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"Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära." Diese Erkenntnis von Papst Franziskus ist längst zum geflügelten Wort geworden. Nachdem Tomáš Halík mit "Die Zeit der leeren Kirchen", einer ebenso tief greifenden wie verständlichen Analyse der Kirche unter Pandemie-Bedingungen, die Bestsellerliste erstürmte, erscheint im Frühjahr 2022 sein Opus magnum, zu dem er lange innerlich unterwegs war. Es beschreibt die aktuelle Situation der Kirchen im säkularisierten Westen als den Nachmittag des Christentums: eine Zeit der Erschütterung, nicht zuletzt durch Corona, die aber eine neue Solidarität ermöglicht. So wird das "Mittagstief" der Kirchen zur Geburtsstunde eines reiferen, weniger selbstbezogenen Christentums, das endlich seine Bestimmung für die Welt erfüllt.
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Seitenzahl: 407
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Tomáš Halík
Der Nachmittag des Christentums
Eine Zeitansage
Aus dem Tschechischen von Markéta Barth
unter Mitarbeit von Udo Richter
Diese Arbeit ist entstanden mit Unterstützung des Projektes »Kreativität und Adaptabilität als Voraussetzung für den Erfolg Europas in der vernetzten Welt«, Reg.-Nr.: CZ.02.1.01/0.0/0.0/16_019/0000734, finanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.
Titel der Originalausgabe: Odpoledne křesťanství. Odvaha k proměně, Praha 2021
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Die Bibeltexte sind entnommen aus:
Die Bibel. Die Heilige Schrift
des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlagkonzeption: Verlag Herder
Umschlagmotiv: Blick auf die nachmittägliche Prager Kleinseite vom Balkon der Salvator-Kirche im Klementinum, ©Martin Staněk, Prag
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-451-03355-1
ISBN E-Book (E-PUB) 978-3-451-82689-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82690-0
Papst Franziskus in Hochachtung
und Dankbarkeit gewidmet
Seht, ich schaffe Neues. Schon sprosst es auf, merkt ihr es nicht? Fürwahr, ich schaffe in der Wüste einen Weg und Pfade in ödem Land.
Jes 43,19
Gott in allen Dingen suchen und finden. […] Ja, bei diesem Suchen und Finden Gottes in allen Dingen bleibt immer ein Bereich der Unsicherheit. Er muss da sein. Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet, und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. Für mich ist das ein wichtiger Erklärungsschlüssel. Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benutzt. Die großen Führer des Gottesvolkes wie Mose haben immer Platz für den Zweifel gelassen. Man muss Platz für den Herrn lassen, nicht für unsere Sicherheiten. Man muss demütig sein. […]
Abraham ist aufgebrochen, ohne zu wissen, wohin er gehen soll – im Glauben. […] Unser Leben ist uns nicht gegeben wie ein Opernlibretto, in dem alles steht. Unser Leben ist Gehen, Wandern, Tun, Suchen, Schauen … Man muss in das Abenteuer der Suche nach der Begegnung eintreten und in das Sich-suchen-Lassen von Gott, das Sich-begegnen-Lassen mit Gott. […] Ich habe eine dogmatische Sicherheit: Gott ist im Leben jeder Person.
Papst Franziskus
Aus: Das Interview mit Papst Franziskus
von Antonio Spadaro SJ
Einleitende Worte
1. Glaube in Bewegung
2. Der Glaube als Erfahrung des Geheimnisses
3. Die Zeichen der Zeit lesen
4. Tausend Jahre wie ein Tag
5. Religiöses oder religionsloses Christentum?
6. Finsternis am Mittag
7. Kommt Gott zurück?
8. Die Erben der modernen Religion
9. Vom globalen Dorf zur civitas oecumenica
10. Eine dritte Aufklärung?
11. Die Identität des Christentums
12. Gott aus der Nähe und Gott aus der Ferne
13. Spiritualität als Leidenschaft des Glaubens
14. Der Glaube der Nichtgläubigen und das Fenster der Hoffnung
15. Weggemeinschaft
16. Eine Gemeinschaft des Zuhörens und des Verstehens
Danksagung
Über den Autor
Empfohlene Literatur
Päpstliche Dokumente
Ausgewählte Literatur
»Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära«, sagt Papst Franziskus.
Dabei ändern sich auch die Gestalten der Religion und ihre Rolle in den einzelnen Gesellschaften und Kulturen. Die Säkularisierung hat nicht das Ende, sondern eine Verwandlung der Religion bewirkt. Während manche Formen von Religion starke Erschütterungen durchlaufen, sind andere so vital, dass sie sich über ihre früheren Grenzen hinaus ausgedehnt haben. Die traditionellen religiösen Institutionen haben das Monopol auf die Religion verloren.
Der seinem Höhepunkt zustrebende Prozess der Globalisierung stößt auf Widerstand: Die Stimmen des Populismus, des Nationalismus und des Fundamentalismus werden stärker. Unsere Welt wird immer mehr vernetzt und gleichzeitig auf neue Weise geteilt. Die weltweite Gemeinschaft der Christen ist nicht einheitlich – und dennoch gibt es heute die größten Unterschiede nicht zwischen den Kirchen, sondern innerhalb der Kirchen. Die Unterschiede in der Lehre, in den religiösen und politischen Haltungen haben häufig ihre verborgenen Wurzeln in den tieferen Schichten des seelischen und geistig-geistlichen1 Lebens der Menschen. Manchmal haben Menschen, die in derselben Kirchenbank dasselbe Glaubensbekenntnis rezitieren, sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gott. Zu den Verwandlungen der geistigen Szene von heute gehört auch der Mauerfall zwischen den »Gläubigen« und den »Ungläubigen«; laute Minderheiten von dogmatischen Gläubigen und militanten Atheisten geraten an den Rand, während die Anzahl derer wächst, in deren Gedanken und Herzen sich der Glaube (im Sinne eines »Urvertrauens«) und der Unglaube (im Sinne einer zweifelnden Skepsis) gegenseitig durchdringen.
Ich schließe die Niederschrift dieses Buches mitten in der Coronapandemie ab; um mich herum sterben Tag für Tag viele Menschen in überfüllten Krankenhäusern, und viele Lebende und Gesunde geraten in existenzielle Not. Auch diese Erfahrung erschüttert unsere Welt – zu der lang anhaltenden Krise der traditionellen religiösen Sicherheiten ist die Krise der traditionellen säkularen Sicherheiten hinzugekommen, insbesondere die des Glaubens an die souveräne Herrschaft des Menschen über die Natur und das eigene Schicksal.
Der Zustand der katholischen Kirche erinnert heute in vielem an die Situation kurz vor der Reformation. Als die unvorstellbar große Zahl an Fällen sexuellen und seelischen Missbrauchs aufgedeckt wurde, hat dies die Glaubwürdigkeit der Kirche erschüttert, und es stellten sich viele Fragen, die sich auf das gesamte System der Kirche bezogen. Die geschlossenen und leeren Kirchen während der Zeit des Coronavirus habe ich als prophetisches Warnzeichen wahrgenommen: So kann der Zustand der Kirche bald aussehen, wenn sie nicht eine Verwandlung durchmacht.
Eine gewisse Inspiration dafür kann die »Katholische Reform« darstellen, die von mutigen Mystikern wie Johannes vom Kreuz, Teresa von Ávila, Ignatius von Loyola und vielen anderen getragen wurde, Menschen, die mit ihrer ursprünglichen spirituellen Erfahrung sowohl die theologische Reflexion des Glaubens als auch die sichtbare Gestalt und Praxis der Kirche bereichert haben.
