Nicht ohne Hoffnung - Tomáš Halík - E-Book

Nicht ohne Hoffnung E-Book

Tomás Halík

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Beschreibung

Hoffnung wird besonders intensiv empfunden in Zeiten der Krise, im Leben jedes einzelnen Menschen wie auch von Gesellschaften. Wenn sich manche Hoffnungen als bloße Illusionen erweisen, ermöglicht dies der Hoffnung, sich zu reinigen und zu reifen, "in die Tiefe zu zielen" und sich neu auszurichten – Krise ist auch eine Wiege der Hoffnung. Die Hoffnung ist dann wie ein Spalt, durch den die Zukunft einen Strahl ihres Lichtes in die Gegenwart wirft. In diesem Buch würdigt Tomáš Halík verschiedene Gestalten der menschlichen Hoffnung und zeigt, was in ihnen verborgen sein kann – z. B. wenn in alltäglichen Erfahrungen existentielle Fragen aufscheinen oder wenn darin die Sehnsucht nach dem Absoluten spürbar wird.

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tomáš Halík

Nicht ohne Hoffnung

Glaube im postoptimistischen Zeitalter

Aus dem Tschechischen von Markéta Barth unter Mitarbeit von Benedikt Barth

Titel der Originalausgabe:

Stromu zbývá naděje. Krize jako šance Nakladatelství Lidové noviny, Praha 2009

Neuausgabe 2025

Für die deutsche Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Alexander Spatari

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL, Timisoara

ISBN Print 978-3-451-06956-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83692-3

Inhalt

1. Ground Zero: Die Hoffnung am Nullpunkt

2. Die momentane Krise

3. Rückkehr der Religion?

4. Hoffnung für alle?

5. Krise als Wiege der Hoffnung

6. Hoffnung und Wunder

7. Das Brot des Armen

8. Der Gang auf dem Wasser

9. Der Kampf am Ufer der Hoffnung

10. Hat der Regen einen Vater?

11. Die Rede aus dem Wettersturm und Gewitter

12. Ich glaube, dass mein Goel lebt

13. Der Strahl unter der verschlossenen Tür

14. Kein Wald

15. Wozu brauchen wir Gott?

Über den Autor

1. Ground Zero: Die Hoffnung am Nullpunkt

Große Worte wie »Gott« oder »ewiges Leben« bezeichnen Wirklichkeiten, von denen wir nicht einfach aussagen können, ob sie existieren oder nicht, weil sie nicht auf jene Weise evident sind, wie dies innerweltliche Dinge sind. Man kann über sie aber im Modus der Hoffnung sprechen: dass es sie geben kann, dass sie an uns nicht wie eine »Gegebenheit« oder eine »Notwendigkeit« herantreten, sondern als Möglichkeit, als Angebot, als Einladung und Herausforderung. Sie treten an uns heran als Zeichen dafür, dass die Wirklichkeit der Welt und unseres Lebens geöffnet ist – und diesen Charakter von ihnen erleben nur diejenigen, die selbst »offen« sind. Nur diejenigen sind Menschen der Hoffnung, die nicht mit der Welt, wie sie heute ist, konform gehen.

Wenn ein Atheist sagt: »Gott gibt es nicht«, Gott gibt es hier nicht (there is no God), kann ich ihm zustimmen, mit einem einzigen großen Vorbehalt: Ihn gibt es noch nicht hier. Ihn gibt es nicht hier, wie es die Zukunft nicht gibt – jedoch gibt es ihn hier bereits auf die Weise, wie es unsere Zukunft schon »gibt«: Wir sehen sie nicht, wir kennen sie nicht, wir führen über sie nicht Regie. Trotzdem sind wir existenziell auf sie angewiesen (ohne Zukunft zu sein bedeutet eigentlich, nicht mehr zu sein, tot zu sein), und zumindest unbewusst rechnen wir immer mit ihr und beziehen uns ständig auf sie: mit unserer Hoffnung oder unseren Ängsten, Wünschen, Plänen und Sorgen, mit unserer Leidenschaft oder Angst. Die Hoffnung, die auf die Zukunft gerichtet ist, welche ihre eigenste Umgebung ist, ihre »Biosphäre«, befreit uns von der Last der Vergangenheit – auch die Vergebung von Schuld ist ein Akt der Hoffnung, ein Geschenk und eine Eröffnung der Hoffnung –, und die Hoffnung befreit uns auch vom Erschrecken und von der Trauer über die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des gegenwärtigen Augenblicks.

Die Ewigkeit, die Biosphäre Gottes, umfasst und übersteigt gleichzeitig alle Dimensionen der Zeit, sie ist für uns hier jedoch jetzt vor allem als Zukunft, als Möglichkeit, als Zusage, als Hoffnung gegenwärtig. Gott und seine Ewigkeit sind hier noch nicht in jener Fülle und Deutlichkeit offenbar, die jeden dazu zwingen würde, Gott anzuerkennen und zu respektieren; seine Anwesenheit in unserem Leben ist jetzt auf den Raum angewiesen, den ihm unsere Freiheit mit dem Glauben und mit der Hoffnung eröffnet. Theologen, die sich auf die klassische Metaphysik stützen, wenden an dieser Stelle ein, dass Gott von Ewigkeit her als Basis allen Seins hier gegenwärtig ist, dass er auch in seiner Schöpfung und in seinem Wort da ist, das in der Fülle der Zeiten in der Menschwerdung Jesu von Nazaret in die Geschichte eingegangen ist, dass er in den Sakramenten der Kirche hier ist u.Ä.; in allen diesen Weisen seiner Anwesenheit bleibt Gott jedoch ein Gott, der so geheimnisvoll und verborgen ist, dass die Aussage Pascals weiterhin gilt: »Es gibt genug Licht für diejenigen, die sich aus der ganzen Seele wünschen, Gott zu sehen, und genug Dunkelheit für diejenigen, die den entgegengesetzten Wunsch haben.« Gott hat einen Raum für den Zweifel gelassen, damit der Glaube seine Würde als freier Akt und als ein mutiger Schritt hin zum Reich des Geheimnisses nicht verliert.

