Gott los werden? - Tomas Halik - E-Book

Gott los werden? E-Book

Tomás Halík

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Beschreibung

Während wir in Deutschland schleichend und nahezu ohne großes Aufsehen Gott "los werden", berufen sich anderswo Gläubige auf einen Gott, der in den Kampf gegen die in ihren Augen ungläubige Welt zieht. Doch wer Gott einfach nur loswerden will, macht es sich zu einfach: Wer wird dann seinen Platz einnehmen? Die Autoren geben diesen Spannungen Raum und untersuchen die Motive und Haltungen gegenwärtigen Zweifelns und Unglaubens. Darüber hinaus bringen sie ihre jeweiligen biografischen und intellektuelle Kontexte ein und geben dabei Einblicke in ihre persönliche Geschichte.

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Anselm Grün, Tomás Halík, Winfried Nonhoff (Hg.)

Gott los werden?

Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhalt
Titel
Vorwort: Von Gott verlassen?
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Prolog: Der tote Gott
Tomáš Halík
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Wenn Gott schweigt
Die Seele kennt den Atheismus
Anselm Grün
Den Atheismus umarmen
Tomáš Halík
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Die Vielfalt des gelebten Atheismus
Mit der Hypothese Gott – oder ohne sie
Tomáš Halík
Religiös unempfindlich bis spirituell suchend – das bewegte Bild des Atheismus
Anselm Grün
..............................................................
Die Konversion zum Suchen
Gott wittern
Anselm Grün
Die Religion und der geistlich suchende Mensch
Tomáš Halík
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Das Geheimnis leben
Der Weg in die Tiefe
Tomáš Halík
Von den Erfahrungen des Unbeschreiblichen
Anselm Grün
..............................................................
Unterwegs zum Geheimnis – das Nichtdarstellbare in Geschichten
Die Verwandlung – der gemeinsame Weg von Gläubigen und Ungläubigen
Anselm Grün
Der Ungläubige in mir – mein Freund
Tomáš Halík
..............................................................
Epilog: Der unbekannte Gott. Die Areopagrede des Paulus
Anselm Grün
..............................................................

Vorwort: Von Gott verlassen?

Es ist Karfreitag. Karfreitag 2016. Vor wenigen Tagen stöhnten wir auf, als wir von den Terroranschlägen in Brüssel hörten. Und heute, an diesem Karfreitag, erinnert sich der Teil der Menschen, die an den christlichen Gott glauben, an seinen Gesandten, der schreiend in den Tod gehen musste. Man gab ihm in den Mund: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« (Mk 15,34). Verdrehte, ja verrückte Welt. Während in unseren Breiten schleichend und nahezu ohne großes Aufsehen Gott stirbt, berufen sich anderswo fast schrecklich vital Streiter auf einen Gott, der mit ihnen sehr lebend in den Kampf zieht, um Angst und Schrecken über eine in ihren Augen ungläubige Welt zu verbreiten.

Ertappt man sich da nicht bei dem Wunsch, dass er wirklich tot sei, dass wir ihn los seien, diesen Gott, in dessen Namen Leben sortiert, für wert oder unwert, für zerstörens- oder erhaltenswert erachtet wird? Wie oft schon musste ein Gott herhalten, nicht nur um andere Gottheiten, sondern vor allem die Menschen, die diesen anhingen oder die jenem im Kampf sich präsentierenden Gott nicht glaubten, niederzumetzeln? Eine wirre Geschichte in der Tat. Und eine unabgeschlossene noch dazu, wie wir erleben.

Wenn man weiß, dass das so verletzlich-verletzende Wort Gott nicht unbedingt im Mund geführt werden muss, wenn vermeintlich Höchstes gegen weniger Wertvolles aufgeboten wird, um zu morden und niederzupressen, dann wird man noch empfindlicher gegen die religiösen Masken des Terrors in seiner vielfältigen Gestalt.

Und nun Karfreitag. Ich sehe mich konfrontiert mit einer Religion, in der in ganz spezifischem Sinn ein Gottestod nicht nur erinnert, sondern auch liturgisch begangen und als Wesenszug – so paradox das klingen mag – eines lebenden Gottes behauptet wird. Neuzeitlichem Pathos vom Mord an Gott entspricht dies eher nicht. Denn Gott ist es selbst, der den Gekreuzigten verlässt. In aller Vorsicht ist also uns Heutigen zu sagen, dass der Gehenkte in eine absolute Krise seines Bildes von dem, den er Gott nennt, stürzte. Ja, er wurde – welches Leid! – Gott los. Christen können daher sagen: Gott hat uns verlassen, er ist in seiner bisher vertrauten Gestalt tot; jedenfalls empfand es jener einsame Gesandte, jener entscheidende Botschafter und Repräsentant so. Und noch mehr: Er, dem wenig später der Rang Gottes eingeräumt wurde, geht – von jedem Gott verlassen – selbst in den Tod. Wahrlich: Er ist Gott los. Er unterlag der Gewalt von Gottesbesitzern.