Die heutigen Reformbemühungen dürfen nicht dabei stehen bleiben, dass sie manche institutionellen Strukturen und einige Absätze im Katechismus, im Codex des Kirchenrechts und in den Lehrbüchern der Moral verändern. Die Fruchtbarkeit der Reform und die künftige Vitalität der Kirche hängen davon ab, ob es gelingt, eine neue Beziehung zur spirituellen und existenziellen Tiefendimension des Glaubens zu gewinnen.
Die jetzige Krise halte ich für einen Scheideweg, an dem sich die Möglichkeit eröffnet, in eine neue, »nachmittägliche« Epoche der Geschichte des Christentums überzugehen. Das erschütterte Christentum kann – auch dank seiner schmerzhaften Erfahrungen – wie ein verwundeter Arzt das therapeutische Potenzial des Glaubens entfalten.
Wenn die Kirchen der Versuchung der Egozentrik und des kollektiven Narzissmus, des Klerikalismus, Isolationismus und Provinzialismus widerstehen werden, können sie auf eine bedeutsame Weise zu einer neuen, breiteren und tieferen Ökumene beitragen. Bei diesem neuen Ökumenismus geht es um mehr als um die Einheit der Christen; die Erneuerung des Glaubens kann vielmehr ein Schritt zu jener »universalen Brüderlichkeit« sein, die ein großes Thema des Pontifikats von Papst Franziskus ist. Sie kann der Menschheitsfamilie helfen, nicht auf einen Kampf der Kulturen zuzulaufen, sondern auf den Aufbau einer civitas oecumenica zuzugehen – einer Kultur der Kommunikation, des Teilens und des Respekts vor der Andersheit.
Gott zeigt sich in der Geschichte im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung der Menschen, und zwar auch der Menschen am Rande der Kirchen und jenseits ihrer sichtbaren Grenzen. Die Suche nach Gott »in allen Dingen« und in allen geschichtlichen Situationen befreit unser Leben von einer monologischen Selbstbefangenheit und führt es in eine dialogische Offenheit hinein. Hierin sehe ich ein Zeichen der Zeit, ein Licht der Hoffnung auch in schweren Zeiten. Dieser Hoffnung möchte dieses Buch dienen.
1 Das Tschechische hat für »geistig« und »geistlich« dasselbe Wort (duchovní). An Stellen, wo eine eindeutige Festlegung auf eine der beiden Bedeutungen nicht möglich schien, wurde das Wort »doppelt« (»geistig-geistlich«) übersetzt (Anm. d. Übers.).
»Die ganze Nacht haben wir uns abgemüht und nichts gefangen«, sagen ermüdete und frustrierte Fischer aus Galiläa zu dem wandernden Prediger, der am Ufer eines neuen Tages steht.
Ähnliche Gefühle haben in dieser Zeit viele Christen in weiten Teilen unserer westlichen Welt. Kirchen, Klöster und Priesterseminare leeren sich, Zehntausende von Menschen treten aus der Kirche aus. Die dunklen Schatten der jüngsten Vergangenheit berauben die Kirche ihrer Glaubwürdigkeit. Die Christen sind voneinander getrennt – heute sind es nicht vor allem die Unterschiede zwischen den Kirchen, sondern die innerhalb der Kirchen. Der christliche Glaube stößt hierzulande nicht mehr auf einen kämpferischen Atheismus und auch nicht auf eine harte Verfolgung, die Gläubige erwecken und mobilisieren würde, sondern eher auf eine viel größere Gefahr – auf die Gleichgültigkeit.
Der Prophet aus Nazaret hat einen solchen Moment der Ermüdung und Frustration für die erste Anrede an seine künftigen Jünger gewählt. Die enttäuschten Fischer waren nach der schlaflosen Nacht nicht gerade die disponiertesten Zuhörer für seine Predigt vom nahenden Reich Gottes. Trotzdem zeigten sie das, was den Vorraum und das Eingangsportal des Glaubens darstellt: den Mut zum Vertrauen. »Versucht es noch einmal«, lautet seine erste Predigt. »Fahrt hinaus ins tiefe Wasser und werft euere Netze zum Fang aus.«2
Auch in dieser Zeit der Ermüdung und Frustration ist es nötig, es noch einmal mit dem Christentum zu probieren. Es noch einmal probieren – das bedeutet nicht: dasselbe wieder zu tun, einschließlich der Wiederholung der alten Fehler. Es bedeutet, in die Tiefe zu gehen, aufmerksam zu warten, bereit sein zu handeln.
***
Dieses Buch ist ein Buch über die Wandlungen des Glaubens im Leben der Menschen und in der Geschichte. Ich frage mich, zu welchen Wandlungen es heute kommt und welche möglichen künftigen Formen des Christentums sich in den vielen Krisen von heute bereits ankündigen. Auch heute wandelt sich, wie in jeder Zeit von prägnanten geschichtlichen Veränderungen, die Stellung und die Rolle des Glaubens in der Gesellschaft und die Form seines Selbstausdrucks in der Kultur. Angesichts vieler Veränderungen ist es nötig, immer wieder nach der Identität unseres Glaubens zu fragen. Worin besteht und woran zeigt sich sein christlicher Charakter?
Dies ist ein Buch über den Glauben als einen Weg der Suche nach Gott inmitten der sich wandelnden Welt, über den gelebten Glauben, über den Glaubensakt, also viel mehr darüber, wie wir glauben (fides qua), als darüber, woran wir glauben, was der »Gegenstand« des Glaubens ist (fides quae). Unter dem Glauben verstehe ich eine bestimmte Lebenshaltung, eine Orientierung, eine Art und Weise, wie wir auf der Welt sind und wie wir sie verstehen – viel mehr als bloße »religiöse Überzeugungen« und Ansichten; es interessiert mich eher faith als die beliefs.
Dem Begriff Glaube (mit dem hebräischen Wort heemin) begegnen wir bei den jüdischen Propheten in der Achsenzeit (um das 5. Jahrhundert v. Chr.);3 das Phänomen des Glaubens selbst ist jedoch älter. Ich lasse die Debatten darüber beiseite, ob der Glaube im Sinne eines Aktes des Vertrauens, einer persönlichen Beziehung zum Transzendenten ein ganz origineller Beitrag der Bibel zur geistigen Geschichte der Menschheit ist – oder ob und inwieweit ein so verstandener Glaube (oder etwas Analoges) bereits ein Bestandteil auch vorbiblischer Religionen und Spiritualitäten ist, ob es eventuell möglich ist, ihn für eine anthropologische Konstante zu halten, für einen wesentlichen Bestandteil des Menschlichen überhaupt. Ich konzentriere mich auf diejenige Linie der Glaubensgeschichte, die ihre Wurzeln im Judentum hat und die sich im Christentum fortsetzt, gleichzeitig jedoch über das Christentum in seiner traditionellen kirchlichen Form hinausgeht.4
Die hebräische Bibel prägte dem Glauben auf seinem Weg durch die Geschichte vor allem zwei wesentliche Züge ein: die Erfahrung des Exodus, einer Reise aus der Sklaverei in die Freiheit (der Glaube hat den Charakter der Pilgerschaft), und die Fleischwerdung des Glaubens in der Praxis der Gerechtigkeit und Solidarität: Der Ausdruck eines wahren Glaubens ist es nach den Worten der Propheten, »den Waisen Recht zu schaffen, ein Anwalt der Witwen zu sein«.5 Der Archtetypus eines Gläubigen ist Abraham, »der Vater der Glaubenden«, von dem geschrieben steht, dass er wegzog, ohne zu wissen, wohin es ging.6 Der Glaube, vor allem der Glaube der Propheten, steht in einer Spannung nicht nur zur Magie, sondern auch zu dem Tempelglauben der Priester und der Opferrituale. An diese prophetische Linie knüpft Jesus an – im Zentrum seines Predigens steht die Aufforderung zu einer Verwandlung, zu einer Umkehr (metanoia).