Seit Jahren habe ich darüber gesprochen und geschrieben, dass der Glaube, damit er ein lebendiger Glaube bleibt, den Zweifel als seinen ständigen korrigierenden Gefährten braucht; genauso wie das Zweifeln wiederum den Glauben braucht, damit es nicht in die Sümpfe einer verbitterten absoluten Skepsis führt. Dass sich Glaube und Hoffnung auf gleiche Weise gegenseitig begleiten und korrigieren sollten, halte ich heute für ähnlich wichtig, wenn nicht sogar für noch wichtiger. Wenn der Glaube vergessen würde, dass sein Gegenstand in der Wolke des Geheimnisses verharrt, in die nur die Hoffnung eintreten darf, könnte er zur Ideologie werden, zu einem Verkäufer von »Sicherheiten«; und wenn die Hoffnung sich vom Glauben loslösen würde, drohte ihr, dass sie vom Wind des Träumens, der Illusionen und der Wünsche fortgetragen würde.

Der Glaube und die Hoffnung sollten immer zusammen gehen, so wie die Apostel Petrus und Johannes am Ostermorgen zusammen zum leeren Grab gelaufen sind; die Hoffnung lässt vielleicht dem Glauben den Vortritt, damit er hineinschaue und sage, was er sieht. Die Hoffnung jedoch – erinnern wir uns – läuft schneller und ist als Erste am Ziel. Es gibt Momente, in denen der Glaube schwerfällig ist, wie es sicher in jener Nacht nach dem Karfreitag der Fall war, doch wie damals wird er von der Hoffnung vorangetrieben, die ihm den Weg weist.

Gerade deshalb ist es so wichtig, die Hoffnung wie eine kleine Flamme im Sturm zu pflegen, zu behüten und zu schützen, vor der Versuchung der Hoffnungslosigkeit, gleichzeitig aber auch vor ihrer Verderbnis, vor ihrer Verfälschung, vor dem, was ein falscher Ersatz für sie wäre: die Illusion, die Projektion unserer Wünsche, utopische Versprechungen oder ein naiver Optimismus, wie es zum Beispiel die neuzeitliche Ideologie der Verheißung eines unbegrenzten Fortschritts darstellte.

Die langwierige Krise des Christentums ist vor allem eine Krise der christlichen Hoffnung, schrieb Benedikt XVI. in seiner Enzyklika »Spe salvi«. Auch ich bin beunruhigt, dass die christlichen Worte von der Hoffnung in unserer Welt ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Und das umso mehr, weil ich tief davon überzeugt bin, dass die großen Geheimnisse aus der Schatztruhe des biblischen Glaubens vor allem deshalb für so viele Menschen heutzutage unzugänglich bleiben, weil man sie nur mit einem einzigen Schlüssel aufschließen kann – und dieser ist gerade die Hoffnung. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich zu einer Reihe von Sätzen des christlichen Glaubensbekenntnisses ein aufrichtiges »Amen« nur deshalb sagen kann, weil dieses »Amen« »ich hoffe darauf« bedeutet; d. h., ich beziehe mich nicht darauf auf Grund einer vollständigen Erkenntnis und eines kompletten Begreifens, sondern auf Grundlage der Hoffnung. Die Sätze sind für mich kein einsehbares, evidentes Faktum, sondern ein Geheimnis – ein Gegenstand der Hoffnung. Gerade die Hoffnung – und nur sie – scheint mir der Schlüssel zum Tor der großen Geheimnisse des Glaubens zu sein. Sie ermutigt dazu, in diese Wolke des Unaussprechbaren, Unbenennbaren und Unvorstellbaren einzutreten.

Was aber geschah mit diesem Schlüssel der Hoffnung? Tief spricht mich ein Gleichnis an, das bei Origenes überliefert ist (mit dem Verweis auf einen unbekannten jüdischen Mystiker des Altertums) – ein Gleichnis über die Tora als ein Haus mit vielen Gemächern, vor denen eine Menge von Schlüsseln durcheinanderliegt. Finden wir den richtigen? »Der Schlüssel ist vielleicht verloren, aber es bleibt hier die grenzenlose Sehnsucht, ihn zu suchen.«

***

Auf der Suche nach dem »Schlüssel der christlichen Hoffnung« stoßen wir zunächst auf eine ganze Reihe von Schlüsseln, die jenem in manchem ähneln und ihn im Lauf der Jahrhunderte zu ersetzen versuchten. Dies sind insbesondere der Optimismus und die Idee des Fortschritts. Diese beiden Schlüssel gehörten zur zentralen Ausstattung der Neuzeit; das Problem besteht darin, dass sie heute anscheinend dermaßen verrostet sind, dass sie weder das Heiligtum des Glaubens aufzuschließen vermögen noch zur Auslegung dessen zu gebrauchen sind, was heute in der Gesellschaft vor sich geht.

