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Gott als Geheimnis zu erfahren und im Glauben mit diesem Geheimnis zu leben: Das ist der große Leitfaden, der sich durch das Leben und Schreiben Tomáš Halíks zieht. Sein neues Werk nimmt diesen Leitfaden auf und verknüpft ihn mit seinen zentralen Themen. Auf diese Weise taucht der Leser noch tiefer ein in die Gedanken eines der wichtigsten und meist gelesensten geistlichen Schriftsteller unserer Zeit. Zugleich liefern die Themen spirituelle Impulse und Anstöße, die den Alltag bereichern. Für sein neues Werk hat er die Schlüsselpassagen seines Gesamtwerks ausgewählt und neu zusammengestellt. Viele seiner sprachgewaltigen Texte erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache. Ein Buch, von dem Halík sagt: "Ich bekenne mich zu einem Glauben, der die Prüfung des Feuers, die Kritik der atheistischen Philosophen und zahlreiche Krisen durchging." "Streiten und Ringen mit Gott sind innerhalb der Welt des Glaubens möglich, und nur dort. Wenn uns angesichts des Bösen Zweifel und Empörung schütteln, dann helfen uns keine spitzfindigen Theorien weiter; andere Götter sind unzuverlässig, nichtig; und die Leugnung Gottes hilft auch nicht viel weiter. Doch der lebendige Gott ist Ansprechpartner für solche Fragen." (Tomáš Halík)
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Seitenzahl: 324
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Tomáš Halík
Glaube und sein Bruder Zweifel
Aus dem Tschechischen von Markéta Barth unter Mitarbeit von Benedikt Barth
Wir danken dem Vier-Türme-Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung der Textpassagen aus:
Tomáš Halík / Anselm Grün: Gott los werden? Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen,
hg. v. Winfried Nonhoff © Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2016.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: Martin Stanek, Prag
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN Print 978-3-451-37885-0
ISBN E-Book 978-3-451-81182-1
Inhalt
Vorwort
1 Was heißt glauben?
2 Der Glaube und sein Bruder, der Zweifel
3 Das Geheimnis namens Gott
4 Gott ist tot
5 Dialog mit dem Atheismus
6 Die Botschaft von Ostern
7 Liebe
8 Hoffnung
9 Geduld
10 Geistliches Leben
11 Ethik des Dialogs
12 Die Kirche
13 Glaube und Humor
Textquellen
Im Jahre 1968, als ich zwanzig Jahre alt war, endeten unter den Ketten der sowjetischen Panzer die Hoffnungen des Prager Frühlings auf eine Liberalisierung des tschechoslowakischen Regimes. Drei Jahre später: In der bleiernen Zeit der sogenannten »Normalisierung«, einer 20 Jahre währenden Periode der Verfolgung der geistigen Kultur, der Kirchen und der Religion in der Tschechoslowakei, knüpfte ich Kontakte zur »Untergrundkirche« und entschied mich dazu, in ihr Priester zu werden. Als ich dreißig Jahre alt war, wurde ich in der Privatkapelle des Bischofs in Erfurt heimlich zum Priester geweiht. Mehr als zehn Jahre wirkte ich als Priester »in der Illegalität«. Dann eröffneten sich mir mit dem Fall des kommunistischen Regimes am Ende des Jahres 1989 neue Wirkungsräume – an der Universität, in der von mir gegründeten Universitätsgemeinde, in den Medien und im öffentlichen Leben. Ich unternahm Studien- und Vortragsreisen, die mich mit der Zeit auf alle Kontinente unseres Planeten führten. Neben dem Dialog mit den »Ungläubigen« begann ich, mich mit der Beziehung des Glaubens und der Theologie zur zeitgenössischen modernen und postmodernen Kultur und Philosophie zu beschäftigen und mich gleichzeitig dem interreligiösen Dialog zu widmen.
Im Alter von fünfzig Jahren fing ich an, Bücher zu schreiben. Für meine Bücher wählte ich das Genre des theologisch-philosophischen Essays, denn ich wollte mit meinen Überlegungen eine breite Lesergemeinde erreichen – also auch jene nachdenkliche Leser, die nur schwerlich nach einem theologischen oder philosophischen Fachbuch greifen würden. Vor dem fünfzigsten Lebensjahr ein respektables Buch zu schreiben schien mir anmaßend; der Mensch muss meiner Meinung nach zunächst genug durchgemacht, durchgearbeitet, durchdacht, durchreist, durchlitten haben, bevor er anderen etwas zum Bedenken vorlegen darf, hinter dem er stehen kann, ohne rot vor Scham zu werden. Als ich sechzig Jahre alt war, wurden die ersten meiner Bücher in andere Sprachen übersetzt. Fünf meiner Bücher erschienen bisher auf Deutsch im Verlag Herder. In insgesamt 18 Sprachen, einschließlich des Chinesischen, Koreanischen und Türkischen, erschienen bis heute Übersetzungen. Dazu wurden mir eine Reihe internationaler Würdigungen zuteil.
Als ich fünfundsechzig Jahre alt wurde, ging ich noch einmal zwölf meiner Bücher und einige in Zeitschriften publizierten Studien durch – also einen großen Teil der Früchte der fünfzehn Jahre meiner literarischen Tätigkeit, der Früchte von fünfzehn Sommerferien in einer Einsiedelei im Rheinland – und traf eine Auswahl von Zitaten aus diesen Büchern, die ich dreizehn thematischen Kreisen zuordnete. Auf diese Weise entstand dieses Buch. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass es sich dabei nicht immer um genaue wörtliche Zitate handelt. Hier und da habe ich die ursprüngliche Fassung für dieses Buch gekürzt oder leicht bearbeitet, damit die Passagen auch außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes verständlich bleiben.
Dieses Buch kann auf zweifache Weise nützlich sein: Es kann denjenigen als »Konkordanz« dienen, die sich in der Welt meiner Gedanken besser orientieren wollen. Es kann jedoch auch zur »geistlichen Lektüre« dienen, wie eine gut gefüllte Vorratskammer an Gedanken, die der Leser zum Anlass einer persönlichen Betrachtung nehmen kann – z. B. als »Gedanken zum Tag«.
