Der leere Thron - Rudolf Stratz - E-Book

Der leere Thron E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

"Sie wissen, Exzellenz: Ich habe, nach dem spurlosen und geheimnisvollen Verschwinden des Prinzen Moritz vor nun gerade zehn Jahren, in jener Nacht von dem 8. auf den 9. Februar 1900, doch niemals an seinen Tod geglaubt. Ich war überzeugt, daß jene unbekannte Hand, die ihm damals auf Nimmerwiedersehen leise von innen die Tür des verschwiegenen, in einer Woche von heute ab wohl schon dem Abbruch anheimfallenden Pavilons im Schloßgarten öffnete – daß jene Hand eine Frauenhand war – wäre sonst Prinz Moritz er selbst gewesen? – Aber nicht, daß es eine Mörderhand war." Als Stadtminister Bock diesen anonymen Brief erhält, stockt ihm der Atem. In den nächsten Tagen soll Prinz Moritz feierlich und amtlich als verschollen und tot erklärt, wofür Bock selbst an leitender Position mitverantwortlich ist. Sollte das Gerücht stimmen? Der Prinz tatsächlich doch noch leben? Für den gütigen Freiherrn von Wies wäre das eine Erlösung aus all seinem Kummer. Denn sollte der Prinz für tot erklärt werden, würde die Erbfolge an das letzte noch lebende Mitglied des Hauses Büringen, die Prinzessin Wilma, übergehen ... Eine ereignisreiche Kette von Ereignissen beginnt ihren Lauf zu nehmen. Stratz' spannender Roman spielt zwischen Fastnachtssamstag und Aschermittwoch im Jahre 1910 in der fiktiven kleinen Residenzstadt Büringen.Rudolph Heinrich Stratz (1864–1936) war ein deutscher Schriftsteller, der zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und vor allem Duzende Romane verfasst hat. Stratz verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wo er auch das Gymnasium besuchte. An den Universitäten Leipzig, Berlin, Heidelberg und Göttingen studierte er Geschichte. 1883 trat er in das Militär ein und wurde Leutnant beim Leibgarde-Regiment in Darmstadt. 1886 quittierte er den Militärdienst, um sein Studium in Heidelberg abschließen zu können. Zwischendurch unternahm er größere Reisen, z. B. 1887 nach Äquatorialafrika. Mit dem 1888 und 1889 erschienenen zweibändigen Werk "Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 in Europa" versuchte der Vierundzwanzigjährige erfolglos, ohne formales Studium und mündliches Examen zu promovieren. 1890 ließ er sich in Kleinmachnow bei Berlin nieder und begann, Schauspiele, Novellen und Romane zu schreiben. Von 1891 bis 1893 war er Theaterkritiker bei der "Neuen Preußischen Zeitung". Von 1890 bis 1900 verbrachte er wieder viel Zeit im Heidelberger Raum, vor allem im heutigen Stadtteil Ziegelhausen. Ab 1904 übersiedelte er auf sein Gut Lambelhof in Bernau am Chiemsee, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1906 heiratete er die promovierte Historikerin Annie Mittelstaedt. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitarbeiter im Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung. Bereits 1891 hatte er sich mit dem Theaterstück "Der Blaue Brief" als Schriftsteller durchgesetzt. Doch vor allem mit seinen zahlreichen Romanen und Novellen hatte Stratz großen Erfolg: Die Auflagenzahl von "Friede auf Erden" lag 1921 bei 230 000, die von "Lieb Vaterland" bei 362 000. Ebenso der 1913 erschienene Spionageroman "Seine englische Frau" und viele weitere Werke waren sehr erfolgreich. 1917 schrieb er unter Verwendung seines 1910 erschienenen zweibändigen Werkes "Die Faust des Riesen" die Vorlage für den zweiteiligen gleichnamigen Film von Rudolf Biebrach. Friedrich Wilhelm Murnau drehte 1921 nach Stratz' gleichnamigem mystischen Kriminalroman den Spielfilm "Schloß Vogelöd". Den 1928 als "Paradies im Schnee" erschienenen Roman schrieb Stratz 1922 nach Aufforderung von Ernst Lubitsch und Paul Davidson als Vorlage für den 1923 unter der Regie von Georg Jacoby realisierten gleichnamigen Film. 1925 und 1926 erschienen seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden. Zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, wird das Werk von Rudolph Stratz nun wiederentdeckt.-

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Rudolf Stratz

Der leere Thron

Roman

Saga

Der leere Thron

© 1922 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507186

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com.

I.

Fastnachtssamstag

„Büringen, im Februar 1910.

Es sind schon häufig, mein teuerster dirigierender Staatsminister, im Leben der Völker Abenteurer aufgestanden, die sich für verschollene Könige und Fürsten, für totgeglaubte Thronfolger ausgaben und für einige Zeit den Beifall der betörten Menge fanden. Das ist nicht neu. Ganz neu und unerhört aber ist es, dass seit einigen Tagen hier in unserer Residenzstadt Büringen ein Mann unter uns herumgeht und, in die Schleier zehnjähriger Vergessenheit gehüllt, es offenbar ableugnet und kalt von sich weist, der langgeschaute, tiefbetrauerte, heissersehnte Erbe unseres in Bälde verwaisten Thrones, der Letzte aus unserem uralten aussterbenden Herrschergeschlecht der Landgrafen von Büringen, zu sein.

Mit anderen Worten, verehrteste Exzellenz Dr. Bock — und während ich dies schreibe, zittert meine Feder und fliegen meine Pulse, und ich schreie es, noch nicht auf offenem Markt, aber Ihnen ins Ohr:

Prinz Moritz lebt! Prinz Moritz lebt!“

Der elfenbeinfarbene Briefbogen mit der Freiherrnkrone fiel auf die grüne Schreibtischplatte. Der landgräfliche Staatsminister Dr. Emil Bock, „d’r Ämil“, wie ihn seine Freunde nannten, sprang auf. Kurz und dick, wie ein Stöpsel, stand er da. Er schnaufte. Er wischte sich mit dem rotgewürfelten Sacktuch die Stirn unter dem borstigen Grauhaar. Er rückte die Hornbrille vor den kleinen schlauen Augen zurecht. Er trat an das Fenster.

Die hohen Scheiben zitterten und schwammen unter den Regengüssen des Februarsturmes. Undeutlich spiegelte sich dahinter das kribbelnde Gewimmel der Residenzstrasse unten — nasse schwarze Droschkendächer, nasse schwarze Regenschirme, papageibunte grelle Farbenklexe in dem Grau: durchweichte weisse Pierrots, flatternde rote Dominos, verschnupfte Bajazzos: Fastnacht trotz Gänsehaut und Zähnegeklapper. Fastnacht am Rhein! Durch das Pritschengeklatsch unten im Zimmer oben die Stimme aus dem Brief:

„Prinz Moritz lebt! Prinz Moritz lebt!“ —

Der kleine Bock, der dirigierende Staatsminister des Landgrafentums Büringen, zündete sich eine Pfälzer Zigarre an. „Als norr ruhig, Alterle!“ mahnte er laut sich selbst. Dann las er weiter.