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Martin Buber hat zwei Typen des Glaubens unterschieden: den Glauben, der mit dem hebräischen Wort emuna bezeichnet wird (den Glauben als Vertrauen), und den Glauben, der in dem griechischen Wort pistis (»Glauben an etwas«, »Glauben mit einem Gegenstand«) seinen Ausdruck findet. Den ersten Typus verband er mit dem Judentum und den zweiten mit dem Christentum, vor allem mit dem Glauben an Christus beim Apostel Paulus.7 Diese Abgrenzung zweier Typen des Glaubens voneinander steht in einer gewissen Analogie zu der erwähnten lateinischen Unterscheidung zwischen fides qua und fides quae.
Im Unterschied zu Buber bin ich allerdings davon überzeugt, dass im Christentum der Glaube den Charakter der emuna nicht verliert, dass der Glaube an Christus nicht seine Vergegenständlichung bedeuten muss. Der christliche Glaube besteht nicht primär in der kultischen Verehrung der Person Jesu, sondern er ist ein Weg der Nachfolge Christi. Und Nachfolge Christi bedeutet nicht eine Nachahmung Jesu von Nazaret als einer historischen Person aus längst vergangenen Zeiten (wie vielleicht der ursprüngliche lateinische Titel des bekannten asketischen Handbuchs von Thomas von Kempen – Imitatio Christi – verstanden werden könnte). Es geht eher um einen Weg zu Jesus und mit Jesus, mit demjenigen, der über sich sagte »Ich bin der Weg« und den Jüngern versprach, dass sie noch größere Werke vollbringen würden als er. Der Glaube an Christus ist ein Weg des Vertrauens und des Mutes, der Liebe und der Treue; er ist eine Bewegung in die Richtung jener Zukunft, die Christus eröffnet hat und in die er einlädt.
Dieses dynamische Verständnis des Christentums setzt einen bestimmten Typ der Christologie voraus, nämlich die Auffassung Christi als das Alpha und das Omega der Entwicklung der ganzen Schöpfung.8
Es war Paulus, der die erste radikale Reform des frühen Christentums durchgeführt hat: Er führte es aus der Gestalt einer der jüdischen Sekten in das Milieu der damaligen antiken oikoumene. Darin sehe ich einen radikalen Beitrag des Christentums zur Glaubensgeschichte, nämlich in der Betonung seiner universalen Berufung. Das Christentum in der Auffassung des Paulus überwindet die vorher unüberwindbare Grenze zwischen den Religionen und Kulturen (es ist gleichgültig, ob ein Mensch Jude oder Grieche, also Heide war), die Grenze zwischen den sozialen Schichten (es ist nicht wichtig, ob ein Mensch frei ist oder Sklave – in der römischen Welt eine rechtlose »sprechende Sache«) und die Grenze der klar definierten Genderrollen (ob jemand ein Mann oder eine Frau ist).9
Ich verstehe diesen paulinischen Universalismus als eine dauerhafte Aufgabe für die Kirche in der Geschichte. Das Christentum muss diese radikale Offenheit stets pflegen und verbreiten. Die heutige Form dieses Universalismus ist der Ökumenismus, das Gegenteil des arroganten ideologischen Imperialismus. Wenn das Christentum die Krise vieler seiner bisherigen Formen überwinden und zu einer inspirierenden Antwort auf die Herausforderungen dieser Zeit großer kultureller Veränderungen werden soll, muss es die bisherigen mentalen und institutionellen Grenzen mutig überschreiten. Die Zeit der Selbstüberschreitung des Christentums ist angebrochen. Auf diesen Gedanken werden wir in diesem Buch wiederholt zurückkommen.
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Wenn wir etwas Wesentliches über den Glauben eines anderen Menschen erfahren wollen, dann sollten wir die Frage meiden, ob er an Gott glaubt oder nicht, was für Ansichten er über die Existenz Gottes hat und wie seine kirchliche oder religiöse Zugehörigkeit ist. Interessieren wir uns vielmehr dafür, welche Rolle Gott in seinem Leben spielt, wie er glaubt, wie sein Glaube lebt (in seiner inneren Welt und in seinen Beziehungen), wie er sich während seines Lebens verwandelt und wie er sein Leben verwandelt – und ob, wie und in welchem Maße sein Glaube auch die Welt verwandelt, in der er lebt.
Erst die Glaubenspraxis – die sowohl das innere geistliche Leben eines Gläubigen als auch sein Leben in der Gesellschaft einschließt – erlaubt eine Aussage darüber, an welchen Gott er glaubt und an welchen er nicht glaubt. Der Glaube als emuna, als ein »ontologisches Ur-Vertrauen«, ist nicht ein bloßer emotionaler Fideismus, ein unbestimmtes, frommes Gefühl. Sicher wäre es nicht richtig, den Inhalt des Glaubens (fides quae) zu unterschätzen und ihn vom Akt des Glaubens abzutrennen. Das existenzielle Element des Glaubens, der Akt des Glaubens, der sich in der Lebenspraxis verkörpert, hat jedoch in mancherlei Hinsicht den Vorrang vor seiner »inhaltlichen« und kognitiven Seite.
Der »Gegenstand des Glaubens« ist in gewissem Sinne im Akt des Glaubens, im Leben eines Gläubigen implizit enthalten. Deshalb kann erst die Lebenspraxis eines Menschen der hermeneutische Schlüssel sein, der es ermöglicht, zu erkennen, woran ein Mensch tatsächlich glaubt, worauf er sein Leben baut, und nicht nur, wozu er sich mit seinen Worten bekennt.
Dieses Glaubensverständnis ermöglicht es, von einem »Glauben der Ungläubigen« zu sprechen (derer, die behaupten, dass sie nicht glauben) und von einem »Unglauben der Gläubigen« (derer, die behaupten, dass sie glauben). Bereits im Neuen Testament (im Matthäusevangelium und im Jakobusbrief) finden wir die Auffassung eines impliziten Glaubens – das heißt eines Glaubens, der auch »anonym« in der Lebenspraxis enthalten ist. Ein Mensch kann seinen Glauben aufgrund seiner Werke zeigen, lesen wir im Brief des Apostels Jakobus.10 Manchmal kann ein Mensch selbst von dem Glauben überrascht sein, der in seinem Handeln verborgen ist: Nach dem Matthäusevangelium sind diejenigen, die sich der Geringsten angenommen haben, Christus begegnet, ohne es zu wissen.11 Und der antike Autor Theophilus von Antiochien schreibt: »Wenn du sagst: ›Zeig mir deinen Gott‹, antworte ich dir: ›Zeig mir deinen Menschen, und ich zeige dir meinen Gott‹.«12
Die Weise, wie ein Mensch Mensch ist, ist der authentischste Ausdruck seines Glaubens oder Unglaubens. Über den Glauben eines Menschen gibt sein Leben eher Auskunft als das, was er über Gott denkt und sagt. Wenn wir davon sprechen, wie ein Mensch lebt, sollten wir uns jedoch davor hüten, die Ganzheit des Lebens nur auf das Gebiet der Moral, auf Tugenden und Sünden zu reduzieren; dazu, wie ein Mensch lebt, wie er ist, gehört auch sein emotionaler Reichtum, seine Fantasie und Kreativität, sein Sinn für die Schönheit und für Humor, seine Fähigkeit zur Empathie und eine ganze Reihe anderer Qualitäten. Darüber, wie ein Mensch ist und welche Art des Glaubens sein Leben inspiriert und trägt, gibt die Weise Auskunft, wie er die Aufgabe erfüllt, »Mensch zu sein«.