Der Titel des Buches knüpft an einen der Schlüsselgedanken an, den ich in meinem Buch »Geduld mit Gott« so formuliert habe: »Die Berufung des Glaubens besteht nicht darin, unseren Durst nach Sicherheit und Geborgenheit zu stillen, sondern uns zu lehren, mit dem Geheimnis zu leben …« Mir ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass es Fragen gibt, die so gut und so wichtig sind, dass es besser ist, sie nicht mit voreiligen Antworten zu zerstören.
Den Glauben begreife ich nicht als eine Zusammenstellung von Überzeugungen (als eine »Weltsicht« oder Ideologie), sondern als einen existenziellen Akt, der alle Dimensionen des menschlichen Lebens durchdringt. Meiner Auffassung nach bedeutet der Glaube eine dialogische Beziehung zur Wirklichkeit. Er schließt das kontemplative Zuhören ein und die geduldige Suche nach einem tieferen Sinn. Zu ihm gehört jedoch auch die Bereitschaft zu antworten – aber jene Antworten sollten eher in Taten ihren Ausdruck finden als in Behauptungen, also in einer verantwortlichen Lebensweise.
Der Glaube öffnet im Unterschied zur wissenschaftlichen oder technischen Lösung von Problemen ein Geheimnis, und mit ihm kann er nie »fertig werden«. Das Geheimnis »hat keinen Grund«. Deshalb verstehe ich den Glauben als einen Weg, der Geduld und Mut erfordert. Der Glaube braucht auf seinem Weg auch seinen »Bruder«, den Zweifel, und das beständige kritische Fragen. Er braucht ihn deshalb, weil er sonst in eine seiner Karikaturen und Gegensätze, in den Fanatismus, den Fundamentalismus oder in abergläubischen Götzendienst, umschlagen würde.
Ich bekenne mich zu einem Glauben, der die Prüfung des Feuers, die Kritik der atheistischen Philosophen und zahlreiche Krisen durchging, »dunkle Nächte« – sei es in den persönlichen Lebensprüfungen der Gläubigen oder in den »dunklen Nächten der Geschichte«, besonders in der Konfrontation mit den Tragödien des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich nicht um einen naiven oder gedankenlosen »blinden Glauben«, sondern um einen »Glauben des zweiten Atems«, um einen »verwundeten Glauben«, der wie der auferstandene Christus die Wunden des Kreuzes trägt, der von den Schwierigkeiten und Paradoxien des Lebens weiß. Jedoch gerade mit diesen Wunden heilt der Glaube. Wer die »Wunden Christi in unserer Welt« ignoriert – das ganze materielle, moralische, aber auch geistige Elend –, ist meiner Ansicht nach kein wirklicher Christ, kein Jünger Jesu.
Meine Theologie steht einer ganzen Reihe von Gedanken der zeitgenössischen postmodernen philosophischen Theologie und der Religionsphilosophie nahe, besonders dem »Anatheismus« Richard Kearneys. Anatheismus bedeutet »von Neuem zu glauben«, über den Glauben neu nachzudenken, nachdem wir die moderne Religionskritik und das Stranden mancher früheren Denkweisen über Gott und den Glauben, »den Tod Gottes« ernst genommen haben. Diese originelle Richtung der gegenwärtigen postmodernen philosophischen Theologie halte ich für einen kontemplativen Partner im Dialog zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen (oder besser: den »Andersgläubigen«) in unserer postsäkularen Welt.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern dieses Buches, dass ihnen das Buch einen intellektuellen wie auch geistigen Nutzen bringen möge, ganz gleich, welchen Zugang zu den vorgelegten Texten sie auch wählen mögen.
Tomáš Halík
Die Funktion des Glaubens besteht nicht darin, unseren Durst nach Sicherheit und Geborgenheit zu stillen, sondern darin, uns zu lehren, mit dem Geheimnis zu leben.
GEDULD MIT GOTT
Glaube und Unglaube (beziehungsweise die verschiedenen Formen des Glaubens) sind für mich nicht Aufstellungen von Überzeugungen hinsichtlich metaphysischer Fragen, sondern elementare Grundeinstellungen zum Leben: Wie erleben wir elementare Lebenssituationen und wie verstehen wir sie?
THEATER FÜR ENGEL
Es existiert ein impliziter »Glaube der Ungläubigen«, aber auch ein impliziter Unglaube der Gläubigen – ein Glaube, der bei einer verbalen Äußerung oder bei einer rationalen Überzeugung bleibt, aber keine Wurzeln in der Tiefe, im »Herzen« hat, und auch keine Früchte im praktischen Handeln trägt. Eines solchen Glaubens, sagt der Apostel Jakobus, sind auch Dämonen fähig: »Auch Dämonen glauben und zittern« (Jak 2,19b). Ein Glaube, der nicht von Angst befreit, sondern im Gegenteil Angst erzeugt, ist dämonisch, pervertiert.
GOTT LOS WERDEN?
Es existiert ein Typ von Religion, der danach strebt, den Glauben, religiöse Sicherheiten und sogar Gott selbst zu besitzen, »den Glauben zu haben«. Ein anderer Typ von Religion sucht nicht danach, den Glauben zu besitzen, zu »haben«, sondern »im Glauben zu sein«. Fügen wir hinzu, dass dieses existenzialistische und dynamische Verständnis des Glaubens ein ununterbrochenes Suchen bedeutet, den Weg in die Tiefe; im Glauben zu sein bedeutet hier eher, im Glauben zu schreiten, als im Glauben zu stehen.
Es gibt sicher Augenblicke, in denen ein Mensch sagen muss: »Hier stehe ich und kann nicht anders«, aber es gibt auch Momente, in denen wir uns daran erinnern sollten, dass derjenige, der von sich sagte: »Ich bin die Wahrheit«, auch hinzufügte: »Ich bin der Weg und das Leben«. Die Wahrheit des Glaubens ist nicht statisch, unbeweglich wie ein toter Stein, sondern sie ist ein Weg, sie ist dynamisch wie das Leben selbst.
GOTT LOS WERDEN?
