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Kopenhagen Ende des 18. Jahrhunderts: Der isländische Uhrmacher Jón entdeckt ein wahres Wunderwerk der Handwerkskunst im dänischen Königspalast. Die einstmals berühmte astronomische Uhr aus dem Jahre 1592 ist in einem erbärmlichen Zustand, und Jón macht es sich zur Aufgabe, sie wieder in Gang zu setzen. Eines Abends taucht zu später Stunde der dänische König in Jóns Werkstätte auf, und zwischen dem Monarchen, Christian VII., und seinem isländischen Untertan entspinnt sich ein Gespräch. Und Jón wagt es sogar, von seinem Vater zu berichten, der auf Island unschuldig zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, unter der Regentschaft des Vaters von Christian VII. ...
Ein hervorragender historischer Roman von Islands derzeit erfolgreichstem zeitgenössischen Autor
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Seitenzahl: 400
Der isländischer Uhrmacher Jón Sívertsen entdeckt durch Zufall die Uhr eines berühmten Uhrmachers im Kopenhagener Königspalast. Diese Uhr, einst ein wahres Wunderwerk der Uhrmacherkunst, verstaubt in einem Lager. Jón sieht es als seine gottgegebene Aufgabe, die Uhr zu reparieren. Eines Tages erscheint der König in seiner Werkstätte. Sie kommen ins Gespräch, und Jón erzählt vom harten Leben auf Island. Insbesondere die Geschichte von Jóns Vaters weckt das Interesse des Königs. Er war auf Befehl des damaligen Königs unschuldig zum Tode verurteilt worden. Die Gespräche bringen den König dazu, die Intrigen am Hof zu erkennen. Bis der Kronprinz eingreift – und das Erzählen verbieten will …
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.
Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.
1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
A R N A L D U R
INDRIÐASON
DER KÖNIG
UND DER
UHRMACHER
HISTORISCHER ROMAN
Übersetzung aus dem Isländischenvon Freyja Melsted
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Sigurverkið«
Der Psalm auf S. 346 wurde in der Übersetzung von Wilhelm Klose übernommen.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Arnaldur Indriðason
Published by arrangement with Forlagið, Reykjavík, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverdeunter Verwendung eines Designs von Séverine Besnard
Umschlagmotiv: Design: © Séverine Besnard; © e-Dantès; © siloto/shutterstock; Sophie McAulay/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5569-6
luebbe.de
lesejury.de
Diese Geschichte ist fiktiv, und obwohl sie zum Teil auf wahren Begebenheiten beruht, unterliegt sie in jeder Hinsicht den Regeln der Dichtung.
Weh euch Richtern, die klar ihr wisst,Wo das Recht und wo Unrecht ist …
Aus den Passionspsalmen von Hallgrímur Pétursson
Die Zeit war stehengeblieben. Selbst die ältesten Bewohner der Stadt hatten nie erlebt, wie die kunstvolle Uhr, die vor zweihundert Jahren dem Herrgott und der Jungfrau Maria zu Ehren gebaut worden war, die Stunde geschlagen und die Bewegungen von Mond und Sternen angezeigt hatte. Sie verstaubte in einem Lagerraum auf Schloss Christiansborg, als Beute aus einem längst vergessenen Krieg. Könige waren gekommen und gegangen, doch die Zeit stand weiterhin still. Einmal hatte man nach den begnadetsten Erfindern und Uhrmachern der Welt geschickt und ihnen den Auftrag gegeben, sich mit dem Uhrwerk zu befassen und die komplexe Mechanik wieder zum Laufen zu bringen. Sie alle hatten aufgegeben und gemeint, die Uhr sei zwar prachtvoll, würde aber nie wieder ticken oder den Gang der Himmelskörper anzeigen.
Und dabei blieb es, bis ein alter Uhrmacher, der eine Werkstatt in der Nähe der Holmensgade betrieb, einmal wegen einer anderen Uhr in den Königspalast gerufen wurde. Der Uhrmacher hatte zu Beginn seiner Ausbildung bei einem Kopenhagener Meister die Geschichten über den Schöpfer des kunstvollen Uhrwerks auf Schloss Christiansborg gehört. Er wusste also, dass es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Stück handelte, sondern um ein Meisterwerk Isaak Habrechts, ein Schweizer, der die längste Zeit seines Lebens im Straßburger Münster verbracht und die weltberühmte Uhr dort geschaffen hatte.
Das Uhrwerk des Schweizers zeigte nicht nur die Stunden, sondern auch die Wochentage und Monate an. Darüber hinaus erschienen zu jeder vollen Stunde die drei Weisen aus dem Morgenland und verbeugten sich vor einer Figur der Jungfrau Maria, woraufhin die längst vergessene Melodie eines Psalms aus der Zeit Habrechts erklang. Oben auf der Uhr legte ein goldener Hahn den Kopf in den Nacken und verkündete mit Krähen und Flügelschlag den Beginn einer neuen Stunde. Und wenn die Uhr funktionierte, wie sie sollte, würden währenddessen Mond und Sterne über eine Darstellung des Himmelszelts ziehen.
Die Uhr war um die zweihundert Jahre alt, gefertigt im Jahre 1592, und es war nicht verwunderlich, dass Uhrmacher von nah und fern sie eher als übernatürliches Zauberwerk betrachteten, denn als etwas von Menschhand Geschaffenes.
Als der alte Uhrmacher seinen ursprünglichen Auftrag erledigt hatte und die Uhr auf dem Kaminsims im Arbeitszimmer eines königlichen Sekretärs wieder zum Laufen gebracht hatte, bog er beim Hinausgehen in Richtung des Lagerraums ab, in dem sich, so hatte man ihm erzählt, die Habrechtsuhr befand. Sein mittlerweile längst verstorbener Meister hatte vor langer Zeit selbst einmal versucht, sie zu reparieren, aber das Handtuch geworfen. Irgendwo gab es noch Skizzen und Notizen, die hatte er seinen Lehrlingen überlassen, und so war die Neugier des Uhrmachers nur noch weiter befeuert worden.
Ein eher reservierter Wärter lauschte seinem Anliegen. Er fand es amüsant, dass ein Uhrmacher aus dem weit entfernten Island sich für die kaputte Uhr interessierte, und erlaubte ihm freundlicherweise, sich das Stück anzusehen. Der Uhrmacher bedankte sich demütig und ging vorsichtig vorbei an Gemälden, Kunstobjekten und anderer Kriegsbeute, Büsten früherer Könige, Wappen, Bannern, Reitzeug und alten Falkenkäfigen, bis er zu der Uhr gelangte, die ganz hinten in einer Ecke stand. Vorsichtig entfernte er eine dreckige Abdeckung und achtete darauf, das Uhrwerk nicht noch mehr zu beschädigen.