Und damit wird »Karfreitag« zu mehr als einem Tag in der Antike zur Zeit der römischen Besatzung Palästinas. Und damit wird jener Gottverlassene am Kreuz zu mehr als einem unglücklich Hingerichteten im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Christlicher Glaube besteht auf der Erfahrung des Todes Gottes – nicht im Sinn einer Abschaffung oder Verbannung. Der Welt und unseren Erfahrungen aber will man gerecht werden mit einer sehr dunklen Ansicht des Göttlichen, die in den Gründungsgeschichten des Glaubens überliefert wird.

Und es scheint der dem verlassenen Jesus zugemutete Tod Gottes zu einem geheimnisvollen Schutz Gottes und zu einer Abwehr eines Gottes in okkupierter Gestalt werden zu können. Karfreitag steht für das große Bilderverbot im Blick auf Gott. Karfreitag rehabilitiert Verlassenheitserfahrungen tiefster und schrecklichster Art im Kern des Glaubens, bis heute. Karfreitag schützt aber auch den immer von bestimmten Definitionen umzingelten und verketzerten Unglauben vor einer allzu abgesicherten Gläubigkeit, die Kampf und Entscheidung fordert. Am Karfreitag – und welcher Tag könnte nicht Karfreitag sein – setzt sich jeder Glaube dem Beben der Erde und der Lichtlosigkeit des Himmels aus. Alle Vorhänge um die Tempel unserer Konzeptionen und geschichtlich verfestigter, um Heiligstes tanzender Behauptungen zerreißen. Welche Chance für geduldiges Leben im mörderischen Karussell der Sieger!

Unser Buch räumt dem Unglauben eine reinigende Bedeutung für den Glauben ein – in mehrfacher Hinsicht: Skepsis, Vorsicht, Zurückhaltung und Scheu des Bekenntnisses mögen gerade dort angebracht sein, wo Gewissheiten zur Waffe in der Hand von sich als gläubig Maskierenden werden. Und jeder Glaube, der in sich den Unglauben strukturell beheimatet, wird seinerseits dann zum Trost und zur Widerständigkeit, wenn Welt und Mensch nur noch im ideologischen Zerrbild gesehen oder in Zynismus und ironischer Abgrenzung missbraucht werden. Welche Chance in der Erschöpfung unserer Suche!

Ungeheuere Spannungen sind auszuhalten: nicht nur zwischen Gott und Gott, zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Haltlosigkeit und Triumphalismus. Auch die bequem konsumistische Zufriedenheit mit dem Hier und Jetzt muss sich dem Verdacht der Fühllosigkeit, der selbstgerechten Apathie und zynischen Verachtung des armen Menschen stellen.

Anders angesetzt: So positive Konsequenzen es haben mag, wenn Götter- und Gottesthrone geräumt, wenn ihre Inhaber gestürzt werden, so dringlich wird dann die Frage, wer sich auf diese leeren Throne des individuellen wie gesellschaftlichen Bewusstseins setzt. Der Streit um Gott hört auch so gesehen nie auf. Er muss weiter ausgefochten werden – um unseres Heiles willen. Wer Gott nur einfachhin loswerden will, macht sich wahrscheinlich die Sache zu einfach. Wer Gott nur unangefochten retten will, könnte einer lebensgefährlichen Illusion aufsitzen. Karfreitag bleibt. Auch wenn uns in Zittern und doch bezeugter Erfahrung ein Ostern zugesprochen ist.

Dieses Buch räumt den genannten Spannungen ihren Platz ein, es untersucht Motive und Haltungen gegenwärtigen Unglaubens. Nicht ohne Grund stellt es seine Denkbewegungen zwischen die Pole der Gott-ist-tot-Diagnose Friedrich Nietzsches und der für den unbekannten Gott sensibilisierenden Rede des Paulus auf dem Areopag Athens. Diese Spannung gilt es für uns heute ebenso fruchtbar werden zu lassen.

Das Buch lebt aber auch aus der Erfahrung zarter, sorgsam zur Sprache gebrachter Glaubensschönheit. Die Rückgewinnung scheuer Gläubigkeit verdankt viel den rückhaltlosen Gott-los-Erfahrungen aus mystischer Herkunft. Die Autoren bringen darüber hinaus persönliche, durchaus verschiedene biografische und intellektuelle Kontexte ein. Sie wagen, Einblicke in ihre persönliche Geschichte zu geben. Denn nur wer den eigenen Karfreitag kennt und von ihm her zu denken und zu reden vermag, der wird auch – Gott zum Schutz und den Menschen behütend – von österlichen Freuden des Glaubens erzählen können.

Karfreitag 2016, Winfried Nonhoff

Prolog: Der tote Gott. Die Rede des tollen Menschen

Tomáš Halík

Der tolle Mensch.– Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen?, sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind?, sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?«, rief er, »ich will es euch sagen!Wir haben ihn getötet– ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: Auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne –und doch haben sie dieselbe getan!« – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin seinRequiem aeternam deoangestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«

Friedrich Nietzsche

Wohin ist Gott?

