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In der 17. Folge von Jörg Kastners »Amerika«-Saga rollt Kanonendonner über den pazifischen Ozean nahe der kalifornischen Küste. Eine Flottille der Nordstaaten will den Dreimaster ALBANY aufbringen, der Waffen für die Südstaatler an Bord hat. Kapitän Piet Hansen stellt sich gegen die Waffenschmuggler, die ihn erpressen. An seiner Seite steht sein alter Freund Jacob Adler. Ihre Gegner sind ein deutscher Geschäftemacher, ein Vertreter der fragwürdigen mexikanischen Exilregierung, ein fanatischer Südstaaten-Captain und die geheimnisvolle Frau in Schwarz, deren Gesicht niemand kennt. Erst nach zahlreichen Strapazen erreichen Jacob und Irene Sommer San Francisco. Aber dort wartet bereits neues Unheil auf sie: der gefürchtete Hai von Frisco. Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2014
Jörg Kastner
Folge 17 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Roman
Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind angeblich nach Amerika ausgewandert, und seine Verlobte ist mit dem Bierbrauersohn Bertram Arning verheiratet. Von Arning fälschlicherweise des Mordversuchs beschuldigt, verlässt Jacob seine Heimat und schifft sich nach Amerika ein, um nach seiner Familie zu suchen. Aber auch in der Neuen Welt lauern Gefahren auf Jacob und seine Reisebekanntschaft Irene Sommer, die dort den Vater ihres kleinen Sohns Jamie zu finden hofft. Jacob, der Irene insgeheim liebt, begleitet sie auf dem Weg nach Kalifornien, wo sich der von Irene gesuchte Carl Dilger aufhalten soll. In der Hafenstadt Fogerty treffen sie ihren alten Bekannten Piet Hansen, der ihnen eine Schiffspassage nach San Francisco anbietet. Was er nicht verrät: Sein Schiff, die ALBANY, schmuggelt Waffen für die Südstaaten, die in einem blutigen Bürgerkrieg mit den Nordstaaten liegen.
Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfahnen ausstoßende Schornsteine und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und panische Schreie. Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Mochte das hellgraue Meer auch weithin friedlich unter dem dunklen Wolkenhimmel liegen, auf einem kleinen Flecken Wasser tobte ein Kampf ums Überleben.
Das Schicksal hatte die Karten ungleich verteilt. Ein unbewaffnetes Segelschiff floh vor drei Dampfern, bewaffneten Dampfern. Es waren Kriegsschiffe der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein großer Raddampfer und zwei zu Schrauben-Fregatten umgebaute Kauffahrer, eine Bark und eine Brigg.
Sie hatten den Segler so gut wie umzingelt. Immer wieder spuckten ihre Geschütze Feuer, Rauch und tödliche Geschosse aus.
Nur durch waghalsige Manöver gelang es dem Kapitän des Seglers, schwere Schäden zu vermeiden. Das Gaffelsegel am Besanmast war bereits von einer Kartätsche zerfetzt worden.
Der Segler war der Dreimaster ALBANY unter Kapitän Piet Hansen. Vorgeblich mit einer großen Ladung Minengeräten und ein paar Glücksrittern, die so schnell wie möglich zu den kalifornischen Goldfeldern wollten, unterwegs nach San Francisco.
In Wahrheit ein Blockadebrecher, der die Seeblockade der Nordstaaten durchbrechen wollte, um an der Küste Mexikos zu ankern und Kriegsgut für die Konföderierten Staaten an Land zu bringen, das dann durch Nordmexiko nach Texas gebracht werden sollte.
Aber der Plan war aufgeflogen. Das kleine US-Geschwader war nach einer siebentägigen Seereise der ALBANY wie aus heiterem Himmel aufgetaucht und hatte den Segler unter Beschuss genommen, als dieser nicht beidrehte, um ein Prisenkommando an Bord zu nehmen.
Dass die ALBANY bei den waghalsigen Manövern nicht kenterte, schien an ein Wunder zu grenzen, war in Wahrheit aber dem erfahrenen Seebären Piet Hansen zu verdanken, der das Steuerrad führte, als sei er selbst ein Teil des hölzernen Schiffskörpers. Die hektischen Haken, die der Kapitän der ALBANY seiner schlanken Bark aufzwang, brachten an Bord alles in Unordnung, was nicht niet- und nagelfest war oder nicht seit Jugend an auf schwankenden Schiffsplanken stand.
Zwei Menschen klammerten sich an der Steuerbordreling fest, ein Mann und eine Frau. Der hünenhafte Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem goldenen Ring im rechten Ohr war der deutsche Auswanderer Jacob Adler.
