehnten Jahrhundert in einem Text von der Muskatnuss die Rede ist, automatisch die Verbindung zu den Banda-Inseln hergestellt wird. In chinesische Texte findet die Muskatnuss schon ein Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Eingang, in lateinische hundert Jahre später.6 Doch vermutlich gab es sie in Europa und China schon lange, bevor sie in schriftlichen Aufzeichnungen auftauchte. Ganz bestimmt in Indien, wo man eine verkohlte Muskatnuss in einer archäologischen Grabungsstätte fand, die auf die Zeit von vierhundert bis dreihundert vor unserer Zeitrechnung zurückverweist. Die erste einigermaßen zuverlässig zu datierende Erwähnung (der Muskatblüte) in einem Schriftstück folgte zwei oder drei Jahrhunderte später.7

Eines also steht fest: Längst bevor die ersten Europäer Maluku erreichten, sind Muskatnüsse schon Tausende von Kilometern über die Weltmeere gereist.8 Und europäische Seefahrer kamen wiederum nach Maluku, weil pflanzliche Produkte wie die Muskatnuss lange vor ihnen in die entgegengesetzte Richtung gesegelt waren.9

Mit diesen Reisen der Muskatnüsse, der Muskatblüte und anderer Gewürze durch die bekannte Welt entstanden Handelsnetzwerke, die über den Indischen Ozean bis tief nach Afrika und Eurasien verliefen.10 Die Fahrtwege und Knotenpunkte dieser Netzwerke und die darin tätigen Menschen wandelten sich mit der Zeit ungemein, Königreiche entstanden und zerfielen, aber die Wege der Muskatnuss blieben über mehr als ein Jahrtausend lang bemerkenswert konstant, Umfang und Wert des Handels nahmen sogar zu. Man schätzte Muskatnüsse, Gewürznelken, Pfeffer und andere Gewürze nicht nur wegen ihrer kulinarischen Verwendungsmöglichkeiten, sondern auch wegen ihrer angeblich heilenden Wirkung.11 Als die Ärzte im elisabethanischen England des sechzehnten Jahrhunderts befanden, man könne mit Muskatnüssen die Pest heilen, die in immer neuen Epidemien Eurasien heimsuchte, schoss deren Preis in die Höhe.12 Im späten Mittelalter waren sie so kostbar, dass man mit einer Handvoll ein Haus oder ein Schiff kaufen konnte.13 Überhaupt waren Gewürze in dieser Zeit so astronomisch teuer, dass der Preis unmöglich allein mit ihrer Nützlichkeit erklärbar war. Im Grunde waren sie Fetischobjekte, Urformen der Ware, und wurden für wertvoll gehalten, weil sie als Neid erregende Symbole von Luxus und Reichtum insofern perfekt Adam Smiths Erkenntnis entsprachen, als dass »man Reichtum nicht deshalb begehrt, weil er materielle Bedürfnisse befriedigt, sondern weil er von anderen begehrt wird«.14

Vor dem sechzehnten Jahrhundert wanderten die Muskatnüsse auf ihren Reisen durch viele Orte und viele Hände. Zum Schluss kamen sie über Ägypten oder die Levante nach Venedig, das in den Jahrhunderten vor den Fahrten Kolumbus’ und Vasco da Gamas ein streng kontrolliertes Monopol auf den europäischen Gewürzhandel besaß.15 Kolumbus kam aus Genua, wo man das Monopol auf den Osthandel der Erzrivalin, der Allerdurchlauchtigsten Republik Venedig, alles andere als gern sah. Nach Nord- und Südamerika sowie zum Indischen Ozean brachen die frühen europäischen Seefahrer also deshalb auf, weil das Handelsmonopol Venedigs gebrochen werden sollte.16 Eines der wichtigsten Ziele dabei war, die Inseln zu finden, auf denen die Muskatnuss beheimatet war. Für die Seefahrer und die sie finanzierenden Monarchen stand viel auf dem Spiel; der Wettlauf um die Gewürze, heißt es, war der Wettlauf ins All der damaligen Zeit.17

Anonym,

Die Muskatnüsse der Banda-Inseln

(1619), Kupferstich. Rijksmuseum Amsterdam.

Kein Wunder, dass der Muskatnussbaum Niederländer wie Sonck um den halben Erdball zu der Insel Lonthor lockte.

Eine Muskatnuss aus der Frucht zu lösen ist, als fördere man einen kleinen Planeten zutage.

Und wie ein Planet ist die Muskatnuss von mehreren immer größeren Schalen umgeben. Zuerst kommt die mattbraune Haut, eine Art Exosphäre. Dann kommt das blasse, duftende Fleisch, das zum Kern hin fester wird, wie die obere Atmosphäre eines Planeten. Und wenn man das Fleisch ganz entfernt, hat man eine Kugel vor sich, in etwas gehüllt, das eine Stratosphäre von leuchtend blutroten Wolken sein könnte. Das ist die duftende äußere Hülle, die Macis oder Muskatblüte. Entfernt man diese Muskatblüte, stößt man auf ein weiteres Gehäuse, eine glänzende, geriffelte schokoladenbraune Schale, die die Nuss einhüllt wie eine schützende Troposphäre. Erst wenn diese Schale geknackt ist, hat man die Nuss in der Hand; ihre Oberfläche ist bedeckt von mattbraunen Kontinenten auf elfenbeinfarbenen Flecken.

Bricht man die Nuss dann auf, sieht man in ihrem Inneren etwas wie eine geologische Struktur – die aber aus einer einzigartigen Mischung von Substanzen besteht, die das Aroma verströmen und psychotropische Wirkungen entfalten, die Superkräfte der Nuss.

Wie einen Planeten kann man auch die Muskatnuss nie zur gleichen Zeit ganz sehen. Wie der Mond, ja, wie jedes kugelförmige (oder quasi kugelförmige) Objekt hat auch die Muskatnuss zwei Hemisphären, und wenn eine im Licht liegt, liegt die andere notwendigerweise im Schatten. Sieht das menschliche Auge eine Hälfte, bleibt die andere verborgen.

Die Insel Lonthor hat die Form eines Bumerangs, gleich daneben liegen zwei weitere Inseln, Banda oder auch Gunung Api und Banda Neira, ein winziges Eiland, auf dem es schon 1621 zwei gewaltige niederländische Forts gab. Die drei Inseln sind Reste eines ausgebrochenen Vulkans, gruppiert um seinen nun unter Wasser befindlichen Krater.18 Das Meer zwischen ihnen ist gut geschützt und so tief, dass Hochseeschiffe durchfahren können. Am Abend des 21. April ankert dort die Flotte, mit der Martijn Sonck gekommen ist.

In stillen Nächten sind Geräusche von den Inseln ringsum auf den Schiffen gut zu hören, wie nun von Lonthor das aufgeregte Knattern der Musketenschüsse auf der Nieuw-Hollandia, dem Flaggschiff des Befehlshabers der Flotte, Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen. Von Beruf Kaufmann mit besonderen Kenntnissen in Buchhaltung ist der Dreiunddreißigjährige schon seit drei Jahren Generalgouverneur. Als Mann mit schier unerschöpflicher Energie, tüchtig, zielstrebig, ist er durch die Ränge der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie oder VOC) nach oben geschossen wie ein Ascheschwall aus einem Vulkan. Hinter seinem Rücken nennt man ihn »de schraale/dürrer Alter«, er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist schroff und skrupellos.19 In einem Brief an die siebzehn Heeren im Vorstand der Kompanie bemerkt er einmal: »Nichts in der Welt verleiht einem mehr Rechte als die Macht.«20

Coen, dem mächtigsten Statthalter der mächtigsten Handelsgesellschaft der Welt, sind die Banda-Inseln wohlbekannt.21 Vor zwölf Jahren war er zwecks eines Vertrags mit den Bewohnern von Banda als Mitglied einer niederländischen Truppe hier.22 Während der Verhandlungen wurde ein Teil der Soldaten an der Küste von Banda Neira aus dem Hinterhalt angegriffen und sechsundvierzig von ihnen einschließlich des befehlshabenden Offiziers von den Bandanesen massakriert.23 Coen war einer von denen, die mit dem Leben davonkamen, doch seine Erinnerungen an das Erlebte prägen seine Haltung zur Mission der Niederländer auf den Banda-Inseln.24