Wenn man nach Leitsätzen sucht, die das 20. Jahrhundert stark beeinflusst haben, so würde man sicher auf den Satz »Gott ist tot!« stoßen. Ausgesprochen hat diesen Satz Friedrich Nietzsche, der an der Schwelle zum 20. Jahrhundert starb und der sich für einen der »Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts« hielt, »denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten.«1

Nietzsche war nicht der erste und auch nicht der einzige Autor, der die Aussage vom Tod Gottes tätigte; er ist jedoch sicher der bekannteste. Die Erzählung vom tollen Menschen in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft2 ist nicht die einzige Version dieses Gedankens im Werk Nietzsches, sie ist jedoch die bekannteste und wirkungsvollste.

Die Szene auf dem Markt, auf welchen der Eigenbrötler kommt, der mit einer Laterne am hellen Tag den abwesenden Gott sucht, wirkte auf mich immer wie die Aufzeichnung eines Traums. Es gibt Träume, die aus den Tiefen des Unterbewusstseins etwas emportragen, was unsere Vernunft bisher nicht in der Lage war zu erblicken und zu begreifen, eine Botschaft, für die – mit den Worten Nietzsches gesprochen – »noch keine Ohren gewachsen sind«. Die Eingeborenen primitiver Stämme, behauptet C. G. Jung, unterscheiden zwischen »kleinen Träumen«, die nur eine private Bedeutung für Einzelne haben, und »großen Träumen«, die für die Zukunft des ganzen Stammes wichtig sind. Ich denke, dass die Szene, die von Nietzsche beschrieben wurde, in der Tat ein großer Traum ist, der von Bedeutung für das Schicksal unseres ganzen »Stammes« ist. »Wohin ist Gott?« – das ist eine Frage, die zu stellen immer wieder Sinn macht.

Warum ist im Gleichnis Nietzsches der Gottsucher ein Verrückter, ein toller Mensch? Warum wird sowohl diese Frage als auch die Antwort, das Diktum vom Tod Gottes, gerade in den Mund eines Verrückten gelegt? Ist dieser vielleicht jener törichte Mensch aus dem Psalm, in dem zu lesen ist: »Die Toren sagen in ihrem Herzen: Es gibt keinen Gott« (Ps 14,1; Ps 53,2)? Oder ist eher ein Narr, ein Hofnarr, der Einzige, dem es erlaubt ist, verbotene Wahrheiten auszusprechen? Ähnelt er in seiner Torheit einem Kind, das ausspricht, was jeder sehen kann, aber was alle zu sehen und zu benennen fürchten, nämlich dass der Kaiser nackt ist? Oder ist der tolle Mensch nur aus der Perspektive der Menschen auf dem Markt ein Verrückter, der in Wirklichkeit ihre eigene Torheit enthüllt? Ähnelt er mit seiner Laterne am hellen Tag dem Kyniker Diogenes, der den Menschen zeigte, dass ihr Licht in Wirklichkeit die Dunkelheit der Unwissenheit ist? Ist er nicht ein Jurodivyj, einer jener heiligen Narren, von denen die Legenden des christlichen Ostens erzählen? Oder sagte Nietzsche vielleicht sein eigenes Schicksal voraus, das Schicksal eines abgelehnten Propheten, der im Wahnsinn endet?

Die Diagnose des Atheismus und ihre Folgen

Der Schlüsselsatz, der beim Lesen dieses Textes immer wieder übersehen wird, lautet, dass die Adressaten dieser Botschaft Menschen waren, welche nicht an Gott glaubten. Gerade deshalb lachen sie den Menschen aus, der Gott sucht. Sie dagegen suchen ihn nicht mehr, kümmern sich nicht um ihn, fragen nicht nach ihm; Gott hat für sie keine Bedeutung. Ja, der tolle Mensch Nietzsches ist primär gekommen, um die Atheisten zu provozieren, um aus ihrem unproblematischen und unproblematisierten Massenatheismus ein Problem zu machen.

Erst am Ende der Erzählung provoziert der tolle Mensch nach den konventionellen Atheisten auch konventionelle Gläubige, die nicht wissen, dass ihre Kirchen nur Grüfte und Grabmäler eines toten Gottes sind. Vielleicht ähneln sich diese beiden Gruppen von selbstsicheren Menschen – denn die selbstsicheren Ungläubigen, aber auch die selbstsicheren Gläubigen suchen Gott nicht.

Nietzsche wählte stets einen dritten Weg zwischen den Einseitigkeiten, er suchte ein unerforschtes Gebiet »jenseits, hinter« – jenseits des Guten und Bösen, jenseits der Religion und des Atheismus in ihrer traditionellen Gestalt. Seine Rhetorik ist immer dann extrem, wenn er die drohende, nicht durchschaute Einseitigkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit eines der beiden Extreme ausgleichen will. In der Zeit der »Wahrheit des Tages«, die vom Licht der Vernunft beleuchtet wird, betonte er die »Wahrheit der Nacht«, die Zeit, in der die Welt tief ist, tiefer, als es am Tag zu sein schien: »Nicht alles darf vor dem Tage Worte haben.«3