Darüber hätte er sich aber wohl keine Sorgen machen müssen, dachte er im Stillen, als er vor dem Meisterwerk stand, oder vor dem, was davon übrig war. Der Hahn, der früher so stolz oben auf der Uhr gekräht hatte, war von seinem Sockel gefallen. Die Figuren, die verschiedene Lebensalter des Menschen repräsentierten – ein Kind, ein junger Mann, ein Erwachsener und ein Greis –, Symbole der Vergänglichkeit des Lebens, waren zerbrochen. Die Jungfrau Maria war nirgendwo zu entdecken, und nur einer der drei Weisen aus dem Morgenland, die an der Muttergottes vorbeidefilierten, stand noch auf seinem Platz. Auch die Christusfigur mit der Siegesfahne und die des Todes waren zerbrochen und der Mechanismus, der sie alle bewegte, beschädigt. Doch damit nicht genug, sogar die Glocken unter dem Dach der Uhr, die den Psalm spielten, waren zerbeult und hingen schief. Ein genauer Blick auf die Mechanik offenbarte noch mehr Schäden, viele der Zahnräder und Halterungen waren defekt, und der Uhrmacher erinnerte sich an die Worte seines Meisters, dass im Laufe der Jahre Teile der Uhr straßauf, straßab verkauft worden seien, darunter auch der Globus und mit ihm alle Sternbilder.
Der Uhrmacher wischte etwas Schmutz von der Stelle, wo die drei Weisen stehen sollten, und es schmerzte ihn zutiefst, die Uhr in diesem Zustand zu sehen. Er musste an seine geliebte Frau Margit denken, die vergangenen Sommer nach kurzer Krankheit verstorben war und ihm jeden Tag fehlte. Ihre zwei Kinder waren aus der Stadt weggezogen und kamen nur selten zu Besuch. Er hatte keine Beschäftigung mehr in der Wohnung über seiner Werkstatt und konnte nicht leugnen, dass die Einsamkeit ihm zu schaffen machte. Jahrelang hatte er sich um den Rest der Welt keine Gedanken machen müssen. Er war mit Leib und Seele Uhrmacher und hatte kaum Zeit gehabt, sich anderen Dingen zu widmen. Mit seinem Handwerk hatte er sich einen guten Ruf aufgebaut, sonst hätte man ihn wohl kaum nach Christiansborg gerufen, um die königlichen Uhren zu warten. Nicht, dass er sich viel darauf einbildete. Es spornte ihn höchstens an, noch sorgfältiger zu arbeiten. Ein guter Ruf war wertvoll, das hatte er in seiner Heimat, den Westfjorden Islands, auf eine schmerzliche Weise erfahren müssen.
Und während er in Gedanken versunken im Königspalast stand, vor der Herabwürdigung von Habrechts Werk, dem bedeutendsten Uhrmacher seiner Zeit, und versuchte, die komplizierten Mechanismen zu verstehen, hatte er einen verrückten Einfall. Vielleicht könnte er die Uhr reparieren, damit sie der Menschheit wieder Freude bereitete.
Die Idee überraschte ihn selbst. Auch wenn noch nie jemand seine Fähigkeiten als Uhrmacher angezweifelt hatte oder sein Wissen um all die filigranen Einzelteile, die nötig waren, um die Stunden des Lebens zu zählen, sah er sich für eine Aufgabe wie diese in keiner Weise qualifiziert. Trotzdem spürte er, dass er sich jetzt, im fortgeschrittenen Alter, genau dieser Aufgabe annehmen sollte. Es war wie eine spirituelle Erfahrung, und ihn überkam eine neue und freudige Erregung, die sich anfühlte wie ein Zeichen Gottes, ja, es war nichts Geringeres als eine Offenbarung.
Und so kam es, dass Jón Sívertsen aus Island, Uhrmacher im königlichen Kopenhagen, regelmäßig den Mann aufsuchte, der über die ausgedienten Besitztümer des Königs wachte, und vorbei an Wappen und Falkenkäfigen schritt, um sich mit Habrechts Uhr zu befassen. Der Wärter erlaubte es ihm, denn er wusste, dass von dem Uhrmacher keine Gefahr ausging, und er erkannte, dass er sich vielleicht eine Feder an den eigenen Hut stecken könnte, sollte es dem Mann gelingen, die Uhr zu reparieren. Außerdem war die Uhr bereits kaputt, schlimmer konnte es insofern nicht werden. Wenn er in der Werkstatt fertig war, arbeitete Jón also im Kerzenschein an dem Uhrwerk im Schloss – in einem dicken Mantel, denn der Winter hatte bereits Einzug gehalten.
Eines Abends dann, in der Adventszeit, verirrte sich Seine Königliche Hoheit, Christian VII., höchstpersönlich in den Lagerraum. Es hieß, er interessiere sich für antike Wappen, und er ging allein seines Weges, ohne Perücke und ungeschminkt, als er Jón Sívertsen bemerkte, wie er über die Habrechtsuhr gebeugt auf einem kleinen Holzhocker saß. Jón war vertieft in seine Arbeit und blickte erst auf, als Seine Hoheit bereits direkt hinter ihm stand. Er hielt ihn für den Wärter und erschrak so sehr, dass er aufsprang und beinahe das Gleichgewicht verlor, als ihm klar wurde, um wen es sich tatsächlich handelte. Er hatte den König bereits festlich gekleidet und hoch zu Ross auf den Straßen Kopenhagens gesehen und erkannte ihn sofort wieder. Also stand er wie das Kaninchen vor der Schlange neben seinem Hocker, senkte den Kopf so tief wie möglich auf die Brust und traute sich nicht, wieder aufzublicken.
»Wer bist du?«, fragte der König, der einen weiten Samtumhang über einem Nachthemd trug und nach Madeirawein roch.
»Verzeihung … ich heiße Jón … Jón Sívertsen, Eure Hoheit«, stammelte der Isländer und hielt seinen Kopf weiter gesenkt.
»Und was machst du hier, wenn ich fragen darf?«
»Ich … ich bin Uhrmacher, Eure Majestät, und ich … ich arbeite an … ich arbeite an …«
»Dieser Uhr«, sprach der König den Satz zu Ende, denn es schien, als habe der Uhrmacher die Fähigkeit dazu verloren.
»Ja, Eure Hoheit.«
»Was ist das für ein Uhrwerk, es ist ja völlig kaputt?«, fragte der König, zog ein parfümiertes Tuch aus der Tasche seines Umgangs und hielt es sich vor die Nase.
»Das ist ein Uhrwerk Isaak Habrechts, Eure Majestät.«
»Habrecht?«
»Er war Schweizer, Eure Hoheit.«
»Und was geht uns das an?«, fragte der König, als meine er sich und all seine Vorfahren, bis hin zu Gorm dem Alten und Harald Blauzahn.
»Ja, die Uhr ist … Ihr seid der rechtmäßige Besitzer, Majestät«, stammelte Jón. »Eure Hoheit … sie … sie gehört Euch.«
»Aha«, murmelte der König, der keine Ahnung hatte, was ihm gehörte und was nicht. Er besah sich das Uhrwerk. Musterte den Uhrmacher, der beklommen vor ihm stand. Dachte an den Madeirawein in seinem Gemach.
»Und wer hat dich gebeten, daran zu arbeiten?«, fragte er.
»Niemand, Eure Hoheit«, antwortete Jón.