Es war die Säkularisierung, welche die Hoffnung, in der das Christentum eine der drei »göttlichen Tugenden« sah, in den Optimismus und in den Fortschrittsglauben verwandelt hatte. Dies geschah sicherlich vor allem als Reaktion darauf, dass die Rhetorik der Barockprediger und die fromme Vorstellung der Gläubigen die Hoffnung zu »jenseitig« – jenseits des Grabes – auffassten: Von der Hoffnung sprachen die Prediger am häufigsten auf dem Friedhof. Seit der Wende der Renaissance hin zu »dieser Welt« kam den Kindern der Neuzeit die christliche Lehre von den »letzten Dingen« immer mehr wie ein falscher Geldschein vor, der durch das neu entdeckte Gold der im Experiment überprüfbaren sinnlichen Erfahrung nicht gedeckt war. Ein ähnliches Schicksal hatte zum Beispiel auch die »Liebe zu den Feinden« ereilt, die Christus verkündete, die jedoch durch die Christen insbesondere in der Zeit der Religionskriege des 17. Jahrhunderts völlig unglaubwürdig gemacht wurde. Die Feindesliebe wurde durch die Säkularisierung in »Toleranz« umgeschmiedet; ein Zauberwort, abgeleitet vom Verb »ertragen«, im Sinne von »etwas Unangenehmes ertragen« – das von der im Evangelium genannten Feindesliebe, respektive von der »Nächstenliebe ohne Grenzen«, genauso weit entfernt ist, wie es der Optimismus und die Fortschrittsgläubigkeit der Neuzeit von der göttlichen Tugend der Hoffnung sind.

In einem meiner früheren Bücher habe ich Argumente dafür gesammelt, warum wir unsere »postmoderne« Zeit eine postoptimistische Zeit nennen können. Und die Entwicklung der letzten Jahre – von der nicht allzu erfolgreichen Fortsetzung des »Krieges gegen den Terror« bis hin zu der Krise, die als Kollaps des Bankensystems begann und jetzt wie ein Flächenbrand nicht nur die Grenzen von Staaten, sondern auch die Grenzen von weiteren Sektoren des gesellschaftlichen Lebens überspringt – bestätigte nur jenen Bankrott des neuzeitlichen Optimismus, dieses naiven Vertrauens in die Macht der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, die schnell und glatt alle Hindernisse auf der Fahrbahn beseitigt und verlässlich zu einer immer vollkommeneren und angenehmeren künftigen Zivilisation führen soll.

***

Auf die Frage, ob ich ein Optimist oder ein Pessimist bin, antworte ich, dass ich ein Mensch bin, der um die Hoffnung ringt – und als solcher lehne ich diese beiden Alternativen gleich entschieden ab.

»Ein Optimist ist ein Mensch, dem es an Informationen mangelt«, sagt ein bekanntes Bonmot. Ich glaube, dass die Wahrheit noch viel krasser ist. Ein Optimist ist ein Falschmünzer: Die goldene Münze der Hoffnung, die dem Menschen für seinen Lebensweg geschenkt ist, vertauscht er mit der Illusion, dass sich die Sonne des Glücks rund um den winzigen Planet seiner Vorstellungen und Wünsche drehen müsste. Der Optimismus ist die kühne Annahme oder die gewagte Unterstellung, dass »alles gut gehen wird«; im Gegensatz dazu ist die Hoffnung eine Kraft, die auch eine Situation auszuhalten vermag, in der sich diese Annahme als Illusion erwiesen hat.

Ich habe in meinem Leben drei Gesichter des Optimismus kennen gelernt, und es ist schwer zu sagen, welches von ihnen mir am meisten zuwider war. Zuerst das Gesicht der Pioniere des Kommunismus mit ihren Liedern über das sich nähernde Paradies, wo »wir dem Wind, dem Regen befehlen werden, wann er regnen, wann er wehen soll«, mit Liedern, die das Klagen der Opfer überschreien sollten, die diese revolutionäre Zukunft gefordert hatte. Ein paar Jahrzehnte später konnte ich die Pioniere des »neuen Kapitalismus« aus nächster Nähe beobachten (und es ist gut möglich, dass unter ihnen viele von denen waren, die im revolutionären Optimismus des Kommunismus aufgewachsen waren und noch vor kurzem – sicher schon ohne revolutionären Glauben und ohne jede revolutionäre Begeisterung – dessen Fahnen und Fähnchen in den Händen hielten und auf dem Mantelkragen die Abzeichen seiner Macht hatten), die sich auf die Allmacht der »unsichtbaren Hand des Marktes« verließen und alle auslachten, die dem Aufbau eines weiteren glücklichen Morgen mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einhaltung der Grundsätze der Moral und des Rechts mäßigen wollten. Und parallel zu ihnen begann ich unter den Christen, die nach dem Fall des Kommunismus in den Ring der freien Gesellschaft entlassen wurden, religiöse Enthusiasten aus den verschiedensten »neuen Bewegungen« und Sekten wahrzunehmen. Aus deren fanatisch strahlenden Augen konnte ich etwas erspüren, das mich zu sehr an die kommunistische Jugend erinnerte: ihre ständige Bereitschaft, kopflos sich begeistern zu lassen von den schlichten Parolen gewiefter Vorsänger und ihre Arme über dem Kopf kreisen zu lassen gemäß den Anweisungen erfahrener Animateure.