2 Vgl. Lk 5.
3 Der Begriff der »Achsenzeit« ist von Karl Jaspers geprägt worden; er meinte damit die Zeit vom 8. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr., als unabhängig voneinander viele bis heute existierende Religionen entstanden und ältere verwandelt wurden, wobei der Akzent auf der Transzendenz und der ethischen Dimension lag. Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949.
4 Auf eine gewissen Art ist sie auch im säkularen Humanismus enthalten, diesem ungewollten Kind des traditionellen Christentums, und wahrscheinlich auch in verschiedenen Formen der zeitgenössischen nichttraditionellen Spiritualitäten; in ihnen vermischt sich jedoch oft der Glaube mit der Gnosis – mit der geistigen Orientierung, die jahrhundertelang seine Konkurrenz war.
5 Vgl. Jes 1,17; Ps 82,3; Jak 1,27.
6 Hebr 11,8.
7 Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, in: ders. Schriften zum Christentum (= Martin Buber Werkausgabe 9), Gütersloh 2011, S. 202–312, bes. S. 202f.
8 Diese Auffassung Christi findet sich in der Offenbarung des Johannes, in der Theologie der antiken Kirchenväter, in der Spiritualität des christlichen Ostens und in der mittelalterlichen Tradition der Franziskaner, und sie wird wieder lebendig bei Teilhard de Chardin in seiner Auffassung Christi als des Punktes Omega der Entwicklung des Kosmos sowie in der Spiritualität des kosmischen Christus, die heute vor allem der amerikanische Franziskaner Richard Rohr entwickelt. Vgl. Pierre Teilhard de Chardin, Das göttliche Milieu. Ein Entwurf des inneren Lebens, Olten/Freiburg 1969; Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen. Die Wiederentdeckung des universalen Christus, Gütersloh 2019.
9 Vgl. Gal 3,28.
10 Vgl. Jak 2,18.
11 Vgl. Mt 25, 31–46.
12 Vgl. Theophilus von Antiochien, Ad Autolycum 1,2,1.
Der Glaube und der Nichtglaube leben in einer weit tieferen Dimension des Menschen als lediglich in dem bewussten und der Vernunft zugänglichen Gebiet; sie leben auch in den unterbewussten und unbewussten Strukturen seines seelischen Lebens, auf die sich die Tiefenpsychologie konzentriert. Die Vorstellung, dass der Glaube etwas ist, das wir leicht verstehen und womit wir bald fertig werden können, das wir schnell in vorgegebene Kategorien einordnen und einfach empirisch messen können, hat schon viele Missverständnisse und Irrtümer verursacht.
Die Antworten auf Umfragen in Zeitschriften, demoskopische Forschungsergebnisse oder die Angaben bei Volkszählungen sagen nicht viel über den Glauben aus. Viele Menschen haben heute das Bedürfnis, der Antwort auf die Frage, ob sie an Gott glauben oder nicht glauben, ein »aber« hinzuzufügen. Auch ich beantworte diese Frage: Ich glaube, aber vielleicht nicht an den Gott, den Sie meinen.
Den Glauben, wie ich ihn in diesem Buch verstehe, finden wir nicht nur im Leben der Menschen, die sich selbst als im religiösen Sinne gläubig bezeichnen, sondern auch in einer impliziten, anonymen Form in der geistigen Suche von Männern und Frauen jenseits der sichtbaren Grenzen der religiösen Doktrinen und Institutionen. Auch die säkulare Spiritualität gehört zur Glaubensgeschichte.13 Mit diesem weiten Verständnis des Glaubens beabsichtige ich jedoch nicht, den Begriff des Glaubens zu einer vagen Gestalt verschwimmen zu lassen durch die banale Aussage, dass »jeder an etwas glaubt« und dass auch ein Nichtgläubiger in gewissem Sinne ein Gläubiger ist. Ich spreche vom »Unglauben der Gläubigen« und vom »Glauben der Ungläubigen«; mit der Rede vom Glauben der Ungläubigen beabsichtige ich jedoch nicht, die Welt der Nichtgläubigen arrogant zu kolonisieren, ihrem eigenen Selbstverständnis den Respekt zu verweigern, ihnen etwas unterzujubeln, was ihnen fremd ist. Ich möchte nur einen weiteren Kontext des Phänomens des Glaubens zeigen; das, was der Glaube ist und was er nicht ist, muss notwendigerweise immer wieder durch ein aufmerksames Studium verschiedener Formen des Glaubens und des Nichtglaubens gesucht werden.
Der Glaube und der Nichtglaube sind keine vom Beobachter unabhängig existierenden »objektiven Realitäten«. Es sind verschiedene Deutungen der Welt, und auch diese werden unterschiedlich gedeutet. Diese Deutungen sind vor allem vom Beobachter abhängig, von seinen »Vorverständnissen«, die von seiner Kultur, seiner Sprache, von seinen Erfahrungen, von seinem Blickwinkel und seinen (meistens nicht reflektierten) Absichten geprägt sind. Die gegenwärtige geistig-geistliche Situation kann man als einen Niedergang der Religion, als eine Krise des Glaubens oder der Kirche oder als eine religiöse und spirituelle Renaissance, als eine »Rückkehr der Religion« charakterisieren, als eine Verwandlung der Religion in Spiritualität oder in politische identitäre Ideologien, als Pluralisierung der Religion oder als Individualisierung des Glaubens, eventuell als Chance zu einer neuen Evangelisierung. Für all diese Deutungen können wir zahlreiche Argumente finden, und empirische Forschungen können diese stützen. Gewicht gewinnen diese Deutungen in dem Augenblick, wenn sie die Haltungen und das praktische Handeln derjenigen motivieren, die sie annehmen. Auf der theoretischen Ebene existiert natürlich eine Pluralität, ja sogar ein legitimer Konflikt der Deutungen; das bedeutet jedoch nicht, dass alle gleichwertig sind. Ihr Wert zeigt sich jedoch vollständig erst im Augenblick ihrer Konkretisierung im menschlichen Handeln. Hier gilt der biblische Grundsatz: Man erkennt sie an ihren Früchten.
Den Glauben und den Nichtglauben kann man – besonders heute, angesichts der Kultur einer globalisierten Welt, in der sich verschiedene spirituelle Strömungen und Haltungen stets gegenseitig beeinflussen – nicht ganz eindeutig voneinander unterscheiden und trennen; in den Gedanken vieler heutiger Menschen durchdringen sie sich nämlich gegenseitig. Der Dialog zwischen dem Glauben und dem Nichtglauben ist heute nicht mehr die Angelegenheit zweier strikt voneinander getrennten Gruppen; er geschieht im Geist und im Herzen der einzelnen Menschen.
Die heutigen Verwandlungen des Glaubens erfordern es offenbar, dass viele Kategorien der traditionellen Religionssoziologie und -psychologie modifiziert werden. Die Kategorien »Glaube und Unglaube«, »gläubig und ungläubig«, wie sie frühere Generationen verstanden haben, sind nicht mehr in der Lage, die Buntheit und die Dynamik des geistig-geistlichen Lebens unserer Zeit zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen; undurchdringliche Mauern zwischen den Gläubigen und den Nichtgläubigen, zwischen dem Glauben und der Skepsis sind gefallen, ähnlich wie manche scheinbar unerschütterlichen Mauern auf der politischen und kulturellen Bühne. Wenn wir unsere vielfältige und sich schnell ändernde Welt verstehen wollen, müssen wir viele allzu statische Kategorien ablegen. Das geistig-geistliche Leben des Einzelnen und der Gesellschaft ist ein dynamisches energetisches Feld, das sich ständig verwandelt.