„Wir schreiben jetzt den Februar des Jahres 1910. Sie wissen, Exzellenz: Ich habe, nach dem spurlosen und geheimnisvollen Verschwinden des Prinzen Moritz vor nun gerade zehn Jahren, in jener Nacht von dem 8. auf den 9. Februar 1900, doch niemals an seinen Tod geglaubt. Ich war überzeugt, dass jene unbekannte Hand, die ihm damals auf Nimmerwiedersehen leise von innen die Tür des verschwiegenen, in einer Woche von heute ab wohl schon dem Abbruch anheimfallenden Pavillons im Schlossgarten öffnete — dass jene Hand eine Frauenhand war — wäre sonst Prinz Moritz er selbst gewesen? — Aber nicht, dass es eine Mörderhand war.

Vielleicht stammt diese vorgefasste Meinung und Hoffnung aus der wahrhaften Freundschaft, die mich, immerhin nur einen schlichten Baron Wies, mit dem Erben der Krone verband. Denn wahrlich: ich habe ihn geliebt! mit all den Rätseln und Widersprüchen seiner reichen Natur. Ich habe alle die verschiedenen Menschenseelen geliebt, die sich in Prinz Moritz’ Fürstenseele ein Stelldichein gaben, ineinander verschwammen, miteinander stritten, ihn vom Himmel durch die Welt zur Hölle, durch alle Höhen und Tiefen der Menschlichkeit auf und nieder warfen.

Ich habe diesen Prinzen geliebt. Unverwischt durch zehn Jahre steht sein Menschenbild vor mir. Ich sehe das Spiel aller guten Geister um die Wölbung seiner hohen Stirne, ich sehe tollen Übermut und tiefe Schwermut zugleich in seinen dunklen Augen. Ich sehe das beredte Zucken seiner Lippen — bitter: der künftige Kronenträger auf frierender einsamer Höhe, und weich: der Liebling der Frauen. Ach — nur zu sehr ihr Liebling! Sonst wäre es ja nicht zu diesem dunklen Ende vor zehn Jahren gekommen ...

Und dieses Bild, das in unserem Innern lebt, sollen wir uns ohne Not zerstören? In den nächsten Tagen soll Prinz Moritz feierlich und amtlich als tot und verschollen erklärt werden? Sie selber, verehrtester Staatsminister, wollen heute vormittag diesen Schritt vor dem versammelten Landtag rechtfertigen?“

Der kleine Bock warf den Brief hin und lief durch das Zimmer. Er schaute auf die Strasse. Die Tropfen prasselten an das Glas. Unten stiebten die Regenschauer. Leute mit grasgrünen Zylindern, feuerfarbenen Nasen, himmelblauen Pluderhosen tanzten in der Nässe. „Ha! Wer is denn nachher der ärgschte Narr?“ fragte sich der Minister und betrachtete seine kurze stämmige Gestalt im Spiegel: fünf Fuss Gewaltmensch, mit dem nicht gut Kirschen zu essen war. Er trat an den Mitteltisch. Da lag die Tagesordnung für die heutige Landtagssitzung. Die Anfrage des Abgeordneten Meissl und Genossen:

„Ist es dem Staatsministerium bekannt, dass der zur Zeit regierende Landgraf Hugo XIV. seit mehr als zwanzig Jahren in völliger Geistesumnachtung lebt und seine Auflösung, nach dem Gutachten der behandelnden medizinischen Autorität, des Psychiaters Professor Dr. Roller, in der allernächsten Zeit zu erwarten steht?

Ist es dem Staatsministerium ferner bekannt, dass das Herrscherhaus Büringen ausser dem kranken Landgrafen Hugo XIV. nur noch einen einzigen männlichen Sprossen aus einer entfernten Seitenlinie in Gestalt des seit zehn Jahren verschollenen Prinzen Moritz zählt?

Ist es dem Staatsministerium endlich bekannt, dass im Falle der Verschollenheitserklärung des Prinzen Moritz die Erbfolge an das letzte noch lebende Mitglied des Hauses Büringen, die Prinzessin Wilma, die Schwester des obigen Prinzen, übergeht, und dass, falls auch diese Prinzessin sich der Thronfolge entschlagen sollte, unser Landgrafentum Büringen ohne irgendeinen angestammten Herrscher dasteht?

Was gedenkt das regierende Staatsministerium unter diesen Umständen zu tun, um die durch die Hausgesetze nach zehnjähriger Verschollenheit vorgeschriebene Toterklärung des Prinzen Moritz solange hinauszuschieben, bis Gewissheit darüber besteht, dass Prinz Moritz wirklich tot ist?“

„Exzellenz, der Wagen ist vorgefahren. Die Landtagssitzung beginnt in einer Viertelstunde.“

Der Staatsminister scheuchte den eingetretenen Diener: „Louis, lass mir mei’ Ruh’!“ und griff, wieder allein, nach dem Brief des Freiherrn von Wies.

„... Sie werden mir erwidern, meine teure Exzellenz, Sie seien durch die Hausgesetze gebunden. Es sei Ihre Pflicht, den Prinzen für tot erklären zu lassen, wenn er zehn Jahre hindurch kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, und dieser verhängnisvolle Zeitraum ist in den nächsten Tagen, wenn sich die Fastnacht zum zehnten Male jährt, abgelaufen. Eben darum unterbreite ich Ihnen in fliegender Hast und höchster Not der Stunde hier ein erschütterndes Erlebnis von gestern abend.

Mein Beruf, lieber Staatsminister, ist, keinen Beruf zu haben. Diese Tätigkeit nimmt mich ganz in Anspruch. Ich bin ein Zuschauer des Lebens. Ich sitze als Philosoph im Sperrsitz der Schöpfung und betrachte mir hinter den Kulissen die Weltbühne, sei es in Indien oder Japan, sei es hier in unserer guten Residenz Büringen.