Seitdem die ersten holländischen Schiffe das Archipel erreichten, ist es Ziel der ehrenwerten Ostindien-Kompanie, auf den Banda-Inseln ein Handelsmonopol zu errichten.25 Das ist aber schwer durchzusetzen, denn das Konzept eines Handelsmonopols ist zwar in Europa üblich, den Handelstraditionen im Indischen Ozean jedoch vollkommen fremd.26 An diesen Gewässern konkurrieren Umschlaghäfen und Seefahrerstaaten immer schon darum, so viele fremde Händler wie möglich anzuziehen. Deshalb hießen die Bandanesen auch die ersten Europäer willkommen, die zu ihnen kamen: ein kleines Kontingent Portugiesen, darunter Ferdinand Magellan. Das war schon 1512, seitdem aber haben die Bandanesen (sehr zu ihrem Leidwesen) erfahren müssen, dass die Europäer – ganz gleich, welcher Nationalität – alle nur auf eines aus sind: einen Vertrag, der ihnen das exklusive Recht an den Muskatnüssen und der Muskatblüte der Inseln garantiert.27

Ein solches Recht können die Bandanesen aber gar nicht zusichern. Sie können doch nicht aufhören, weiter mit ihren üblichen Partnern an den nahen und fernen Küsten zu handeln! Bei Lebensmitteln und vielem anderen sind sie auf ihre Nachbarn angewiesen.28 Außerdem sind sie selbst erfahrene Handelsleute, und viele haben enge Verbindungen zu Partnern am Indischen Ozean; ihre Freunde können sie wohl kaum mit leeren Händen wegschicken.29 Es wäre auch wirtschaftlich unsinnig, denn die Europäer zahlen oft nicht so gut wie die asiatischen Käufer. Überdies finden die Bandanesen, wie die meisten Asiaten, europäische Waren nicht sonderlich begehrenswert. Was sollen sie in ihrem warmen Klima mit Wollstoffen anfangen?30

Für die Niederländer wäre es einfacher, wenn die Bandanesen einen mächtigen Herrscher hätten, einen Sultan, den sie durch Zwang gefügig machen könnten, wie es auf anderen Inseln in Maluku geschehen ist.31 Einen Alleinherrscher, den man bedrohen und schikanieren kann, damit er seine Untertanen zwingt, den Forderungen der Fremden nachzukommen, gibt es auf den Banda-Inseln jedoch nicht.32 »Sie haben weder König noch Herrn«, resümierten die ersten portugiesischen Seefahrer, die die Inseln besuchten, »und regiert werden sie ausschließlich nach dem Rat ihrer Ältesten, und da diese oft verschiedener Meinung sind, streiten sie miteinander.«33

Das stimmt so natürlich nicht ganz. Unter den Bandanesen gibt es adlige Familien und Handelsdynastien, die großen Reichtum und viele Diener besitzen, und die Menschen sind kampfeslustig, leben in ummauerten Siedlungen und fechten manches Mal heftige Kämpfe gegeneinander aus.34 Aber keine einzige Siedlung oder Familie hat jemals das ganze Archipel unterworfen; offenbar sind die Bandanesen einer zentralistischen, einheitlichen Herrschaft vollkommen abhold.

Nach regionaler Überlieferung wurden die Inseln einst von vier Königen regiert.35 Bei Ankunft der ersten niederländischen Schiffe waren die einzigen Autoritätspersonen aber nur ein paar Dutzend Älteste und Orang Kaya, was »reiche Menschen« bedeutet.36 Einige Älteste tragen zwar den Titel Hafenmeister beziehungsweise Schahbandar, aber weder sie noch einer der Orang Kaya besitzen die politische Macht, dem gesamten Archipel, so klein es auch ist, einen Vertrag aufzuzwingen.37

Doch seit mehr als hundert Jahren verfolgen die Europäer – zuerst die Portugiesen und Spanier, dann die Niederländer – hartnäckig das Ziel, das Monopol für die wichtigsten Erzeugnisse der Inseln, Muskatnuss und Muskatblüte, zu erlangen.38 Die Rücksichtslosesten sind dabei die Niederländer. Immer und immer wieder schicken sie Flotten zu dem Zweck, den Inselbewohnern Verträge aufzunötigen.39 Diese haben sich ihnen, so gut sie konnten, widersetzt und dabei oft Hilfe von anderen Europäern angenommen.40 Aber mit ihren insgesamt nur fünfzehntausend Menschen kommen sie gegen die mächtigste Kriegsflotte der Welt nicht an.41 Nur sehr widerstrebend haben die Ältesten mehrere Abmachungen unterzeichnet, manchmal, ohne dass sie überhaupt wussten, was darin stand, weil sie auf Niederländisch verfasst waren.42 Insgeheim aber haben sie weiter mit anderen Kaufleuten gehandelt oder sich, wenn möglich, mit Waffengewalt gewehrt wie 1609, als sie die Gruppe Niederländer attackierten, zu der der zukünftige Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen gehörte.43

Der ist seit diesem Massaker der Überzeugung, die Bandaneezen seien unverbesserlich und das Banda-Problem erfordere eine endgültige Lösung: Die Einwohner müssen von den Inseln entfernt werden. Andernfalls werde die VOC niemals ein Monopol für die Muskatnuss und die Muskatblüte etablieren können. Sind die Bandanesen erst einmal weg, kann man Siedler und Sklaven auf die Inseln bringen und eine neue Wirtschaftsweise einführen. Man würde damit zwar von der gängigen niederländischen Praxis abweichen, sich auf den Handel zu konzentrieren und auf den Erwerb von Territorien zu verzichten,44 aber da der Muskatnusshandel die völlige Herrschaft über die Banda-Inseln voraussetzt, geht es jetzt nicht anders.45 Und Eile ist geboten. Denn die Engländer sind den Niederländern von Amerika bis Ostindien dicht auf den Fersen und haben sich vor Kurzem auf der winzigen Banda-Insel Run festgesetzt.46 Coen will um keinen Preis zulassen, dass sie auf dem Archipel weiter Fuß fassen.

Den Direktoren der VOC teilt er mit: »Meiner Meinung nach wäre es am besten, ausnahmslos alle Bandanesen aus dem Land zu vertreiben«, und genau mit diesem Vorhaben ist er dieses Mal hierhergekommen.47 Um den Job so effizient wie möglich zu erledigen, hat er seine Flotte um ein Kontingent von achtzig japanischen Söldnern vergrößert, Ronin, herrenlose Samurai. Sie sind nicht nur billiger und zäher als europäische Soldaten, sondern auch ausgebildete Schwertkämpfer und äußerst geschickte Scharfrichter, Experten in der Kunst des Köpfens und Zerhackens.48

Das Rätsel der Lampe von Selamon hätte mich nicht dermaßen beschäftigt, wenn sich nicht menschliches und nichtmenschliches Handeln so unheimlich gekreuzt hätten.

Mit dem Schreiben dieses Kapitels habe ich Anfang März 2020 begonnen, eben in dem Moment, als sich ein mikroskopisch kleines Ding, das neueste Coronavirus, in Windeseile auf diesem Planeten verbreitete, kaum zu stoppen und extrem bedrohlich. Während Autos und Menschen aus den Straßen meines Wohnorts Brooklyn verschwanden, überkam mich ein seltsames Empfinden, als sei ich an einem anderen Ort, und beim Lesen der Notizen von meinem Besuch der Banda-Inseln im November 2016 hatte ich das unheimliche Gefühl, ich sei unkörperlich zu dem Archipel zurückgekehrt.