***
Theologisch gesehen ist die erste Quelle (»das Subjekt«) des Glaubens Gott selbst: Er hat den Menschen als sein Abbild geschaffen und in die Struktur unseres Menschseins die Sehnsucht nach sich hineingelegt, das Streben des Abbildes nach seinem Urbild. Manche theologischen Schulen unterscheiden verhältnismäßig strikt zwischen der »natürlichen« menschlichen Sehnsucht nach dem Absoluten und der »übernatürlichen« Antwort Gottes, dem Geschenk der Gnade. Andere behaupten, dass im Menschen schon diese Sehnsucht selbst als »Gnade« wirkt, als die Energie Gottes, die den Menschen für das größte Geschenk öffnet und disponiert, für die Selbstmitteilung Gottes.
Dieser Durst nach dem Absoluten erwacht in den einzelnen Menschen mit verschiedener Intensität, in unterschiedlichem Alter, unter jeweils anderen Umständen; er kommt zu ihnen auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlichen Gestalten. Er kann sich als ein innerer Impuls zu einer geistig-geistlichen Suche äußern, als Frage nach dem Sinn, und er kann durch die Erziehung oder die Kultur angeregt werden. Die geistig-geistliche Suche erscheint manchmal auch in scheinbar völlig nichtreligiösen Formen als Sehnsucht nach dem Guten, nach der Wahrheit und der Schönheit (die jedoch traditionelle Attribute Gottes sind) oder nach der Liebe und nach dem Sinn. Manchmal arbeitet sie lange still in den Tiefen des Unbewussten und quillt dann auf in den Augenblicken, die als eine Erleuchtung, ein Erwachen oder eine Umkehr beschrieben werden. In der Sehnsucht nach der Tiefe, nach einem tieferen Sinn des Lebens spricht eine rufende und berufende Stimme zum Menschen – und der Mensch hört ihr zu oder nicht, er versteht und deutet sie auf eine je verschiedene Art und Weise und antwortet auf eine je verschiedene Art und Weise auf sie. Dieses Rufen kann jedoch vom Menschen überhört und dieses Fragen von ihm selbst oder von seiner gesellschaftlichen Umgebung ins Unbewusste verdrängt werden. Ich bin überzeugt, dass Gott zu jedem spricht; zu jedem jedoch auf eine andere Art, die dem Maß seiner Fähigkeit, zuzuhören und zu verstehen, entspricht. Diese Fähigkeit ist uns jedoch nur ansatzweise gegeben, es ist notwendig, dass der Mensch sie pflegt und entwickelt. Dabei kann die Kultur helfen, in der er lebt, sie muss es aber nicht. Manche Kulturen hielten die Sorge um die Seele für ihre Hauptaufgabe und ihren eigentlichen Sinn, andere scheinen gegenüber dieser Dimension des Menschseins gleichgültig zu sein.
Nach der traditionellen christlichen Lehre kommt Gott durch das Wort, durch das Wort der biblischen Verkündigung und durch das Wort, das in der Geschichte Fleisch annimmt – durch Christus und durch die Kirche, die auf vielerlei Arten dem Menschen dieses Wort vermittelt. Jedoch kann die Antwort Gottes auch still und von innen kommen, sogar anonym. Im Glaubensakt – vor allem im Ereignis des Glaubens im Leben eines konkreten Menschen – lässt sich nur theoretisch zwischen der Transzendenz und der Immanenz unterscheiden, zwischen Gott als demjenigen, der »ganz anders« ist und alles übersteigt, und Gott, der tiefer in uns ist als unser eigenes Ich, der das »Ich unseres Ichs« ist.
Durch die freie Antwort des Menschen auf den Ruf Gottes wird der dialogische Charakter des Glaubens vollendet. Unsere Antwort ist unser persönlicher Glaube – und zwar sowohl seine existenzielle Seite, der Akt des Glaubens (fides qua, faith), als auch der Inhalt unseres persönlichen Glaubens, seine Artikulation in der Gestalt unserer Glaubensüberzeugungen (fides quae, belief).
Fides qua und fides quae, der Akt des Glaubens und der Inhalt des Glaubens, gehören zusammen. Während jedoch »der Gegenstand des Glaubens« im Akt des Glaubens als eines »ontologischen Ur-Vertrauens« verborgen und implizit im Akt des Glaubens anwesend sein kann, gilt das Umgekehrte nicht. Die bloße »religiöse Überzeugung« ohne den Glauben als eine existenzielle Orientierung, eine Lebenshaltung, kann man nicht als einen Glauben im biblischen und im christlichen Sinne dieses Wortes ansehen.
Die fides quae, die »Überzeugung«, verleiht dem Glauben im Sinne der fides qua Worte und damit die Möglichkeit, sich verbal und intellektuell auszudrücken und mit anderen zu kommunizieren. Die fides qua (faith) ohne die fides quae (belief) ist vielleicht »stumm«, jedoch muss diese »Stummheit« keine Inhaltslosigkeit sein; sie kann ein staunendes und demütiges Verstummen vor dem Geheimnis sein. Die Mystiker wussten immer, dass die pure Leere nur ein anderes Gesicht der Fülle ist – vielleicht sogar ihr authentischstes Gesicht.
Wie Søren Kierkegaard schreibt, kann der Akt des Glaubens auch die Form eines Sprungs in das Paradoxon haben.14 Er kann die Form eines mystischen Eingehens in die Wolke des Nichtwissens15 haben oder die des Wegzugs Abrahams in das Unbekannte.16 Ein solcher Glaube ist nicht vergegenständlicht (reifiziert), deswegen aber nicht inhaltslos. In der Bibel und in den Traditionen, die aus der Bibel hervorgehen, finden wir sowohl den Satz »Ich weiß, wem ich Glauben geschenkt habe«17 und sehr klar artikulierte Glaubensbekenntnisse als auch ein strenges Verbot, den Namen Gottes auszusprechen, und das mystische Schweigen über Gott. Vor allem die mystischen Traditionen wissen, dass Gott »nichts« ist (er ist nichts aus der Welt des Seienden, der Sachen, der Gegenstände) und dass das Wort nichts vielleicht der angemessenste Ausdruck für die Weise seiner Existenz ist. Die Einmaligkeit Gottes darf nicht in der Welt verschiedener »Etwasse« verloren gehen, denn der Gott des biblischen Glaubens wohnt nicht zwischen den Götzen, er darf nicht zum Bestandteil der Welt der religiösen Vorstellungen, Wünsche und Fantasien des Menschen werden. Paulus ging auf dem Aeropag in Athen an allen Altären der bekannten Götter vorbei, und einzig und allein im Altar des unbekannten Gottes erkannte er die Anwesenheit des Gottes seines und unseres Glaubens.18
***
Der Glaubensakt hat in der Regel die Gestalt einer intentionalen Beziehung zu einem bestimmten Gegenüber; der Mensch glaubt an etwas, er glaubt jemandem oder etwas – das ist dann die fides quae. Der Glaubensakt hat einen Inhalt, der dieses oder jenes Maß an Konkretheit aufweist, er ist auf etwas ausgerichtet, er hat seinen Gegenstand. Die ursprüngliche Quelle, das Subjekt des Glaubens, wird zum Objekt, zum Gegenstand des Glaubens. Wenn jedoch der Gegenstand des Glaubens das alles übergreifende Geheimnis ist, dann kann es von seiner Natur her nicht zum Gegenstand im Sinne »einer Sache unter anderen Sachen« werden; das Geheimnis kann nicht »vergegenständlicht« werden. Das absolute Geheimnis bleibt auch in seiner Selbstoffenbarung ein Geheimnis: Das, was in ihm offenbar und zu begreifen ist, verweist auf das, was nicht offenbar und nicht zu begreifen ist.