Der tolle Mensch Nietzsches ist nicht gekommen, damit er den Glauben an Gott widerlegt und den Atheismus verkündet, sondern er bringt eher eine Diagnose des Atheismus mit. Er zeigt seine tragische Seite und seine tragischen Folgen. Hinter dem Geheimnis des Verschwindens Gottes, den niemand mehr sucht, steht ein Verbrechen, größer als alle Verbrechen: der Mord an Gott. Es ist ein Verbrechen mit tragischen Folgen für den ganzen Kosmos: Die Sonne der Sicherheiten ist erloschen, wir haben die Orientierung verloren, wir fallen in den leeren Raum. Wir stürzen uns in die dunklen Weiten, weg von der Sonne, in die Kühle des Nichts, fort von allen Sonnen.4

Die Frage nach Gott ist deshalb erloschen, weil die Antwort ein verheimlichtes, vergessenes, ins Unterbewusstsein verdrängtes Verbrechen an die Oberfläche bringen würde. Es war ein kollektives Verbrechen, dessen Täter und Mitschuldige der Tor und seine Zuhörer sind. Es ist ein Verbrechen, für das die Täter die Verantwortung übernehmen müssen. »Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?«

Erst in den nächsten Kapiteln desselben Buches deutet Nietzsche dieses Verbrechen, dessen Größe seinen Tätern nicht gerecht wird und dessen Folgen sie noch nicht zu spüren bekommen und begriffen haben, als felix culpa, als eine glückliche Schuld: Sie eröffnete ihnen neue Horizonte, sie ermöglichte es ihnen, auf das weite Meer hinauszufahren.5 Der leere Raum infolge des getöteten Gottes ruft nach Mut und nach schöpferischer Kraft, denn dieser Raum kann nicht leer bleiben. Mit dem alten Gott stirbt auch das bisherige Menschsein; Nietzsche ist übrigens überzeugt, dass »der Mensch etwas ist, was überwunden werden soll«6.

In einem anderen Kapitel der Fröhlichen Wissenschaft sagt Nietzsche, warum dieses Verbrechen nicht nur unerkannt blieb, sondern nicht vollendet wurde, warum man Gott nicht so einfach loswerden kann.7 Wie sich noch lange nach Buddhas Tod in einer Grotte sein überdauernder Schatten zeigte, so fällt auf unsere ganze Zivilisation bis heute »der Schatten des toten Gottes«: Unsere Rationalität, Wissenschaft, unsere Ideale des Fortschritts und der Demokratie, der Glaube an die Vernunft, an Wissenschaft und Moral, ja selbst die Grammatik unserer Sprache sind Schatten, Überbleibsel Gottes – unsere Werte und Ideale stehen auf dem Boden jener festen Grundwahrheiten, deren Garant der metaphysische Gott war. Aber diese Sicherheiten, diese feste Ordnung der Wahrheit und des Guten, die Sicherheit darüber, was gut und was böse, was Wahrheit und was Illusion ist, Irrtum oder Lüge, das alles wurde mit dem Tod Gottes erschüttert. All dies beruhte auf der Voraussetzung, die nicht mehr gilt, all dies verlor mit dem Tod Gottes den Boden unter den Füßen. Daher ist es notwendig, das ins Reich der Vergangenheit zu schicken und neue Werte und neue Götter zu schaffen.

Polemik einer verletzten Seele

Gehörte Nietzsche wirklich zu jenen Menschen, wie wir sie schon in der Bibel finden, die mit Gott kämpften, oder kämpfte er eher mit etwas in sich selbst? In seiner Schrift Also sprach Zarathustra stellt Nietzsche noch eine weitere Diagnose des Todes Gottes: Gott starb an seinem Mitleid mit den Menschen.8 Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser Erzählung Nietzsche vor allem von sich berichtet: von seiner Angst vor seinem eigenen tiefen Mitleid mit den Menschen, das er mit einer zynischen und hochtrabenden Rhetorik tarnte, ganz ähnlich wie der schüchterne und scheue Kierkegaard sich in der Rolle eines Frauenverführers stilisierte. Wenn der durchdringende Psychologe Nietzsche seinen Lesern erklärt, die verborgensten Winkel des menschlichen Charakters zu kennen, sollte es nicht verwundern, dass wir dann über seine eigenen verborgenen und versteckten Beweggründe nachdenken: Der obsessive Charakter der ständigen Ausfälle Nietzsches gegen das Mitleid ist in der Tat auffallend und weckt Verdächtigungen. Wenn man sich aufmerksam das Porträt Nietzsches anschaut, lässt der Gegensatz zwischen dem mächtigen, kämpferisch buschigen Oberlippenbart und den feinen, vornehmen, von Schmerz gekennzeichneten Wangen dahinter stutzig werden. Der Schnauzbart, das ist jene widerborstige und provozierende Rhetorik Nietzsches, sagte mir einmal einer meiner Freunde, ein italienischer Theologe; er ist ein Schutzschild, der eine verletzliche und verletzte Seele verdeckt.