Die Skepsis und die Ironie, mit denen ich seit meiner Jugend die Konsumenten der Opiate optimistischer Ideologien jeglicher Couleur beobachtete, haben mich jedoch nie in das Lager des »Pessimismus« getrieben. In ihm sehe ich nur die Umkehrung des Optimismus. Der Pessimismus ist oftmals der Kater schnell ernüchterter Optimisten – und in diesem Fall führt er häufig in den Zynismus. Der Pessimismus ist in manchem noch gefährlicher als der Optimismus: Dem Optimismus verfallen leichter naive und leichtgläubige Menschen, während der Pessimismus oftmals eine Krankheit (oder eine Versuchung) von Weisen, Erfahrenen und Wissenden ist. Der Pessimismus überfällt häufig diejenigen, die schon so viele Sachen erkannt und begriffen haben, dass sie nur wenige Schritte von der Lebensweisheit entfernt sind. Da reißen sie knapp vor dem Gipfel Melancholie, Müdigkeit und Überdruss vom Weg. Spricht darüber nicht das bittere Zeugnis des biblischen Buchs Kohelet? Gerade dem Menschen, der so viel gesehen, erkannt und erlebt hat, kommt auf einmal alles so vor, als wäre es mit dem Staub der Vergeblichkeit bedeckt; auch die Erkenntnis und die Weisheit selbst erscheinen ihm jetzt wie ein vergebliches Leid.1

Vielleicht verbirgt sich gerade diese Abgestumpftheit und Resignation hinter dem Begriff »Acedia« (der gewöhnlich irrtümlicherweise mit »Faulheit« übersetzt wird). Mit diesem Wort bezeichnete die tiefe geistliche Erfahrung der alten Mönche und Einsiedler eine der Todsünden. Es handelt sich hierbei um die List des »Mittagsdämons«, der sich dem durch die Hitze ermüdeten Menschen am Höhepunkt des Tages nähert – am Gipfel einer anstrengenden Reise oder eines grandiosen Aufstiegs oder kurz danach. (Passieren nicht die meisten Unfälle auf Bergtouren knapp nach dem Erreichen eines Gipfels, wenn die Aufmerksamkeit, vom Erfolg betört, eine Weile nachlässt?)

Wir würden heute höchstwahrscheinlich von einer Depression oder vom Burn-out-Syndrom sprechen. Die Geschichte der Psychotherapie lehrt, dass das Auftreten von psychischen Störungen und Krankheiten stets in einer bestimmten Weise den Zustand der Gesellschaft widerspiegelt: Das Problem der Zeit Freuds, der Zeit der viktorianischen prüden Unterdrückung der Emotionen, war die »Neurose«, während der typische Schmerz unserer Zeit, die von dem unbeschränkten Angebot an Möglichkeiten überschwemmt ist, Depressionen und Abhängigkeiten sind. Carl Gustav Jung sprach von der »Krise des Lebensmittags«, wenn unerwartete Probleme auftauchen – mit der Gesundheit, in der Beziehung, in der Familie oder in der Arbeit – oder wenn man auf einmal keine Freude mehr daran empfindet, was einen bisher ganz erfüllte. Jung sah in der Krise des Lebensmittags ein warnendes und wachrüttelndes Signal, eine dringliche Aufforderung zum Verlassen der bisherigen Aufgabe, die Fassade des Hauses seines Lebens (seine »Person«) zu errichten, und zum Abstieg in die Tiefe, zu seinen Fundamenten. Im Gegensatz zu Freud erwartete dort Jung nicht nur einen dunklen Keller, der von verdrängtem Gerümpel vollgestellt ist, sondern einen Leben spendenden Strom eines unterirdischen Flusses, auf dem wir durch die Tiefen des »kollektiven Unbewussten« zu den kostbarsten Schätzen segeln können: Deswegen ist jede Krise eine Chance.

Es scheint mir, dass wir manche Elemente der Jung’schen Theorie des Begleitens von Einzelpersonen in einer Krise auf die »Krise der Zivilisation« übertragen können, über die zu Beginn des dritten Millenniums so viel gesprochen und geschrieben wird. Nach dem Zusammenbruch des Optimismus hat sich der Pessimismus vieler bemächtigt. Ist aber dieser Pessimismus nicht jener »Mittagsdämon«, die Sünde der Acedia? Gelangte die westliche Menschheit nicht schon auf den Gipfel jener Anstrengungen der Moderne (und hinter diesen Gipfel), immer eine größere Leistung bringen zu wollen, und ist nicht die gegenwärtige Krise die Folge eines falschen Schrittes aufgrund der Ermüdung nach diesem stressigen Aufstieg? Könnte aber gerade diese Situation nicht auch als eine Herausforderung begriffen werden, den Kurs des Schiffs des Lebens zu verändern und »in die Tiefe zu steuern«?

Wenn sich der Mensch dieser Herausforderung, die in der Krise des Lebensmittags verborgen ist, nicht stellt, besteht die Gefahr, dass er sich für den Rest seines Lebens zu einem Zyniker wandeln und schließlich, statt eine ausgereifte Weisheit des Lebensherbstes zu erreichen, in die böse Verbitterung unerträglicher Greise verfallen wird. Und es ist zu fragen, ob nicht für unsere gesamte westliche Zivilisation eine ähnliche Gefahr besteht.