»Niemand?!«
»Nein, Majestät. Ich … ich wusste nur, dass sie sich hier befindet, in diesem Lagerraum, oder sollte ich besser Sammlung sagen, und … und … ich wollte prüfen, ob ich sie nicht reparieren könnte.«
»Welch Unverfrorenheit! Davon weiß ich nichts! Sollte ich davon nicht in Kenntnis gesetzt werden?!«
»Der Wärter, Eure Hoheit, ich dachte, er hätte vielleicht …«
»Bist du ein Dieb?! Klaust du hier etwa Teile der Uhr?«
Der König sah Jón Sívertsen eindringlich an, ganz so, als hätte er ihn am liebsten auf der Stelle in Ketten legen lassen. Er musterte die ärmliche Kleidung. Die hängenden Schultern. Die Lederschürze, die einen kleine Bauchansatz bedeckte. Die zierlichen Uhrmacherhände mit den breiten Trauerrändern an den Nägeln. Den großen Kopf, der wie an der Brust festgeklebt erschien. Während ihrer Unterhaltung hatte der Uhrmacher nicht ein einziges Mal aufgeblickt.
»Eure Majestät … ich bin kein Dieb … die Uhr wurde zu Ehren Gottes gebaut, Eure Hoheit«, murmelte Jón in seine Brust, nachdem er seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte. »Meine Wenigkeit wollte sehen, ob ich sie vielleicht wieder in Gang bringen könnte. Mehr ist es nicht, Majestät.«
Als in dem Lagerraum der Name Gottes fiel, zögerte der König.
»Nun gut«, sagte er schließlich und wedelte mit dem Dufttuch in Richtung der Habrechtsuhr, wie um Jón mitzuteilen, er solle mit seiner Arbeit fortfahren, bevor er von dannen zog, mit Schritten, so weich wie der Samt seines Umhangs.
Und so kam Jón Sívertsen, wie er sich in Dänemark nannte, obwohl er in Breiðafjörður im Nordwesten Islands als Jón Sigurðsson geboren worden war, zu der besonderen Aufgabe, die schöne Uhr des Königs zu reparieren. Es war ihm ein Rätsel, warum man ihn nicht auf der Stelle enthauptet hatte, aber er beschloss, sich nach dem Wortwechsel mit dem König voll und ganz auf die Habrechtsuhr zu konzentrieren, und alle anderen Aufgaben zu verschieben. Jetzt musste er sich nicht mehr abends nach seinem Arbeitstag heimlich ins Schloss schleichen, sondern konnte es jeden Morgen durch den Dienstboteneingang in der Küche betreten.
Der Wärter hatte von dem Besuch Seiner Hoheit erfahren und sprach seitdem mit mehr Hochachtung über den Lagerraum, begann sogar, ihn als Sammlung zu bezeichnen, schließlich fanden sich dort eine große Menge königlicher Kunstobjekte. Er ließ den Weg zur Uhr freiräumen und einen Arbeitsplatz einrichten, mit Tisch, Werkzeugen und guter Beleuchtung. Außerdem bat er Jón, ihm Bescheid zu geben, sollte er noch etwas benötigen, würde es unverzüglich für ihn herbeigeschafft. Dem fügte er hinzu, Jón könne doch, sollte er dem König abermals begegnen und erneut mit dem Leben davonkommen, erwähnen, dass er schon lange im Dienst Seiner Hoheit stehe und seinen Aufgaben als Wärter der Sammlung stets überaus sorgfältig und weit über die Amtspflichten hinaus nachgekommen sei.
Jón begann damit, die Habrechtsuhr Stück für Stück in ihre Einzelteile zu zerlegen, diese aufzulisten und ihre Funktion und Position festzuhalten. Das Meisterwerk setzte sich aus vielen komplexen Mechanismen und aufgezogenen Vorrichtungen zusammen. All das musste perfekt aufeinander abgestimmt werden, wenn es sich, bis hin zu den drei Weisen aus dem Morgenland und den Flügeln des Hahns, richtig bewegen sollte. Schnell erkannte Jón, dass einige große und wichtige Bauteile fehlten, und er erinnerte sich an die Worte seines einstigen Meisters, dass Teile der Uhr über die Jahre verkauft worden seien. Er sprach den Wärter darauf an, und dieser meinte sich zu erinnern, dass seine Vorgänger tatsächlich das eine oder andere Teil von dem alten Ding verkauft hätten. Er wollte sich erkundigen, ob in der königlichen Buchführung noch etwas darüber zu finden sei, klang dabei aber recht verlegen, als hätte er bei diesen Geschäften vielleicht auch selbst seine Finger im Spiel gehabt.
Doch dann geschah es eines Abends, dass der König sich langweilte und ihm der isländische Uhrmacher in dem Lagerraum für Wappen und anderes altes Gerümpel ehemaliger dänischer Könige in die Sinne kam. Er hatte schon einiges an Madeirawein intus und überlegte sich anzusehen, wie es mit der Reparatur der gottgeweihten Uhr voranging. Also warf er den Samtumhang über seine Schultern und machte sich auf den Weg in die hintersten Ecken des Palastes, wo Jón Sívertsen trotz der späten Stunde noch arbeitete. Diesmal bemerkte Jón den König etwas früher und stand sofort auf, als er von der Tür her ein leises Geräusch vernahm. Mit tief geneigtem Kopf stellte er sich regungslos neben die Uhr.
Lange stand der König vor dem Uhrwerk, die Madeiraflasche in der einen, das parfümierte Tuch in der anderen Hand. Er besah sich die vielen Einzelteile, in die Jón die Uhr zerlegt und die er auf der Arbeitsfläche aufgereiht hatte, Scheiben und Schrauben, Gewichte und Zahnräder in allen Größen. Dann richtete er sich an seinen demütigen Untertanen.
»Wie geht es voran?«, fragte er.
»Langsam, Eure Hoheit«, antwortete Jón.
»Ach ja? Und warum?«, fragte der König.
»Es fehlen Teile des Uhrwerks.«
»Warum fehlen die Teile?«
»Sie wurden im Laufe der Jahre verkauft, Majestät«, antwortete Jón.
»Das ist ja unerhört! Und nun?«
»Ich weiß nicht, ob ich die Uhr ohne sie reparieren kann, Eure Hoheit.«
»Und um welche Teile handelt es sich?«, fragte der König sichtlich empört.
»Nun, Eure Hoheit, am wichtigsten ist sicherlich die Jungfrau Maria, sie sollte hier stehen.« Jón zeigte auf eine Stelle unter den Glocken, wo auch die Weisen aus dem Morgenland stehen würden. »Sie ist nirgendwo zu finden. Und ich könnte noch viele weitere Teile nennen, Eure Majestät, die womöglich abhandenkamen, als die Uhr einem Apotheker hier in der Stadt gehörte. Vielleicht wurden sie gar verpfändet, Eure Hoheit.«
Der König trank einen großen Schluck Wein und musterte lange die Habrechtsuhr. Er hatte im Straßburger Dom Informationen über den Schweizer eingeholt und herausgefunden, dass alles stimmte, was der Uhrmacher erzählt hatte. Dieser Habrecht war einer der besten seiner Zunft gewesen, und sein Meisterwerk im Straßburger Dom wurde mit Recht als Weltwunder betrachtet. Außerdem hatte der König in Erfahrung gebracht, dass diese Habrechtsuhr hier, die jetzt ihm gehörte, ursprünglich eine Kriegsbeute gewesen war, aus dem Großen Nordischen Krieg, in dem sein Urgroßvater Friedrich gegen die verdammten Schweden gekämpft hatte. Nach der Eroberung Schleswigs war sie zunächst im Schloss Gottorf aufbewahrt worden. Von dort war sie nach Kopenhagen gekommen und immer wieder verkauft worden, bis sie irgendwann wieder in den Besitz des Königs gelangte und nach Schloss Christiansborg gebracht wurde. Er hatte auch herausgefunden, dass es sich um eine Kopie der Uhr in Straßburg handelte, die zwar viel kleiner war, aber dennoch eine bemerkenswerte Miniatur. Außerdem hatte Habrecht ein weiteres Werk gleicher Bauart, eine Art Schwester dieser Uhr, für keinen Geringeren als Papst Sixtus V. in Rom gebaut. Der König warf einen Blick auf Jón Sívertsen. Kurz gesagt, diese Uhr war ein durch und durch bemerkenswerter Gegenstand. Das wusste der Uhrmacher genauso gut wie er.