In seinem Buch Antichrist, wahrscheinlich eines der aggressivsten antichristlichen Pamphlete, das je geschrieben wurde, ertönt auf einmal inmitten des Fortissimos eines Trommelwirbels aus Flüchen, Beleidigungen und Lästerungen ein lyrisches Lied der Liebe zu Jesus von Nazaret, »dem einzigen Christen, der je gelebt hat«. Das Christentum Jesu – das einzige Christentum, das Nietzsche anerkennt – ist nicht ein neuer Glaube, eine neue Überzeugung, sondern ein neues Leben, eine Praxis, ja, die Praxis einer grenzenlosen Liebe, die darin besteht, was Jesus tut, und noch mehr darin, was er nicht tut: »Er bittet, leidet, liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun ... Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich machen ... Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn lieben ...« 9Hier lesen wir dann auch: »Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein ...«10

Die Tatsache, dass das Werk Nietzsches voll von Gegensätzen ist, ist meiner Ansicht nach eher seine Stärke. Nietzsche wusste, dass jeder einzelne unserer Blicke schon eine Interpretation ist, die von einer einmaligen, aber auch notwendig eingeschränkten Perspektive beeinflusst ist, von der aus wir auf die Welt und die Geschehnisse schauen. »Ich habe über alles zwei Meinungen«, pflegte Nietzsche zu sagen.

Bezieht Nietzsche nicht das, was der »letzte Papst« seinem Zarathustra sagt, auch auf sich: »Oh Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit einem solchen Unglauben! Irgendein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit. Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen Gott glauben lässt?«11

Welcher Gott ist tot?

Wenn ich einem Menschen begegne, der behauptet, dass er nicht an Gott glaubt, stelle ich ihm immer die Frage: Was für ein Gott ist das, an den du nicht glaubst? Was führt dich dazu, dass du nicht an ihn glaubst? Und kannst du dir unter dem Begriff »Gott« noch etwas anderes vorstellen, als das, was du leugnest?

»Gott ist tot! Gott bleibt tot«, behauptet der tolle Mensch in der Fröhlichen Wissenschaft. An einer Stelle jedoch deutet Nietzsche an, dass der Tod Gottes eventuell nicht definitiv ist: Vielleicht werden wir ihn wiedersehen, vielleicht hat »er nur seine moralische Haut ausgezogen«. Vielleicht kommt ein Gott wieder, an den der tolle Mensch aus der Fröhlichen Wissenschaft, der so weise Zarathustra und auch Nietzsche selbst (ist dies nicht ein Wesen in drei Personen?) zu glauben beginnen könnten: Ein Gott, der zu tanzen verstünde12; ein Gott, der einen Gegensatz bildete zum »Geist der Schwerkraft«, zum »Geist der Rache«. Sucht vielleicht Nietzsche, dieser weise Verrückte und törichte Weise, »der Frommste unter den Gottlosen«, nach dem Tod des alten Gottes einen solchen Gott, der nicht verbindet, sondern löst, der den Menschen zu Mut, zu schöpferischer Kraft und Verantwortung befreit?

Am Ende eines meiner Bücher tauchte in meinen Gedanken in einer Meditation über die Erzählung Nietzsches von dem törichten Gottsucher – diese Erzählung, die mich schon seit einigen Jahrzehnten beschäftigt – eine Erinnerung an eine Ikone auf, auf welcher die göttliche Dreifaltigkeit tanzend dargestellt ist. Mir kam der Gedanke, ob diese Vision Gottes der Sehnsucht »des Frommsten unter den Gottlosen« letztlich viel näher kommt als der betrunkene Dionysos, der sich mit seinen Bacchantinnen vergnügt.13

Nietzsche lehnte jenen gutmütigen Greis, den »Gotte bloß des Guten«14 ab, er sehnte sich nach einem Gott, der der Ganzheit der Wirklichkeit gerecht würde, den Paradoxien des Lebens, nicht nur der begreiflichen Welt des Tages, sondern auch ihrer dunklen und tragischen Seite.

Hätte er denn nicht genau so eine Vorstellung von Gott in der Bibel finden können, insbesondere im Buch Hiob? Ist dem Pastorensohn Nietzsche das Christentum wirklich in einer so abschreckenden Gestalt jener »Naumburger Tugenden« begegnet, dass er die Antworten auf seine Leidenschaft nach einem anderen Gott, »nach einem Gott, an den er hätte glauben können«, nicht mehr suchen wollte, weder in der Bibel noch in der christlichen Tradition?

Vor vielen Jahren haben wir mit einer Gruppe von Freunden sieben Jahre lang jeden Freitagabend immer wieder Nietzsches Also sprach Zarathustra gelesen. Wir haben uns bemüht, seine Kritik am Christentum zu verstehen, jenes Christentums, das er vor Augen hatte – und dies half uns, eine andere Gestalt des Christentums zu finden. Wenn Nietzsche ein Kritiker des Christentums ist, dann kann eine solche Kritik für Christen sehr nützlich sein; wenn Nietzsche ein Feind des Christentums ist, dann können die Christen für einen solchen Feind dankbar sein, der zur Unruhe und zum Denken provoziert.

Wir haben den »Atheisten« Nietzsche in einem Land gelesen, in dem jahrzehntelang ein atheistisches Regime herrschte und die atheistische Ideologie ein wesentlicher Bestandteil des offiziellen Bildungssystems und des vom Staat organisierten und kontrollierten Kulturlebens war. Es war für uns jedoch klar, dass zwischen Nietzsche und der marxistisch-leninistischen Ideologie des kommunistischen Staates ein riesiger Abgrund klaffte, ein viel größerer als zwischen Nietzsche und unserer geistigen Suche und einem heranreifenden Glauben. Religion ist nicht gleich Religion und Atheismus ist nicht gleich Atheismus.