Ich hatte dort in einem Hotel gewohnt, das ein Mann namens Des Alwi erbauen ließ, der früher als der Radscha der Banda-Inseln bekannt war. Er gehörte einer der prominentesten Familien auf den Inseln an, starb 2010, und alle, die ihn kannten, erinnern sich an ihn als ungewöhnlich charismatisch und überlebensgroß. In seiner Funktion als Autor und Diplomat gründete er eine Stiftung zur Pflege des Erbes der Inseln, mithilfe derer nicht nur viele bröckelnde Gebäude aus der Kolonialzeit restauriert, sondern auch etliche Bücher und Broschüren gedruckt wurden, unter anderem die Einleitung zu einer Geschichte der Inseln von einem Freund Alwis, dem US-amerikanischen Historiker Willard A. Hanna. Und in diesem Buch mit dem Titel Indonesian Banda. Colonialism and Its Aftermath in the Nutmeg Islands las ich zum ersten Mal von der umgekippten Lampe in Selamon am 21. April 1621.

Obwohl dieses Detail nur beiläufig erwähnt wurde, ging es mir nicht mehr aus dem Kopf. Warum hatte ein solch harmloses, alltägliches Malheur eine solche Panik unter Soncks Beratern ausgelöst?

Als die Stille der Nächte in Brooklyn nur von den Sirenen vorbeirasender Krankenwagen unterbrochen wurde, konnte ich mir allerdings gut vorstellen, dass uns alle ein plötzliches, unerwartetes Geräusch an die uns umgebenden, unsichtbaren nichtmenschlichen Wesenheiten gemahnen konnte, die so in das Alltagsleben eingreifen, dass gewöhnliche Ereignisse eine vollkommen andere Bedeutung annehmen.

Nicht weit von meiner Wohnung befindet sich eines der größten Krankenhäuser Brooklyns. Damals forderte Covid-19 so viele Menschenleben, dass man die Toten draußen in Kühlwagen lagern musste. Wenn ich aus dem Haus trat und spürte, wie die schiere Angst durch die Straßen um mich herum wallte, empfand ich eine Art Verwandtschaft mit den schreckerfüllten Bewohnern von Selamon, als sie sich in ihren Häusern zusammenkauerten und fragten, ob das Fallen der Lampe ein böses Omen für künftig Schlimmeres war.

Ich wollte mehr über die heruntergefallene Lampe wissen. Aber wie sollte ich anfangen? Die Schwierigkeiten, Licht in einen Moment zu bringen, der vier Jahrhunderte zurück in der Vergangenheit liegt, werden noch um einiges größer, wenn der Schauplatz des Geschehens so weit entfernt und vergessen ist wie das Banda-Archipel. Und natürlich haben nur wenige Wissenschaftler über die Inselgruppe geschrieben; die Ereignisse von 1621 liegen im Dunklen und werden selbst in vielen historischen Abhandlungen und Ethnografien der Region übergangen.49 Wo hatte Hanna dieses Detail gefunden? Bei der Durchsicht des Buches stellte ich fest, dass seine Hauptquelle eine Monografie war: De vestiging van het Nederlandsche gezag over de Banda-Eilanden (1599–1621) [»Die Errichtung der niederländischen Herrschaft über die Banda-Inseln (1599–1621)«]. Verfasst hatte es J. A. Van der Chijs, und das Buch erschien 1886 in Batavia (Jakarta).

Während des Lockdowns in New York war ich damals wie so viele andere ständig wie benommen und fühlte mich regelrecht dissoziiert. In den Monaten zuvor war ich, wie getrieben von der immer schnelleren Beschleunigung der Vor-Corona-Zeit, fortwährend gereist. Bei dem abrupten Stillstand war mir, als bliebe mir der Atem weg, als sei ein mit hoher Geschwindigkeit rasendes Auto auf der Autobahn quietschend zum Stehen gekommen.

Meine Frau Debbie, ihrer Leserschaft als Deborah Baker bekannt, befand sich in Charlottesville, Virginia, wo sie für ein Buch recherchierte und ihre Familie besuchte. Anfang des Jahres, im Januar 2020, in eben dem Monat, in dem wir unseren dreißigsten Hochzeitstag gefeiert hatten, war ihre neunzigjährige Mutter Barbara gestorben. Woraufhin ihr neunundachtzig Jahre alter Vater in eine Abwärtsspirale geriet und sie eine Zeit lang in Virginia bleiben musste. Ich wollte nachkommen, aber als die Infektionszahlen in New York rapide zunahmen, entschied ich mich dagegen. Angesichts des Risikos, das Virus mit mir zu tragen, erschien es mir unverantwortlich, die Stadt zu verlassen. Ja, sogar das vertraute Brooklyn wollte ich in dieser desorientierenden Zeit nicht verlassen; außerdem wohnen auch mein Sohn und meine Tochter dort. Und so geschah es dann, dass ich unter diesem gruseligen Zusammentreffen von Umständen allein war und noch viel mehr Stunden in meinem Arbeitszimmer verbrachte als sonst.

Ohne die seltsame Lockdown-Zeit hätte ich dann auch nie Folgendes getan: Ich suchte im Internet nach einer pdf-Datei des Buchs von Van der Chijs und fand zu meiner Überraschung eine, die ich, ohne weiter nachzudenken, herunterlud. Warum, weiß ich nicht, ich verstehe nicht einmal Niederländisch. Aber da hatte ich sie vor mir, eine Fundgrube an Geheimnissen, die ich jedoch nur anstarren konnte wie einen Runenstein oder eine prähistorische Felsgravur.

Als ich eines Tages auf das täglich um 19 Uhr stattfindende New Yorker Dankesritual für das medizinische Personal wartete – das Applaudieren, die Hochrufe und (in meinem Fall) das Schlagen auf Töpfe –, scrollte ich wahllos durch den Text. Und schon bald stieß ich auf manch vertrauten Namen und manch vertrautes Wort – das englische »lamp« zum Beispiel lautet im Niederländischen genauso und bedeutet das Gleiche. Spontan gab ich einen niederländisch Satz in eine weitverbreitete online-Übersetzungsapp ein, und zu meiner Überraschung präsentierte sie mir eine durchaus sinnvolle Folge von Worten. »Ungefähr um Mitternacht vom 21. auf den 22. April [1621] fiel im bale-bale, wo Sonck und seine Berater schliefen, eine Lampe um, ein unbedeutendes Ereignis, [aber] es reichte aus, unter den Europäern, die immer und überall Verrat witterten, Panik auszulösen.«50

Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Ich vergaß das Topfschlagritual und fütterte stattdessen die App mit einem niederländischen Satz nach dem anderen, und aus den oft kauderwelschigen Resultaten verstand ich immerhin so viel, dass ich immer tiefer in den Text gezogen wurde.

Rasch merkte ich freilich, dass ich mit dem ersten Satz Glück gehabt hatte, andere Passagen gab die App als völligen Wortsalat wieder. Dabei hatten die meisten unverständlichen Brocken eines gemeinsam: Sie standen in Anführungszeichen, denn es waren Zitate. Und die machten der App zu schaffen, weil sie offenbar nur modernes Niederländisch übersetzen konnte.

Ich zählte zwei und zwei zusammen und begriff, dass Van der Chijs’ Bericht großteils aus unmittelbar übernommenen Stellen aus Quellen des siebzehnten Jahrhunderts bestand. Später erfuhr ich, dass der Autor als landsarchivaris oder Chefarchivar der niederländischen Verwaltung in Batavia gearbeitet hatte; kein Wunder, dass er direkten Zugang zu all den relevanten Dokumenten aus dem siebzehnten Jahrhundert hatte. Sie dienten ihm natürlich als Grundlage für sein Buch – was für ein Glück, denn viele dieser Dokumente sind seitdem verschollen.51

Als ich an den Nonsenssätzen aus der App herumknobelte, kam mir dann noch der Gedanke, dass sich die Schreibweise bestimmter ganz normaler niederländischer Wörter seit dem siebzehnten Jahrhundert geändert hat.