Einen Glauben ohne Inhalt und ohne Gegenstand, ein gegenstandsloses und inhaltsloses Gläubigsein, würden wir nur schwer als christlichen Glauben bezeichnen. Sicher, die Christlichkeit des Glaubens besteht in ihrer Ausrichtung auf Jesus Christus. Ist jedoch die einzige denkbare »Ausrichtung auf Christus« das, dass die Person von Jesus Christus, seine Geschichte und das, was die Kirche über ihn sagt, explizit der Gegenstand des Glaubens ist? Oder können wir auch einem Glauben einen christlichen Charakter zuschreiben, der sich zwar nicht explizit auf die Person Jesus bezieht (der nicht »Herr, Herr« zu ihm sagt), jedoch eine Lebenshaltung ist, die vom Geist Jesu durchtränkt ist – insbesondere einem solchen Glauben, der eine solidarische Liebe zu den Menschen als Frucht trägt?
GOTT LOS WERDEN?
Wenn ich sage: »Ich glaube an Gott«, dann bedeutet dies viel mehr als eine Deklaration meiner persönlichen »Ansichten über Gott«. Wenn man diese ersten Worte des Glaubensbekenntnisses, sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen, also in der Mutter- und der Vatersprache der Kirche, genau übersetzt, könnten sie auch so klingen: »Ich glaube auf Gott hin.« Es handelt sich dabei um eine Richtungsbezeichnung, um die Kennzeichnung eines Weges, einer Bewegung: Ich glaube, und durch meinen Glauben trete ich in das Geheimnis ein, das Gott genannt wird.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Der Glaube offenbart die Wahrheit des Lebens: Das Leben ist ein unerschöpfliches Geheimnis, das Hoheitsgebiet Gottes, das wir nicht »privatisieren« können. Der Glaube lehrt uns, mit diesem Geheimnis zu leben, und die Last der Fragen zu ertragen, deren vollständige Beantwortung unsere Kompetenz übersteigt.
THEATER FÜR ENGEL
Die Wahrheit und die Reife des Glaubens erkennt man auch daran, inwieweit der Glaube einen Raum für das Gewissen schafft, es erleuchtet, ermutigt und stärkt. Ein reifer Glaube trägt zur Reife des Gewissens bei. Ein unreifer Glaube misstraut dem Gewissen und versucht, es durch einen reinen mechanischen Gehorsam gegenüber von außen herangetragenen Geboten und Verboten zu ersetzen.
GEDULD MIT GOTT
Der Glaube, wie ich ihn verstehe, ist die Fähigkeit, die Wirklichkeit als Anrede wahrzunehmen: Er ist die Bemühung, zuzuhören, verstehen zu lernen und eine Antwort zu geben. Ich bin davon überzeugt, dass das die kostbarste (und zugleich die interessanteste, die abenteuerlichste) Möglichkeit überhaupt ist, die das Menschsein bietet: sein Leben als einen Dialog zu leben; in beständigem Zuhören und Antworten aufmerksam und verantwortlich zu leben.
THEATER FÜR ENGEL
Ein lebendiger Glaube, der Glaube an einen lebendigen Gott weist – im Unterschied zur Götzenverehrung – immer die Form des Fragens nach Gott, der Suche nach Gott auf; gleichzeitig besteht er in der Suche nach sich selbst, in der Frage, sich selbst zu begreifen. Die Unruhe dieses Fragens ist der Pulsschlag unserer Existenz auf der Erde; sie kann hier auf der Erde nicht gestillt werden; erst Gott durch seine Ewigkeit wird sie stillen; sie stillstellen zu wollen – auch mit »religiösen Sicherheiten« – würde bedeuten, vom Weg des Glaubens abzukommen. Kann ein Glaube ohne Suchen und ohne Fragen lebendig bleiben, kann er Glaube bleiben?
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Der Glaube ist für mich eine Kraft, eine Energie, die das Leben vom Monolog in den Dialog umwandelt, was aus meiner Sicht das absolut Wichtigste ist. Es steht außer Frage, dass der Mensch die Tendenz hat, sein Leben als einen Monolog zu begreifen – als Selbsterklärung, als Selbstverwirklichung. Es ist für den Menschen ganz selbstverständlich, das Leben und die Welt vom eigenen Blickwinkel aus zu betrachten, aus der eigenen persönlichen Perspektive die persönlichen Erfolge und Misserfolge, die persönlichen Präferenzen, den eigenen Geschmack und die persönlichen Erfahrungen wahrzunehmen und zu bewerten. Psychologen bezeichnen diese natürliche anfängliche Selbst-Zentriertheit als »primären Narzissmus«, und unsere Kultur trägt stark dazu bei, dass sich der Mensch aus dieser Eingenommenheit von sich selbst nicht freimacht.
Doch der Glaube kann helfen, diese monologische Sichtweise des Lebens in eine dialogische Lebensweise zu verwandeln. Er lehrt zuzuhören, er ermutigt den Menschen, dass er die Grenzen seiner eigenen Interessen überschreitet und sich selbst und seine Lebenssituationen von einer bestimmten Obenansicht aus betrachtet, und zwar nicht nur »mit den Augen der anderen«, sondern so, dass er auch den Blick Gottes erspürt, dass er die Einladung annimmt und wenigstens für einen Moment dorthin hochsteigt, wo er frei von sich selbst ist und sich wirklich »von oben« sieht.
VERSÖHNTE VERSCHIEDENHEIT
Keinen Glauben zu haben oder den Glauben zu verlieren bedeutet, nicht die Fähigkeit oder die Bereitschaft zu haben oder zu verlieren, das Leben als Dialog wahrzunehmen.
THEATER FÜR ENGEL
Der Glaube ist gerade dadurch ein bemerkenswertes Phänomen, dass er die Begegnung des Göttlichen und des Menschlichen ist, dass er zugleich Geschenk der Gnade und freier Akt eines Menschen, also eine »Tugend« ist; dass sich in ihm die Dialektik von Gnade und Freiheit abspielt. Den Glauben kann man von oben betrachten: als Geschenk Gottes oder als Offenbarung, den Gegenstand des Glaubens, der sich in Schrift und in Tradition artikuliert. Möglich und legitim ist aber auch der Blick von unten: Wie der Mensch die Gnade des Glaubens annimmt, was in ihm wirkt, welche Voraussetzungen und Bedingungen es bezüglich der Offenheit für das Geschenk des Glaubens gibt, auf welchen Boden sein Samen fällt, also welche anthropologischen Grundlagen des Glaubens existieren.