»Wie war noch einmal dein Name?«, fragte der König.
»Jón Sívertsen heiße ich, Eure Hoheit.«
»Sívertsen? Das ist hoffentlich kein schwedischer Name?«
»Nein, Majestät.«
»Woher kommst du dann?«, fragte der König.
»Aus Island, Eure Hoheit.«
Der König runzelte die Stirn. Meist waren ihm die Isländer eher lästig mit ihren penetranten Anfragen und ständigen Bittschriften. Vermutlich war es dem Madeirawein geschuldet, aber auf Anhieb fiel ihm nicht einmal ein, warum Island überhaupt zum dänischen Königreich gehörte. Dunkel erinnerte er sich, dass es mit irgendwelchen jahrhundertealten Verträgen zu tun hatte. Wahrscheinlich aus der Zeit, als das Königreich sich Norwegen unter den Nagel gerissen und abgelegene Inseln wie Island und Grönland bei dem Kauf gleich mit dazubekommen hatte. Die südlichen Kolonien interessierten ihn deutlich mehr, Tranquebar am Indischen Ozean oder auch die Inseln in Westindien. Sein Geheimer Archivar Grímur Thorkelín war aber Isländer, und der war ein hochgebildeter Mann. Außerdem hatten die Isländer jahrelang eifrig die Stadttore Kopenhagens verteidigt, sowohl gegen die verdammten Schweden als auch gegen die Engländer. In erster Linie waren es isländische Studenten gewesen, was der König wohlwollend erwähnte.
»Das wissen wir sehr zu schätzen«, sagte er zu Jón Sívertsen. »Aber hast du dänische Vorfahren?«
»Nein, Eure Hoheit, wie viele meiner Landsleute habe ich meinen Namen kurz nach der Ankunft in Dänemark geändert, damit er für die Menschen hier einfacher auszusprechen ist.«
»Und wie lautete dein eigentlicher Name?«
»Sigurðsson, mein Vater hieß mit Vornamen Sigurður, Majestät.«
»Sigurdor?«, wiederholte der König mit einem starken dänischen Akzent. »Und woher stammte er?«
»Aus Breiðafjörður in den Westfjorden Islands, Eure Hoheit. Wenn ich noch hinzufügen darf, Majestät, kannte ich keinen besseren Mann als meinen Vater. Niemand war gerechter oder anständiger als er.«
»Aha«, sagte der König, was eher höhnisch klang, denn sein eigener Vater war alles andere als gerecht und anständig gewesen. »Na, so was. Erzähl mir mehr von diesem ach so ehrenwerten Mann.«
Jón zögerte.
»Willst du mir nicht antworten?«
»Verzeiht, Eure Hoheit, aber ich möchte, in aller Demut, nicht darüber sprechen, Majestät.«
»Darüber? Was ist passiert?«, fragte der König. »Was war mit deinem Vater?«
Jón antwortete nicht sofort.
»Antworte mir!«, schrie der König, so sehr erzürnte ihn Jón Sívertsens Zögern.
»Es war während der Regentschaft Eures Vaters, Majestät«, sagte Jón leise. »Die Sache ist die, Eure Hoheit«, fuhr er fort und wagte endlich, den Kopf zu heben und den König anzusehen, »dort in Breiðafjörður, im Nordwesten Islands, hat er meinen Vater wegen Unzucht und falscher Vaterschaft enthaupten lassen, obwohl er keine Schuld auf sich geladen hatte.«
Der König zog die Augenbrauen hoch.
»Und seine Haushälterin musste ebenfalls sterben, Eure Hoheit. Euer Vater ließ sie ertränken, obwohl auch sie unschuldig war.«
König Christian VII. war empört und reagierte, wie er es manchmal tat, wenn ein Ratgeber oder Diener ihn erzürnte, er lachte schallend. Die Behauptung, Seine Hoheit König Friedrich V., sein eigener Vater, habe unschuldige Menschen hinrichten lassen, brachte ihn aus dem Konzept, und er wusste nicht so recht, ob er dem armen Uhrmacher die Madeiraflasche über den Schädel ziehen oder besser gleich die Wache rufen sollte, um ihn auspeitschen zu lassen. Eine derartige Unverschämtheit hatte er während seiner Regentschaft noch nicht erlebt. Was fiel ihm ein, diesem Dummerjan aus Island! Diesem Uhrmacherlumpen!
»Das ist … Hochverrat …!«, rief er schließlich und fixierte Jón Sívertsen mit seinem wütenden Blick. Dieser senkte den Kopf erneut und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Der König hob die halbvolle Flasche und war kurz davor, sie Jón auf den Kopf zu schlagen, als er die Hand im letzten Augenblick wieder senkte. In Wahrheit war er doch ein wenig neugierig.
»Wie kannst du es wagen, ihn für unschuldig zu erklären?«, fragte der König.
»Verzeiht, Majestät, dass ich so spreche, aber die beiden haben nichts verbrochen, was eine Todesstrafe gerechtfertigt hätte, Eure Hoheit. Derartiges hätte mein Vater nie getan«, antwortete Jón. »Und seine Haushälterin schon gar nicht.«
»Was für ein Unsinn!«, rief der König. »Das sagen sie alle, wenn sie auf dem Schafott stehen. Jetzt aber los, zurück zur Arbeit! Und du kannst deinem Herrgott danken«, sagte er und wedelte mit der Flasche in Richtung der zerstörten Uhr, »dass ich dich nicht … nicht auf der Stelle ins Stokhus bringen und einsperren lasse! Ja, ins Stokhus habe ich gesagt!«
Mit diesen Worten stürmte der König hinaus, drehte sich aber auf halbem Weg noch einmal um und stapfte zurück zum Uhrmacher.
»Falsche Vaterschaft?!«
»Mein Vater hat einen anderen Mann dazu überredet, sich zu seinem Kind zu bekennen, Eure Majestät«, sagte Jón. »Das war sein einziges Vergehen, Hoheit.«
Der König knurrte etwas und verpasste Jón Sívertsen eine Ohrfeige, bevor er verschwand. Jón blieb zurück, vor allem erstaunt über seine eigene Dreistigkeit, er verstand nicht, was ihn geritten hatte, so mit seinem König zu sprechen. Von sich aus hätte er die Sache nie zur Sprache gebracht, aber der König hatte ihn schließlich direkt gefragt. Er ließ sich auf den Hocker fallen, betrachtete das defekte Uhrwerk und bereute seine Worte. Was bildete er sich ein, die Taten des hochwohlgeborenen Vaters seines Königs zu hinterfragen, König Christian VII. von Dänemark, Island, Grönland und den Färöer-Inseln, Herzog von Schleswig und Holstein und Herrscher über irgendwelche entfernten Orte in der Südsee, die er nicht einmal nennen konnte?