Kritischer Atheismus hilft

Atheismus bedeutet nicht eine »Gottlosigkeit« im Sinn einer Ablehnung Gottes, sondern die Ablehnung einer bestimmten Art des Theismus, einer bestimmten Vorstellung von Gott. Jeder Atheismus bezieht sich auf einen bestimmten Typ des Theismus. Je mehr wir damals im Kreis unserer Freunde die christliche Theologie kennenlernten und studierten, desto deutlicher wurde für uns, dass es viele Arten des Theismus gibt, die den Menschen auf dem Weg zu jenem Geheimnis, das wir Gott nennen, eher im Weg stehen als helfen. Ein bestimmter kritischer Atheismus hilft paradoxerweise, diese Hindernisse auf dem Glaubensweg zu überwinden.

Eine wesentliche Entdeckung bestand für uns in der Erkenntnis, dass der Glaube keine Ideologie ist, sondern ein Weg, und zwar ein nicht endender. Zu glauben beginnen bedeutet nicht, sich auf Pfeiler von Sicherheiten stützen zu können, sondern in die Wolke des Geheimnisses einzutreten und die Herausforderung anzunehmen: Tauche tief ein! Manche von uns sind aus der Welt des Unglaubens gekommen, praktisch unberührt von traditionellen Formen des Christentums, und waren dabei, den Glauben zum ersten Mal zu entdecken, andere wiederum waren dem Glauben ihrer Kindheit entwachsen und entdeckten ihn jetzt Stück für Stück neu in einer anderen, erwachseneren Gestalt, wieder andere haben in ihrem Leben oder in ihrer nächsten Umgebung schwere Prüfungen und Krisen durchstehen müssen, die sie dazu geführt hatten, dass sie um ihren Glauben immer wieder kämpfen mussten. Wir lernten zu verstehen, dass es auf dem Weg eines lebendigen Glaubens »dunkle Nächte« gibt – und dass es auch geschichtlich gesehen Augenblicke gibt, in denen Menschen »kollektive dunkle Nächte der Seele« durchleben, Augenblicke, in denen die Frage »Wohin ist Gott?« bei Weitem nicht töricht ist.

Wir stellten fest, dass die Welt des Glaubens als auch des Unglaubens bunt ist, dass es unter den »Ungläubigen« sowohl selbstsichere Propagandisten einer Ideologie des dogmatischen Atheismus gibt als auch Menschen, die schmerzhaft eine »dunkle Nacht« der Verborgenheit Gottes durchleben. Diese erleben dann das, was auch viele Gläubige kennen, nur interpretieren sie jene Erfahrung der Abwesenheit Gottes anders. Uns wurde klar, dass der Streit zwischen Glauben und Unglauben kein Kampf zweier klar getrennter Mannschaften in verschiedenfarbigen Trikots ist, sondern häufig ein Dialog oder ein Konflikt innerhalb eines menschlichen Herzens oder Geistes.

Der Streit des Glaubens mit dem Unglauben

Als mein Glaube – der Glaube eines frisch Konvertierten – seine »Pubertät« durchlebte, nahm ich Gespräche mit Ungläubigen als ein Duell wahr, geführt mit den Argumenten aus den Lehrbüchern der Apologetik; heute schäme ich mich für meine damals errungenen rhetorischen Siege. Später begann ich, in solchen Gesprächen das zu suchen, was wir gemeinsam haben, und in dem, was uns trennt, wieder etwas, das ich vielleicht als einen bereichernden Blick aus einer anderen Perspektive annehmen könnte; ich habe mich bemüht, das zu finden, was einem nichtreligiösen Menschen heilig ist, und zu begreifen, warum es für ihn einen solchen Stellenwert hat. Ich habe begriffen, dass der Gegensatz von Glauben nicht notwendig der Atheismus ist, sondern die Idolatrie, der Götzendienst, das Absolutsetzen von relativen Werten. Wenn der »Atheismus« die Kritik des Theismus ist, also einer bestimmten Auffassung Gottes, dann kann er einem Gläubigen nützlich sein, indem er ihn daran erinnert, dass jeder menschliche Begriff in Beziehung auf Gott nur wie ein Finger ist, der auf den Mond zeigt und nicht der Mond selbst. Si comprehendis, non est Deus – Wenn du etwas begreifst, dann wisse, dass es nicht Gott ist, lehrte der heilige Augustinus. Nur dann, wenn der Atheismus aufhört, kritisch und selbstkritisch zu sein und zu einer »Konkurrenzreligion« wird, muss der christliche Glaube mit ihm einen geistigen Kampf führen, weil zu seinem Dienst an Gott und den Menschen die Pflicht gehört, die Freiheit eines Menschen gegen die Unterdrückung durch Götzen zu verteidigen. Es gehört zu seiner Aufgabe, die absolut gesetzten relativen Werte zu relativieren, die Heiligenscheine von den Köpfen herunterzunehmen, die sie sich zu Unrecht angeeignet haben.