Zur Naivität des Optimismus gehörte die notorische Banalisierung und Bagatellisierung des Bösen. Die revolutionäre Apokalyptik behauptete zwar (im Unterschied zu den Ideologien des Optimismus, die in ihrem Hochmut die Kräfte des Bösen bereits völlig ignoriert hatten), dass die »letzte Schlacht aufflammen werde«, zweifelte jedoch nicht an ihrem baldigen Sieg. Der Pessimismus dagegen ist von der Kraft des Bösen fasziniert, er ist vom Bösen bis hin zur erstarrten Untätigkeit geradezu behext. Der Pessimist nimmt die Verderbnis der Welt wahr, kämpft jedoch nicht und verhandelt auch nicht mit Gott, wie beispielsweise Abraham über die Rettung der Einwohner des sündigen Sodom.

Und wenn Sodom brennt, wenn die verdorbene Welt zu Grunde zu gehen droht, so wie es der Pessimist immer voraussagte und erwartete, erwehrt er sich nicht des Blicks der Genugtuung auf dieses Werk der Rache und des Untergangs. Für diesen Blick zurück wird er jedoch mit der Erstarrung bestraft, ähnlich wie die Frau Lots. Die Pessimisten sind im Augenblick der Katastrophen nicht das »Salz der Erde«, sie sind eher erstarrte »Salzsäulen«, Menschen, die zu nichts zu gebrauchen sind. Der Optimist ist ein »Falschmünzer«, der Pessimist jedoch ist ein Hochverräter des Lebens, ein Deserteur vor dem Kampf.

***

Wo soll man beginnen, wenn man nach dem Zusammenbruch des illusorischen Optimismus nicht den verbitterten Pessimismus, die stoische Resignation, die Verzweiflung oder den Zynismus als einzig verbliebene Möglichkeit wählen möchte – sondern versucht, den verlorenen Schlüssel der Hoffnung zu finden? Einer Hoffnung, die sich im Unterschied zum Optimismus nicht darauf verlässt, dass sich alles schon irgendwie wieder zum Guten wenden wird, sondern die Kraft gibt, die Last von Situationen zu ertragen, die von der Zusage eines Happyends meilenweit entfernt sind. Oft ist es daher notwendig, bei null zu beginnen. Oder bei eins? Slavoj Žižek, einer der provokantesten Denker unserer Zeit, legt in seinem Aufsatz »Zur materialistischen Theologie« eine aparte Metapher vor: »Der Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten wird vielleicht in einem Detail besonders sichtbar: In Europa beziffert man das Erdgeschoss mit der Zahl 0, so dass die Etage oberhalb davon das ›erste Geschoss‹ ist, während in den Vereinigten Staaten das erste Geschoss auf Straßen-Niveau liegt. Kurz gesagt beginnen die Amerikaner von der 1 aus zu rechnen, während die Europäer wissen, dass die 0 der 1 vorangeht. Oder, um eher zur Geschichte zurückzukehren: Die Europäer sind sich dessen bewusst, dass für jede Tradition eine Grundlage (engl.

›ground‹, das auch im Wort ›ground floor‹ – dem Erdgeschoss – steckt) vorhanden sein muss, bevor man zu zählen beginnt; eine Grundlage, die schon immer gegeben ist und als solche nicht mitgezählt wird, während in den Vereinigten Staaten, dem Land ohne jegliche eigene vormoderne historische Tradition, eine solche ›Grundlage‹ fehlt – die Dinge beginnen hier unmittelbar mit der Freiheit, die sich die Menschen selbst zum Gesetz gaben, die Vergangenheit ist gelöscht (nach Europa abgeschoben).2 Diesen Wesenszug erklärt vielleicht noch ein anderes ähnliches Phänomen: In (fast) allen amerikanischen Hotels, die in Gebäuden mit mehr als zwölf Etagen untergebracht sind, gibt es keine dreizehnte Etage (damit diese den Gästen kein Unglück bringen kann, natürlich), d. h., von der zwölften Etage geht es direkt in die vierzehnte Etage. Für einen Europäer ergibt eine solche Vorgehensweise keinen Sinn: Vor wem versuchen wir uns lächerlich zu machen? Als wüsste Gott nicht, dass das, was wir als die vierzehnte Etage benannt haben, in Wirklichkeit die dreizehnte Etage ist. Die Amerikaner können dieses Spiel aber gerade deshalb spielen, weil ihr Gott lediglich die Verlängerung ihres individuellen Egos ist und er nicht als die wahre Grundlage des Seins wahrgenommen wird.«3 Wie gewöhnlich nimmt Slavoj Žižek diese Anekdote zum Anlass, eine ganze Reihe von Überlegungen auszuführen; wir dagegen begeben uns von ihr ausgehend in eine ganz andere Richtung. Ich möchte mich nicht auf ausschweifende Betrachtungen über die Unterschiede zwischen der amerikanischen und europäischen Religiosität einlassen. Ich gestehe allerdings ein, dass mich bei den Hinweisen auf die Vitalität der amerikanischen Religiosität im Vergleich zu den halbleeren europäischen Kirchen von Zeit zu Zeit der Zweifel überkommt, ob wir den richtigen Wegweisern folgen. Als ich vor Jahren hörte, mit welcher Leichtigkeit der Name Gottes dem amerikanischen Präsidenten, welcher der »religiösen Rechten« nahesteht, über die Lippen geht, stellte ich mir die Frage, ob die Europäer, die sich dagegen wehrten, den Namen Gottes in die Präambel der Verfassung der Europäischen Union einzuschreiben, Gott eigentlich nicht ernster nehmen. Als ich mir in Amerika die Programme der Fernsehmissionare anschaute (und ihre Kopien in den europäischen Stadien sah), kam ich nicht umhin, mich an den Vorwurf Žižeks zu erinnern, dass der Gott, dessen »Effektivität« hier vorgeführt und verkauft wurde, »eher die Verlängerung des individuellen Egos« ist. Gleichzeitig kam mir die Aussage des amerikanischen Philosophen Richard Rorty in den Sinn, dass die Amerikaner, wenn sie von »Gott« sprechen, damit meistens »unser zukünftiges Ich« meinen.