Die Frau, die durch Hansens Manöver in seine Nähe gerutscht war, hatte ihr Gesicht während der ganzen Schiffsreise unter einem Schleier verborgen gehalten. Der Schleier war so schwarz wie alles an ihr: von Hut und Haarnetz über das Kleid bis zu den Handschuhen.
Vergeblich hatte Jacob darüber nachgebrütet, woher er die mysteriöse Frau zu kennen glaubte. Bis ihm eben die lange gesuchte Erkenntnis gekommen war.
Durch den Sturz waren Hut, Schleier und Haarnetz vom Kopf der Frau gerutscht. Was er sah, bestätigte Jacobs Vermutung.
Und doch war es ein anderer Anblick als erwartet. Was da von feuerroten Locken umspielt wurde, war nicht das Gesicht einer schönen Frau, das er zu sehen erwartet hatte. Es war eine hässliche Karikatur, furcht- und mitleiderregend zugleich.
»Wie … ist das …«, setzte der junge Zimmermann an, als er die erste Überraschung verdaut hatte.
Aber die Frage blieb ihm im Hals stecken. Wie konnte man über dieses Grauen reden, das einem schon beim bloßen Anblick die Sprache verschlug.
»Was glotzen Sie, Adler?«, fragte das schrecklich entstellte Wesen, das einmal eine schöne, begehrenswerte Frau gewesen war. »Sie haben mich wohl anders in Erinnerung, was? Ist kein schöner Anblick, wie ich jetzt bin, ich weiß. Aber Sie sind nicht so ganz unschuldig daran. Trotzdem will ich Ihnen ersparen, mich weiter anstarren zu müssen!«
Ihre Rechte ruckte vor. Jetzt erst bemerkte Jacob, dass sie noch immer den vierläufigen Sharps Derringer in der Hand hielt.
Er hatte geglaubt, sie hätte die Taschenpistole verloren, als sie stürzte und über die gischtbesprühten, glitschigen Planken rutschte.
Er wollte vorspringen und ihr die Waffe entreißen. Aber gerade in diesem Augenblick ließ Piet Hansen die ALBANY einen erneuten Haken schlagen, den manch anderer Kapitän sogar mit einem kleineren, wendigeren Schiff nicht hinbekommen hätte. Dadurch wurde Jacob wieder gegen die Reling geschleudert.
Er konnte nichts tun. Nur zusehen, wie sich der im schwarzen Handschuhleder steckende Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ein Feuerstrahl schlug aus der Mündung.
Ein absonderlicher, in diesem Moment völlig unbedeutender Gedanke schoss durch Jacobs Kopf: Die Mündungsflamme war für die kleine Waffe ungewöhnlich groß.
Jacob spürte einen Schlag am Kopf, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Dem stechenden Schmerz folgte gnädige, alles verschlingende Dunkelheit, die sich wie ein plötzlich herabfallendes Tuch über seine Augen und sämtliche Sinne legte. Es war die Finsternis des Vergessens.
*
»Jacob, neeeiiin!«
Irene Sommer stieß den markerschütternden Schrei aus, als der Schuss krachte. Die junge Deutsche, die ihren kleinen Sohn Jamie in den Armen hielt, sah, wie Jacob mit dem Rücken an der Reling nach unten rutschte. Sein blutüberströmter Kopf schlug auf die nassen Planken. Dann bewegte sich der junge Mann, den sie heimlich so sehr liebte, nicht mehr.
Aber die Blutlache um seinen Kopf vergrößerte sich. Bis die ALBANY eine Welle durchschnitt und ein großer Brecher mit seiner salzigen Flut die rote Körperflüssigkeit wegwusch.
Irene wollte zu dem Geliebten laufen, aber Joe Weisman hielt sie mit eiserner Klaue fest.
»Nicht, Lady!«, schrie der Zweite Steuermann der ALBANY gegen den Lärm an, der aus Kanonendonner, gegen die Rahen klatschenden Segeln, unter der Last ächzenden Planken und aufgeregtem Gebrüll bestand. »Denken Sie an das Kind!«
Der gedrungene Deutsch-Amerikaner hielt sich mit einer Hand an einem der Pfosten fest, die das Dach über dem Platz des Steuermanns trugen. Die andere Hand hielt Irene und verhinderte, dass Mutter und Kind zu hilflosen Spielbällen des auf und nieder stampfenden, von einer Seite zur anderen rollenden Schiffes wurden. Vor Anstrengung tanzten dunkle Flecken pochenden Blutes auf seinem sonst nur leicht geröteten Gesicht.