Zum Glück bin ich mit einem der besten niederländischen Asien-Historiker befreundet, Dirk Kolff, dessen Kenntnis der niederländischen Archive des siebzehnten Jahrhunderts, insbesondere der der VOC, unübertroffen ist. Als ich ihm mein Problem schilderte, schickte er mir freundlicherweise eine Auflistung der veränderten Schreibweisen. Und die wirkte Wunder. Kaum schrieb ich die Worte aus den Texten in ihrer modernen Schreibweise, wurden die Sätze in der App viel verständlicher.

Und während immer mehr Krankenwagen vor meinem Arbeitszimmerfenster durch das einstmals niederländische Dorf Breukelen heulten, tippte ich Satz für Satz, Absatz für Absatz, ganze Seiten in die App. Bald war es, als hätten sich das Coronavirus und das Internet, zwei weltumspannend agierende, nichtmenschliche Dinge, zusammengetan und ein Geisterportal für mich kreiert, um mich mittels des Geistes eines lange verstorbenen Niederländers in die Nacht vom 21. auf den 22. April 1621 auf den Banda-Inseln zu befördern.

Wie bedeutend für das einundzwanzigste Jahrhundert ist wohl noch die Geschichte von etwas heute so Billigem und Irrelevantem wie der Muskatnuss?

Schließlich ist das Geschehen auf den Banda-Inseln nur eine Momentaufnahme in der Geschichte des Kolonialismus, der in einem erheblich größeren Ausmaß auf der anderen Seite des Globus, auf dem amerikanischen Doppelkontinent, stattfand. Man könnte außerdem sagen, das Kapitel sei abgeschlossen und das einundzwanzigste Jahrhundert habe nichts mehr mit längst vergangenen Zeiten zu tun, in denen Pflanzen und andere Dinge aus der Natur über das Schicksal von Menschen entschieden. In der Epoche der Moderne, heißt es, habe sich die Menschheit von der Erde emanzipiert und in ein neues Zeitalter des Fortschritts katapultiert, in dem menschengemachte Güter wichtiger seien als Produkte der Natur.

Das Problem ist nur, dass nichts von alledem zutrifft.

Denn von den »Produkten der Natur« sind wir jetzt sogar noch abhängiger als vor dreihundert Jahren (oder fünfhundert oder fünftausend), und das nicht nur bei Lebensmitteln. Die meisten heutigen Menschen sind komplett angewiesen auf Energie, die aus lang begrabener Kohle stammt, und was sind Kohle, Öl und Naturgas anderes als fossile Formen pflanzlicher Materie?

Und was den Kreislauf von Gütern betrifft, da rangieren zwei fossile Brennstoffe vor jeder Art menschengemachter Güter. »Heute ist Energie die weltweit wichtigste Ware«, schreiben zwei Energieökonomen. »Und fast einerlei, wie man es bemisst – die Energieindustrie ist enorm groß. Neben den Energieverkäufen eines Jahres von mehr als zehn Billionen US-Dollar verblassen die Ausgaben für jede andere einzelne Ware. Der Handel mit und der Transport von Energie schlägt mit drei Billionen Dollar in den internationalen Transaktionen zu Buche. Sie wird durch zwei Millionen Kilometer Pipelines transportiert und macht fünfhundert Millionen Tonnen tote Ladung in der internationalen Seefahrt aus. Acht der zehn größten Weltkonzerne sind Energiefirmen, und ein Drittel der weltweiten Schiffsflotten befördert Öl. Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass man für den globalen Energieverbrauch pro Sekunde mehr als 2800 Barrel Öl quenchen muss.«52 Am Gesamtumfang aller Waren, die im Mittelalter über Land- und Seewege transportiert wurden, hatten vermutlich menschengemachte Waren (wie Porzellan und Textilien) einen größeren Anteil am Handel als jetzt.

Lassen wir die Mythen der Moderne, in denen die siegreichen Menschen frei von materieller Abhängigkeit vom Planeten Erde sind, einmal außer Acht und erkennen unsere immer mehr zunehmende Angewiesenheit auf dessen Produkte an, dann ist die Geschichte der Bandanesen wohl doch nicht so weit entfernt von unserer derzeitigen unerquicklichen Lage. Im Gegenteil, die Kontinuitätslinien liegen so klar und überzeugend auf der Hand, dass man das Schicksal der Banda-Inseln sogar als Modell für die Gegenwart interpretieren könnte. Wenn wir nur wüssten, wie wir es erzählen können.

2

»Brennt ihre Behausungen überall nieder!«

Die Flotte, mit der Jan Coen zu den Bandas segelte, war die größte, die je dort anlegte. Sie umfasst mehr als 50 Schiffe, darunter 18 niederländische, und mehr als 2000 Mann.1 Er ist zwar voll auf Blutvergießen eingerichtet, beginnt aber seine Vertreibungsaktion mit dem Versuch, die Bandanesen zum friedlichen Verlassen ihrer Heimat zu bewegen. Zu diesem Zweck schickt er niederländische Soldaten und Kolonialbeamte von Dorf zu Dorf, die den Bewohnern befehlen, ihre Waffen widerstandslos abzugeben, ihre Befestigungen niederzureißen und sich der Deportation zu fügen.

Aber so einfach geht der Plan nicht auf. Statt sich zu ergeben, fliehen viele Inselbewohner in die Wälder.2 Sie aufzustöbern zieht sich über Wochen hin und erhöht die Ausgaben für diese Expedition immens. Coen, gehörig frustriert ob dieser Verzögerungen, verstärkt den Druck. Er ernennt Sonck zum Gouverneur von Lonthor und schickt ihn nach Selamon, damit er den Ältesten dort klar macht, dass die Zeit knapp für sie wird und sie als Feinde behandelt werden, wenn sie den Anweisungen jetzt nicht folgen.

Als Coen in der Nacht zum 22. April auf seinem Flaggschiff die wirren Schüsse hört, geht er sofort davon aus, dass Sonck und seine Männer in einen Hinterhalt geraten sind, so wie er selbst bei seinem ersten Besuch auf den Bandas. Er verliert keine Zeit und beordert vier Kompanien Soldaten, Sonck auf Lonthor zu Hilfe zu eilen.

Als die Verstärkung am nächsten Morgen bei Sonck eintrifft, hat sich die Lage in Selamon entspannt. Aber das plötzliche Auftauchen der Schwerbewaffneten versetzt nun die Einheimischen in Panik, Kampfhandlungen brechen aus. Einige Dorfbewohner fliehen in die benachbarten Berge, die Soldaten nehmen sofort die Verfolgung auf. Doch das Terrain ist schwierig, die steilen Pfade führen durch dichte Urwälder, die Verfolger müssen umkehren.

Coen hat unterdessen beschlossen, selbst mit den Ältesten zu reden, und lässt einige zu seinem Flaggschiff bringen. In einer Schimpftirade erinnert er sie an gebrochene Verträge, den Überfall aus dem Hinterhalt von 1609 und viele andere Akte der Aufsässigkeit. Als er fertig ist, antwortet ihm in fließendem Niederländisch ein bandanesischer Ältester, der Schahbandar von Lonthor, Joncker Dirck Callenbacker, der wahrscheinlich gemischter Abstammung ist.3 Er erklärt dem Heer Generael, er könne ihn, Callenbacker, und die anderen Orang Kaya nicht für die Taten aller Bandanesen verantwortlich machen, denn sie seien keine Herrscher im eigentlichen Sinne, sondern lediglich hochangesehene Männer. Außerdem, erinnert er den Generalgouverneur, hätten die Niederländer nicht immer ihr Wort gehalten, wie viel sie für die Muskatnüsse und die Muskatblüte zahlen wollten, weshalb die Inselbewohner manchmal notgedrungen an andere Partner verkaufen müssten. Wenn im Übrigen in den zurückliegenden bewaffneten Auseinandersetzungen Blut vergossen worden sei, dann deshalb, weil beide Seiten für das kämpften, was sie für rechtens hielten.