Ich durfte in den letzten zwanzig Jahren so oft Amerika besuchen, dass ich den bekannten Satz bestätigen kann, dass »was auch immer Sie über Amerika sagen, der Wahrheit entspricht« (oder der Unwahrheit), weil die Vereinigten Staaten von Amerika wirklich ein großes Land sind, das – und zwar auch in religiöser Hinsicht – viele Gesichter hat. Europa war und ist natürlich auch kulturell und religiös bunt, und auch an vielen Orten in Europa »fehlt die Null«, vergisst man jene geheimnisvolle, nicht berechenbare Grundlage. Auf beiden Seiten des Atlantiks spricht man heute über Gott und die Religion (und zwar sowohl aus den Mündern seiner eifrigen Verteidiger wie auch denen seiner Leugner) allzu häufig zu leichtfertig und unverantwortlich.

Bei der Lektüre des Textes von Žižek über Amerika, dem jener ground floor mit der Nummer null fehle, erinnerte ich mich auch an den traurigen Ort mitten im geschäftigen Manhattan, an jene gähnende Grube, die die Wolkenkratzer hinterließen, die durch den Terror-Angriff an der Schwelle des dritten Millenniums, am 11. September 2001, zerstört wurden. Die Amerikaner nannten diesen Ort – diese nicht verheilte Narbe am Körper unserer Welt – »Ground Zero« (oder auch »point zero«), den Nullpunkt.

Und als ich kurze Zeit später wieder an diesem Ort stand, konnte ich mich – obwohl es mir dabei kalt den Rücken herunterlief – nicht von einem Gedanken befreien: Ja, jetzt und hier hat Amerika (und die Welt) ihren »Nullpunkt«. Dieser Ort ist die Erinnerung, dass die Welt und das Leben nicht mit der Freiheit anfängt, die sich die Menschen selbst zum Gesetz gaben, dass die Vergangenheit nicht gelöscht ist. Hier ist der Ort einer tragischen Erfahrung: Wir berühren die Brüchigkeit und die Verwundbarkeit unserer Welt, wir erkennen, dass ein gewisser Typ des »Glaubens«, den wir für überwunden hielten, in unsere Gegenwart eingreifen und unsere Vision der Zukunft verunsichern kann. Wir waren Zeugen, wie ein Symbol des menschlichen Strebens zum Himmel (die Wolkenkratzer) innerhalb eines Augenblicks zu Staub werden kann.

Der 11. September wurde für diese Generation zum Symbol, ähnlich wie für die Generation ihrer Eltern der Holocaust zum Symbol wurde. Sicher, jedes historische Ereignis ist einmalig und hat seine einmalige Bedeutung; es geht auch nicht um einen Vergleich der Opferzahlen (auch über Auschwitz muss bei aller Grauenhaftigkeit der Todesstatistik gesagt werden, dass Auschwitz nur ein Teil der Geschichte der Genozide des 20. Jahrhunderts ist, vom Genozid an den Armeniern über die von Lenin gesteuerte Hungerkatastrophe bis hin zu den Verbrechen des asiatischen Kommunismus, und die Zahl der Opfer des »Kriegs gegen den Terror«, einschließlich der unglücklichen Invasion im Irak, hat schon längst die Anzahl der Toten des 11. September übertroffen). Diese Geschehnisse symbolisieren stets einen neuen Schritt auf dem Marsch des Grauens, ein jedes Mal qualitativ neues Gesicht des Bösen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Grabstein des neuzeitlichen Optimismus. Die Schalter in den Gaskammern von Auschwitz und in den Flugzeugen am Himmel über Manhattan wurden nicht nur durch einen barbarischen ideologischen Fanatismus betätigt, sondern auch durch die technische Vernunft, durch nüchternes Kalkül; durch Menschen, die über alle Errungenschaften der Technik und der Wissenschaft verfügten, die nur noch eine Instanz ausschalten mussten; eine Instanz, die übrigens schon lange vorher verachtet wurde: das Gewissen.

***

»Wo war Gott in Auschwitz?«, fragten sie den Rabbiner Jonathan Sacks. »Er war dort im Gebot ›Du sollst nicht töten‹«, antwortete der Rabbiner.4

Auch am 11. September war Gott in Manhattan in den Geboten »Du sollst nicht töten«, »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«; auch an jenem Tag wurde in den Kirchen »Liebt eure Feinde« gelesen und in den Moscheen aus dem Koran rezitiert: »Wenn du einen einzigen unschuldigen Menschen töten würdest, ist es, als würdest du die ganze Welt töten.« Auch in der heutigen Krise ist Gott im Gebot »Du sollst nicht stehlen« und im Satz »Man kann nicht zugleich Gott und dem Mammon dienen« anwesend.