Traurig erkannte Irene, dass er recht hatte. Als Mutter war es ihre erste Pflicht, für Jamies Wohlergehen und Sicherheit zu sorgen.
Und Jacob?
Es sah ganz so aus, als könne sie nichts mehr für ihn tun. Sie nicht und kein anderer Mensch auf dieser Welt. Der Schuss aus nächster Nähe hatte ihn in den Kopf getroffen.
Er musste tot sein!
Die Erkenntnis zog alle Kraft aus ihren Beinen. Auch Weisman konnte sie nicht mehr halten und ließ sie sanft zu Boden gleiten.
Er zeigte auf die Pfosten des Unterstands und rief: »Halten Sie sich daran fest, Lady!«
Irene nickte und krallte mit letzter Kraft ihre Hände um einen der Pfosten, während sie Jamie in ihre Arme schloss.
»Geht es?«, fragte der Zweite Steuermann.
Wieder bestand Irenes Antwort nur in einem schwachen Nicken. Zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage. Der Gedanke an Jacobs Tod lähmte sie, ließ alles plötzlich so sinnlos erscheinen.
Vielleicht hätte sie den hölzernen Pfosten losgelassen und sich von einem der über die Reling schwappenden Brecher mit ins Meer reißen lassen, wäre der laut schreiende Junge nicht gewesen.
Nur kurz streifte Piet Hansens Blick von Jacob Adler zu Irene Sommer. Er fühlte Mitleid und Schuld, aber er hatte keine Zeit, sich um die junge Frau zu kümmern.
Wenn er sich ablenken ließ, konnte das den Tod für alle anderen Menschen an Bord bedeuten. Er hätte nicht gedacht, dass die Yankees ein unbewaffnetes Schiff derart hemmungslos unter Beschuss nehmen würden. Offenbar war es ihnen bluternst mit ihrer Seeblockade der Südstaaten.
Nur kurz flackerte in dem Kapitän der ALBANY die Frage auf, wie die Nordstaatler ihm auf die Schliche gekommen waren. Zur ihrer Beantwortung hatte er weder die Möglichkeiten noch die Zeit.
Seine Hände und Arme waren eins mit dem schweren Steuerrad. Sein ganzer Körper schien mit dem hölzernen Leib der ALBANY verwachsen. Immer wieder änderte er den Kurs, um den drei Kriegsschiffen zu entgehen.
Zum Verhandeln war es längst zu spät. Er musste sein Schiff durchbringen. Seine Hände krampften sich so fest ums Steuerrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er musste es schaffen!
Nicht noch einmal wollte sich Piet Hansen den Vorwürfen und Seelenqualen aussetzen, leichtfertig ein Schiff und viele Menschenleben geopfert zu haben. Schon Jacob Adlers Tod war zu viel und lastete schwer auf ihm.
Was damals, vor über zwanzig Jahren, im Ärmelkanal mit der HENRIETTA geschehen war, durfte sich nicht wiederholen!
»Mr. Weisman!«, brüllte er gegen den höllischen Lärm.
Sein Zweiter Steuermann wandte sich von Irene Sommer weg zu Hansen um.
»Aye, Käpten?«
»Wo stehen Sie?«
»Wie meinen Sie das, Käpten?«
»Ich spreche von den anderen dort.« Hansen nickte hinaus auf See; es war klar, dass er die Kriegsschiffe meinte. »Halten Sie zu denen oder helfen Sie mir, die ALBANY aus diesem Chaos zu bringen?«
Der deutsch-amerikanische Steuermann überlegte kurz. Er hatte nicht gewusst, dass die ALBANY ein Blockadebrecher war. Und er billigte es nicht. Aber dann dachte er an die Seeleute und an die hundert Passagiere, unter denen sich Frauen und Kinder befanden. Sie konnten nichts dafür. Sie würden unschuldig sterben.
»Geben Sie Ihre Befehle, Käpten.«
»Alle Segel setzen!«, schnarrte Hansen. »Und besorgen Sie ein neues Gaffel!«
»Alle Segel, Käpten?«, wiederholte der Steuermann ungläubig. »Aber das Wetter? Das ist schon kein Wind mehr, sondern ein Sturm. Wir werden kaum noch manövrierfähig sein!«
»Aber dafür schnell!«
Weisman nickte verstehend und rannte über das schwankende Deck, um die Befehle des Kapitäns weiterzugeben.