Das absolute Geheimnis können wir nicht in die Welt unserer Vorstellungen und Worte einzwängen, in die Welt, die durch unsere Subjektivität und durch die Beschränktheit der Zeit und der Kultur, in der wir leben und denken, limitiert ist. Deshalb gilt: Während die fides qua, die existenzielle Hingabe an Gott, sich auf Gott als solchen bezieht, stößt unsere fides quae, also das Bemühen, dieses Geheimnis zu artikulieren und somit in gewissem Maße dieses Geheimnis zu vergegenständlichen, an die Grenzen der menschlichen rationalen Erkenntnis und gibt uns nur eine durch unsere Sprache und Kultur begrenzte Vorstellung von Gott, ein Abbild Gottes. Dieses kann als ein Symbol der Weg zu Gott sein, aber man darf es nicht mit dem Geheimnis des Absoluten selbst verwechseln.19 Dieses Geheimnis gibt sich uns auf eine Art, die für unsere Erlösung völlig ausreicht (wenn wir uns ihm gegenüber mit unserem Leben öffnen), aber es bleibt ein Geheimnis, es lässt also Raum für unsere weitere Suche, für unser weiteres Reifen im Glauben.
Gott als Person zu begreifen bedeutet nicht, primitive anthropomorphe Vorstellungen über Gott anzunehmen und sich zu Gott in einer billigen Weise familiär zu verhalten, also aufzuhören, ihn als Geheimnis wahrzunehmen. Wenn das Christentum dem absoluten Geheimnis einen »persönlichen« Charakter zuschreibt, betont es dadurch, dass unsere Beziehung zu ihm einen dialogischen Charakter hat: Sie ist nicht nur ein Akt des Erkennens und Verstehens von unserer Seite, sondern auch eine Begegnung, bei der Gott uns annimmt. Diese gegenseitige Annahme Gottes und des Menschen ist kein einmaliger Akt, es ist eine Geschichte, ein Handeln, das sich entwickelt.
Der Geist Gottes führt die Kirche immer tiefer in die Fülle der Wahrheit ein, es ist notwendig, sich von ihm leiten zu lassen. Diese Bewegung darf man jedoch nicht mit dem Fortschritt verwechseln, wie ihn die säkulare Eschatologie und Ideologie versteht; dieser Weg ist nicht einbahnig und er endet nicht mit einem idealen Zustand mitten in der Geschichte, sondern erst in der Fülle der Zeit im Schoß Gottes. Der hl. Augustinus begriff beim Anblick eines Jungen, der am Meeresstrand mit einer Muschel spielte, dass unsere ganze Theologie, die Katechismen und die Lehrbücher der Dogmatik im Vergleich zu der Fülle des göttlichen Geheimnisses nur jene kleine Muschel sind. Nutzen wir dankbar alle Instrumente der Erkenntnis, die uns gegeben wurden; hören wir jedoch gleichzeitig nicht auf, über die Größe und Tiefe dessen zu staunen, was sie unendlich übersteigt.
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Dem existenziellen Verständnis des Glaubens, das ich in diesem Buch vertrete, kommt in einem religionswissenschaftlichen oder theologischen Wörterbuch wahrscheinlich der Begriff Spiritualität am nächsten, sofern wir ihn nicht zu eng nur im Sinne des inneren Lebens oder der subjektiven Seite des Glaubens auffassen. Spiritualität ist der »Stil des Glaubenslebens«; er füllt praktisch den ganzen Raum der fides qua aus. Sie ist die Lebenskraft des Glaubens, sie nährt und belebt seine beiden Dimensionen: sowohl das geistliche Leben, die innere religiöse Erfahrung, den Stil des Erlebens und des Durchdenkens des Glaubens als auch die äußere Glaubenspraxis, die sich durch das Handeln der Gläubigen in der Gesellschaft, durch das gemeinsame Feiern, durch die Verkörperung des Glaubens in der Kultur kundtut. Diese Dimension des Glaubens halte ich vor allem im Hinblick auf die Zukunft für entscheidend, deshalb werde ich ihr ein eigenes Kapitel widmen.
Ein weiterer Begriff, der von diesem Glaubensverständnis untrennbar ist, ist die Tradition – ein lebendiger Strom der schöpferischen Weitergabe und Bezeugung. Die Tradition ist die Bewegung einer ständigen Rekontextualisierung und Reinterpretation; die Tradition zu studieren bedeutet, die Kontinuität in der Diskontinuität, die Identität in der Pluralität immer neuer Phänomene zu suchen, die im Entwicklungsprozess auftauchen. Der Glaube zeigt sich in diesem Prozess der Weitergabe als ein dynamisches, wandelbares Phänomen, das man nicht in enge Grenzen einzwängen kann.
Wenn wir die Formen des Glaubens in der Geschichte und in der Gegenwart studieren, begegnen wir vielen überraschenden Phänomenen, die bisherige Definitionen infrage stellen und unsere allzu engen Vorstellungen und theoretischen Konzepte überschreiten. Ähnlich wie die Evolutionsbiologie die Unhaltbarkeit eines statischen Begreifens der Natur zeigte, stellt das Studium der Kulturanthropologie die naiven ahistorischen Konzeptionen einer unwandelbaren Natürlichkeit infrage – die menschliche Existenz ist ein dynamischer Bestandteil eines fortschreitenden geschichtlichen Prozesses. Die Fragen nach Gott und dem »Wesen des Menschen« verlangen immer wieder glaubwürdige, sinnvolle und verständliche Antworten im Kontext einer bestimmten Kultur und einer bestimmten geschichtlichen Situation. Hier werden uns mehr als die klassische Metaphysik die Hermeneutik und die Phänomenologie des Glaubens helfen.
Der Glaube in dem Sinne, wie ich über ihn in diesem Buch spreche, ist etwas Wesentlicheres als nur »die Zustimmung der Vernunft zu den Glaubensartikeln, die von der kirchlichen Autorität vorgelegt werden«. Die vom Evangelium geforderte metanoia – die Konversion, die Annahme des Glaubens – ist nicht nur eine Änderung der Weltanschauung, sondern eine existenzielle Umkehr und die sich aus ihr ergebende Änderung der Perspektive des Sehens und des Wahrnehmens; das bedeutet eher, aufzuwachen und sich auf den Weg eines neuen Lebens zu begeben. Ein solches Erwachen kann ganz am Anfang eines Glaubensweges stehen oder eine sich wiederholende Erfahrung darstellen, die eine neue Etappe auf diesem Weg eröffnet.
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Eine ähnliche Erfahrung machten offenbar die Apostel auf dem Berg Tabor.20 Die Jünger Jesu waren ihrem Meister bereits nachgefolgt: Sie hatten schon begonnen, an ihn zu glauben, als er ihnen riet, wohin sie die Netze werfen sollten, als sie seine Predigten hörten, als sie seine Zeichen sahen, als sie ihr Zuhause verließen und sich auf die Wanderschaft mit ihm begaben. Bei jener Vision auf dem Berg machten sie jedoch einen weiteren Schritt auf dem Weg des Glaubens. Dort erlebten sie etwas, was die spätere Theologie in die dogmatischen Artikel über das Wesen Jesu und seinen Platz in der Heilsgeschichte (neben Mose und Elija) verkörperte. Dort erkannten sie etwas, das sie noch nicht mit Worten fassen konnten; im Übrigen war ihr Erkennen von einer Wolke verhüllt. Sie wurden nicht zu Weisen und Wissenden, zu einer aufgeklärten Elite (den Gnostikern). Sie mussten die Sehnsucht danach ablegen, in diesem Erlebnis der Nähe und Klarheit weit und hoch über dem Tal der Alltäglichkeit heimisch zu werden (»drei Hütten auf dem Berg zu bauen«); nach dieser peak experience21 erwartete sie der Weg nach unten und nach einiger Zeit die Finsternis in Getsemani. »Das Licht vom Berg Tabor« stört nicht den Charakter des Geheimnisses, es macht aus ihm nicht ein gelöstes Problem, es befreit den Gläubigen nicht von der Aufgabe, weiter auf dem Weg der Suche nach Gott, »der Suche in allen Dingen«, voranzuschreiten.