Der Gott, der Mose im brennenden Dornbusch in der Wüste erschien, kam zu ihm als Herausforderung und Aufgabe, als Hoffnung und Verheißung: Ich werde mit dir sein, wenn du die Aufgabe erfüllst, die ich dir auferlege: Geh und rette mein Volk! Und auf die wiederholte Frage offenbarte er seinen Namen und sein Wesen: Ich werde mit dir sein. Dieses muss uns reichen; mehr möchte er über sich nicht verraten.

Der wahre Gott kommt nie als Ersatz oder Konkurrent unserer Freiheit, als jemand, der uns von unserer Verantwortung befreien würde. Im Gegenteil: Er appelliert an unsere Freiheit und vertraut seine Sache unserer Verantwortung an: in der Form der Berufung und der Verheißung. Er garantiert weder einen schmerzfreien Verlauf noch einen strahlenden Erfolg der Sache, zu der er uns auffordert. Er verspricht nur: Ich werde mit dir sein. Ich werde auch in den dunklen Nächten auf diesem Weg mit dir sein, so wie ich mit Jakob war: Manchmal werde ich dich mit Schlaf voll von prophetischen Träumen stärken, ein anderes Mal werde ich mit dir kämpfen wie damals am Ufer des Flusses Jabbok. Ich werde mit dir sein wie mit Abraham in dem entscheidenden Moment der schrecklichen Prüfung auf dem Berg Morija, ich werde mit dir sein wie mit dem erschöpften Elija in der Wüste, als ich ihm die Aufforderung zusandte, dass er die Wanderung fortsetzen solle, aber ihm auch Brot zur Stärkung für die Reise gab.

Ja, an alle diese Bilder dachte ich in Auschwitz, am Ground Zero, an den Orten der tiefen Wunden auf der Landkarte der menschlichen Hoffnungen. Es gibt Momente, an denen die Hoffnung am »Nullpunkt« ankommt. Das sind Momente, an denen wir von allem erschöpft und allem überdrüssig sind, wie Elija unter jenem Strauch in der Wüste. Aber gerade dann kommt Gott in Gestalt einer Aufforderung: Steh auf, du hast noch einen weiten Weg vor dir! Und wenn wir des Geschenks der Hoffnung bedürfen, dann bekommen wir sie als Brot für den Weg.

Anmerkungen

1      Vgl. Kohelet 1,17–18.

2      Es wäre jedoch möglich, gegen Žižek einzuwenden – im Geist der Theorie, dass die Bemühung, einen neuen Anfang durch die »Übertragung« (translatio) des kulturellen Erbes zu schaffen, ein typischer Zug der römischen Zivilisation ist (vgl. Brague, R., Evropa – římská cesta, Praha 1995) –, dass Amerika in der Sehnsucht, den »novus ordo saeculorum« zu installieren, eher ein »neues Rom« ist; dass den Vereinigten Staaten dieser Titel viel mehr gebührte als den Reichen, die ihn im Verlauf der Geschichte für sich beansprucht haben.

3      Žižek, S., K materialistické teologii. In: Žižek, S. / Hauser, M., Humanismus nestačí, Praha 2008, S. 41f.

4      Andere Autoren behaupten, dass anstelle dieser Frage, die sich bemüht, die Verantwortung für geschichtliche Verbrechen auf Gott abzuwälzen, eine andere Frage gestellt werden müsste: Wo war der Mensch in Auschwitz? Was haben denn die Menschen aus sich gemacht, wenn sie dazu fähig waren, solche Verbrechen zu begehen?

2. Die momentane Krise

Zwei Phänomene werden momentan derart oft und an derart vielen Orten der Welt beschrieben, dass wir geneigt sind, ihnen einen globalen Charakter zuzuerkennen; zudem werfen sie die Frage auf, ob man sie mit der biblischen Rede von den Zeichen der Zeit benennen kann. Hierbei handelt es sich um die »Rückkehr der Religion« und die »Krise«.

Wenn wir diese beiden Themen nur den Medien überließen, riskierten wir, dass das Wesentliche für uns im Nebel vager journalistischer Parolen verborgen bliebe. Aber selbst dann, wenn diese beiden Themen zum Gegenstand der empirischen Forschung der Gesellschaftswissenschaften würden, könnten wir spüren, dass hier immer noch etwas fehlte: ihre ehrliche theologisch-philosophische Analyse und geistliche Diagnose.

Was bedeutet die Rede von der »Rückkehr der Religion«? Was kehrt hier eigentlich zurück? Handelt es sich um Religion oder Glauben, um Spiritualität, Frömmigkeit oder moralische Verantwortung, um Fragen nach dem letzten Sinn oder dem Bedürfnis nach heiligen Ritualen?

Kehrt überhaupt etwas zurück, was es schon einmal gab, oder treten nicht eher Phänomene an die Stelle der traditionellen Religionen, die bisweilen nur entfernt an das erinnern, was wir uns »Religion« zu nennen gewöhnt haben, oder übernehmen diese neuen Phänomene eine von der Religion aufgegebene Rolle? Handelt es sich nicht schließlich um ein Ereignis, das sich nicht auf der Weltbühne, in der »objektiven Realität«, abspielt, sondern nur in den Köpfen jener westlichen Intellektuellen, die gerade aufgehört haben, die Religion zu unterschätzen? Die gerade ihre Brille der Säkularisierungstheorien ablegten, denen zufolge es eine unaufhaltsame Entreligiösierung der Welt gäbe, also jene sich selbst erfüllende Prophezeiung beziehungsweise jener »fromme Wunsch« der Gottlosen? Die gerade begannen, das wahrzunehmen, was sie so lange übersehen hatten? Was aber musste alles passieren, damit die Religion wieder so ein ernstes Thema wurde, dass viele von unserer Zeit als von einer »postsäkularen Zeit« sprechen? Wird die »Religion« stärker, oder erwacht nur das Interesse an ihr – und worauf richtet sich dieses Interesse an der vielschichtigen Welt der Religion?