Dass er eigentlich nur die Wahrheit gesagt hatte, war ihm in dem Moment kein Trost. So sprach man nicht mit seinem König, höchstens wenn man eine Revolution oder einen Aufstand plante, und Jón Sívertsen, ehemals Sigurðsson, würde nie auf die Idee kommen, eine Revolte anzuzetteln.
Tagelang traute er sich kaum, das Schloss zu betreten, um an der Habrechtsuhr zu arbeiten, aus Angst, er könnte dem König über den Weg laufen und wieder etwas Dummes sagen. Wenn er es dennoch wagte, schlich er durch den Kücheneingang, huschte an der Wand entlang und versuchte, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In der Sammlung angekommen, fuhr er damit fort, die Uhr zu zerlegen und die einzelnen Bauteile aufzulisten, um sich ein Bild davon zu machen, wie die Mechanik funktionierte und was fehlen könnte. Er meinte, mit der Zeit immer besser zu verstehen, wie die unterschiedlichen Elemente zusammenarbeiteten und welche Überlegungen hinter der komplexen Konstruktion des Uhrwerks steckten. Dabei vertraute er vor allem auf seinen Verstand und sein Wissen aus Büchern sowie auf die Anmerkungen und Skizzen, die sein Meister hinterlassen hatte, nachdem er sich vor langer Zeit einmal mit der Uhr befasst hatte. Manchmal stellte sich Jón vor, wie es wohl wäre, nach Straßburg zu reisen und Habrechts Meisterwerk im dortigen Dom zu sehen. Er fragte sich, ob es ihm bei der Arbeit helfen könnte, aber im selben Moment wurde ihm bewusst, dass ein armer Mann wie er in nächster Zeit wohl kaum die Gelegenheit für eine derartige Reise bekommen würde, und vermutlich für den Rest seines Lebens nicht.
Und so vergingen Tage und Wochen, ohne dass der König wieder zu Jón in das Lager taumelte. Der Wärter der Sammlung half ihm dabei, einige der verkauften Teile wiederzufinden. Viele davon wurden bei einem Apotheker in der Købmagergade gefunden, darunter die große Scheibe, die alle Tage des Jahres anzeigte, auch wenn sie in einem ziemlich schlechten Zustand war. Andere mussten neu angefertigt werden, wie etwa die Darstellungen der verschiedenen Lebensalter, und das wollte Jón selbst machen. Mit Holz und Metall konnte er gut umgehen, und die vorhandenen Teile würden ihm als Vorbilder dienen.
Eines Abends kurz vor Mitternacht, nachdem das neue Jahr bereits Einzug gehalten hatte, machte Jón sich gerade bereit, zurück in seine Wohnung über der Uhrmacherwerkstatt zu gehen, als er jemanden kommen hörte. Er meinte, die Schritte von König Christian VII. zu erkennen, und plötzlich stand der Monarch tatsächlich vor ihm. Wie bei seinem letzten Besuch trug er ein Nachtkleid und keinerlei höfischen Schmuck, die weißen Haarsträhnen standen vom Kopf ab, die Wangen glühten und seine leicht vorstehenden Zähne, die gerade noch an den Resten eines Hirschs aus Seeland gekaut hatten, strahlten gelb. Den Hirsch hatte der Kronprinz auf den verschneiten Feldern bei Sorø erlegt. Christan VII. kam gerade aus der Küche, wo er manchmal abends vorbeischaute, um vor dem Schlaf noch ein wenig zu naschen. Seine Statur und Bewegungen waren zierlich, sein Gesicht schmal und die Nase stattlich, die Augen standen ein wenig hervor und der Mund hatte beinahe weibliche Züge. Jón Sívertsen kannte die Geschichten, die besagten, dass er es in der Kindheit nicht immer leicht gehabt hatte, weil sein Vater, König Friedrich, ihn selbst für die kleinsten Vergehen hart bestrafte.
Der König hatte eine Flasche Rotwein aus der Küche dabei und besah sich lange die einzelnen Teile der Uhr, die Jón auf dem gesamten Arbeitstisch, dem Boden, den Regalen und sogar den Fensterbänken ausgebreitet hatte. Während der König die Unordnung betrachtete, stand Jón regungslos neben ihm. »Aha«, brummte der König, trank von dem Wein und stocherte mit dem Nagel des kleinen Fingers in den Zähnen, wo sich noch ein Stück von dem Hirsch versteckte.
Jón hielt sich zurück, schielte aber immer wieder zum König hinüber, es machte ihn verlegen, ihn in diesem Aufzug zu sehen. Alle wussten, dass Christian VII. in seinem Königreich keinerlei Macht hatte, und das schon seit Langem nicht mehr. Schon vor vielen Jahren hatte er sie einmal aus der Hand gegeben, an seinen deutschen Leibarzt und den Liebhaber der Königin Caroline Mathilde, der Name des Mannes war Jón entfallen, aber er wusste noch, dass die Geschichte ein entsetzliches Ende genommen hatte, der Arzt war enthauptet, und Caroline, Gott hab sie selig, verbannt worden. Der Erbprinz Friedrich, Halbbruder des Königs, übernahm die Führung im Königreich, aber der Frieden hielt nicht lange an, und nach einem weiteren Staatsstreich übernahm Christians Sohn, der Kronprinz Friedrich, mit nur sechzehn Jahren die Regierungsgeschäfte im Namen seines Vaters. Gerüchte, dass der König, der gerade vor dem Uhrwerk in seinen Zähnen stocherte, nicht ganz bei klarem Verstand, ja sogar regelrecht verrückt sei, machten – wenn Jón es richtig verstanden hatte – schon lange im Schloss Christiansborg die Runde. Außerdem hieß es, Christian lebe im Schloss mehr oder weniger in Isolation, und er sei für nichts weiter zu gebrauchen, als seine Unterschrift unter die fertigen Gesetzestexte zu setzen.
»Was hat es mit dir und dieser Uhr auf sich?«, fragte der König, als hätte ihr letztes Gespräch nie stattgefunden.
»Mit Verlaub, Eure Hoheit, ich verstehe nicht, was Ihr meint«, flüsterte Jón. »Entschuldigt meine Unwissenheit, Majestät.«
»Warum denkst du, dass du sie wieder in Gang bringen musst?«, fragte der König. »Du und kein anderer? Warum ausgerechnet du? Du? Du? Du?«
»Ich kenne mich ganz gut mit Uhrwerken aus, Majestät«, antwortete Jón demütig. »Ich befasse mich schon mein ganzes Leben lang mit unterschiedlichen Zeitmessgeräten, Eure Hoheit.«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte der König, verärgert über Jóns Unverständnis. »Aber das können viele andere auch und die stehen nicht hier im Schloss und legen sich mit dieser Uhr hier an. Was zur Hölle kümmert sie dich?!«
Endlich verstand Jón, wie die Frage des Königs gemeint war, und sie brachte ihn in Erklärungsnot. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, was er mit dieser Uhr wollte, zu der er eigentlich keinen Bezug hatte, bloße Neugier hatte ihn zu ihr geführt. Bei ihrem Anblick hatte er eine Art Offenbarung erlebt, die er sich selbst nicht erklären konnte, und so wusste er nicht, was er dem König antworten sollte.