Nach diesen Ausführungen versucht der Schahbandar einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, bietet die aufrichtigen Entschuldigungen der Ältesten an und versichert Coen, sie würden ihr Möglichstes tun, seine Forderungen zu erfüllen. Das reicht Coen aber nicht, und er besteht zusätzlich auf einer Bürgschaftsleistung. Die Ältesten sollen ihre Söhne seinen Truppen übergeben, als Garantie dafür, dass sie ihr Wort halten werden. Die Bandanesen akzeptieren auch diese letzten Bedingungen: Sobald sie abziehen dürfen, wird eine Bootsladung ihrer männlichen Kinder von Lonthor zu einem Kriegsschiff namens Drachen gebracht.

Am nächsten Tag sammeln Callenbacker und einige Älteste in Selamon eine große Gruppe Männer, Frauen und Kinder, die zum Beweis dessen, dass man nun bereit ist, das Dorf zu räumen, auch auf die Drachen geschickt werden.

Aber Coen ist immer noch nicht überzeugt; er glaubt weiterhin nicht, dass die Bandanesen ihr Wort halten und ihre Insel ohne Gegenwehr verlassen werden. Am 24. April, zwei Tage nach dem Treffen mit den Ältesten, teilt er seinem Rat mit, er habe erfahren, dass die Menschen auf Lonthor beschlossen hätten, eher zu sterben, als sich zu ergeben, und man müsse deshalb jetzt überlegen, ob man »die verbleibenden Orte zerstören solle, die Leute vom Land entfernen, sie [zu] fangen und mit [ihnen] nach Gutdünken [zu] verfahren«.4 Der Rat ist einstimmig dafür, die einundzwanzig Mitglieder fassen den entsprechenden Beschluss und unterzeichnen ihn. Niederländische Truppen werden ausgeschickt, »ihre Behausungen überall niederzubrennen, ihnen ihre verbleibenden Boote zu nehmen oder zu zerstören und den Bandanesen keine Wahl zu lassen, als zu uns zu kommen oder das Land zu verlassen«.5

Danach schweigen die Dokumente eine Woche lang. Zu dem, was in den nächsten Tagen geschieht und wie genau den Bandanesen »keine Wahl gelassen wird, als zu uns zu kommen«, gibt es keine Berichte. Die folgenden Ereignisse belegen jedoch, dass die von Coen und dem Rat ergangenen Befehle peinlichst genau durchgeführt werden. Systematisch zerstören die niederländischen Soldaten die Dörfer und Siedlungen auf allen Inseln, nehmen so viele Inselbewohner gefangen, wie sie können, und töten die übrigen. Die Gefangenen – einerlei, ob alte Männer, Frauen oder Kinder – werden als Sklaven nach Java deportiert; darunter sind 789 Familienangehörige der Orang Kaya. Manche der Sklaven landen im weit entfernten Sri Lanka.6

Weil keine schriftlichen Zeugnisse aus erster Hand vorliegen, erfährt man nicht, wie sich die Ereignisse dieser verhängnisvollen Woche auf den Banda-Inseln zugetragen haben, aber der Satz in dem Beschluss des Rats, »ihre Behausungen überall niederzubrennen«, liefert einen Hinweis. Dörfer niederzubrennen, war eine sehr gebräuchliche Taktik aus dem damals in den Niederlanden tobenden Dreißigjährigen Krieg, und bei den Bauern dort als sogenanntes Brandschatting entsetzlich gefürchtet.7

Zahlreiche Soldaten, die in dem Krieg in den Niederlanden kämpften – zwischen einem Viertel und einem Drittel – waren englische Söldner.8 Da viele von ihnen danach zum Kämpfen nach Amerika gingen, nahmen sie auch das Brandschatzen mit und rotteten auf diese Weise ganze indigene Stämme aus. Im Pequot-Krieg von 1636 bis 1638 spielten zum Beispiel Brandanschläge eine wichtige Rolle. Dabei bekämpften englische Siedler in Neu-England die Pequot, einen Stamm der Algonquin im jetzigen Connecticut. Ihr Vorgehen wurde später als »erster absichtlich völkermörderischer Krieg der Engländer in Nordamerika« bezeichnet.9

Die Banda-Inseln waren zwar auf der anderen Seite des Globus, aber im siebzehnten Jahrhundert hatten sie und Connecticut eines gemeinsam – sie bildeten die äußersten Außenposten des niederländischen Seereichs. Und obwohl sich die Niederländer nicht am Pequot-Krieg beteiligten, lag der Ort des schlimmsten Massakers – Mystic in Connecticut – direkt an der Grenze zu den Neu-Niederlanden, der niederländischen Kolonie mit Hauptsitz Neu-Amsterdam auf der Insel Manhattan. Da die Niederländer ebenfalls ausgiebig mit den Pequot handelten, war der diesbezügliche Konkurrenzkampf einer der Auslöser für den Konflikt.10

Im Massaker bei Mystic 1637 griffen eine Kompanie englischer Soldaten und ihre indigenen Verbündeten im Schutz der Nacht eine befestigte Pequot-Siedlung an, in der Hunderte Menschen schliefen. Angeführt wurde der Überfall von zwei englischen Soldaten, die als Söldner in den Niederlanden gedient hatten, John Mason und John Underhill (der sogar in Holland geboren war und eine niederländische Ehefrau hatte). Die Idee, die Siedlung mit einer von einem Pequot-Zelt entwendeten Fackel niederzubrennen und als Erster voranzupreschen, hatte John Mason.

John Mason und John Underhill schrieben beide einen Bericht, und ihre Beschreibungen können uns eine Ahnung davon vermitteln, was wohl in jener verhängnisvollen Woche auf den Bandas geschah. In A Brief History of the Pequot War berichtet John Mason:

Der Hauptmann [Mason selbst] sagte WIR MÜSSEN SIE VERBRENNEN und betrat sofort den Wigwam, in dem er zuvor schon gewesen war. Er holte eine Brandfackel heraus, hielt sie an die Matten, mit denen die Wigwams bedeckt waren und zündete sie an […] Als die Wigwamslichterloh brannten, rannten die Indianer wie Männer heraus, die aufs Schrecklichste überrascht waren. […] Und wahrhaftig schlug der ALLMÄCHTIGE ihren Geist mit solchem Grauen, dass sie vor uns flüchteten und geradewegs in die Flammen rannten, wo viele von ihnen verdarben […] Viele, die sich nach windwärts gesammelt hatten, belegten uns mit einem Pfeilhagel, und wir zahlten es ihnen mit unseren Schrotladungen heim. Der Tapfersten einige stürzten auf uns zu, bis zur Zahl von Vierzig, schätzten wir, und kamen durch das Schwert um. […] Nunmehr wussten sich die keinen Rat mehr, die sich nur wenige Stunden zuvor in ihrem großen Stolz erhoben hatten. […] Aber GOTT, der über seine Feinde und die Feinde seines Volkes hohnlachte, kam über sie und verwandelte alles in einen Feuerofen, so wurden die Beherzten geschlagen, ihren letzten Schlaf hatten sie geschlafen, und allen ihren Kriegern versagten die Hände. So richtete der HERR über die Heiden und füllte den Ort mit toten Leibern.«11

John Underhills Bericht über dasselbe Geschehen lautet folgendermaßen:

Hauptmann Mason ging in einen Wigwam und verwundete viele darin, brachte eine Brandfackel mit hinaus, dann ging er an der Westseite in das Fort und setzte alles in Brand, ich selbst steckte das südliche Ende mit einer Zündschnur an, die Feuer trafen sich in der Mitte und loderten schrecklich und brannten binnen einer halben Stunde alles nieder […] Es waren etwa vierhundert Seelen im Fort und nicht mehr als fünf entkamen unseren Händen. Großartig und schmerzvoll war der blutige Anblick für die jungen Soldaten, die noch nie im Krieg gewesen waren, da sahen sie so viele Menschenseelen auf dem Boden, die ächzten und an manchen Stellen so dicht übereinander lagen, dass man kaum hindurch kam.12