Wenn wir zulassen, dass unsere Zeit wirklich etwas Neues bringt, wie es der wachsende Einfluss der Religion in der Politik darstellt – die Repolitisierung der traditionellen Religionen, der überraschende Missionserfolg des evangelikalen Christentums, die Stärkung der traditionalistischen und fundamentalistischen Richtungen innerhalb der Religionen und der Durst nach spiritueller Erfahrung, auf welche die bunte Szene der »neuen Bewegungen« oder die neu wirkenden Puzzles aus Teilen alter Traditionen und Elementen der gegenwärtigen Psychotherapie antworten –, ist es dann möglich, all dieses auf einen einzigen Nenner zu bringen und von der »Rückkehr der Religion« zu sprechen?

Ähnlich vieldeutig ist das zweite Thema – die Krise. Von welcher Krise sprechen wir heute eigentlich? Während ich diesen Text schreibe, wird der Ausdruck »Krise« (wahrscheinlich das meist gebrauchte Wort des öffentlichen Diskurses dieses Jahres) am häufigsten im Kontext der Wirtschaft genannt – die Krise des Bankensystems mit dem Epizentrum Manhattan hat sich am Ausgang des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu einer weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise ausgewachsen, die wiederum eine ganze Reihe von sozialen und politischen Krisen zu entfesseln droht. Reicht jedoch diese Krise nicht noch tiefer als an die Stellen, wohin die Analysen der Ökonomen und Politologen reichen?

Auch wenn, wie manche Optimisten versprechen, dieses akute Fieber bald vorübergehen sollte und es so plötzlich, wie es gekommen ist, wieder verginge, würde es sich nur um das Verschwinden eines Symptoms einer Krankheit handeln, die weiterhin andauert und jederzeit wieder ausbrechen oder sich auf eine andere Art bemerkbar machen könnte, wie wir es von den heute so verbreiteten Krebserkrankungen kennen? Ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht nur ein Anzeichen der sich hinschleppenden Krise der Moderne, von der die westlichen Denker schon seit dem 19. Jahrhundert sprechen – praktisch seit dem Moment, als die Gier nach Blut der jakobinischen Phase der französischen Revolution den Kulturoptimismus der Aufklärung in Zweifel zog –, bis hin zu den postmodernen Denkern, die gezeigt haben, wie die Einseitigkeit des neuzeitlichen Rationalismus in den zerstörenden Totalitarismus und die Manipulation der Natur, der Menschen und auch der Geschichte gemündet ist? Und haben einige der vielen Formen der »Postmoderne« irgendeinen heilenden Ausweg aus dieser Krise geboten?

Vielleicht wird gerade der gegenwärtigen ökonomischen Gestalt dieser Krise nicht nur deshalb so viel Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie schmerzhaft den materiellen Standard vieler Menschen berührt und die sozialen Sicherheiten erschüttert, sondern auch deshalb, weil sie den »Moneytheismus« (die Religion des Geldes) selbst in Zweifel zieht, der in der Phase des neuzeitlichen Kapitalismus den Monotheismus der jüdisch-christlichen Tradition still und heimlich ablöste. Die wissenschaftliche Vernunft, die ein möglicher Aspirant auf den göttlichen Thron zu sein schien, und die Wissenschaft, die reiner »Zweck an sich« zu sein schien, wurden allmählich zum bloßen Mittel; der Gewinn und das Geld wurden im Gegensatz dazu aus einem bloßen Mittel zum Zweck und zu dem hinreichenden, alles entschuldigenden und höchsten Ziel. So hat beispielsweise die heutige wissenschaftliche Forschung in vielen Fachbereichen schon längst nicht mehr den Ehrgeiz noch die Freiheit, die Sehnsucht des menschlichen Geistes nach der Erkenntnis der Wahrheit zu erfüllen, wie es der Rationalismus der frühen Aufklärung pathetisch deklarierte, sondern sie erfüllt gehorsam die Aufträge, die ihr von den ökonomischen und gegebenenfalls politischen Interessen ihrer Mäzene (am offensichtlichsten ist es wohl bei der Manipulation der medizinischen Forschung durch die Interessen der Pharmakonzerne) diktiert werden: Der Gewinn wurde zur Wahrheit der Wissenschaft.

Diese Werterevolution hat unauffällig die Welt verändert: Immer weitere und immer größere Bereiche der Lebensrealität wurden zu Sachen, die man nicht mehr wie einen Partner respektieren muss, sondern über die man völlig frei wie über Gegenstände verfügen kann; sie werden als austauschbare Ware begriffen. Dieser Trend beherrscht mehr und mehr auch das Verhältnis zum menschlichen Leben: Verfechter der Abtreibung brachten zum ersten Mal das Argument, dass die menschliche Leibesfrucht ein »Bestandteil des Bauches« sei, über den man wie über eine Sache beliebig verfügen könne, und den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellen die Angebote des gentechnischen Ingenieurwesens dar, unter der schon eingeführten Marke »Mensch« weitaus effektivere Erzeugnisse auf den Markt zu bringen als den veralteten Homo sapiens.