So schlenderte ich gestern um ein Viertel vor acht, bei völliger Dunkelheit, von der Promenade her auf den Altmarkt. Das Bild des Prinzen Moritz stand vor meiner Seele. Denn ich war eben da draussen an der Villa der Gräfin Bruhn vorbeigekommen, jenem geheimnisvollen Haus, in dem sich seit Jahr und Tag seiner Besitzerin und ihrem spiritistischen Anhang der Geist des Prinzen Moritz durch Klopftöne und kalten Hauch in der Trance des Mediums manifestiert. Es ist Ihnen ja bekannt, Exzellenz Bock: Sibylle Bruhn war einst seine Vertraute, seine Freundin, seine — die Feder ist nicht so plauderhaft wie ich — sie steht in meiner Hand vielsagend still — also jedenfalls, die verwitwete Frau Gräfin Bruhn glaubt ebenso steif und fest an den Tod des Prinzen Moritz wie drüben im Landtag der unermüdliche Abgeordnete Meissl und seine Leute an dessen Leben. Welche Boten aus der vierten Dimension gerade der schönen Gräfin Sibylle von uns allen allein das nächtliche Geheimnis jenes Pavillons im Schlosspark verrieten? ... Genug! ... Die Aufregung des Augenblicks geht bei mir über Takt und Mass des Weltmanns hinweg.“

Das Telephon auf dem Schreibtisch klingelte. Der Staatsminister horchte: „Wer ist da? Der Kammerpräsident? ... Schöne gute Morge, Badstübner! Wie? Die Landtagssitzung hat angefangen? Ich komm, liebschter Professor! Ich bin alleweil im Begriff, wegzufahre.“

„Schluss! Uff! Ihr Männer! Was sind das für Sache?“ Wieder der Brief des Baron Wies:

„Die Fenster bei der Gräfin Bruhn waren matt erleuchtet und verhängt. Ich sah Schatten hinter den Vorhängen. Das Gedränge der dort versammelten Geisterseher zauberte mir mit einem Schlag meinen Prinzen Moritz wieder in die Erinnerung zurück. Ich sah wieder seine dunkelbraunen, heissen, oft so wehen, oft so spöttischen, oft so herrscherhaft leuchtenden Augen vor mir. Ich las in diesen Augen seine wunde Seele, wie er sie mir so oft auf einsamen Ritten, bei Mondscheinwanderungen, in nächtlichen Gesprächen am Kamin offenbart hat — in diesen Augen, in denen ein fürstliches Jahrtausend mit allem Freud und Leid von dreissig Vorfahren wohnte, bis hinab zu ihm, dem letzten des Geschlechts, in einer Zeit, in der die Fürsten sterben.“

Schon wieder das Telephon. „Herrgottdunnerschlag! Wer? ... Lieber Badstübner — was willscht denn denn noch? Ich soll komme? Der Abgeordnete Meissl spricht? Wie? Der Mann redet nit, der kreischt was zusamme? Gege die Regierung, die den Prinzen Moritz für tot erkläre will? Die halbe Kammer rechts schreit mit? Sie laufe Sturm gegen ’s Minischterium? Wartet norr! Ich komm, Badstübner! Ich komm!“

Der kleine Bock stand breitbeinig im Zimmer. Las, zornmütig, mit geblähten Nüstern, den Schluss des Briefes.

„Auf dem Altmarkt kam mir ein Vorbote des Karnevals entgegen: der Närrische Kleine Rat, der im Viererzug zur Narrhalla fuhr. In den Kutschen würdige Grauköpfe mit Schellenkappen und Pappnasen. Mich freute das ernste Bild. Fastnacht ist die grosse Zeit der Wahrheit. Da lässt man die Masken fallen, indem man sie vorbindet.

Viel Volk zieht lärmend neben der Funkengarde, deren Kindergewehre über die Menge ragen. Die Fastnachtsklappern von Hunderten von Buben rasseln im Takt. Die Laternen erhellen unstät das Dunkel. Ihr Strahl fällt drüben auf den jenseitigen Bürgersteig, über das Gesicht eines abseits stehenden Mannes, bei dessen Anblick mir der Pulsschlag stockt. Wohl deckt ein blonder Spitzbart die einst glatten Linien des Mundes. Und doch sehe ich diesen Mund über die Narren um ihn lächeln wie einst! Ich kenne dies Lächeln des Prinzen Moritz, dem nichts Menschliches fremd ist, dies geistvolle Lächeln, das immer eine Frage an das Schicksal war und sich selber nie die Antwort gab. Ich kenne auch diese Bewegung der Hand, mit der er, mich gewahrend und scheinbar unabsichtlich die Hutkrempe zurechtrückend, das Antlitz schützt und sich hastig abwendet

Er ist es! Er ist es!

Ich durchquere mitten durch den unwillig eifernden Narrenzug, unter den empfindlichen Pritschenschlägen der Gecken, den Fahrdamm. Ich erreiche atemlos die andere Seite. Umsonst! Der Unbekannte ist schon spurlos im Gewühl verschwunden!

Und doch: Ich habe ihn gesehen. Ich habe den totgeglaubten Prinzen Moritz gesehen. Noch darf ich nicht wagen, die Kunde von dieser Erscheinung in das Volk zu schleudern. Ein Sturm im ganzen Land wäre der Widerhall.

Aber Ihnen, Exzellenz, dem verantwortlichen Leiter unseres Büringer Staatsschiffleins, vertraue ich mein Geheimnis an. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung und bin der Ihrige Karl Freiherr von Wies.“

Der Staatsminister Dr. Bock drehte sich unwillig um. „Was platze denn Sie da herein, Herr Minischterialrat Gassert? Warum sind Sie denn nit an meiner Stell im Landtag?“

„Ich komme eben aus dem Landtag, Exzellenz! Der Abgeordnete Meissl treibt’s ärger als je. Er tobt wie ein Toller auf der Tribüne. Der Prinz Moritz wär nicht tot. Fluch über eine Regierung, die Brief und Siegel an solche erstunkene Lügen hängt. Er, der Meissl, protestiert feierlichst im Namen Büringens. Der Badstübner schwingt seine Glocke, wie der Mesner das Rauchfass. Aber der Meissl schreit weiter!“

„Wart nur, Alterle! Ich komm gleich hinüber, Gassert!“

Der kleine Bock schob den Ministerialrat zur Tür hinaus, rannte zum Fernsprecher, rief an, lauschte gespannt.