VERSÖHNTE VERSCHIEDENHEIT
In Jesus begegnen sich das Menschliche und das Göttliche – und mit dem Glauben im christlichen Sinne des Wortes verhält es sich genauso. In der Theologie unterscheidet man die »Christologie von oben«, die Lehre von Christus, die seine Gottessohnschaft und die göttliche Natur betont, von der »Christologie von unten«, die von der historischen Gestalt des Jesus von Nazaret ausgeht. Ähnlich können wir mit Blick auf den Glauben eine Perspektive »von oben« unterscheiden, welche den Glauben vor allem als Geschenk der Gnade beschreibt, als »eingegossene Tugend«, und die Perspektive »von unten«, die sich auf die menschliche Seite des Glaubens fokussiert, auf seine »anthropologischen Voraussetzungen«: Sie untersucht die Weise der und das Maß an Offenheit des menschlichen Geistes und Herzens für das Geschenk des Glaubens und auch das, was der Glaube in einem Menschen bewirkt, wie er seine Gesinnung, seinen Charakter und sein Verhalten beeinflusst.
GOTT LOS WERDEN?
Die Muttersprache des Glaubens ist nicht die Sprache der Definitionen und Syllogismen. Ursprünglich findet der Glaube seinen Ausdruck in Geschichten und Erzählungen. Zu glauben beginnen bedeutet nicht, mit der Vernunft einen Katalog von Wahrheiten abzunicken, sondern dieser Geschichte den Raum des eigenen Lebens zu öffnen, damit sie sich in ihm fortsetzt. Es bedeutet, »in die Geschichte einzusteigen« und gleichzeitig diese Geschichte als den Schlüssel zum Verständnis des eigenen Lebens, der eigenen Geschichte anzunehmen; zu begreifen, dass die große Geschichte der Bibel, besonders die Erzählungen über das Leben, die Lehre, den Tod und die Auferstehung Jesu von Nazaret, und die Geschichte meines Lebens sich gegenseitig interpretieren. Diese Geschichte ist vielschichtig, sie wechselt von der Logik der Vernunft zur Logik des Herzens, von der Logik des Tages zur Logik der Nacht, sie ist voll von Paradoxa und Überraschungen – wie das Leben selbst.
ANGEBETET UND NICHT ANGEBETET
Der Glaube, die Liebe und die Hoffnung sind, von oben gesehen, aus der theologischen Perspektive, ein Geschenk Gottes, eine Tat Gottes, ein Eingießen der Gnade in unsere Seele. Es sind »theologische Tugenden«. Ich muss jedoch anmerken, dass ich jene, die ausschließlich auf dem Blick aus dieser »Perspektive von oben« beharren, manchmal verdächtige, dass sie sich zu sehr bemühen, »Gott über die Schultern zu schauen«. Auf den Glauben, die Liebe und die Hoffnung können wir auch von unten schauen, aus unserer alltäglichen menschlichen Perspektive: Es geht hier gleichzeitig um Akte der menschlichen Entscheidung, der menschlichen Freiheit am Kreuzungspunkt von Möglichkeiten: Will ich – oder will ich nicht glauben, lieben und hoffen? Wenn ich glauben will – Pascal wusste dies gut –, dann öffne ich mich vielen Argumenten der Vernunft für den Glauben. Wenn ich nicht glauben will, werde ich das ganze Leben bereitwillig über immer neue Gründe für meinen Unglauben stolpern.
BERÜHRE DIE WUNDEN
Die Erfahrung lehrt mich, zwischen einem expliziten und einem impliziten Glauben zu unterscheiden. Die erste, explizite Form des Glaubens, ist der reflektierte, bewusste, mit Worten ausgedrückte Glaube. Jedoch lassen sich zuweilen auch bei Menschen, die sich nicht zum Glauben bekennen und sich für Nichtchristen halten, in ihrem Handeln »implizit« vorhandene Werte finden, die für eine Glaubenshaltung von wesentlicher Bedeutung sind.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Dem Glauben, wie ich ihn verstehe, erscheint das Leben als ein Geschenk und als eine Herausforderung. Wir können wach gegenüber dieser Herausforderung sein oder schläfrig, offen oder verschlossen. Ein Mensch, der die Anrede annimmt, bindet sich dadurch an sie.
THEATER FÜR ENGEL
Der Glaube im Sinne der christlichen Theologie besteht nicht aus dem menschlichen Urteil über Gott, über seine Existenz oder sein Wesen, sondern besteht in der Antwort auf die Selbstmitteilung (die Offenbarung) Gottes. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass der Glaubensakt, auch wenn er immer ein »Geschenk der Gnade« ist, gleichzeitig ein menschlicher Akt bleibt – das heißt, dass er den verschiedensten Aspekten der menschlichen Beschränktheit ausgesetzt ist, wie beispielsweise der Beeinflussung durch die kulturelle Umgebung.
DURCHDRINGEN DER WELTEN
Der Glaube ist ein mutiger, riskanter Schritt unserer Freiheit, der über den kleinen Flecken dessen hinausgeht, was durch Beweise belegt und gesichert ist. Die Bibel versteht dieses Hinaustreten als Bedingung und Voraussetzung für die Begegnung des Menschen mit Gott. Wir können darüber diskutieren, inwieweit der Glaube in diesem Sinne auch in anderen religiösen Traditionen anwesend ist. Seine Anwesenheit ist jedoch dort nicht zu übersehen, wo die biblische Botschaft die Kultur der Beziehung des Menschen zur Welt formte: Uns begegnet sie im euro-atlantischen geistigen Raum fast auf jedem Schritt, auch jenseits der Grenzen der »Religion«.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Der Mensch befindet sich immer zunächst »in der Situation Gottes«. – Erst eine Konversion, eine wirkliche Umkehr, eine Verwandlung (metanoia), die Geburtsstunde und die Grundlage eines wirklich lebendigen Glaubens, bedeutet das »Suspendieren« unseres Ichs von dieser Position. Und es gibt sicher Menschen, die diese Konversion nie durchgemacht, die ihr Ich und ihre selbstzentrierte Welt nie dem absoluten Du geöffnet haben, die oft unreflektiert und unbewusst dauerhaft in dieser »göttlichen Position« verharren. Dies können Menschen sein, die sich für Atheisten halten, aber auch Menschen, die in irgendeiner Weise religiös leben, deren Glaube aber nicht von einer Umstrukturierung der eigenen Welt berührt wurde und die keine »Konversion«, eine existentielle Umkehr aus der Welt des Ich–Es zur Welt des Ich–Du, durchgemacht haben. Und ich möchte hinzufügen: Sie tun dies zum großen Schaden für sich selbst und ihre Nächsten.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Der christliche Glaube ist »inkarniert« – er ist die Teilnahme des einzelnen Gläubigen am Glauben der Kirche, am Schatz der Tradition, aber er ist gleichzeitig auch in dessen unwiederholbare Lebensgeschichte inkarniert, in seine Arten und Weisen des Denkens und der Wahrnehmung.