Da tauchte auch der Erste Steuermann auf Deck auf, Georg Möller. Hansen mochte den Mann nicht, der zum ersten Mal auf der ALBANY fuhr. Arnold Schelp hatte ihn Hansen empfohlen. Nun, empfohlen war wohl der falsche Ausdruck. Schelp hatte darauf bestanden, dass der Kapitän Möller zum Ersten Steuermann ernannte.
Genauso, wie Schelp einen Teil der Besatzung angeschleppt hatte. Alles seine Vertrauensleute, die dafür sorgten, dass Hansen sich Schelps Willen beugte.
Und tatsächlich erschien Schelps grobe Gestalt gleich hinter dem knochigen Möller im Kajütenaufgang. Schelp war wie stets so gut gekleidet, dass es schon ins Auge stach. Trotz der rasanten Fahrt des Schiffes saß der schwarze Chapeau Claque auf seinem rot behaarten Schädel, und der kleine Stock mit dem schweren Silberknauf – kein Gehwerkzeug für ihn, sondern eine äußerst wirksame Waffe – lag in seiner weiß behandschuhten Linken.
Aber auf dem heftig schwankenden Deck verlor er seine aufrechte Haltung und seinen Zylinder. Hätte er sich nicht in Möllers dunkelblauer Seemannsjacke verkrallt, wäre er unsanft auf den Planken gelandet. Sorgsam achtete er darauf, den Stock nicht zu verlieren. Fast gierig griff er nach einem der Pfosten, an denen sich auch Irene festhielt.
Er baute sich vor Hansen auf und forderte: »Käpten, übergeben Sie das Steuer an Möller!«
»Unmöglich!«, knurrte Hansen und lenkte die ALBANY auf einen Kurs, der sie gleich auf zwei der Kriegsschiffe zuführte.
Es handelte sich um die beiden umgebauten Kauffahrer, die zurzeit dicht beieinander in der zunehmend aufgewühlten See kreuzten.
»Sie Narr, was tun Sie?«, kreischte Schelp. »Sie bringen das Schiff geradewegs vor die Yankee-Kanonen!«
»Das ist meine Absicht!«, nickte Hansen und hielt den Segler verbissen auf Kurs.
Schelp klemmte den Stock unter die Achsel und griff unter den dunklen Rock in eine Tasche seiner seidig glänzenden Weste. Die Hand kam mit einem Derringer wieder hervor.
Die kleine Waffe sah genauso protzig aus wie alles an ihrem Besitzer. Sie war versilbert, der Griff gar vergoldet.
Aber als Schelp den Hahn zurückzog und den kurzen Doppellauf unter Hansens Kinn drückte, war es vollkommen unwichtig, wie stutzerhaft die Waffe wirken mochte. Wichtig war nur, dass sie den Kapitän unweigerlich töten würde, sobald der rothaarige Deutsche den Abzug betätigte.
»Übergeben Sie das Schiff an Möller! Ich sage es nicht noch einmal.«
»Sie sind der Narr, Schelp!«, fauchte Hansen, ohne sich von der Waffe, deren Mündung unter seinem Gesicht schwebte, beirren zu lassen. »Sehen Sie nicht, dass ich die ALBANY in Sicherheit bringe?« Er seufzte und fügte leise hinzu: »Jedenfalls versuche ich es.«
Schelp zog irritiert die rötlichen Brauen hoch.
»Wie das?«, fragte er hektisch. »Sie bringen uns doch vor die feindlichen Geschütze!«
»Zwischen die feindlichen Geschütze«, berichtigte der Kapitän den Mann, mit der er eine verhängnisvolle Allianz eingegangen war.
»Wo ist der Unterschied?«, brüllte Schelp. »Wenn uns gleich zwei Yankee-Schiffe beschießen, ist es doch nur noch schlimmer!«
Wieder korrigierte Hansen den anderen:
»Falls sie uns beschießen, Schelp. Falls!«
»Was meinen Sie damit?«
»Sehen Sie doch, wie eng die Bark und die Brigg beieinanderliegen! Der Kapitän der Brigg ist schuld daran. Er hat sehr unglücklich manövriert. Wenn wir schnell genug zwischen den beiden durchkommen, können sie ihre Kanonen nicht abfeuern, ohne zu riskieren, sich gegenseitig in Stücke zu schießen.«
Der Schimmer der Erkenntnis leuchtete in Schelps sonst eher trüben Augen auf. »Glauben Sie, dass wir schnell genug sind, Käpten?«
»Meine Jungs sorgen gerade dafür.«
Hansen zeigte hinauf in die Masten. Mit affenartiger Behändigkeit turnten die Seeleute der ALBANY in der schwindelerregenden Höhe herum, um laut Hansens Befehl sämtliche Segel zu setzen. Gleichzeitig waren ein paar Männer am Besanmast damit beschäftigt, unter der Aufsicht von Joe Weisman und des Segelmachers das zerfetzte Gaffelsegel gegen ein neues auszutauschen.