»In aller Aufrichtigkeit, ich weiß es nicht, Eure Hoheit«, stammelte Jón endlich, als er spürte, dass der König wieder wütend wurde, genau wie bei seinem letzten Besuch. »Ich habe als junger Mann während meiner Ausbildung von Habrecht gehört, und mein Meister erzählte mir, dass eine seiner Uhren im Besitz des Königs sei, sie aber schon lange nicht mehr funktioniere und es keinen Weg gebe, sie wieder in Gang zu bringen. Selbst hatte mein Meister sich ebenfalls mit dem grandiosen Uhrwerk befasst, so wie viele andere Uhrmacher auch, doch wie sie alle gab er auf. Als ich dann vor der Uhr stand, kam es mir vor, als … als wäre es meine Aufgabe, sie wieder herzurichten. Vielleicht war es wegen etwas, das ein Dichter damals zu Hause im Breiðafjörður zu mir gesagt hat. Der Mann hieß Eggert. Er war es, der mir als Erster von Habrechts Kunstwerk in Straßburg erzählt hat.«
»Deine Aufgabe?«, fauchte der König.
»Besser kann ich es nicht ausdrücken, Eure Hoheit.«
Der König kratzte sich mit der Flasche am Kopf.
»Gibt es in Island also viele solcher Uhrwerke?«, fragte er, wusste aber nicht, ob er je andere Nachrichten aus der Kolonie bekommen hatte als Berichte von Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Hungersnot. Es war erst etwa ein Jahrzehnt her, als die halbe Insel bei einem Vulkanausbruch in die Luft geflogen war. Die gesamte Jahresernte war zerstört worden, und die Isländer hatten einen Begriff dafür, den er nicht ordentlich aussprechen konnte. Möduhardidi, oder etwas in der Art. So viele Menschen verhungerten, dass die Kolonie jahrelang wenig Einnahmen brachte, wenn überhaupt, und in der Kanzlei hatte jemand sogar vorgeschlagen, die wenigen restlichen Bewohner, die dort noch ausharrten, nach Dänemark zu holen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, ihrem elenden Dasein auf der abgelegenen Insel in den eisigen Meeren zu entkommen.
»Nein, Eure Hoheit, dort gibt es nur wenige Uhren«, sagte Jón Sívertsen. »Die Menschen messen die Zeit auf andere Art und Weise.«
»Haben Uhrmacher dort überhaupt etwas zu tun?«
»Mit Verlaub, Eure Hoheit, nach Abschluss meiner Ausbildung habe ich immer nur hier in Kopenhagen gearbeitet«, antwortete Jón.
»Aha«, sagte der König und blickte seinen demütigen Untertanen lange an. Dann betrachtete er das zerlegte Uhrwerk. Dachte an Island, wo er noch nie gewesen war und auch keiner seiner Vorgänger. Wusste, dass er nie einen Fuß auf die abgelegene Insel setzen würde. Hatte auch überhaupt kein Bedürfnis, dieses kalte, nasse und stürmische Land zu besuchen. Er hatte die seltsamsten Geschichten darüber gehört. Dass Menschen in Torfhäusern lebten und unvorstellbar stanken. Bei dem Gedanken daran hielt er sich das parfümierte Tuch unter die Nase.
»Du weißt, dass es mit der Todesstrafe geahndet wird, wenn man dem König widerspricht oder ihn beleidigt«, sagte er schließlich. »Mit Seiner Hoheit redet, wie du es getan hast. Das ist Hochverrat, würde ich sagen. Schlimmster Hochverrat.«
»Eure Hoheit, verzeiht, ich … ich hatte nicht … es war nie meine Absicht, Euch zu beleidigen, Eure Majestät. Oder das Königreich, Hoheit.«
»Warum behauptest du dann, dass er unschuldig war?«, fragte der König.
»Verzeihung, Majestät, was meint Ihr?«
»Na, dein Vater, warum behauptest du, dass er unschuldig war?«
Jón wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, was für einen Sinn das Gespräch haben sollte. Fürchtete sich vor den möglichen Folgen. Das Letzte, was er wollte, war, den König erneut zu erzürnen, also blieb er regungslos und mit gesenktem Kopf stehen und wagte kaum zu atmen.
»Willst du mir nicht antworten?«, fauchte der König und verpasste Jón Sívertsen erneut eine Ohrfeige.
»Verzeiht, bei allem Respekt, aber er war mein Vater, Eure Hoheit«, brachte Jón schließlich hervor. »Er war unschuldig, Majestät. Mein Vater wurde nach den Gesetzen des Stóridómur zur Höchststrafe verurteilt, aber das …«
»Dein Vater hat gegen die Gesetze verstoßen und es verdient, dafür enthauptet zu werden«, fiel der König ihm ins Wort. »Wenn du mich vom Gegenteil überzeugen kannst, werter Uhrmacher, werde ich dich verschonen, ansonsten erwartet dich das Gefängnis oder Schlimmeres.«
Jón blickte auf. Er sah, dass der König es ernst meinte.
»Eure Hoheit …«
»Nicht alle bekommen diese Möglichkeit, das muss dir klar sein.«
»Aber …«
»Los, vertue deine Zeit nicht mit dummem Gerede«, sagte der König ungeduldig.
»Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Majestät«, stammelte Jón Sívertsen. »Wahrscheinlich begann alles mit dem Tod meiner geliebten Mutter. Sie hatte ihn gewarnt, aber …«
Seit klar war, was bevorstand, war Sigurður nicht vom Krankenbett seiner Frau gewichen. Helga lag seit einem Tag im Fieberwahn, und er wischte ihr regelmäßig den Schweiß von der Stirn und half ihr, kleine Schlucke Wasser zu trinken. Mehr brachte sie nicht hinunter. Ihre letzte Stunde schien geschlagen zu haben.
Ihr Zustand hatte sich rasant verschlechtert, nachdem sie bettlägerig geworden war. Entschlossen hatte sie versucht, so lange wie möglich auf den Beinen zu bleiben, aber irgendwann hatten alle Kräfte sie verlassen, und es gab keine Rettung mehr. Der Anblick quälte Sigurður, aber Helga selbst nahm es mit Fassung, gläubig, wie sie war, hatte sie Vertrauen in ihren Gott und ein besseres Leben im Himmel. Auch ihren Sohn und alle anderen im Haus belastete es sehr mitanzusehen, wie sie innerhalb weniger Wochen dahinsiechte, bis ihr irgendwann jeder Atemzug schwerfiel und sie im Fieberwahn und in ihrem unruhigen Schlaf kaum noch wiederzuerkennen war. Der Tod hatte sie bereits gezeichnet, als sie in den letzten Zügen mit nach hinten gebeugtem Kopf und offenem Mund im Bett lag.
Es überraschte Sigurður, dass Helga inmitten dieses schrecklichen Überlebenskampfes eine alte Sorge zur Sprache brachte, über die sie seit ihrer Verlobung kaum gesprochen hatten. Dennoch war sie immer präsent gewesen, und jetzt, wo Helga wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, wollte sie ihren Mann überreden, seine Tat zu überdenken.