GOTT LOS WERDEN?
Das, was die Theologie mit dem Wort Sünde bezeichnet, ist nicht nur ein »Fehler« oder das »Verletzen von Regeln des Moralkodex«. Es ist vor allem eine Tat, mit der sich in unserem Leben für einen Moment wieder jene Bewegung durchgesetzt hat, die unser Ich in seine überwundene »göttliche« Position hievt. Es ist eine Tat, die sich gegen den lebendigen Gott richtet, gegen das »absolute Du«, das wir mit unserer Umkehr in die Mitte und in den Brennpunkt unseres Lebens eingeladen haben. Doch nun machen wir ihm diese Stellung von Neuem streitig.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Glaube bedeutet die Überwindung der Fixierung auf sich selbst, bedeutet eine Offenheit, zu der notwendigerweise eine Offenheit für andere gehört. Anders als für die »humanistische Psychologie«, eine der letzten Ideologien der Spätmoderne, liegt für den Glauben das Endziel des Lebens aber nicht in der »Selbstverwirklichung«. Eher ließe sich sagen, dass er die Selbstverwirklichung in der Selbstüberschreitung verwirklicht sieht. Vom Standpunkt des Glaubens aus ist die Selbstverwirklichung eine Nebenerscheinung, ein Begleitphänomen dieser Selbstüberschreitung; sie ist ein Wert, den diejenigen als Bonus bekommen, die primär nach etwas anderem suchen. Erinnern wir uns an die paradoxen Äußerungen Christi: »Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.« (Mt 16,25) »Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.« (Mt 6,33) »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.« (Joh 12,24)
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Der Glaube ist die Möglichkeit, das zu re-interpretieren, was einem oberflächlichen »weltlichen« Blick so eindeutig erschien. Allein im Licht des Glaubens und der Hoffnung können wir in der Welt gleichzeitig auch das gute Werk Gottes sehen, und neben allem Jammern und der Kakophonie der menschlichen Bösartigkeit und Gewalt auch das göttliche »und es war gut so« vernehmen. Es wurde im Anfang gesagt und soll auch am Ende erklingen.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Ist denn nicht eine der möglichen Auslegungen des Wortes religio (Religion) vom Verb re-legere abgeleitet, vom Wieder-Lesen – von einem Lesen, das die Möglichkeit eines neuen Begreifens bietet? Besteht nicht der Glaube seinem Wesen nach in der Re-Interpretation, in einem nicht banalen »Lesen« von Lebenssituationen?
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Die Welt, in der wir leben, ist zutiefst ambivalent und bietet tatsächlich zwei Interpretationsmöglichkeiten: eine atheistische und eine gläubige. Und Gott nimmt uns die Freiheit und die Verantwortung nicht ab, die mit dieser Wahlmöglichkeit verbunden sind.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Die Wirklichkeit steht vor uns als ein unerschöpfliches Geheimnis voll von Paradoxien und offen für viele alternative Interpretationen: Welche Interpretation wir wählen, ist unsere Wahl, ist unser Risiko, liegt in unserer eigenen Verantwortung. Wenn wir uns aber entscheiden, jene Weltinterpretation zu wählen, die ich mit dem Wort Glauben bezeichne, erwartet uns ein überaus großes Paradoxon: Wir begreifen dann, dass unser Glaube nicht nur »unsere Angelegenheit«, somit nur unsere Wahl, ist, sondern dass er bereits die Antwort auf eine Einladung ist, die ihr vorausging: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt«, sagt Jesus (Joh 15,16).
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Glauben bedeutet nicht, dem biblischen Text einen Status zuzusprechen, dass er unerschütterliche »Fakten« genauestens wiedergibt, sondern sich gerade in die Geschichte hinein zu begeben. So entsteht ein hermeneutischer Zirkel zwischen unserer eigenen Geschichte und der biblischen Geschichte; beide erhellen und erklären sich gegenseitig. Die Bibel ist nicht die eine »Fotoaufnahme der Welt«, die den Menschen darüber informiert, wie die Welt ist, sondern sie ist ein Spiegel, der dem Menschen selbst vorgehalten wird und ihm hilft, sich selbst zu verstehen und dadurch sich und die Welt zu verändern.
THEATER FÜR ENGEL
In der Unsicherheit, in der uns die Vernunft (oder genauer gesagt die moderne Rationalität) belässt, sollten wir uns eine einfache, aber grundlegende Frage stellen: Will ich, dass Gott ist oder dass er nicht ist? Diese Frage wartet auf eine Antwort aus der größten Tiefe unseres Herzens, aus dem Grund unseres Wesens. Vielleicht ist die Antwort auf diese Frage viel schwerwiegender als unsere Antworten auf die häufig gestellte Frage, ob wir denken, dass Gott ist oder nicht.
ICH WILL, DASS DU BIST
Darüber, ob ich wirklich, also existenziell ein gläubiger oder ungläubiger Mensch bin, ob ich für Gott und seine Liebe offen oder stattdessen in eine verkehrte Selbstliebe eingeschlossen bin, entscheidet nicht das, was ich über die Existenz Gottes denke, sondern, ob ich in meinem Innersten will oder nicht will, dass Gott ist.
ICH WILL, DASS DU BIST
Ich will, dass du bist. Dieses ich will ist »kein bloßer Wunsch«, sondern eine existenzielle Zustimmung. Deswegen kann die Frage, ob ein Mensch in seinem Wesen und aus der Tiefe seines Herzens heraus will, dass Gott ist, sowohl an die gestellt werden, die meinen, dass Gott nicht ist, als auch an jene, die meinen, dass er ist; und natürlich auch an diejenigen, die wissen, dass sie das nicht wissen.