Die fast zeitgleichen Massaker auf den Bandas beziehungsweise im späteren Connecticut sind in ihren Abläufen durch eine gespenstische Ähnlichkeit verbunden. Beide wurden im Kontext sich zuspitzender englisch-niederländischer Rivalität und vor dem allgemeineren Hintergrund der in Europa tobenden Religionskriege verübt. Viele Gefangene wurden zur Arbeit auf Plantagen versklavt und übers Meer deportiert. Und beide Gemetzel dienten dem Zweck, die Existenz eines Volkes auszulöschen.13 Die der Pequot wurde durch den Vertrag besiegelt, der den Krieg beendete und den Überlebenden sogar den Gebrauch ihres Namens verbot.14 Zur Feier des Sieges schrieb ein puritanischer Historiker: »Der Name der Pequot ist (wie der der Amalekiter) unter dem Himmel ausgelöscht, es gibt niemanden mehr, der Pequot ist oder es auch nur wagt, sich so zu nennen.«15

Wenn die Sieger glaubten, das Recht zu haben, einen ganzen Stamm sogar dem Namen nach auch formal auszurotten, so lag das daran, dass sich die europäischen Vorstellungen imperialer Landnahme tatsächlich in diese Richtung entwickelt hatten. Am deutlichsten formulierte diese Doktrin der Philosoph, Polemiker und Lordkanzler von England, Sir Francis Bacon. In seinem An Advertisement Touching an Holy War, das er ungefähr zur Zeit das Banda-Massakers schrieb und das kurz vor dem Pequot-Krieg veröffentlich wurde, stellte er recht detailreich die Gründe dar, warum christliche Europäer seiner Ansicht nach rechtmäßig handeln, wenn sie die Existenz bestimmter Gruppen auslöschen. »Denn so, wie gewisse Personen durch öffentliche Gesetze in mehreren Ländern in Acht und Bann getan werden, so gibt es Nationen, die durch das Gesetz der Natur und der Völker oder durch das unmittelbare Gebot Gottes in Acht und Bann getan werden.« Diese missratenen Völker, argumentiert Bacon, seien überhaupt keine, sondern »Mob und Menschenhorden, die von den Gesetzen der Natur abgefallen sind«. In dem Fall handele jede Nation, die »zivilisiert und wohlgeordnet« sei, sowohl rechtmäßig als auch gottgefällig, wenn sie »sie vom Angesicht der Erde tilge«.16 Diese Doktrin wurde dann von Emer de Vattel offiziell abgefasst, einem der Juristen, die Ende des achtzehnten Jahrhunderts das internationale Recht in ein System brachten. »Nationen sind befugt«, legte er fest, »sich mit dem Ziel zu einer Körperschaft zusammenzuschließen, solche unzivilisierten Völker zu strafen und sogar auszumerzen.«17

Dieses Argument verlieh christlichen Europäern im Endeffekt das gottgegebene Recht, Völker, die in ihren Augen auf Irrwegen oder widernatürlich waren, anzugreifen und auszulöschen. »Das ist der Schlüsselpunkt«, argumentieren Peter Linebaugh und Marcus Rediker, »an dem sich Völkermord und Göttlichkeit kreuzen. Bacons Werbung für einen heiligen Krieg war mithin ein Aufruf zu gleich mehreren Arten von Völkermord, deren Rechtfertigung sich im biblischen und klassischen Altertum fand.«18

Bacons Gedankengang mag archaisch wirken, aber er fließt bis zum heutigen Tage in die Logik der Imperienbildung ein. Im Wesentlichen vertritt er den Standpunkt, ein gut regiertes Land (»jede Nation, die zivilisiert und geordnet ist«) besitze das uneingeschränkte Recht, Länder zu überfallen, die von den »Gesetzen der Natur und der Völker« »abgefallen sind« oder gegen sie verstoßen. Das ist natürlich die zugrunde liegende Doktrin des sogenannten Liberal Interventionism, die in den letzten Jahrzehnten westliche Mächte zur Rechtfertigung der von ihnen angezettelten »Kriege ihrer Wahl« häufig angeführt haben.

Das von Coen angeordnete Massaker war so wirkungsvoll, dass schon sieben Tage danach bei einer Ratssitzung auf seinem Flaggschiff festgestellt wurde, »alle Städte und befestigten Orte auf Banda sind durch die Gnade Gottes eingenommen, ausradiert und niedergebrannt und 1200 Seelen gefangen genommen worden«.

Am 6. Mai berichtete Coen seinen Vorgesetzten hochzufrieden, seine Soldaten hätten die wichtigsten Siedlungen auf Lonthor »vollkommen zerstört und niedergebrannt« und die Reste der Inselbevölkerung seien in die Berge geflohen, wo sie mit Flüchtlingen aus anderen Teilen des Archipels zusammenträfen. »Somit sind alle Städte und Orte von ganz Banda [in Besitz] genommen und zerstört worden.«19

Aber auf den Berghöhen der Insel Lonthor, wo Tausende von Bandanesen Schutz gesucht hatten, hielt der Widerstand an. Das steile Gelände und das schlechte Wetter erschwerte es den Niederländern, die Flüchtigen zu besiegen. Mehrere Male wurden niederländische Angriffe sehr zu Coens Verdruss zurückgeschlagen. Er wollte unbedingt weg, allerdings nur, wenn er »vollkommene Ruhe« auf den Inseln hergestellt hatte.

Und während überall um ihn herum Menschen abgeschlachtet und versklavt wurden, wollte er trotzdem noch erkunden, was die umgekippte Lampe bedeutet hatte. Dazu wurden die als Geiseln genommenen Söhne der Orang Kaya Verhören unterzogen, bei denen vermutlich eine bei den Beamten der VOC sehr beliebte Form der Folter angewendet wurde: die Wasserfolter, Prototyp dessen, was heute unter dem Namen Waterboarding bekannt ist. Man goss immer wieder Wasser über den in ein Tuch gebundenen Kopf des Verdächtigten, sodass er ständig kurz vorm Ertrinken war. Eine andere Methode war es, »dem Opfer einen Trichter so an den Hals zu binden, dass er über Mund und Nase fest saß. Dann schüttete man Wasser hinein und zwang so das Opfer es zu schlucken, um Ertrinken zu vermeiden, was ihm nicht nur den Atem nahm, sondern auch sein Gewebe von dem überschüssigen Wasser im Körper über alle Maßen anschwellen ließ und schlimme Todesqualen verursachte. Ergänzt wurde diese Folter manchmal mit dem Verbrennen der Achselhöhlen, der Füße und Hände des Opfers mit einer Kerze oder mit dem Ausreißen der Fingernägel«.20

Man wollte eine Verschwörung aufdecken, und bald trug die Folter Früchte. Aus einem Jungen, einem Neffen von Dirck Callenbacker, presste man das »Geständnis« heraus, er sei bei einem Treffen der Ältesten dabei gewesen, bei dem beschlossen worden sei, dass man in der Nacht, als die Lampe umfiel, einen Überraschungsangriff auf die Niederländer starten wolle. Weiter gestand der Junge, letztendlich sei das Ziel die Ermordung Soncks und natürlich Coens gewesen.

Weder Coen noch Sonck scheint je in den Sinn gekommen zu sein, dass die Bandanesen, wenn sie denn hätten angreifen wollen, wohl kaum das Überraschungsmoment verdorben hätten, indem sie ihre Absichten mit einer umfallenden Lampe kundgetan hätten. Und die beiden Niederländer fragten sich offenbar auch nicht, wie ein unbelebter Gegenstand von Weitem und zu einem genau festgelegten Zeitpunkt zum Umfallen gebracht werden konnte.

Nachdem das erzwungene Geständnis des Jungen aufgezeichnet worden war, stellte Coen zwecks Überprüfung, ob es rechtsgültig sei, ein Strafgericht von drei Mitgliedern (darunter Sonck) zusammen. Dieses befahl, mehrere Dutzend Älteste zur Befragung auf die beiden Schiffe Drachen und Zuidersee zu verbringen. Dort wurden sie so »streng« gefoltert, dass zwei auf der Streckbank starben und ein dritter über Bord sprang und ertrank.