»Vergiss nicht«, flüsterte sie, mehr tot als lebendig, »ich habe dich gewarnt. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass unsere Ehe auf einer Lüge aufbaut …«
»Nicht doch, Helga, mach dir darüber keine Gedanken«, sagte er. »Das ist längst Vergangenheit. Mach dir deshalb keine Sorgen. Versuch einfach, dich auszuruhen.«
»Nimm dich in Acht«, flüsterte sie. »Du musst vorsichtig sein.«
»Warum machst du dir deswegen Sorgen? Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen, meine Liebste.«
»Wahrscheinlich hätten wir … hätten wir besser nie geheiratet«, stöhnte Helga und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Er kannte ihre Lage, als sie geheiratet hatten. Sie hatte ihm selbst erzählt, dass sie ihren Vater um Erlaubnis gebeten hatte, den Kindsvater zu heiraten, doch er hatte es abgelehnt. Sigurður war überrascht gewesen. Noch hatte man ihr die Schwangerschaft nicht angesehen, und ihm wäre nicht in den Sinn gekommen, dass sie bereits mit einem anderen Mann das Bett geteilt hatte. Gerüchte erreichten ihn immer erst spät, und für gewöhnlich nahm er sie nicht ernst.
»Ich bin nicht unversehrt«, hatte sie ihm vor der Kirche in Saurbær zugeflüstert.
»Was meinst du?«, fragte er.
»Unehelicher Beischlaf. Unzucht. Wie auch immer man das nennt. Ich bin schwanger.«
Sie war zu ihm gekommen, als er gerade an der alten Kirche in Saurbær bei Rauðisandur gearbeitet hatte. Der Pfarrer hatte ihn angeheuert, die Torfwände auszubessern und das Dach aus Treibholz zu reparieren, das in den Unwettern des Winters zu Schaden gekommen war. Er hatte nicht gewusst, dass Helga gerade ihre Verwandten in Saurbær besuchte, bis sie auf dem Friedhof plötzlich vor ihm stand. Schnell versuchte er noch, ein wenig Schmutz von seiner Kleidung zu wischen, denn er hatte im nahegelegenen Moor Torfsoden gestochen und damit die Wände der Kirche ausgebessert, was keine saubere Arbeit war.
Helga wollte Sigurður eine Bitte unterbreiten und wählte ihre Worte mit Sorgfalt. Sie erwarte ein Kind von einem Arbeiter ihres Vaters. Gunnar hieß er, und sie hätten beschlossen, dass er zu ihrem Vater gehen und um ihre Hand anhalten würde. Es war ein kurzes Gespräch gewesen. Dazu würde es niemals kommen, hatte Helgas Vater nur gemeint. Daraufhin erklärte Helga ihm die Situation, aber er erzürnte sich sehr und beschimpfte sie wild. Noch schlimmer erging es aber Gunnar, er wurde entlassen und vom Hof vertrieben.
Sigurður hörte ihr aufmerksam zu. Gunnar kannte er nicht persönlich, wusste aber, wer er war. Er galt als kräftiger Arbeiter, hatte aber kein Geld, weshalb die Sache für Helgas Vater klar war. Sigurður wusste auch, dass Helga viele Freier in der Gegend hatte, er war also nicht der einzige. Aber er war nicht dumm. Sie steckte in der Klemme und war damit zu ihm gekommen. Schon vor langer Zeit hatte er ein Auge auf sie geworfen und wusste, dass sie ihm gegenüber auch nicht abgeneigt war. Sie waren nicht weit voneinander entfernt aufgewachsen und kannten sich seit ihrer Kindheit. Er hatte schon immer versucht, ihre Gunst zu erwerben. Immer wieder waren sie sich in Sauðlauksdalur oder am Hafen von Örlygshöfn begegnet, und vor nicht allzu langer Zeit hatte er ihr gegenüber eine mögliche Verlobung erwähnt. Sie hatte ihm nichts versprochen, ihn aber auch nicht direkt abgelehnt. Vielleicht hatte er es zu umständlich formuliert. Es war nicht einfach für ihn gewesen, die richtigen Worte zu finden. Er meinte, er habe schon lange gehofft, dass sie seine Frau werden würde.
Womöglich hatte Gunnar sich wortgewandter ausgedrückt. Sie auf eine Art beeindruckt, die ihm nicht gegeben war.
»Es ist nie zu spät, Reue zu zeigen«, sagte Helga und ließ den Blick über den roten Muschelsand schweifen. »Ich hätte dir besser zuhören sollen. Wenn du diese gefallene Frau immer noch willst, ist sie dein.«
»Und das Kind?«, fragte Sigurður.
»Was meinst du?«
»Die Vaterschaft.«
»Niemand muss davon erfahren«, sagte Helga.
»Wäre es nicht am besten, wenn ich mich als der Vater ausgebe?«
»Das musst du nicht.«
»Ich denke, ich sollte offen zu dem Kind stehen«, sagte Sigurður. »Damit unterbinden wir alle Gerüchte. Ich werde ihm ein Vater sein, und du wieder eine ehrenhafte Frau. Ich will nicht, dass schlecht über dich geredet wird, und das ist die einzige Möglichkeit.«
Helga schüttelte den Kopf.
»Das wäre eine Lüge«, sagte sie.
»Das ist mir bewusst«, meinte Sigurður.
»Es wird nichts Gutes daraus entstehen, die Menschen so zu täuschen. Ich will nicht, dass du das für mich tust. Vor allem nicht wegen etwas, das allein meine Schuld ist.«
»Dein Vater sieht das bestimmt anders.«
»Auch ihm musst du keinen Gefallen tun.«
»Dann mache ich es für mich selbst«, sagte Sigurður.
Immer noch von Kopf bis Fuß mit Erde verdreckt ging er auf sie zu und küsste sie.
»Die Beziehung zwischen dir und Gunnar ist also beendet«, sagte er.
»Die ist beendet«, sagte Helga.
Drei Tage später wollte Sigurður bei Helgas Vater um ihre Hand anhalten. Er ging davon aus, auf Zustimmung zu stoßen. Helgas Vater Jón und seine Brüder waren fleißige Bauern und Fischer in Hænuvík, sie hatten sich ein stattliches Vermögen aufgebaut und waren stolz darauf. Er war nicht der Erste, der um Helgas Hand anhielt, aber bisher waren alle wieder weggeschickt worden. Sigurður hatte seinen Besuch nicht angekündigt, aber ein frisches Hemd unter der Jacke angezogen und sein bestes Pferd gesattelt. Auf dem Weg übte er, was er sagen wollte: Er habe schon vor einer Weile ein Auge auf Helga geworfen und könne gut für sie sorgen, wie ihr Vater bereits wisse, sei er ein guter Bauer, habe Gesinde, Milchkühe und eine ansehnliche Schafherde. Ein gottgefälliger Bürger, der lesen und schreiben könne und auch niemandem versprochen sei.
Das wollte er den Brüdern erklären und ihnen dabei auf Augenhöhe gegenübertreten. Von Beginn an hatten sie als Fischer gezeigt, dass sie hart im Nehmen und wenig zimperlich waren. Sigurður hatte aber schon öfter mit ihnen zu tun gehabt und wusste auch, dass sie bei all dem gerechte Männer waren. Sie galten als gute Arbeitgeber, waren kluge Geschäftsleute, kannten keine Gnade, wenn sie meinten, Unrecht zu sehen, und ließen sich von niemandem übers Ohr hauen. Nicht lang war es her, dass der dänische Kaufmann von der Handelsgesellschaft bei Vatneyri versucht hatte, sie über den Tisch zu ziehen, woraufhin sie zu dritt zu ihm nach Hause gegangen waren, ihn vor seiner gesamten Familie gepackt, zum Meer geschleift und beinahe ertränkt hatten.