„Baron Wies? Sind Sie selber am Apparat? Ja? Horche Sie mal: Mir steht der Verstand still nach Ihrem Brief! Habe Ihre Auge sich auch wirklich nit getäuscht?“

Eine Männerstimme schnarrte geheimnisvoll durch das Telephon. „Meine Augen, Exzellenz, sahen schon indische Fakire frei in die Luft schweben und Aissuas an glühendem Eisen kauen. Meine Augen sahen den Steinregen in Java und die fliegenden Köpfe Japans. Meine Augen sahen schon viele Wunder. Aber dieses gestern abend, die Erscheinung des Prinzen Moritz, war das grösste Wunder ... denn es ist wahr!“

„Dann tun Sie mir den einzigen Gefallen, beschter Baron: Sprechen Sie vorläufig zu niemandem darüber ...“

Wieder das Schnarren: „Wenn ich auch schweige: die Wahrheit lebt! Der Unbekannte soll inzwischen auch von andern da und dort gesehen worden sein. Es schwirren schon Gerüchte durch die Stadt!“

„Ach, du liebe Zeit! Mir knicke bald die Knie! Ich steh hier wie auf Kohle. Ich muss hurtig in den Landtag. Sind Sie in ein paar Stunden frei?“

„Für Sie jederzeit, Exzellenz!“

„Dann komme Sie bitte um ein Uhr zu mir ins Residenzschloss! Ja? ... Dank schön! Also auf nachher! Schluss!“

Die Wolken flogen am Himmel. An die Scheibe rechts klatschte eine nasse Husche. Durch die Scheibe links lachte die Sonne. Aprilwetter im Februar. Karneval oben und unten. Es war eine bucklige Welt. Der kleine Bock griff nach seiner Aktentasche. Der Wagen hielt vor dem Landtag.

„Auf der Tribün hocke die Leut überenanner!“ meldete der alte Diener, der der Exzellenz den Zylinder und Pelz abnahm. Von innen brauste ein undeutliches Stimmengewirr auf, ein Glockengebimmel, gelle Zurufe durcheinander.

„Heut treibe sie’s aber wüscht, Exzellenz!“

Der dirigierende Staatsminister trat klein und wuchtig in den Saal. Dessen hintere Bankreihen waren ganz leer. Die Abgeordneten hatten sich nach vorn gedrängt. Sie umringten in dickem Knäuel den Redner. Von den Galerien hingen Menschenklumpen mit vorgebeugten Oberkörpern über die Brüstung. Der Professor Badstübner schwang vom Präsidentensessel aus leidenschaftlich die Glocke. Der kleine Bock nickte ihm zu und setzte sich kampflustig ganz vorn rechts auf die Regierungsbank. Es war Staub in der Luft, Hitze, Lärm. Er fragte, während er sich die Brille aufsetzte, den Ministerialrat Gassert hinter sich: „Wer redd’ denn?“

„Als noch der Meissl, Exzellenz!“

Ein hagerer, schmalschulteriger, langer Mann zu Ende der Dreissig stand auf der Tribüne. Er trug einen fadenscheinigen, fest zugeknöpften, schwarzen Überrock und eine schiefsitzende, schwarze Binde vor dem niederen Stehkragen, aus dem sich der lange Hals mit dem vorspringenden, im Reden zuckenden Adamsapfel und dem schlechtrasierten Kinn hob. Wenn er die Lippen öffnete, klaffte eine Zahnlücke unter dem kurzen, schwarzen Schnurrbart. Die schwarzen Augen blickten starr hinter der goldenen Brille. Ihr fanatischer Glanz belebte sich nicht, so leidenschaftlich er auch mit hoher, dünner Stimme sprach und mit den Armen gestikulierte.

„Meine Herren! Wenn man jemanden für tot erklärt, muss man es auch beweisen können. Ich verlange von der Regierung den Beweis, dass der Prinz Moritz tot ist.“

„Bravo! Bravo!“ rief es rechts. Der Abgeordnete Justus Meissl reckte die vornübergebeugte engbrüstige Gestalt.

„Ich und meine Freunde hier behaupten das Gegenteil. Wir vertreten seit vielen Jahren die Rechte des Prinzen Moritz und wahren sie! Meine Herren! Ich bin kein Grosser im Lande! Ich bin ein einfacher Amtssekretär. Ich habe den Prinzen Moritz niemals persönlich gekannt, nie einen Gnadenbeweis von ihm empfangen. Ich habe keinerlei Vorteil davon, dass ich für ihn in die Schranken trete. Mich treibt nur der Drang nach Gerechtigkeit!“

„’s is halt e Fanatiker!“ sagte Exzellenz Bock halblaut. „Sie, Gassert, is der Mann eigentlich verheiratet?“

„Nein. Er lebt als Junggeselle mit seiner ältlichen Schwester!“

„Drum ist er so rechthaberisch, weil er kei’ Frau hat!“

Der Ministerialrat ergänzte: „Er hat vor vielen Jahren mal das Zipfe-Käthche aus der Altstadt heiraten wollen — das rote Kätterche, die Tochter von einem Schneidermeister. Aber die Krott hat ihn sitzen lassen und ist heut noch die Frau von dem Schweinemetzger Gülich ...“

„Dem seine Würscht’ kenn ich!“

„... und seitdem will der Meissl nichts mehr von den Frauenzimmern wissen. Seine einzige Liebe ist die Politik. Und Politik heisst für ihn die Wiederkehr des Prinzen Moritz.“

Der kleine Staatsminister legte die Hand an das Ohr. Der hohe heisere Kehlklang des Amtssekretärs Meissl durchgellte den Saal: „Rufen wir uns, meine Herren, doch einmal die geheimnisvollen Vorgänge jener Nacht vom 8. zum 9. Februar 1900 in die Erinnerung zurück. Prinz Moritz begibt sich nach Mitternacht aus dem von ihm bewohnten Flügel der Residenz nach dem in der Mitte des Schlossparks gelegenen Pavillon, den er seit mehreren Wochen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten aufzusuchen pflegte ... Ich weiss nicht, was es auf der Linken da zu lachen gibt. Die Sache ist doch wahrlich ernst genug!“

Der Abgeordnete Meissl sah streng nach der linken Seite des Hauses. Dann fuhr er fort: „Die Tür des Pavillons öffnete sich ihm gewöhnlich, wenn er dorthin ging, von innen, also durch eine fremde Hand. Man hat diese Hand auch in den Tagen und Wochen zuweilen bei einer solchen Gelegenheit gesehen. Sie wird als klein und reich beringt geschildert, die Hand einer Frau ... Meine Herren! Diese Heiterkeit auf der Linken ist unpassend, wo es um Tod und Leben geht!“

„Ich bitte um Ruhe!“ rief, mit der Glocke in der Hand, der Präsident Badstübner.