Laut einem niederländischen Beamten, der später anonym einen Bericht über diese Vorgänge verfasste, gestand keiner der Ältesten eine Verabredung zur Verschwörung; alle beteuerten ihre Unschuld. Coen behauptete das Gegenteil: Sie hätten sehr wohl den Plan zu einem Angriff gestanden. Aber die Wahrheit war ohnehin unerheblich, der Schuldspruch stand von vornherein fest.

Die Ältesten wurden in Haft genommen; dann erging der Befehl, ein rundes Gehege mit Bambuspfählen ein Stück weit hinter den düsteren Steinmauern von Fort Naussau auf Banda Neira zu errichten. Am 8. Mai 1621 wurden vierundvierzig Älteste mit gefesselten Händen in das Gehege geführt.21 Acht, die »nach Meinung der Richter die Schuldigsten waren«, wurden getrennt gehalten, während die anderen verwirrt »wie eine Schafherde« herumliefen.

Es regnete an dem Tag in Strömen. Bei diesem Wetter wurde den Ältesten wegen Verschwörung und Brechens ihrer Verträge mit den Niederländern das Todesurteil verlesen. Daraufhin wurden sechs japanische Schwertkämpfer in das Gehege geschickt, und sie vollstreckten den Schuldspruch.

Die Ersten, die abgeschlachtet wurden, waren die Ältesten, die man als Rädelsführer der Verschwörung ausgemacht hatte. Sie wurden enthauptet und dann gevierteilt. Keiner leistete Widerstand, obwohl einer, vielleicht Callenbacker, angeblich auf Niederländisch sagte: »Meine Herren, dann kennt ihr also keine Gnade?«

Nein, die kannten sie nicht. Auch die verbleibenden sechsunddreißig Ältesten wurden enthauptet und gevierteilt, die abgeschlagenen Köpfe und einzelnen Körperteile auf Pfähle gesteckt.

Später dann wurden gemäß der lokalen Tradition die sterblichen Überreste der vierundvierzig Ältesten in einen nahegelegenen Brunnen geworfen.

Jan Coen verließ die Bandas zwei Monate nach seiner Ankunft, eine große Truppe unter Soncks Kommando blieb dort. Sie hatte den Befehl, jegliches Auflehnen zu unterdrücken und alle noch verbliebenen Bandanesen gewaltsam zu entfernen.

In den nächsten Monaten stießen die Soldaten immer wieder auf Widerstandsnester, vor allem hoch oben in den Bergen Lonthors, wo Geflüchtete weiterhin ausharrten. Einigen gelang es sogar, in versteckten Booten oder in von benachbarten Inseln wie Seram und Kei entsandten Rettungsbooten zu entkommen. Aber Hunderte starben auch auf der Flucht übers Meer, und in den Wäldern Lonthors kamen Tausende durch Hunger und Krankheiten um.22

Etwa zwei Monate nach dem Beginn der Schlachterei ergab sich ein bandanesischer Flüchtling den Niederländern und verriet ihnen, die restlichen Flüchtlinge hätten kein Schießpulver oder sonstige Munition mehr und verhungerten. Dann führte er Sonck und eine Abteilung mehrerer Hundert niederländischer Soldaten zu deren Lager in den Bergen. Zur Verteidigung hatten die Bandanesen aber nur Steine und Speere und waren schnell geschlagen. Der Widerstand war gebrochen. Die Einwohner der übrigen Dörfer ergaben sich ohne Gegenwehr, wurden gefangen genommen, deportiert und als Sklaven verkauft.

Kurzum, binnen weniger Monate nach dem Umfallen der Lampe hatten die Bandanesen, einst stolze Händlergemeinden, aufgehört als Volk zu existieren. Binnen weniger als zehn Wochen war ihre Welt vernichtet worden.

Viele Jahre, nachdem die Bandanesen »vom Angesicht dieser Erde getilgt« worden waren, sollte der englisch-niederländische Konkurrenzkampf das Schicksal der Bandas noch einmal mit dem der Neu-Niederlande verbinden. Im Vertrag von Breda 1667 wurde die Insel Run »auf Dauer den Niederländern als Teil einer größeren Vereinbarung übertragen, in der festgehalten wurde, dass die niederländische Kolonie Neu-Amsterdam (später New York) den Engländern übergeben werde«.23 Diese Abmachung ist in den Vereinigten Staaten vielleicht vergessen, aber die paar Dutzend Menschen, die auf dem winzigen sonnenbeschienenen indonesischen Eiland leben, sind immer noch stolz darauf, dass sie auf der Insel leben, die gegen Manhattan eingetauscht wurde.

Die Übergabe Runs beendete den ersten und letzten territorialen Anspruch der Engländer in Maluku. Von da an konzentrierten sie ihre Ambitionen hauptsächlich auf den indischen Subkontinent.

3

»Die Früchte des Muskatnussbaums sind gestorben«

Das Schicksal der Bandanesen ist nicht zuletzt deshalb so schrecklich, weil sie von ihrem Land vertrieben und vernichtet wurden wegen eines Geschenks des vulkanischen Ökosystems, eines Baums, der plötzlich einzigartig wertvoll wurde.

Was kann man zur Rolle des Muskatnussbaums sagen? Ganz gewiss ist die Geschichte des Banda-Archipels nicht ohne Nennung des Baums vorstellbar. Doch deshalb kann man nicht sagen, er habe das Schicksal der Bandanesen heraufbeschworen oder entschieden. Immerhin gab es Menschen auf anderen Inseln der Region in einer durchaus ähnlichen Situation, die der Vernichtung entgingen. Zum Beispiel die Bewohner eines anderen malukischen Archipels, ein paar Hundert Kilometer nördlich der Banda-Inseln. Dort, unter anderem auf der bekanntesten Insel namens Ternate, wuchs der Baum mit den Gewürznelken, nicht minder begehrt als die Muskatnuss und die Muskatblüte. Auch er bescherte den Menschen auf Ternate großen Wohlstand und ebenso großen Kummer, doch aus irgendeinem Grunde entgingen sie dem Los der Bandanesen.

Wie und warum kam es dazu? Lag es daran, dass Ternate und Tidore, die Schwesterinsel, beide Sultanate waren, beide Hauptsitz eines eigenen Reichs mit einer weit größeren Population als der der Banda-Inseln?1 War es nur Glück und Zufall, nur eine andere Abfolge von Ereignissen? Oder spielten die spezifischen Eigenschaften des Gewürznelkenbaums und die Vulkane, die ihr Gedeihen ermöglichten, auch eine Rolle?

Diese Fragen stoßen uns darauf, wie begrenzt bestimmte Arten und Weisen sind, Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen. Die empirischen, dokumentarischen Methoden der Geschichtswissenschaft – die Methoden, dank derer ich eine Chronologie der Ereignisse auf den Bandas im Jahr 1621 erstellen konnte – sind entscheidend auf Sprache, Schriftkundigkeit und Aufzeichnungen angewiesen. Der Stoff für diese Methoden kommt in erster Linie von schriftlichen Dokumenten, und in dem, was sie erzählen, figuriert das, was keine Sprache hat, nur als Hintergrund, vor dem menschliche Dramen ausagiert werden. Wenn Muskatnüsse, Gewürznelken und Vulkane in den Geschichten der Historiker vorkommen, sind sie weder Agierende, noch erzählen sie selbst Geschichten.

Für die Bewohner Malukus aber und für viele andere, die in Erdbebengebieten mit Vulkanen leben, machen sie Geschichte und erzählen Geschichten. Ja, die älteste noch lebendige Erzählung der Menschheit kommt von einem Vulkan, dem Budj Bim im australischen Bundesstaat Victoria. Für die indigene Bevölkerung der Region, die Gunditjmara, die das weltweit erste System einer Aquakultur entwickelte, gehört der Vulkan zu ihren Gründungsahnen.2 Ihr Schöpfungsmythos erzählt von vier Riesenwesen, die an die südöstlichen Küsten des Kontinents kamen. Drei wanderten weiter in andere Landesteile, eines blieb am Ort, hockte sich hin und wurde zum Vulkan Budj Bim. Seine Zähne wurden zur Lava, die aus ihm herausbrach.