Schelp blickte den Ersten Steuermann an. »Was sagen Sie, Möller? Kann das hinhauen?«
»Es ist ein Spiel mit dem Feuer«, knurrte der knochige Mann und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. »Im wahrsten Sinne des Wortes!«
»Das ist keine Antwort, verdammt! Hat Hansens Plan Ihrer Meinung nach Aussicht auf Erfolg oder nicht?«
Möller sah auf, als wolle er seine Unterlippe verschlingen. Schließlich nickte er langsam und sagte gedehnt:
»Nun, Herr Schelp, es könnte klappen. Aber ich würde keine große Summe darauf wetten.«
»Haben Sie einen besseren Plan, Möller?«
»Nein, jetzt sowieso nicht mehr.«
»Was heißt das nun wieder?«
»Schauen Sie doch, Herr Schelp!« Möllers rechter Arm streckte sich bugwärts aus. »Wir sind schon viel zu nah an den beiden Kriegsschiffen. Würden wir jetzt noch abdrehen und ihnen unsere Breitseite darbieten, würden uns die Kanonen auf jeden Fall treffen!«
Schelps Augen blitzten böse, als sie sich wieder auf den alten Seebären am Steuerrad richteten.
»Zur Hölle, Hansen, Sie haben mich hereingelegt!«
Schelp drückte die doppelte Mündung des Remington Derringers gegen Hansens Kehle.
»Unsinn!« verteidigte sich der Kapitän. »Ich bringe uns durch. Die Segel sind fast alle gesetzt.«
Tatsächlich wurde die Fahrt der ALBANY immer schneller. Sie rollte nicht mehr von einer Seite zur anderen, sondern rauschte fast ruhig und stolz durch die mehr und mehr aufgewühlten Wellen.
Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ein regelrechter Sturmwind über den Pazifik blasen würde. Genau darauf setzte Piet Hansen.
Und dann war es so weit, die ALBANY flog unter voller Betakelung zwischen den beiden Schrauben-Fregatten hindurch.
Die Menschen an Bord des Seglers hielten den Atem an. Die Kriegsschiffe waren so verdammt nah, dass jede Menge Einzelheiten erkennbar waren.
Die Masten der US-Schiffe, die noch aus ihrer Zeit als Kauffahrer stammten. Jetzt diente die Takelage als bloße Hilfe für die Schiffsmaschinen. Rauch quoll aus hohen Schornsteinen, die bei der Umrüstung zu Schraubendampfern auf den Schiffen angebracht worden waren.
Die Flagge der Union, die in scheinbarer Siegesgewissheit an den Schiffen flatterte.
Die Männer an Bord. Ihre blau-weißen Uniformen. Die teilweise bärtigen Gesichter. Sogar die ungewöhnlich weiten Aufschläge der blauen Hosen bei den Männern, die in den Wanten hingen.
Die Namen der Schiffe. Die Bark war die USS RELIANCE, die Brigg die USS HORNET.
Und das bedrohliche Schimmern der Geschützrohre, die über die Schiffe hinausragten und zur ALBANY herüber blickten. Dahinter standen die Bedienungen, teils mit den Abreißleinen in den Händen, bereit, auf Kommando die Breitseiten abzufeuern. Die Menschen an Bord der ALBANY zählten die Kanonen an den ihnen zugewandten Seiten der Kriegsschiffe: vier bei der Brigg und sechs bei der Bark.
Die Augen der Männer und Frauen auf dem Segler klebten geradezu an den Kanonenrohren. Sie warteten auf die Flammenzungen, den Rauch, den ohrenbetäubenden Donner und die tödlichen Einschläge.
Aber nichts geschah. Piet Hansens Rechnung schien aufzugehen. Nur noch das Heck der ALBANY befand sich zwischen den Kriegsschiffen, glitt zwischen ihnen hindurch.
Da brach der Donner los!
Die Menschen schrien und stürzten erneut durcheinander. Letzteres wurde diesmal nicht durch ein gewagtes Manöver von Hansen verursacht, sondern war eine Folge der panischen Furcht. Die Menschen suchten trügerische Deckung hinter Aufbauten, Masten und Rettungsbootsdavits.
»Es ist der Raddampfer!«, rief Georg Möller und zeigte schräg nach achtern, zur Steuerbordseite.