ICH WILL, DASS DU BIST
Die Frage nach Gott ist nicht rein theoretisch zu beantworten, sondern existenziell. Wenn wir sie uns stellen, dann tun wir dies nicht auf »neutralem Boden«, und unsere Antwort bauen wir nicht auf die grüne Wiese wie ein Einfamilienhaus: In der Regel haben wir auf sie schon irgendwann früher einmal in den unbewussten Tiefen unserer Existenz geantwortet, bevor wir sie theoretisch und explizit stellen. Menschen, die auf den Wegen des Eigensinns gehen und in einer Lebenslüge leben, haben sich schon von vornherein entschieden: Sie müssen an die Nicht-Existenz Gottes glauben.
ICH WILL, DASS DU BIST
Der Glaube besteht darin, offen zu sein gegenüber dem Allesübergreifen und der Unerschöpflichkeit der Wirklichkeit. Beinahe würde ich sagen, dass gerade diese Unerschöpflichkeit und die alles übergreifende Tiefe der Wirklichkeit nah an jenem Geheimnis sind, das wir Gott nennen. Ich kenne keinen tieferen Ausdruck des Glaubens und der Hingabe als das Bekenntnis Marias: Denn für Gott ist nichts unmöglich. (vgl. Lk 1,37)
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Gott kommt auf uns zu als Möglichkeit. Es ist jedoch notwendig, in diesen Möglichkeitsraum einzutreten – und der Eingang in die Möglichkeiten Gottes heißt Glaube.
THEATER FÜR ENGEL
Nicht nur für einen nicht gläubigen Menschen, sondern auch für einen gläubigen ist Gott hier auf der Erde nur als Möglichkeit. In diesen Möglichkeitsraum einzutreten, ist keine vorsichtige Annahme einer ungeprüften und unsicheren Hypothese. Es ist nicht möglich, dies »einfach mal ganz unverbindlich« auszuprobieren und sich dabei ein Hintertürchen offen zu lassen, um wieder zurückgehen zu können. Es ist ein schwerwiegender und verbindlicher Schritt, ein Salto, der das ganze Leben in ein religiöses Experiment verwandelt.
THEATER FÜR ENGEL
Der Glaube, wie ich ihn im Geist der biblischen Propheten und der großen Mystiker und Theologen des Christentums (aber auch des Judentums und des Islams) verstehe, ist und darf kein »Theismus« noch ein anderer »-ismus« sein, weil er sich dadurch in sein Gegenteil verkehren würde, in Ideologie und Idolatrie, in einen heidnischen Götzendienst. Der Kampf gegen den Götzendienst ist ein Kampf gegen die Verwechslung des Symbols mit dem, worauf es hinweisen soll. Heute besteht weitestgehend nicht mehr die Gefahr, dass die Menschen die Erzeugnisse ihrer Hände als Gott verehren, worüber sich seinerzeit die biblischen Propheten lustig machten. Stattdessen besteht die Gefahr, dass sie die Erzeugnisse ihrer Vernunft und ihrer Phantasie vergöttern und anbeten werden und dass wir dieser raffinierten Version des »Heidentums« in verschiedenen geschichtlichen Gestalten des Christentums begegnen können, auch in der akademischen Theologie.
NICHT OHNE HOFFNUNG
Glauben, dem Glauben eine Chance zu geben, bedeutet nicht, sich von der Vernunft zu befreien, sondern lediglich vom Hochmut der Vernunft. Dem Glauben Raum zu geben setzt voraus, dass wir uns von der Illusion befreien, dass wir die Tiefe der Wahrheit mit unserem Wissen voll ergreifen und sie in unseren Besitz und in unsere Regie überführen könnten.
THEATER FÜR ENGEL
Die Vernunft wird unvernünftig, wenn sie nicht in der Lage ist, vernünftig zu unterscheiden und demütig die Grenzen ihrer Kompetenzen anzuerkennen. Dort, wo die Vernunft auf eigenen Flügeln bis zur Sonne des Geheimnisses gelangen will, welches nur dem Glauben und der Hoffnung gegeben wird, endet sie wie Ikarus mit verbrannten Flügeln – sie stürzt ab: entweder in die Finsternis des Wahnsinns (erinnern wir uns an Nietzsche!), oder sie endet noch schlimmer, indem sie zur Ideologie degeneriert, die dämonisch oder lächerlich sein kann (erinnern wir uns an den marxistischen »wissenschaftlichen« Atheismus!).
THEATER FÜR ENGEL
Das Geheimnis zu respektieren, bedeutet nicht, zu resignieren. Es bedeutet nicht, in der Anstrengung, mehr wissen zu wollen, nachzulassen; es bedeutet nicht, verantwortungslos, faul und undankbar das große Geschenk der Vernunft brachliegen zu lassen und die Offenheit unseres Geistes nicht zu nutzen. Nichtsdestotrotz behält das Pascal’sche Diktum stets seine Gültigkeit: Die größte Leistung der Vernunft ist es, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen.
THEATER FÜR ENGEL
Der Mensch darf nicht undankbar das Geschenk der Vernunft verwerfen, das Gott ihm gab. Ein Glaube ohne Fragen stünde in der Gefahr, so sehr vom Unkraut menschlicher Vorurteile und Phantasien, von kulturell-religiösem Ballast überwuchert zu werden, dass dieses Unkraut den göttlichen Samen des Glaubens in uns ersticken würde. Solange sich unser Glaube im Status des Pilgerns befindet und sich nicht in das »selige Schauen« verwandelt hat, das denjenigen vorbehalten ist, die nach dem irdischen Wandeln im Schoße Gottes ruhen, braucht er das kritische Korrektiv der zweifelnden Vernunft: Gerade diese demütige Offenheit zum Dialog mit der Vernunft schützt ihn vor dem Absinken in den Schlick der Ideologie.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Der Glaube, wie ihn die christliche Tradition versteht, ist Bestandteil einer Trias: Er schreitet immer gemeinsam mit der Hoffnung und mit der Liebe. Begleitet wird er von der geduldigen Hoffnung – jedoch auch von der Liebe, deren Sehnsucht nach Erfüllung nicht gestillt werden kann.