»Es gibt eigentlich keinen Zweifel«, schreibt Heather Builth, eine Archäologin, »dass Gruppen lokaler Aboriginals selbst Zeugen von Vulkantätigkeit wurden. […] 1870 veröffentlichte der Portland Guardian eine mündliche Überlieferung der dort lebenden Gunditjmara, aus der hervorging, dass sie einen Vulkanausbruch und den folgenden Tsunami erlebt hatten, in dem die meisten Menschen vermutlich ertrunken waren.«3

Wissenschaftler haben festgestellt, dass der Budj Bim vor ungefähr dreißigtausend Jahren zum letzten Mal aktiv war. Das muss der Ausbruch gewesen sein, den die Vorfahren der Gunditjmara erlebt haben.4 Damit wäre diese Geschichte die älteste bis in moderne Zeiten überlieferte und weit älter als die Mythen der indigenen Australier über den Anstieg des Meeresspiegels, in denen es vermutlich um Ereignisse vor siebentausend Jahren ging und die einmal für die ältesten erhaltenen Erzählungen der Menschheit gehalten wurden.5 Selbst aus der fernsten Vergangenheit ist die Magie des Vulkans immer noch im Leben der Gunditjmara präsent: Die über Tausende von Generationen überlieferte Geschichte des Budj Bim war maßgeblich bei der Rückforderung von Teilen ihres angestammten Landes im Jahr 2007.6

Nirgendwo sind die Sagen und Mythen von Vulkanen so lebendig und weitverbreitet wie auf den Inseln Indonesiens mit ihren mannigfachen, hoch aufragenden Kegelbergen und rauchenden Kratern. Ein Vulkan ist fast immer »nicht nur ein geothermisches Phänomen, sondern auch ein spirituelles Wesen – ein rachsüchtiger, böser Erdgeist«.7 Wissenschaftler und Katastrophenexperten halten die Geschichten eher für Unfug. »Die Menschen auf Java haben oft ein tiefreligiöses Verhältnis zu Vulkanen«, schreibt ein Team von Geowissenschaftlern mit kaum verhohlener Missbilligung. »Auf Java betrachtet man Vulkane als mit der menschlichen Gesellschaft verbunden, und es besteht angeblich eine universelle Harmonie zwischen Gesellschaft, Natur und Kosmos. […] Obwohl den meisten Menschen in Java bekannt ist, dass es für natürliche Phänomene wissenschaftliche Erklärungen gibt, greifen sie doch lieber auf Erklärungen zurück, die Naturereignisse in einen Zusammenhang mit ihrer sozialen Welt bringen.«8

Die indonesische Ehrfurcht vor Vulkanen erzeugt auch Unmut bei islamischen und christlichen Fundamentalisten, die solche Glaubensvorstellungen mit Abscheu betrachten. Aber die feuerspeienden Berge sind immer noch aufs Feinste mit dem Leben der Indonesier verwebt, nicht nur kulturell und spirituell, sondern auch politisch. Zum Beispiel besuchten javanische Politiker vor Wahlen oft den spirituellen Hüter des Merapi auf den Hängen dieses gefährlich aktiven Vulkans.9

Um die Vulkane von Maluku ranken sich besonders viele Geschichten, vor allem um den großen Vulkan auf Ternate, den Gamalama. In The Original Dream, einem zeitgenössischen Roman von Nukila Amal, die selbst von Ternate kommt, spricht der Gamalama zu einer Schamanin, die zum Krater hochsteigt und »sich mit beiden Füßen fest auf den Boden stellte, ihr Haar wehte im Wind. Ihre Augen waren fast schwarz, fast umbra, erdfarben. Sie spürten etwas herannahen und schlossen sich fest. Aus der Erde unter ihren Füßen stieg stumm etwas auf. Durch die Sohlen ihrer Füße drang ein Laut, fast ein Flüstern, in ihren Körper, wurde lauter, grollender und stieß dann kreischend durch die oberste Stelle ihres Kopfes heraus. […] Sie sank zu Boden, ihre Tränen flossen. Mit nassen Augen betastete sie die Erde. Krumen für Krumen sammelten ihre Finger die Erde um ihre Füße auf, bis ihre Hände voll waren. Sie ballte eine Faust um die Erdkrumen, barg sie in ihrem Schoß und vergoss Tränen darüber. Segen. Oder Fluch.«10

Auch dem Gunung Api, der sich über den Banda-Inseln erhebt, wurde die Gabe zugeschrieben, Vorzeichen und Warnungen auszusenden. Deshalb erwartete man nichts Gutes, als der Vulkan nach einer langen Phase der Inaktivität genau an dem Tag ausbrach, als 1599 zum ersten Mal ein niederländisches Schiff zum Archipel kam. Die Menschen erinnerten sich ebenfalls an die jüngste Prophezeiung eines muslimischen Mystikers, eine Gruppe weißer Männer werde eines Tages von einem weit entfernten Ort kommen und auf den Inseln einfallen.

Bis heute benutzen die Nachfahren der dem Massaker von Banda Entronnenen ein Wort für Geschichte, fokorndan, das von fokor kommt, was wiederum »Berg« bedeutet – genauer gesagt, dem »Banda-Berg« oder Gunung Api.11

Bei dieser Art, über Vergangenheit nachzudenken, die nicht nur den Bandanesen eigen ist, spiegeln Raum und Zeit einander. Tatsächlich hat dieses Denken wahrscheinlich seine volle Ausgestaltung auf der anderen Seite der Erdkugel gefunden, bei den indigenen Völkern Nordamerikas, deren spirituelles Leben und Verständnis von Geschichte immer an bestimmte Landschaften gebunden war. Mit den Worten des großen Native American Intellektuellen und Aktivisten Vine Deloria Jr. besteht ein gemeinsames Merkmal indigener spiritueller Traditionen Nordamerikas in Folgendem: »Fast alle indianischen Stammesreligionen haben an einem bestimmten Ort ein religiöses Zentrum, sei es ein Fluss, ein Berg, Plateau, Tal oder eine andere Besonderheit der Natur. […] Einerlei, was später mit dem Volk passiert, die heiligen Orte bleiben ein fester Bestandteil in seinen kulturellen oder religiösen Vorstellungen.«12

Im Weiteren stellt Deloria zwei Denkansätze einander gegenüber, nämlich solche, die sich an geografischen Orten orientieren, und solche, für die die Zeit maßgeblich ist. Gefragt wird, »ob etwas hier oder damals geschah«13, also: Wo ist es passiert versus wann? Die möglichen Antworten auf Wann-Fragen verorten das Ereignis innerhalb einer bestimmten historischen Epoche; die auf Wo-Fragen lauten vollkommen anders, weil der Landschaft selbst und allem, was sich einschließlich des ganzen Spektrums der nichtmenschlichen Wesen darin befindet, ein bestimmtes Maß an Handlungskompetenz zugeschrieben wird. Mit der Folge, schreibt Deloria, dass »der Stamm wußte, daß er zu einem bestimmten Land und dessen Lebensformen gehörte, und das genügte. Die Stammesreligionen sahen ihre Aufgabe darin, die Beziehung zwischen der Stammesgruppe und allen anderen Teilen der Schöpfung herzustellen.«14

Für viele indigene Gruppen sind Landschaften heute so intensiv lebendig wie eh und je. »Für indianische Männer und Frauen«, schreibt der Anthropologe Keith H. Basso über die Westlichen Apachen in Arizona, »ist die Vergangenheit in das Aussehen der Erde eingebettet – in Schluchten und Arroyos, Felsen und brachliegenden Feldern –, die zusammen ihrem Land vielfältigste Bedeutungen verleihen, die wiederum in ihr Leben eingreifen und ihr Denken prägen.«15 Geschichten über die Vergangenheit, die sich um vertraute Punkte in der Landschaft drehen, durchdringen jeden Aspekt des Lebens der Apachen. Landschaftliche Merkmale sprechen durch diese Geschichten genauso laut zu den Menschen wie die menschlichen Stimmen, die die Historiker aus dokumentarischen Quellen zum Leben erwecken.