Der Glaube, wie ich ihn verstehe, hat den Charakter der Pilgerschaft und ein eschatologisches Ziel. Auch wenn wir das Recht der kirchlichen Autorität anerkennen, bestimmte Glaubensaussagen für authentisch und verbindlich zu erklären, bedeutet es nicht, dass wir den Mund Gottes schließen könnten und das fortwährende Wehen des Geistes nicht mehr wahrnehmen müssten; keine einzelne religiöse Erfahrung, kein einzelnes Begreifen, keine einzelne Äußerung des Glaubens inmitten der Geschichte kann die Fülle des göttlichen Geheimnisses erschöpfen. Das Wort Geheimnis ist kein warnendes Stop-Zeichen für unsere Suche nach Gott auf dem Weg des Denkens, des Gebetes und der Meditation, sondern eher eine Ermutigung zum Vertrauen auf diesen Wegen in die unerschöpfliche Tiefe.
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Gott an sich bleibt ein unergründliches Geheimnis, und verborgen ist auch sein Wirken in den Tiefen des menschlichen Herzens (im Unbewussten). Das innere Leben Gottes ist ein Geheimnis, das unbegreiflich ist, das nicht durch unsere Sinne, unsere Vernunft und unsere Fantasie zu begreifen, durch unsere Begriffe nicht zu erfassen ist. Vielleicht ist das nicht deshalb so, weil Gott fremd und fern wäre, sondern gerade deshalb, weil er uns so unglaublich nah ist: Gott ist uns näher als unser eigenes Herz, sagt der hl. Augustinus. Gerade wegen dieser seiner Nähe, deshalb, weil wir von ihm keinen Abstand haben, können wir aus ihm keinen Gegen-stand machen (kein Objekt, das uns gegenübersteht). Jeder Versuch, ihn zu vergegenständlichen, macht aus Gott einen Götzen. Gott sehen wir genauso wenig, wie wir unser eigenes Gesicht sehen; wir sehen nur unser spiegelverkehrtes Bild. Ähnlich sehen wir auch Gott – wie der Apostel Paulus lehrt – nur wie im Spiegel, in Andeutungen, in Rätseln.22 Gott ist non-aliud (»nicht-anders«), wie Nikolaus von Kues sagt.23
Die Frage »Wo ist Gott an sich?« ist ebenso wenig zu beantworten wie die Frage, wo unser Ich wohnt; weder Gott noch das menschliche Ich kann man fixieren oder lokalisieren, vergegenständlichen. Die Mystiker sagen, dass das göttliche Ich und unser menschliches Ich in ihrem Wesen miteinander verbunden sind. Deshalb sind auch die Begegnung mit Gott und die existenzielle Verwandlung unseres Ichs – die Entdeckung Gottes als des Ichs unseres Ichs – zwei wesenhaft miteinander verbundene Wirklichkeiten. Im Glauben, in dieser existenziellen Begegnung mit dem alles übersteigenden Geheimnis, zeigt sich der wahre Charakter der menschlichen Existenz: ihre Offenheit. Die theologische Anthropologie, die sich auf die mystische Erfahrung stützt, sieht in dieser Offenheit das Wesen der menschlichen Existenz selbst: Homo est capax Dei (Der Mensch ist fähig, Gott anzunehmen).
Die christliche Theologie sieht in der Person Jesu Christi den Punkt, in dem die Begegnung zwischen der Offenheit des Menschen zu Gott hin und der Offenheit Gottes zum Menschen hin ihren Gipfel erreicht. Jesus hat jedoch – wie wir in den ältesten Texten des Neuen Testaments lesen – diese göttliche Würde nicht für sich behalten,24 sondern durch ihn und mit ihm und in ihm ist die ganze Menschheit – jeder Mensch – in das Weihnachtsmysterium der Inkarnation, der Verbindung des Menschlichen und des Göttlichen, eingeladen und einbezogen. Diese Erfüllung des Sinnes unseres Menschseins geschieht nicht nur dort, wo die Menschen zu Jesus sagen: »Herr, Herr«, sondern überall dort, wo sie so leben, dass sie dadurch den Willen Gottes erfüllen.25
Ich wiederhole: Wenn wir einen Maßstab für die Authentizität des Glaubens suchen wollen, dann sollen wir ihn nicht in dem suchen, was der Mensch mit seinen Worten bekennt, sondern in dem Ausmaß, mit welchem der Glaube in seine Existenz, in sein Herz vorgedrungen ist und es verwandelt hat. Wir sollen ihn in der Weise suchen, wie er sich selbst versteht, in seiner gelebten Beziehung zur Welt, zur Natur und zu den Menschen, zum Leben und zum Tod. Den Glauben an den Schöpfer bekennt der Mensch nicht durch das, was er über die Entstehung der Welt denkt, sondern dadurch, wie er sich zur Natur verhält; den Glauben an den gemeinsamen Vater bekennt er dadurch, dass er andere Menschen als seine Schwestern und Brüder annimmt; und den Glauben an das ewige Leben bekennt er durch die Weise, wie er seine eigene Endlichkeit annimmt.
Wenn amtliche Repräsentanten der Kirche über den Glauben anderer geurteilt haben (indem sie sie verbrannten und sie noch bis vor Kurzem auf verschiedene Art und Weise verfolgten und zurechtwiesen), und zwar auf der Grundlage dessen, was die Menschen mit Worten über ihr Verständnis des Glaubens sagten oder schrieben, ließen sie dabei tragischerweise außer Acht, dass Gott über den Glauben der Menschen urteilen wird (und auch über den Glauben dieser Inquisitoren!), und zwar gemäß dem, wie er sich in ihrem Verhalten und in ihren Beziehungen äußerte, was ihre Lebenspraxis über ihren Glauben, seine Authentizität oder Verkehrtheit aussagte – über ihren wirklichen Glauben oder Unglauben. Wir können und sollen in einem brüderlichen Dialog unsere unterschiedlichen Glaubenserfahrungen teilen, wir können uns gegenseitig helfen, inspirieren, ergänzen und korrigieren und dabei unsere Aussagen über den Glauben vertiefen, aber über der Tür des Saales, wo solche Begegnungen stattfinden, sollte deutlich das Wort Jesu eingemeißelt sein: Richtet nicht! (Bei einem freundschaftlichen Besuch bei einem meiner Kollegen, der im vatikanischen Palast der Kongregation für die Glaubenslehre arbeitet, habe ich über keiner einzigen Tür dieses ehemaligen Sitzes der Heiligen Inquisition diese Inschrift gefunden.)
Der Glaube und der Unglaube betreffen den ganzen Menschen, und deshalb kann deren Authentizität im Leben konkreter Menschen nur Gott selbst beurteilen. Eins können wir jedoch mit Sicherheit feststellen: Ein militanter Fanatismus ist häufig die Lieblingsmaske des existenziellen Nichtglaubens.