„Weiter, meine Herren! Prinz Moritz kehrt bis zum Morgen nicht in das Schloss zurück. Nicht bis zum Mittag. Bis zum Abend. Endlich entschliesst man sich, den Pavillon gewaltsam zu öffnen. Er ist leer. Vollkommen leer. Seine einfachen, dünnen Backsteinwände, sowie Mangel an Unterkellerung schliessen jede Möglichkeit eines Verstecks aus. Man findet nichts von dem Prinzen Moritz. Nichts von dem zweiten oder besser der zweiten, die darin gewesen ... Seit dieser Nacht vor zehn Jahren, meine Herren, ist Prinz Moritz allerdings verschwunden. Aber wer sagt uns, dass er ermordet wurde? Von wem? Aus welchem Grunde? Wer zeigt uns seine Leiche? Wer will uns beweisen, dass er damals sein Ende fand? Oder seitdem starb? Meine Herren! Wir wissen nichts! Nichts! Nichts!“

Der Amtssekretär Meissl streckte die langen Arme aus. Seine Augen glänzten starr. Seine Stimme steigerte sich zu kreischender Anklage: „Und kraft dieses Nichts sollen wir den einzigen Erben unseres Throns, den letzten Büringer, für tot erklären, mit einem Federzug das Fürstengeschlecht auslöschen, mit dem wir durch ein Jahrtausend Freud und Leid getragen haben? Nein, meine Herren! Unser Fürstenhaus ist von Gottes Gnaden. Es ist Gottes Wille gewesen, unseren jetzt regierenden Landgrafen seit Jahrzehnten mit unheilbarer Geistesumnachtung zu schlagen und vielleicht bald, sehr bald schon, auch seinen Leib von hier abzuberufen. Sie läuten, Herr Präsident?“

„Ich muss den Herrn Redner, nach der Geschäftsordnung, unterbrechen. Der Herr dirigierende Staatsminister verlangt zu einer kurzen sofortigen Mitteilung das Wort.“

Der kleine Bock räusperte sich und stand auf. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand.

„Meine Herren! Der Regierung geht in diesem Augenblick das letzte Bulletin der Ärzte über das Befinden des Landgrafen zu. Ich verlese es:

‚Der Körperverfall Seiner Hoheit schreitet bei zeitweise gesteigerten Erregungserscheinungen in besorgniserregender Weise fort. Die allgemeine Schwäche nimmt zu. Das Befinden des hohen Kranken gibt keinen Anlass zu Hoffnungen mehr.

Professor Dr. Nikolaus Roller.‘“

Ein tiefes Schweigen. Ein Murmeln. Aufgeregtes Anschwellen des Stimmengewirrs. Aus ihm heraus, schneidend, die Nerven auffpeitschend, wie der Schlachtschrei einer zerschossenen Trompete, das Falsett des Abgeordneten Meissl:

„Ich danke dem Herrn Staatsminister für diese Mitteilung. Mit tiefer Erschütterung haben wir alle diese Hiobspost vernommen. Sie unterstreicht nur meine bisherigen Worte.“

Justus Meissl zuckte spöttisch die fast schwindsüchtigen Hängeschultern. Auf seinem abgezehrten Gesicht erschien ein unheimliches spöttisches Lächeln.

„Welch eine Logik, meine Herren, in der Weisheit der Regierung! Weil der Landesherr stirbt, sollen wir den einzigen Thronerben für tot erklären! Und was dann? Ich frage: Was dann?

Meine Herren! Es ist dann nur noch ein einziges Mitglied des Fürstenhauses vorhanden und zur Erbfolge berufen: die Prinzessin Wilma, die jüngere Schwester des Prinzen Moritz. Die Prinzessin ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt, also grossjährig. Meine Herren! Es ist Ihnen allen bekannt, dass Prinzessin Wilma aus eigenem Antrieb seit ihrer Mündigkeitserklärung, also jetzt im siebenten Semester, an der hiesigen Hochschule Medizin studiert. Sie kommt so mit Menschen aller Art und aller Stände zusammen, und ihre geringschätzigen Äusserungen über Thron und Fürstentum sind in aller Mund. Kann das Ministerium meiner Behauptung widersprechen, dass die Prinzessin unlängst, bei der Rückkehr vom Krankenlager des Landgrafen draussen in Solitüde, sich zu ihrer Umgebung äusserte: ‚Es ist höchste Zeit, dass die Büringer mal aussterben. Die Rasse taugt nichts mehr!‘?

Ja, meine Herren, da geht eine Bewegung durch dieses hohe Haus ... Meine Herren! Hat diese Dame nicht gesprächsweise auch zu dem Vorsitzenden der Ersten Kammer, Herrn Grafen von Schornsheim, gesagt: ‚Alle diese Geschichten haben sich ja überlebt!‘ ... Seine Erlaucht hat es mir selbst mit allen Zeichen der Betroffenheit mitgeteilt. Ja, meine Herren, noch mehr:

Vor wenigen Tagen gab ich selbst der Prinzessin Wilma gegenüber meiner unerschütterlichen Überzeugung Ausdruck, dass Prinz Moritz noch lebt. Sie sprach: ‚Als Schwester bin ich selig, wenn er zurückkommt. Aber als Prinzessin fast ebenso. Dann brauche ich nicht auf den Thron. Ich passe nicht zu diesem ehrwürdigen Möbelstück. Ich bin ein moderner Mensch!‘ ... Ja, meine Herren — wenn es der Prinzessin wirklich damit ernst ist — wenn sie den Thron nicht besteigen will und ihr Bruder für tot erklärt wird, was wird dann, bei dem Ableben des Landgrafen, aus unserem Büringen? Meine Herren: Der dirigierende Herr Staatsminister erhebt sich. Ich schliesse und erwarte seine Antwort!“

„Meine Herren! Ich bin der erste Staatsdiener in Büringen,“ sprach der kleine Bock bedächtig. „Für mich muss Recht Recht bleiben, und Hausgesetz Hausgesetz. Da beisst kei’ Maus e Fädche ab. Ich bin kein Fürscht. Ich kann es nicht ändern, dass Prinz Moritz für tot erklärt werden muss, und ich kann nix dagegen machen, falls seine Durchlauchtige Schwester auf den Thron verzichtet. Sollte das eintreten, so fällt unser Vaterländche kraft des Erbrezesses von Lichtmess 1581 an unseren grossen norddeutschen Nachbarstaat, der ... Jesses ... kreische Sie doch nit so los! Man versteht ja sein eigenes Wort nit mehr ... Herr Präsident ... Badstübner! ... schaff Ruh! Guck emol: Sogar die Galerie tobt mit! Das ganze Haus ist aus dem Häusche! Alles schreit auf mich alten Simpel los, der wo nur seine Pflicht tut! So höre Sie mich doch, meine Herre! Herrgott: Da möcht man doch gleich strümpig in die Einöd’ galoppiere! ... Steigt mir den Buckel ’nuff!“

Die kleine Exzellenz setzte sich und wartete, bis sich unter dem wilden Gebimmel der Glocke der Sturm unten gelegt hatte. Dann hob er sich schnaufend wieder vom Stuhl.