Den Streit des Glaubens mit dem Unglauben hielt Goethe für das Wesen der gesamten Geschichte. Fügen wir wieder hinzu, dass sich dieser Streit oft im Inneren eines Menschen abspielt. In unserer Zeit nimmt die Anzahl derjenigen zu, die wir simul fidelis et infidelis nennen könnten, jene Menschen, in denen Augenblicke des Vertrauens und Augenblicke der Skepsis abwechseln. Die Welt und das Leben sind ambivalent und vieldeutig. »Es gibt genug Licht für die, die sehen wollen, und genug Finsternis für die, die gegensätzlich veranlagt sind«, schrieb Pascal.15 Die Vielfalt und Pluralität unserer Welt, unserer Zeit, bringt uns zur Notwendigkeit einer freien Wahl zurück. Der Fundamentalismus jeglicher Art, ein unerschütterlicher Glaube und auch ein dogmatischer Atheismus stellen große Versuchungen dar, aus der Welt der schnellen Veränderungen und der Erschütterungen vieler Sicherheiten zu fliehen. Jedoch kann man vor diesen Erschütterungen offensichtlich nicht dauerhaft fliehen; militante Gläubige genauso wie militante Atheisten überschreien häufig nur ihre eigenen nicht eingestandenen und nicht bearbeiteten Zweifel. Aber es bietet sich noch eine andere, heute besonders beliebte Gestalt der Flucht vor dem Risiko der Wahl zwischen dem Glauben und dem Atheismus: der Apatheismus, die Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber und den Fragen und auch Antworten, die er mit sich bringt.

Ein ehrliches Gespräch des Glaubens und des Unglaubens, des Vertrauens und des Zweifels, der Hoffnung und der Skepsis ist jedoch derart interessant und wichtig, dass wir ihm dieses Buch widmen.

Wenn Gott schweigt

Über uns hängt wie ein geheimes Leitmotiv der Moderne die Proklamation des Todes Gottes durch Nietzsches tollen Menschen. Doch an der Oberfläche scheint dieser Diagnose im allgemeinen Konsens ein »Na und?« und ein »Was soll’s?« gefolgt zu sein. Dieses Darüber-weg-Leben verdrängt ein Drama, verniedlicht einen Abschied, der – und Nietzsche wusste das – weitgehende Konsequenzen hat.

Vielleicht sollten wir für einen Augenblick die Fragen des tollen Menschen aushalten: »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« und »Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?« Mit Mörder sind auch wir Menschen der Gegenwart gemeint, die Gott getötet haben. Die Frage nach dem Atheismus, nach dem Unglauben als Teil unserer Persönlichkeit, muss ihren Ernst zurückgewinnen. Was geschah, was geschieht mit mir, mit meinem Umfeld, wenn Unglaube in allergrößter Selbstverständlichkeit das Leben bestimmt?

Solch intensives, eher leises Fragen könnte in die Mitte einer verlassenen oder verletzten Existenz führen. Verschwiegene Antworten, ein trauernder Blick und vorsichtige Kommunikation führen weiter. Wer den Unglauben, den alltäglichen Atheismus bei sich anschaut, ihn ernst nimmt, könnte am Anfang einer großen Entdeckung stehen: Führen vielleicht geduldiges Lauschen auf unseren Lebensweg und das Wagnis feinfühligen Gesprächs die zusammen, die Gott los wurden, um aus gereiftem Glauben Gott je neu zu buchstabieren?

Die Seele kennt den Atheismus

Anselm Grün

Fragen lernen

Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen. Der Bruder meines Vaters war Benediktiner und seine beiden Schwestern Benediktinerinnen. Mein Vater war der Einzige in der Familie, der geheiratet hat. Er ging täglich zur Eucharistiefeier. Die Kirche lag neben unserem Grundstück. Auch meine Mutter ist in einer katholischen Familie aufgewachsen. Einer ihrer Brüder war Steyler Pater und eine ihrer Schwestern Steyler Missionsschwester. Der Glaube war die Atmosphäre, die mich umgeben hat. Dass es Atheisten gab, bekam ich zwar mit, aber das waren entweder »die bösen« oder »die ignoranten« Menschen. Ein vernünftiger Mensch, so dachte ich, kann nur glauben. Die Welt des Glaubens hat mir gutgetan. Die Erstkommunion habe ich als Kind sehr ernst genommen und dabei eine tiefe Erfahrung gemacht. Sie hat mich dazu gebracht, schon mit zehn Jahren meinem Vater gegenüber den Wunsch zu äußern, selbst Priester zu werden.

Dann kam ich ins Internat und ins Gymnasium, zuerst nach Münsterschwarzach und dann die letzten vier Jahre nach Würzburg. Doch in dieser Zeit vor dem Abitur wohnte ich weiter im Internat der Benediktiner. Während der Gymnasialzeit haben wir uns im Religionsunterricht mit der atheistischen Philosophie von Ludwig Feuerbach auseinandergesetzt. Aber es war uns Schülern klar, dass wir als katholische Christen all die atheistischen Argumente glaubhaft widerlegen konnten. Ich bin dem Atheismus nur aus der apologetischen Haltung heraus begegnet, eine Versuchung war der Atheismus für uns nicht. Dazu war uns der Glaube zu selbstverständlich.