THEATER FÜR ENGEL
Gott gibt uns das Geschenk des Glaubens und der Hoffnung – jedoch nicht als einen Gegenstand zum »Festhalten«, sondern als Licht, das in diesen sonst so düster wirkenden Raum fällt und uns die Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit nicht nur von der einen, von unserer »weltlichen« Seite aus zu betrachten, sondern auch von der anderen, seiner Seite aus.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
In dieser Welt, angesichts all dessen, was uns ein durch und durch zynisches Weltverständnis suggeriert, besitzt unser Glauben »nur« die Gestalt der Hoffnung. Ist es jedoch überhaupt legitim, etwas Derartiges wie das Wort Hoffnung mit dem Wörtchen »nur« zu kombinieren? Ist doch gerade die Hoffnung jene kolossale Kraft für das »und trotzdem« und »noch einmal«!
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Der Glaube ist das Vertrauen in das, was das Fundament und die Tiefe des Lebens bildet und was des Vertrauens, der Liebe und der Hoffnung tatsächlich würdig ist.
ZACHÄUS ANSPRECHEN
Der Glaube braucht, damit er seine großen Taten vollbringen und uns zu unserem Heil führen kann, eine große Sehnsucht und eine starke Hoffnung. Eine Hoffnung, die sich nicht auf die »Dinge der Welt« stützt und sich an sie heftet, eine Hoffnung, die uns stattdessen davon befreit, sich an ihnen festzuklammern und uns aus ihrer Abhängigkeit löst. Jene Hoffnung, die die Schritte unseres Vaters Abraham lenkte, als er den Ruf des Herrn hörte und »wegzog, ohne zu wissen, wohin er kommen würde«. Die Hoffnung überbringt uns die Botschaft des Evangeliums, dass »Gott größer ist als unser Herz«, dass wir in diesem Lebenskampf trotz aller Niederlagen schließlich dadurch siegen werden, dass wir von Gott überwältigt werden.
NICHT OHNE HOFFNUNG
Wenn sich unsere Beziehung zu Gott nur auf der Überzeugung von seiner Existenz gründete, einer Überzeugung, zu der man schmerzfrei mittels Emotionen der Freude an der Harmonie des Weltalls oder mittels einer rationalen Berechnung einer Kette von Ursache und Wirkung gelangt, dann wäre sie nicht das, was ich meine, wenn ich vom Glauben spreche. Folgt man den Kirchenvätern, so ist der Glaube ein Strahl, mit dem Gott selbst ins Dunkel des menschlichen Lebens eindringt.
GEDULD MIT GOTT
Die Schwester des Glaubens ist die Liebe. Über sie lässt sich auch lesen, dass Gott uns früher geliebt hat als wir ihn, dass er uns geliebt hat, »als wir noch Sünder waren«, dass Er – und seine Liebe, denn Er ist die Liebe – »größer ist als unser Herz«. So wie seine Liebe unserer Fähigkeit zu lieben vorausgeht und diese trägt, so geht sein Glaube an uns – daran glaube ich – unserem Glauben voraus und trägt unseren Glauben, er ermöglicht ihn und ist in ihm anwesend. Gott selbst ist in unserem Glauben präsent – die traditionelle Theologie bringt diese Wahrheit mit dem Satz, dass der Glaube Gnade ist, zum Ausdruck. Und gerade wegen dieser geheimnisvollen Präsenz bin ich davon überzeugt, dass unser Glaube mehr ist, als wir sehen, erfahren oder denken. Wenn Gott selbst in unserem Glauben präsent ist, ist er dort auch häufig verborgen oder reicht über ihn hinaus – übersteigt das, was wir selbst über unseren Glauben urteilen, was wir von ihm »sehen«, wie wir ihn verstehen. Ist in ihm Gott, der größer ist, als wir zu denken vermögen, so ist auch unser menschlicher Glaube »größer«, als wir uns bewusst sind. Auch in unserem scheinbar – in den Augen der anderen und manchmal auch in unseren eigenen Augen – kleinen Glauben, ja sogar auch in unserem Suchen und Ringen kann irgendwie der große Gott verborgen sein. Besitzen wir denn nicht genug Beweise, dass unser Gott Paradoxa liebt?
GEDULD MIT GOTT
Das Christentum, wie ich es verstehe, ist vor allem eine »Religion des Paradoxons«. Es ist ein Glaube, in dessen Zentrum das Kreuz steht; ein Glaube, der auch angesichts des Jubels über die Auferstehung den Aufschrei Jesu nicht vergisst: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«
THEATER FÜR ENGEL
Ist denn die Welt nicht voller Tragödien, die so vielen Menschen das Antlitz Gottes derart verdunkeln, dass sie nicht an seine Güte und Liebe, Allmacht und Gerechtigkeit glauben können? Wenn das Erdenleben Jesu, mit irdischen Maßstäben betrachtet, mit der Tragödie am Kreuz endet, müsste das nicht diejenigen warnen und abstoßen, die sich auf einen ähnlichen Weg begeben möchten? Ist denn die Kirche und ihre Geschichte, nach irdischen Maßstäben betrachtet, nicht voll von Schandtaten und Verbrechen, und ihr beklagenswerter gegenwärtiger Zustand nicht ein einziges starkes Argument gegen den Glauben, dass der Geist Gottes sie lenke, beschütze und ganz erfülle? »Mit irdischen Maßstäben betrachtet« ist das alles ohne Zweifel wahr, und Gott hat vielleicht die »Weltlichkeit« der Welt, in der sich zwangsläufig auch der Ort befindet, von wo aus wir alles betrachten, gerade deshalb zugelassen, damit er sich erneut vor der Gefahr eines allzu billigen »schon habe ich dich!« noch tiefer verbergen könnte.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Bei vielen Menschen geraten der »einfache Glaube« – und von diesem abgeleitet eine »einfache Moral« – in eine ernste Krise, sobald sie mit einem Problem konfrontiert werden, mit dem wahrscheinlich jeder früher oder später konfrontiert wird: die Komplexität konkreter Lebenssituationen. Diese hängen häufig mit zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen und mit der Unmöglichkeit, aus mehreren möglichen Lösungen eine auszuwählen, die in sich nicht verschiedene »Aber« bergen würde. Dies ruft dann »religiöse Erschütterungen« hervor, drängende Zweifel – genau das, womit ein auf solche Weise Glaubender überhaupt nicht leben kann.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Sofern der Glaube lebendig ist, wird er immer wieder verwundet werden, Krisen ausgesetzt sein, ja, manchmal auch »getötet« werden. Es gibt Momente, da unser Glaube (oder, freundlicher gesagt, seine bisherige Gestalt) abstirbt – um wieder auferweckt werden zu können. In der Tat ist nur ein verwundeter Glaube, an dem die »Narben der Nägel« sichtbar sind, glaubwürdig, nur er kann heilen. Ich befürchte, dass ein Glaube, der nicht die Nacht des Kreuzes durchschritten hat und nicht ins Herz getroffen wurde, nicht diese Macht besitzt.