„Ich versteh Sie schon, meine Herre! Mir geht’s akkurat so. Wir wollen Büringer bleibe. Wir habe nix mit dem grosse Nachbar oben zu schaffe. Und die Zeit vor dreihundert Jahren is vorbei, wo die Ferschte und grosse Herre Land und Leute, ohne sie zu fragen, unter sich zerteilt haben, wie ich am Sonntag mittag e gebratenes Gickel ... Ich sag bloss: Norr Ruhe ... Wir sind noch nicht so weit. Ich habe heute eine Nachricht bekomme, meine Herre, über die ich noch nit rede will! Aber das eine kann ich jetzt schon sagen: von einem offiziellen Thronverzicht der Prinzessin Wilma ist dem Ministerium bisher keine Nachricht zugegangen!“

„Aber sie hat es gesagt!“

„Meine Herren! Ich ersuche den Herrn Abgeordneten Meissl und Sie alle, sich mit der Beantwortung seiner Anfrage bis zur nächsten Sitzung zu gedulden. Bis übermorgen, Montag, läuft noch viel Wasser den Rhein hinunter. Unterdessen werde ich mir jetzt gleich bei der Prinzess Wilma Gehör erbitten und feststellen, ob Ihre Hoheit wirklich ärgschtenfalls nit Landesmutter werden mag und warum ...“

Der Staatsminister Dr. Bock fuhr nach dem Residenzschloss. Das war ein riesiger grauer Bau inmitten der Stadt. Hinten der grosse Park, durch dessen winterkahle Baumriesen der Februarsturm pfiff. Die Sonne war längst nicht mehr am Himmel. Graupelschläge prasselten nieder. Narrenvolk stand frierend in den Haustoren oder duckte sich unter Regenschirme vor dem Hagelgetrommel auf bunte Seide und fleischfarbenes Trikot. Der kleine Bock rannte unter dem Schlossenschauer die drei Schritte vom Wagenschlag zur Nebenpforte des Einfahrtportals. Die grossen Tore waren stets versperrt. Vergilbtes Spinngeweb hing an den immer geschlossenen Fensterläden der unteren Stockwerke. Der alte Pförtner war so vergilbt wie die Silbertresse an seinem ehrerbietig gelüfteten Hut. Die Exzellenz lief auf raschen kurzen Beinen an ihm vorbei, die breite, totenstille Paradetreppe hinauf. Es war kalt im Innern des Schlosses. Es dämmerte. Es roch nach Moder und Staub. Die Schritte hallten an den Wänden, an denen auf grossen Gemälden des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts geflügelte Putten einen Büringer Prinzen zu seinem Sieg über die Türken krönten und auf bleichen hohen Gobelins Mars und Venus die Hände irgendeiner Büringer Prinzessin und eines benachbarten Erbprinzen ineinanderlegten.

Ganze Flügel des Schlosses mit den blauen Appartements, den Adlersälen, den Habsburger Kammern, dem Erbprinzentrakt, standen leer. Der grosse Thronsaal gähnte in gespenstiger Öde. Mit purpurn gerafften Falten spannte sich der Fürstenbaldachin stumm über den leeren, reich vergoldeten Thron. Seit beinah einem Vierteljahrhundert hatte kein Sterblicher von Gottes Gnaden mehr auf ihm gesessen.

Der kleine Bock schnaubte sich kräftig in sein rotgewürfeltes Taschentuch. Das Echo des Trompetenstosses an den gelbseidenen bespannten Wänden liess endlich einen greisen Lakaien heranschlüpfen. „Leopold ... melde Sie mich bei Ihrer Hoheit! Ich hätt’ dringend ...“

Im Sprechen hatte der Minister die grosse Galerie betreten. Sie war zugleich der Ahnensaal. Ein Gewimmel von goldenen Rahmen und bunter Leinwand mit den Gestalten von Männern und Frauen.

Zwischen diesen vielen gemalten und längst vermoderten Menschen stand ganz einsam, mitten auf der weiten, kahlen, spiegelnden Parkettfläche ein lebendiger Mensch von Fleisch und Blut, ein schlankes, junges Mädchen in einem nach der Mode von 1910 hochgegürteten grünen Kleid. Sie hatte den frischen Kopf mit den dichten, dunkelbraun gelockten und nach hinten zu einem Knoten gewellten Haaren prüfend in den Nacken zurückgelegt und schaute aus den hellbraunen Augen, in eine Art von wissenschaftlicher Andacht versunken, zu den Ahnenbildern hinauf, die roten Lippen halb offen, die Hände auf den Rücken verschlungen. Dann trat sie achselzuckend zurück. In der raschen resignierten Bewegung flogen die Falten ihres Rockes, der, trotz der üblichen Humpeltracht, lose und bequem geschnitten, einen vernünftigen Spielraum für die Beine gewährte. Sie trug den weissen Hals, trotz der Kälte in der Galerie, bloss. In der Perlmutterschnalle vorn an ihrem Kleid schimmerte, aus Elfenbein geschnitzt, eine Jerichorose, ein uraltes Kreuzzugserbstück des Hauses Büringen.

Der alte Lakai huschte lautlos, rückwärts gleitend, wie ein Blatt welkes Laub, nach dem Ausgang hin. Der kleine Staatsminister verbeugte sich tief vor der Prinzessin Wilma von Büringen. Sie wandte ihm die hübsche rotwangige Jugend ihres Gesichts entgegen, nickte ihm über die Schulter zu und reichte ihm die Hand, mit ihren Gedanken noch ganz bei den Bildern oben.

„Es ist fabelhaft interessant,“ sagte sie sachlich, „vergleichende Schädelstudien an den Köpfen meiner Vorfahren zu machen. Da sind sie doch noch einmal zu was nütze! Beachten Sie nur die fortschreitende Degenerierung der Reihe nach in den verschiedenen Gesichtern! Ende des sechzehnten Jahrhunderts zeigen sich die ersten Anzeichen der Entartung. Nach dem Dreissigjährigen Krieg ist es schon merklich. Im achtzehnten Jahrhundert wird es allmählich brenzlich. Im neunzehnten treten die ausgesprochenen klinischen Symptome hervor ...“

„Aber Hoheit ...“

„Prüfen Sie nur die immer mehr fliehende Stirnlinie durch die Jahrhunderte! Ich habe es eben mit dem Zirkel an den Profilien nachgemessen: Ausgesprochene Rückbildung! Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto mehr wachsen die Rollerschen Niedergangszeichen. Professor Roller, mein Lehrer, hat das in seinem Handbuch für Psychopathie grossartig beschrieben ...“

„Hoheit: Ich hätt’ die inschständigste Bitte um eine Audienz!“

„Da! Die übertriebene Stirnwölbung! Bitte: die Ohren! Die Ohren meiner Vorfahren sprechen Bände. Ich bin jetzt ganz Feuer und Flamme für diese Untersuchungen! Ich habe Riesenlust, meine Doktordissertation darüber zu schreiben ...“

„Hoheit ... Mit vollem Reschspekt: Sie sind nit bloss Kandidatin der Medizin, sondern auch Prinzessin von Büringen!“

„... und Gott sei Dank aus der einzigen gesund gebliebenen Nebenlinie! Ich wenigstens! Schon mein Bruder Moritz ... äusserlich war er doch ein bildschöner Mensch, nicht wahr? Geistig ungewöhnlich hochstehend ... ganz klar ... und dabei doch ein Knacks durch die Seele ... Er wusste nie: Gehörte er in das zwölfte oder, wie ich, in das zwanzigste Jahrhundert ...“

Plötzlich veränderte sich der gleichmütige Gesichtsausdruck der Prinzessin. Sie trat leidenschaftlich mit glänzenden Augen auf den Minister zu.