Helgas Vater und einer seiner Brüder nahmen am Ufer gerade einen Grönlandhai aus, als Sigurður auf sie zugeritten kam. Sie hatten sechs ansehnliche Tiere weit draußen im Breiðafjörður gefangen und blickten auf, als er vom Pferd stieg und sie begrüßte. Von Weitem hatte Sigurður bereits den Gestank vom Ausschmelzen des Lebertrans gerochen. Die Brüder hatten mit dem Haifang gute Profite gemacht, seit der Tran in ganz Europa für Öllampen benutzt wurde, doch sie strebten stets nach mehr. Sigurður hatte gehört, dass es bei der Auseinandersetzung mit dem Kaufmann um die Preise für den Hailebertran gegangen war.
Er nahm seinen Hut ab, spuckte sich auf die Hand und strich seine Haare glatt. Erst stellte er ein paar Fragen zu dem Hai, wo und wie sie ihn gefangen hätten. Sigurður war schon oft mit den Brüdern aufs Meer hinausgerudert, um zu fischen. Sie heuerten ihn immer wieder an, beteiligten ihn am Gewinn und wussten seinen Fleiß und sein Geschick zu schätzen. Doch dann kam er endlich zur Sache. Wie sie natürlich wüssten, habe er Helga schon immer bewundert und wolle nun um ihre Hand anhalten. Die Brüder würden ihn ja bereits als ehrenwerten Mann kennen und müssten sich nicht sorgen, er könne ihr ein gutes Heim bieten. Er sprach mit ihnen auf Augenhöhe, so wie er es vorgehabt hatte. Die Brüder ließen ihn ausreden, und als Sigurður seine Bitte fertig vorgetragen hatte, wussten sie nichts gegen das Bündnis einzuwenden und schlugen vor, die Hochzeit so früh wie möglich zu feiern. Es dürfe nicht zu lange damit gewartet werden. Sie hätten sogar bereits überlegt, ihm den Vorschlag für diese Ehe selbst zu unterbreiten.
»Oh …? Ich wusste nicht …«
»Ich nehme an, sie hat dir alles erzählt«, unterbrach ihn Helgas Vater. »Über ihren Zustand. Warum das schnell gehen muss.«
Sigurður nickte.
»Ich weiß um ihre Lage«, sagte er. »Darüber haben wir gesprochen.«
Die Brüder sahen einander an.
»Sind wir uns also einig, dass die Hochzeit innerhalb von zwei Wochen stattfinden wird?«, fragte der Bruder, der Grímólfur hieß. Er rammte das Abhäutemesser in einen der Haie und ließ es dort stecken.
Sigurður sah Jón an.
»Sie hat mir erzählt, dass du den Kindsvater abgelehnt hast.«
»Weißt du, wer er ist?«, fragte Grímólfur, der als hitzköpfig galt, unberechenbar und schwierig im Umgang. Er war es, der den Angriff auf den Kaufmann angezettelt hatte.
»Sie hat von Gunnar gesprochen. Der für euch gearbeitet hat, bis vor Kurzem zumindest.«
»Er konnte die Finger nicht von ihr lassen«, sagte Jón und spuckte auf die Steine am Ufer. »Und dann ist er zu mir gekommen, wie ein jämmerlicher Köter, und hat um ihre Hand angehalten. Dachte, damit hätte sich die Sache erledigt. Hat dem Mädchen ein Kind gemacht, und wir sollten einfach zustimmen und sagen, Gott segne euch bis in alle Ewigkeit und aus.«
Die Brüder waren ganz aufgebracht.
»Gunnar ist nicht der richtige Mann für sie«, sagte Jón.
»Er ist nie im Leben gut genug«, stimmte Grímólfur seinem Bruder zu.
»Gegen eine Ehe mit dir haben wir aber nichts einzuwenden«, sagte Jón, nahm einen Stein auf und schliff mit schnellen Bewegungen sein Messer. »Eine Vereinigung unserer Familien wäre für uns beide von Vorteil.«
»Vor allem für dich«, sagte sein Bruder und grinste Sigurður zu, der die Bemerkung unkommentiert ließ. Seine Beziehung zu Helga hatte nichts mit ihren Geschäften zu tun.
»Es darf sich nicht herumsprechen, dass eurer Verbindung die Unzucht mit diesem Lumpen vorausgeht. Wenn du sie zur Frau haben willst, musst du auch zu dem Kind stehen«, sagte Jón. »Gegen eure Ehe haben wir nichts einzuwenden, aber das ist die Bedingung.«
»Damit habe ich gerechnet«, sagte Sigurður, während er nach den Zügeln seines Pferdes griff und sich auf den Rücken schwang. »Lasst uns nächste Woche Samstag ins Auge fassen. Alles Gute mit dem Hai.«
Sigurður hielt etwas Wasser an Helgas Lippen, aber sie konnte nicht mehr trinken. Kurz darauf hörte sie auf zu atmen, und er wusste, dass sie verschieden und in einer besseren Welt angekommen war. Er schloss ihre Augen, strich ein letztes Mal über ihre Wangen und legte ein schwarzes Seidentuch über ihr Gesicht, begleitet von einem kurzen Gebet. Danach bekreuzigte er sich und machte auch über der Leiche ein Kreuzzeichen. Ihr Leiden hatte ein Ende gefunden.
Der König hatte sich ein wenig beruhigt. Seine Hoheit lauschte still und mit ernster Miene der Geschichte des isländischen Uhrmachers, der sich so liebevoll der Habrechtsuhr angenommen hatte, die in Hunderte Einzelteile zerlegt vor ihm lag. Er stellte nicht viele Fragen, aber fand heraus, dass Jón Sívertsen der Sohn von Sigurður und der verstorbenen Helga war und einen vollbürtigen Bruder hatte, aus dem in der Gegend dort in Nordwest-island ein wohlhabender Bauer geworden war und der ihn während seiner Ausbildung zum Uhrmacher seinerzeit unterstützt hatte. Außerdem hatten sie noch einen Halbbruder mütterlicherseits, der Einar hieß, und einen jüngeren Halbbruder, den Sohn von Sigurður und seiner Haushälterin.
»Einar, sagst du?«
»Ja, Majestät.«
»Das ist dann wohl der Sohn von Gunnar, dem Lumpen«, sagte der König. »Habt ihr euch gut verstanden?«
»Immer, Eure Hoheit«, antwortete Jón Sívertsen.
»Und das Verhältnis zwischen ihm und Sigurður?«
»Unser Vater hat Einar großgezogen wie einen eigenen Sohn, Eure Hoheit.«
Der König räusperte sich, er wirkte plötzlich beinahe verlegen und meinte, er müsse ins Bett.
»Sie hat sich also den Nächstbesten gesucht«, sagte er noch.
»Majestät?«
»Das muss schwer für ihn gewesen sein«, gähnte der König und verschwand in seine Gemächer.