BERÜHRE DIE WUNDEN
Ein Glaube, der nie blind wurde, der die Dunkelheit nicht erlebte, kann kaum denen helfen, die nicht sahen und die nicht sehen. Die Religion der »Sehenden«, die pharisäische, sündhaft selbstsichere, unverwundete Religion gibt statt des Brotes einen Stein, statt des Glaubens eine Ideologie, statt des Zeugnisses eine Theorie, statt der Hilfe eine Belehrung, statt der Barmherzigkeit der Liebe nur Befehle und Verbote. »Das Nicht-Sehen«, das ehrlich und demütig eingestandene Nicht-Sehen, eröffnet erst dem Glauben den Raum. Dem Glauben ist aufgegeben, in diesem Nicht-Sehen zu verharren. Er muss bis zum Ende darauf achten, dass der Raum des »Nicht-Sichtbaren« leer, jedoch gleichzeitig offen bleibt – wie der Tabernakel des Karsamstags in der Stunde der Verehrung der Wunden des Leibes und des Herzens Christi. Für diese wahrhaftig nicht einfache Aufgabe braucht der Glaube auch die Hoffnung und die Liebe.
BERÜHRE DIE WUNDEN
Große Kritiker des Christentums wie Nietzsche oder Jung fanden im Christentum ihrer Zeit nicht das, was ihnen sehr am Herzen lag: die Möglichkeit, sowohl der Wahrheit des Tages als auch der Wahrheit der Nacht gerecht zu werden, sowohl die Welt der Vernunft und der Ordnung als auch die Welt der Tragik und der Leidenschaft ernst zu nehmen, die sich den »Spinngeweben der Vernunft« entziehen. Etwas Ähnliches meinte offenbar mein Lehrer Jan Patočka, als er vom Christentum als von einem »unvollendeten Projekt« sprach.
THEATER FÜR ENGEL
Eine Formulierung der traditionellen Theologie lautet: Der Glaube und die Hoffnung sind, genauso wie die Liebe, »eingegossene« göttliche Tugenden. Sie sind Frucht der Gnade – gratia, ein unverdientes Geschenk, Ausdruck der unbedingten Liebe Gottes. Diese Liebe geht unserer eigenen Liebe voraus. Und es sei hinzugefügt: Sie kann auch nach und nach – als eine »Kontrasterfahrung« – unsere eigenen bisherigen traumatisierenden Erfahrungen mit unserer in die Brüche gehenden Liebe korrigieren. Wie viele innere Verletzungen muss die menschliche Liebe ertragen, die einerseits auf die Härte der Welt stößt, andererseits an unsere eigenen Grenzen, an unsere Schwächen und unser Versagen, und schließlich an die Grenze der menschlichen Welt, den Tod!
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Das Neue Testament behauptet an mehreren Stellen, dass vor dem Herrn nur derjenige Glaube bestehen wird, der gelebt wird. Gott würdigt die Haltungen, Handlungen und Taten, die den Wahrheiten des Glaubens entsprechen, selbst wenn sie nicht explizit aus einer »bewusst religiösen Motivation« entspringen. Im Gegensatz dazu bedeutet wiederum eine bloße »Überzeugung« (damit meine ich Ansichten, Worte, rituelle Gesten), die nicht in das Leben als solches eingeschlossen ist, in seinen Augen nichts – ist eigentlich Heuchelei, »toter« Glaube.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Den Glauben an den Schöpfer bezeuge ich nicht damit, dass ich an diesen oder jenen physikalischen, biologischen oder metaphysischen Theorien über den Ursprung und die Entstehung der Welt und des Lebens festhalte, sondern indem ich mich auf eine bestimmte Weise gegenüber der Natur und dem Leben, einschließlich des Lebens in seinen verletzbarsten Phasen – in der Phase des Anfangs und in den Endphasen – verhalte.
THEATER FÜR ENGEL
Ob du auf die von Gott offenbarte Wahrheit von der Schöpfung mit dem Glauben geantwortet hast, wird Gott selbst am Ende deines Lebens wahrscheinlich eher daran bewerten, wie du dich zur Welt um dich herum verhalten hast, als daran, was du über die Welt und über ihre Entstehung gedacht hast. Der Glaube ist das, was in deinem Verhalten, in deinen Lebenshaltungen implizit enthalten ist!
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Man kann einen bestimmten Zugang des Menschen zur Welt, der bezeugt, dass er die Wirklichkeit als ein anvertrautes Geschenk begreift, als eine Haltung des Glaubens bezeichnen. Der entgegengesetzte Fall wäre: Ein bestimmter »Lebensstil« eines Menschen zeugt davon, dass er »sich selbst Gott« ist oder sich aufgrund eines partiellen Wertes vergöttlicht (verabsolutiert) hat – beides muss als »Götzendienst« bezeichnet werden, als purer Gegensatz zu einer gläubigen Haltung.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Ich glaube nicht deshalb, weil der Glaube zu etwas gut ist, sondern schlicht deshalb, weil ich überzeugt bin, dass das, woran ich glaube, wahr ist. Ich lehne es ab, vom Glauben wie ein Geschäftsmann zu sprechen, der die Vorteile des Kaufs einer Ware anpreist, die er anbietet. Ich habe nicht deshalb begonnen zu glauben, »weil mir das etwas gibt« oder »damit mir das etwas gibt«, sondern deshalb, weil ich bestimmte Dinge begriffen habe und sie mit all ihren Folgen, die sich daraus für meine Lebensführung ergeben, angenommen habe.
NICHT OHNE HOFFNUNG