„Sie hören ja das Gras in Büringen wachsen, Exzellenz! Haben Sie auch schon von einem Gerücht gehört? ... Meine Kammerfrau hat es mir vorhin in lichter Aufregung zugetragen ...“

„Was denn, Hoheit?“

„Der Moritz soll leibhaftig in der Stadt gesehen worden sein!“

„Von wem, Hoheit? Wann? ... Wo?“

„Überall ... seit gestern ... von allerhand Leuten. Es ist ja nur ein Gerede ... aber wenn es wahr wäre, ach Gott, Exzellenz — da möcht ich Sie flugs an den Händen kriegen und mit Ihnen im Kreis herumtanzen ...“

„Wenn es wirklich der Prinz Moritz wär, da hops’ ich gleich mit, Hoheit ... Aber hat man ihn denn auch wirklich erkannt?“

„Die Leute schwören ‚ja‘, sagte meine Kammerfrau, obwohl er jetzt einen blonden Spitzbart tragen tät ...“

Der kleine Bock schwieg ergriffen. Das junge Mädchen stand mit einem fragenden glücklichen Schimmer in den braunen Augen, erwartungsvoll, schwer atmend, vor ihm. Er hatte sie noch nie so hübsch gesehen.

„Exzellenz ... halten Sie es für möglich?“

„Möglich, Hoheit ... Möglich ...,“ sagte der dirigierende Staatsminister langsam und in Gedanken, „möglich ist auf seller buckligen Welt alles ...“

Dann fasste er sich. „Aber wahrscheinlich ist es nicht. Sie haben Latein und Griechisch gelernt wie ein Abiturient, Hoheit! Sie haben logisch denken gelernt. Also passen Sie auf: Wenn der Prinz Moritz noch lebt, ja — warum geht der Mann dann in den zehn Jahren nicht bei? Warum lässt er denn nix von sich hören? Sogar zu Ihne, Hoheit, nit, seiner leiblichen Schwester! Wer verbiet’s ihm denn? Wer hat ihn denn eingesperrt?“

Sie fiel ihm mit einer stürmischen Handbewegung ins Wort. „Das behaupten ja manche, er wäre damals mit einer Frau entflohen und hätte sich mit ihr verborgen gehalten und sich vielleicht jetzt erst endlich von ihr befreit ...“

„Ja ... dass dich die Krott’ petz’! Warum spricht er denn dann nicht zu Ihne und zu uns allen: ‚Sodele! Da bin ich wieder!‘ ... Sein erster Gang müsst’ doch auf das Schloss sein: Her mit dem Zepter, ihr Leut’! Staubt mir den Thron ab! Putzt mir die Krone! Ich werd’ sie nächschstens brauche ... Warum versteckelt er sich denn statt dessen und geischtert nachts in der Altstadt herum?“

Das junge Mädchen schwieg. Sie senkte den braungelockten Kopf und spielte nervös mit Zirkel und Blatt in ihrer Hand. Endlich sagte sie kleinlaut und bitter:

„Ja. Es ist ja natürlich nur eine bunte Seifenblase, die platzt ... Wozu haben wir denn Karneval?“

Dann fröstelte sie zusammen: „Es ist hundekalt hier, Exzellenz! Setzen wir uns lieber da nebenan in das Windsorkabinett. Da ist wenigstens geheizt.“

Der kleine Raum war ein Stück Altengland. Chippendalemöbel. Ein glimmender Kamin. Eingerahmte Rotfräcke und Derby-Cracks an den Wänden. Die kleinen Fürstenhäuser am Rhein hatten es immer irgendwie mit dem englischen oder russischen Hof zu tun.

Exzellenz Bock nahm ehrerbietig auf einen Wink der Prinzessin Platz. Sie legte die schmalen Hände in den Schoss und setzte sich aufmerksam zurecht, wie eine Studentin im Kolleg, und sagte kühl mit einem leisen Zug von Ergebenheit um die Mundwinkel: „Bitte Exzellenz ...“

„Liebschte, beschte Hoheit ...“

„Ja, Exzellenz ...?“

„’s fällt mir arg schwer: Aber ich muss frei von der Leber weg rede ... Was in Büringen geschieht, geht auf meinen Buckel! Der alte Bock darf alles ausbade ...“

„Was hab ich denn wieder angestellt?“

„Hoheit: Was soll denn ich als dirigierender Staatsminischter mache, wenn sich e Mann wie der Abgeordnete Meissl auf die Tribüne stellt und loskreischt. Sie hätte, wenn es einmal dazu komme soll, gar keine Luscht, den Thron zu besteige ...“

In den Augen der Prinzessin war ein sanftes wissenschaftliches Befremden. „Was soll ich denn auf dem Thron?“

„Du liebe Zeit: Das, wozu Sie der liebe Herrgott in seiner himmlischen Güte halt einmal bestimmt hat: Regiere solle Sie uff’m Thron ... Büringe regiere, Hoheit!“

„Das heisst: Sie regieren, Exzellenz, oder sonst jemand, der’s versteht, und ich unterschreib, was ich nicht verstehe, und nicke dazu huldvoll mit dem Kopf. Ich bin aber keine Pagode, sondern ein Mensch!“

„Hoheit: Menschenglück blüht auch auf dem Thron! Sie werden sich einen Gatten wählen, den schönsten Prinzen von ganz Europa — es hot ere genug! — Sie werden ihm und der Dynastie und dem Lande Nachkommen schenken ...“

Prinzess Wilma machte grosse Augen. „Ja — warum denn?“

„Ha — weil sonst das Haus Büringen ganz erlischt.“

„Ja — was liegt denn daran?“

„Hoheit ... da möcht’ man aber bald die Wänd’ nuff krabbele! Unser angestammtes Herrscherhaus darf doch nicht aussterben!“

Das junge Mädchen schüttelte freundlich den Kopf. „Da müssen Sie das Sterben in Büringen polizeilich verbieten, Exzellenz! Aber die Leute tun’s doch. Sie selber werden eines schönen Tages Ihr eigenes Verbot übertreten ...“

„Hoheit ... ich mag’s nit leide, wenn man mich uzt!“

„... und Fürsten sind warmblütige Wirbelorganismen wie andere Menschen und unterliegen genau denselben physiologischen Gesetzen. Ich finde nichts Aufregendes im Aussterben der Büringer, sondern einen ganz natürlichen Vorgang.“