Ich habe 1964 Abitur gemacht. Die letzten beiden Jahre am Gymnasium waren geprägt vom Zweiten Vatikanischen Konzil. Das war ein Neuaufbruch in der Kirche, der uns junge Menschen fasziniert hat. Wir dachten also nicht daran, wie wir auf den Atheismus reagieren, sondern wie wir eine religiöse Sprache finden könnten, die die Menschen berührt, die sie für den Glauben begeistert. Erst im Kloster, als ich alles auf die Karte Gottes gesetzt hatte, wurde die Frage des Atheismus für mich zu einer persönliche Frage: Warum glaube ich? Und wie würde es mir gehen, wenn die Hypothese des Atheismus stimmt?

Erst im Kloster wurde mir das Argument von Ludwig Feuerbach, dass die Menschen ihre Sehnsüchte auf Gott projizieren, zu einer persönlichen Frage. Und vor allem die Beschäftigung mit der Psychologie zwang mich, mich ehrlich zu fragen: Ist Gott für mich nichts anderes als eine menschliche Projektion? Das war für mich vor allem beim Gebet eine Überlegung. Hier tauchte manchmal die Frage auf: Ist das alles Einbildung? Denkst du dir das aus mit Gott, damit es dir besser geht, damit du in Frieden leben kannst und mit deinen Problemen zurechtkommst?

Doch wenn ich diese Fragen zu Ende denke, dann erscheint mir, dass alles absurd wäre. Der Mensch könnte dann gar nichts erkennen. Auch der Atheismus wäre eine Projektion. Der Mensch denkt sich aus, dass es keinen Gott gibt, damit er freier leben kann und sich um nichts kümmern muss, was ihn von außen herausfordert. Beide Alternativen sind dann Projektionen. Die Lösung wäre, dass ich alles menschliche Erkennen relativiere: Wir tappen letztlich im Dunkeln. Oder ich entscheide mich für eine Alternative. Und da ist es für mich klar, dass ich mich für den Glauben entscheide. Ich setze alles auf die Karte des Glaubens. Natürlich könnte man sagen: Ich entscheide mich für den Glauben, weil der mir seit Kindheit an vertraut ist. Das spielt sicher eine Rolle. Aber es ist auch mein inneres Gefühl, dass die Alternative des Glaubens menschlicher ist als die des Atheismus. Die Entscheidung für den Glauben richtet sich für mich nicht gegen meine Vernunft. Ich strenge meine Vernunft an. Aber ich komme damit an eine Grenze. Und der Sprung über die Grenze geht entweder in den Glauben oder in den Unglauben. Dazwischen gibt es nichts.

Eine weitere Alternative wäre, meinen Verstand überhaupt nicht anzustrengen. Das wäre für mich fauler Agnostizismus: Ich kümmere mich einfach nicht um die Frage nach Gott. Dafür ist mir aber die Frage nach Gott viel zu existenziell, als dass ich sie einfach leugnen oder überspringen könnte.

Die Wette Pascals

Meine Entscheidung »Ich setze auf die Karte des Glaubens« kam aus mir selbst, als ich die Zweifel über Gottes Existenz zu Ende dachte. Erst später stieß ich bei meinen Studien auf die berühmte Wette, von der Pascal in seinen Pensées schreibt. In ihr fand ich eine Bestärkung meiner eigenen Erfahrung: Pascal unterhält sich mit einem Skeptiker und Agnostiker. Er ist sich mit ihm darüber einig, dass man mit der Vernunft den Glauben an Gott und auch Gott nicht beweisen kann. Von den traditionellen Gottesbeweisen hält Pascal nichts. Aber in einer Zeit, in der Glücksspiele und Wetten weit verbreitet waren, spricht er bei der Frage nach Gott von einer Wette. Diese zwingt uns dazu, uns zu entscheiden. Wir können uns also nicht mit der Haltung des Agnostikers begnügen, nicht zu wissen, ob Gott existiert oder nicht. Das Argument der Wette fasst Walter Dirks so zusammen: »Du weißt nicht, ob Gott existiert. Du hast die Wahl zwischen zwei Annahmen, zwischen der, Gott existiere, und der, er existiere nicht. Du kannst dich nicht drücken, du musst auf eine dieser Möglichkeiten setzen. Irgendwann, etwa auch in der Erfahrung deines Todes, wird sich herausstellen, ob du richtig oder falsch gesetzt haben wirst. Hast du gegen die Existenz Gottes gewettet, so hast du, falls er nicht existiert, nichts verloren und nichts gewonnen – du wirst nicht einmal das Bewusstsein haben, recht behalten zu haben; falls Gott aber existiert, hast du in diesem Falle alles verspielt. Hast du dagegen auf Gottes Existenz gesetzt und er existiert nicht, hast du nichts verloren; existiert er aber, so hast du alles gewonnen: die ewige Seligkeit. Unter diesen Umständen ist es vernünftig, auf Gottes Existenz zu setzen.«16 Natürlich ist auch das kein Beweis für Gott. Jeder von uns findet sich sowohl im Zweifler als auch im Gläubigen wieder. Die Wette Pascals aber stärkt zumindest die Position des Gläubigen in uns. Sie gibt uns Mut, uns für Gott zu entscheiden.

Welcher Atheismus begegnet mir?