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Ich teile nicht die deistische Vorstellung von einem Gott, der irgendwo außerhalb der Realität der Welt, der Natur und der Geschichte wohnt, von ihr streng abgetrennt ist und in sie höchstens von außen als deus ex machina eingreift. Ich glaube an einen Gott, der die Tiefe der gesamten Wirklichkeit, der ganzen Schöpfung ist, der sie umfasst und sie gleichzeitig unendlich übersteigt; ich glaube an den Gott, von dem der Apostel Paulus sagt: »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.«26
Der Gott, an den ich glaube, ist in unserer Welt vor allem durch das Gebet und die Arbeit der Menschen anwesend (denken wir an das benediktinische ora et labora), durch die menschlichen Antworten auf die Impulse Gottes (traditionell gesagt: auf das Wirken der Gnade) – in einem Leben des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Theologisch gesehen sind der Glaube, die Hoffnung und die Liebe nicht nur menschliche Lebenshaltungen, sondern der Ort der Begegnung und der wesenhaften Verbindung (perichoresis) des Göttlichen und des Menschlichen, der Gnade und der Freiheit, des Himmels und der Erde. In ihnen ist Gott und sein Leben unserer Erforschung zugänglich. Die Theologie, zu der ich mich bekenne, ist eine Phänomenologie der Selbstoffenbarung Gottes in den Glaubensakten, die von der Liebe und von der Hoffnung begleitet werden.
13 Der Begründer der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jung, dessen Werk eine der Inspirationsquellen dieses Buches ist, ließ über der Tür seines Hauses den Satz einmeißeln: Vocatus atque non vocatus, Deus aderit (»Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein«). Der Glaube hat seine manifesten und seine latenten Formen, er lebt im Bewusstsein und im Unbewussten des Menschen. Die offenkundige und die verborgene, die bewusste und die unbewusste, die explizite und die implizite (»anonyme«) Form des Glaubens (und Unglaubens) können manchmal in einer Spannung zueinander stehen; deshalb können wir in manchen Fällen auch vom »Glauben der Ungläubigen« und vom »Unglauben der Gläubigen« sprechen.
14 Dieses Motiv durchzieht fast alle Schriften Kierkegaards über den Glauben (vgl. z. B. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern [Gesammelte Werke und Tagebücher 3], Simmerath 2004 und DieKrankheit zum Tode [Gesammelte Werke und Tagebücher 17], Simmerath 2004)
15Die Wolke des Nichtwissens ist eine mittelalterliche mystische Schrift eines unbekannten englischen Autors.
16 Vgl. Hebr 11,8.
17 Vgl. 2 Tim 1,12.
18 Vgl. Apg 17,22–23.
19 Die traditionelle thomistische Theologie lehrt, dass Gott die Grenzen der menschlichen Erkenntnis Gottes respektiert, aber zwischen den menschlichen Begriffen und dem geheimnisvollen Wesen Gottes eine Beziehung der Ähnlichkeit, der Analogie, besteht. Das 4. Laterankonzil fügt hinzu, dass die Unähnlichkeit in diesem Verhältnis diese Ähnlichkeit jedoch unendlich übersteigt.
20 Vgl. Mt 17, 1–8.
21 Der Begriff peak experience (Gipfelerlebnis) für sich wandelnde mystische Erfahrungen wird von der existenziellen Psychologie verwendet, vor allem von Abraham H. Maslow (vgl. Abraham H. Maslow, Religions, Values and Peak-Experiences, New York/London 1967; deutsche Ausgabe: Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, Wuppertal 2014).
22 Vgl. 1 Kor 13,12.
23 Vgl. Nikolaus von Kues, Vom Nichtanderen / De li non-aliud, hrsg. von Paul Wilpert, Hamburg 21976.
24 Vgl. Phil 2,6–11.
25 Vgl. Mt 7,21.
26 Apg 17,28.
Dieses Kapitel widme ich vorwiegend den methodologischen Fragen, unter anderem auch dem Verhältnis des Glaubens zur Geschichte und zur Kultur. Den theologischen Zugang, der in diesem Buch angewendet wird, nenne ich Kairologie. Ich bezeichne mit diesem Wort die theologische Hermeneutik der Glaubenserfahrung in der Geschichte, insbesondere in den krisenhaften Augenblicken von Umbrüchen in den gesellschaftlichen und kulturellen Paradigmen.27
Ich halte Krisen für eine Zeit der Gelegenheit, für eine reif gewordene Zeit (kairos). Es gibt zwei griechische Wörter, die sich auf zwei verschiedene Auffassungen von Zeit beziehen: Chronos bezeichnet die Zeit als Quantum, die Aufeinanderfolge der Stunden, der Tage und der Jahre, den Fluss der Zeit, der mithilfe unserer Uhren und Kalender messbar ist. Das Wort kairos weist dagegen auf die Qualität der Zeit hin: Der kairos ist die Zeit der Gelegenheit, die Zeit für etwas, eine reif gewordene Zeit, die Zeit der Heimsuchung; es ist die Ankunft (der Advent) einmaliger und unwiederholbarer Augenblicke, deren Sinn man verstehen und deren Forderungen man ergreifen und erfüllen soll; es ist die Zeit des Entscheidens, ein entscheidender Moment, den man nicht versäumen und vergeuden darf. Es gibt »eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit, die Pflanzen abzuernten, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Einreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen«, sagt das biblische Buch Kohelet.28 Jesus beginnt sein öffentliches Wirken mit dem Satz: Die Zeit ist erfüllt! Seinen Zeitgenossen wirft er vor, dass sie zwar in der Lage sind, das Wetter des folgenden Tages vorauszusagen, aber die Zeichen dieser Zeit nicht verstehen und nicht verstehen wollen.29
Die Zeichen der Zeit (ta semeia ton kairon) wahrzunehmen und zu deuten war in der Bibel und in der christlichen Tradition die Aufgabe der Propheten. Die biblischen Propheten waren keine Wahrsager, keine Futurologen, welche die Zukunft prophezeiten; sie waren vor allem Interpreten der gegenwärtigen Ereignisse als einer göttlichen Pädagogik. Die Kairologie bekennt sich zu dieser prophetischen Aufgabe, die Jesus der Kirche vermacht hat. Sie nimmt sich ihrer mithilfe von Methoden an, die der Theologie von der gegenwärtigen Philosophie, vor allem von der Phänomenologie und der Hermeneutik, zur Verfügung gestellt werden.
Ich bin davon überzeugt, dass eine Theologie, die sich im Rahmen der traditionellen Metaphysik bewegt, nicht in der Lage ist, diese Aufgabe zu erfüllen. Die Kairologie unterscheidet sich grundsätzlich von der Ontotheologie, von der metaphysichen »Wissenschaft über Gott«, die den biblischen Gott der Geschichte mit dem griechischen unbewegten ersten Beweger verwechselt. Ich lasse die Spekulationen über das Sein, das Wesen und die Eigenschaften Gottes oder die Beweise über seine Existenz völlig beiseite (»klammere sie ein«). Theologische Traktate mit dem Titel »Gott und sein Leben« habe ich, falls sie nicht vom Leben Gottes in uns und in unserer Geschichte gehandelt haben, immer für unglaubwürdig gehalten.
Der Gottesdienst lässt sich im Christentum nicht vom Dienst am Menschen trennen und die Gotteserkenntnis nicht von der Erkenntnis der Welt und des Menschen. Wenn die Theologie ernst genommen werden soll als ein notwendiger Bestandteil des Dienstes am Menschen, muss sie eine kontextuelle Theologie sein, sie muss die Erfahrung des Glaubens, seine Präsenz im menschlichen Leben und in der Gesellschaft reflektieren. Sie muss über den Glauben im Kontext der Kultur und der geschichtlichen Umbrüche nachdenken, also auch im Dialog mit den Wissenschaften, die sich mit dem Menschen, mit der Kultur, mit der Gesellschaft und mit der Geschichte auseinandersetzen.