„Und das sage Sie, Hoheit ... als die Letzte des Geschlechts ... Ein kerngesunder Mensch ... und jung und blühend ... und — nehme Sie’s nit krumm, Hoheit ... hübsch dazu ... arg hübsch ... Sell muss Ihne der Neid lasse ...“

Prinzess Wilma nickte befangen beistimmend: „Da verschwinden wir wenigstens mit Anstand von der Bildfläche. Es kommt nichts Gescheites mehr nach, Exzellenz, denn jeder Prinz, den ich heiraten müsste, stammt ja aus eben solch einer erblich belasteten Familie. Wir sind alle durch Inzucht erschöpft. Wir haben es ja mit unserem Ebenbürtigkeitskoller nicht anders gewollt!“

Der kleine Bock lief, die Hände an den Schläfen, verzweifelt durch das kleine angelsächsische Kabinett. „Wenn m’r denkt: da hockt e Prinzessin und redd’ so daher! Heule möcht’ m’r als getreuer Untertan! ... Hoheit: So was is unrecht.“

„Es ist reine Wissenschaft, Exzellenz,“ sagte die Prinzessin gelassen. Ich bin doch nun einmal Medizinerin ...“

„... und die neumodische Weisheit — die beziehen Sie von dem Roller?“

„Ich bin Schülerin von Professor Roller. Er führt mir und den anderen Hörern und Hörerinnen jeden Tag im psychiatrischen Institut die klinischen Fälle von Entartung vor. Es ist geradezu lächerlich, wie das alles für das Haus Büringen stimmt ...“

„Und da hat er über Ihr Haus einmal mit Ihnen gesprochen?“

„Unter vier Augen: oft. Ich hab ihn selbst darum gebeten.“

„Und da hat er Ihnen das gesagt, Hoheit, was Sie soeben wiederholen?“

„Na natürlich! Wenigstens so ungefähr, als Mann der Wissenschaft. Hier im Schloss wird um einen herumgeschmeichelt und gelogen, Exzellenz, aber im Seziersaal nicht. Die Toten sagen einem die Wahrheit. Wenn Sie einmal so ein Gehirn in der Hand halten, dessen Windungen den Urgrossvater anklagen ...“

Prinzess Wilma erhob sich. Sie neigte mit einem liebenswürdigen Lächeln ganz leicht den mädchenhaft schlanken Hals. Es war, ihr selbst unbewusst, dieselbe Bewegung, mit der einst irgendeine ihrer Vorfahrinnen im Reifrock und Allongeperücke huldvoll eine Audienz beendete. Aber der kleine Bock richtete seine kurze, stämmige Gestalt streng auf und blieb stehen.

„Hoheit: So geh ich heut nit von Ihne fort ...“

„Was ist denn noch, Exzellenz?“

Der Staatsminister wischte sich die Stirn. Er trat auf die Prinzessin zu. Er hob beschwörend die kurzen, roten Hände. „Hoheit: Im tiefschten Ernst ...“

„Ich bin ernst genug ...“

„Im Namen von unzähligen treuen Staatsbürgern, die im Geischt hinter mir stehen, erinnere ich Eure Hoheit an Ihre Pflicht ...“

„Lieber Herr Staatsminister ...“

„Euer Hoheit: — jetzt redd’ ich! Und sag es Ihne offen, wie’s meine verfluchte Schuldigkeit ist, ins Gesicht und beschwöre Sie, Sie dürfen nicht die Zukunft des Landes und das Fortblühen unserer tausendjährigen Dynastie einer Mädchenlaune opfern. Beruhigen Sie eine Million treuer Herzen im Lande ...“

„Ich kann nicht.“

„Weshalb nicht, Hoheit? ... Da sind Sie stumm? ... Ist es nur, weil der Roller Sie das Gegenteil lehrt? Liebschte Hoheit: Der Roller spricht zu Ihnen als zu einer Medizinerin. Ich sprech zu Ihne in Ehrfurcht als zu einer Prinzessin!“

„Das ist beides dasselbe, Exzellenz: ein Mensch!“

„Und so gescheit wie der Roller bin ich als noch und regier ein ganzes Land, und er nur einen Haufen Narren in seiner Irrenklinik, und viel älter bin ich auch und hab viel erlebt und mit viel tausend Koschtgängern unseres Herrgotts zu tun gehabt, und bin Vater und Grossvater, und er is Junggeselle und schon bald e hartgesottener mit seinen vierzig auf dem Buckel, und ich sag Ihne, Hoheit: was so e Professor als seine Weisheit aussprengt, das ist noch lange kein Evangelium!“

„Professor Roller würde niemals so gegen Sie reden, Exzellenz! Der begreift alle Menschen und gibt jedem recht!“

„Die Buchweisheit is es auch nit allein, Hoheit! Das steckt tiefer. Lasse Sie mich Ihne mal fest in die Auge gucke, ... ganz fest, als wär ich selber e Doktor! Ja, warum denn nit? Warum wenden Sie denn den Kopf ab, Hoheit? Warum werden Sie denn rot und blass?“

„Ich danke Ihnen für die Unterredung, Exzellenz: Ich fühle mich jetzt ermüdet ...“

„... Sell glaubt Ihnen der schtärkschte Mann nit, Hoheit! Ich bin e alter Menschenkenner. Der Roller schneid’t den Leuten die Bäuch’ auf! Aber ich schau den Leuten in die Seelen! Auch Ihne, Hoheit! Es hat mir schon lange geahnt. Schaue Sie mich nit so feindselig an! Ich mein es gut mit Ihne, Hoheit, und mit uns alle! Sage Sie mir’s unter vier Auge!“

„Was wollen Sie denn noch wissen, Exzellenz?“

„Wenn Sie partout keinen Prinzen heiraten wollen, kommt das daher, weil Ihr Herz schon an einem anderen Mann hängt ...?“

„Mein Herz gehört mir ...“

„An einem Mann, der wo kein Prinz ist? Ist das die Lösung von dem ganzen Rätsel? Ach du liebe Zeit: Ihr Schweigen sagt genug!“

„Ich habe nichts gesagt.“

„Aber ich denk mir mein Teil! ... Hoheit ... Seit zehn Jahren versehe ich durch das Vertrauen der Mitbürger die Regierung. Ich bin wie eine Art Beichtvater für das ganze Land. Ich weiss von jedem, wo ihn der Schuh drückt. Erleichtern auch Sie vor mir Ihr Herz ...“

Hüpfende hastende Schritte draussen. Rasch näher. Der tänzelnde leichtfüssige Gang eines Hofmanns.

Ein diskretes Fingerknöchelpochen an der sich gleich